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B. Traven - Der Marsch ins Reich der Caoba (1933)
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ERSTES KAPITEL

In Hucutsin begannen die Karawanen der syrischen Händler einzutreffen. Dieses Ereignis veranlasste die Bewohner des Ortes, wieder einmal aufzuwachen. Während des ganzen Jahres hatten sie keine Gelegenheit, sich zu erinnern, dass sie am Leben seien, dass ihr Ort sich irgendwo auf der Erde befinde und dass der Name ihres Städtchens so verschieden geschrieben werden mochte, dass jeder einzelne Bewohner seinem eigenen Geschmack folgen konnte.
Die Ortsbehörde schrieb den Namen des Städtchens in einer anderen Weise, als die Postbehörde die Briefmarken abstempelte. Das an sich war schon Grund genug, dass der Postmeister, der Federalbeamter war, mit dem Bürgermeister, der den Verfügungen des Staatsgouverneurs unterstand, sich in keiner Frage
persönlicher oder allgemeiner Ansichten einigen konnte.
Aber der Bürgermeister hielt dennoch genügend Freundschaft mit dem Postmeister aufrecht, um gelegentlich sich die Erlaubnis nehmen zu dürfen, die einlaufenden und die abgehenden Briefe durch seine Finger gleiten zu lassen und dann zuweilen den Postmeister lächelnd zu bitten, diesen oder jenen
Brief einige Tage zurückzuhalten, ihn an den Empfänger verspätet auszuliefern und einen anderen Brief nicht mit der nächsten, sondern erst mit der darauf folgenden Post abgehen zu lassen.
Die Post kam nur einmal in der Woche an, und nur einmal in der Woche ging die Post ab. Sie wurde auf dem Rücken eines indianischen Trägers vier Tage weit zu dem nächsten größeren Postsammelort befördert. Von jenem Sammelort wurde die Post dann auf Maultieren weitergeschafft, bis sie nach weiteren sieben oder acht Tagereisen an der Bahnstation eintraf.
Diese lange Reise der Post, die häufig genug durch schwere tropische Regengüsse oder durch Meldungen von herumstreifenden Banditenhorden um das Doppelte oder Dreifache verlängert wurde, machte es für den Postmeister leicht, gelegentlich dem Bürgermeister eine kleine Gefälligkeit zu erweisen.
Der Bürgermeister war ja nicht nur der Bürgermeister. Er war außerdem auch noch der Ehemann einer Frau, die im Ort einen gutausgerüsteten Kaufladen hatte, und er war der Schwager eines Mannes, der rohen Tabak unter den indianischen Bauern aufkaufte und diesen Tabak mit einem dicken Gewinn nach den größeren Städten verschickte.
Da nun aber auch andere Leute im Orte einen Kaufladen und einen Tabakhandel besaßen, so war es für den Bürgermeister recht vorteilhaft, zu wissen, mit wem dieser oder jener der Geschäftsleute am Orte Handelsbeziehungen an den größeren Marktplätzen unterhielt.
Die Syrier waren unter allen möglichen Namen im Lande bekannt. Auch hier kam es ganz auf den persönlichen Geschmack der Leute an, wie sie jene Händler nannten. Bald hießen sie Libanesen, bald Türken, dann wieder Araber, Ägypter, Propheten, Mohammedaner, obgleich sie zumeist Katholiken waren nach eigener Färbung, dann wieder Levantiner und gelegentlich Wüstenbewohner. Die Leute, die von den syrischen Händlern kaufen mussten, und das war die Mehrzahl der weiblichen Bevölkerung in den fernen Orten, wo beinahe ausschließlich nur die Araber hinkamen, nannten die Händler Schwindler, Betrüger, Geldfälscher, Räuber, Schurken, Ausbeuter mexikanischer Näherinnen und Textilarbeiterinnen, Mörder, Kinderräuber und Kandidaten für den Artikel dreiunddreißig. Der Artikel dreiunddreißig der mexikanischen Konstitution beschäftigt sich mit der Deportation aller unerwünschten Elemente.
Die Syrier, obgleich ihr Christentum um ein vielfaches unbestimmter war als das der Mexikaner, kannten aber dennoch alle Heiligentage der Mexikaner um vieles besser und richtiger als die Mexikaner selbst.
Das will sehr viel heißen. Denn wenn auch einige Millionen von Mexikanern nicht lesen und schreiben können, die Heiligentage kennen sie aber doch alle auswendig; und je ungebildeter sie in allen sonstigen Dingen des Lebens sind, um so gebildeter sind sie in allen den Einzelheiten, die einen Kirchenheiligen persönlich angehen. Der Mexikaner hat ein ihm eingehämmertes kirchliches Interesse an den Lebensschicksalen der Heiligen. Der Syrier dagegen, mehr praktischen und weltlichen Dingen zugeneigt, hat lediglich ein rein wirtschaftliches und materielles Interesse an den Geburtstagen, den Hinrichtungstagen und Folterungseinzelheiten der Heiligen. Die Syrier, die in Mexiko einwandern, arm wie eine Grille in der eingefrorenen Ackerfurche, besitzen nach fünfzehn Jahren ein Geschäft oder eine Fabrik, die mit einer halben Million Dollar nicht gekauft werden könnte.
In allen jenen Fällen, wo Mexikaner gleich gute Kaufleute sind, da haben sie es von den SyroLibanesen gelernt; denn weil die mexikanischen Händler ja Seite an Seite mit den arabischen Händlern auf den Märkten der Heiligenfeste arbeiten, bleibt dem mexikanischen Kattunhändler kein anderer Ausweg, als dem Syrier alle Kniffe und Schliche nachzumachen, um nicht in seinem eigenen Lande zu verhungern.
Wenn diese arabischen Händler nach mehreren Jahren des Herumziehens auf den Heiligenfesten älter werden und die Anstrengungen solcher Reisen nicht mehr genügend ertragen können, sind sie inzwischen so vermögend geworden, dass sie den Großhandel betreiben können und Fabriken errichten, wo sie den mexikanischen Arbeiterinnen zwanzig Centavos Taglohn zahlen für das Nähen von Hemden und Unterhosen und für das Anfertigen allen jenen Schundes, den die kleineren syrischen Händler auf den Märkten verkaufen. Diese kleinen Händler müssen das vertreiben, was ihnen ihre reichen Landsleute zum Verkauf übergeben; denn nur von denen erhalten sie Kredit, und sie warten nun auf jenen Tag, wo auch sie reich sein werden, um es mit den nachfolgenden kleinen Händlern ihrer Rasse ebenso machen zu können, wie es mit ihnen getan wurde.
Die syrolibanesischen Händler waren die ersten unter den Kaufleuten, die in Hucutsin eintrafen. Sie waren die eifrigsten im Unterhandeln mit der Ortsbehörde, und sie wussten, wie viel sie an diesen und jenen der Behörde hinter dem Rücken zu zahlen hatten, um besondere Privilegien und die besten Marktstände zu erhalten.
Während der nächsten Tage kamen dann die übrigen Händler an, Mexikaner, Spanier, Guatemalteken und Kubaner.
Jede Art des Handels oder Gewerbes hatte ihr bestimmtes Viertel auf der Plaza.
Da waren die Spielbänke, die Würfelbuden, die Tafelspiele, die Zuckerwarenhändler, die Kleiderstoffverkäufer, die Krämer mit Schmuckwaren, die Garküchen, die Schwertfresser und Feuerschlucker, die Zauberkartenverkäufer, die Wahrsager, die Händler mit heiligen Kerzen, Amuletten, Heiligenbildchen und Opferkleinodien, die Seidenhändler, Kattunhändler, Topfhändler, Sattelmacher, Seilhändler, Mattenflechter, Hutflechter, Stickwollehändler, die Händlerinnen mit buntgestickten Hemden und Jäckchen, die Papageienhändler, Eidechsenverkäufer, Händler mit Jaguar- und Tigerfellen, die Munitionsverkäufer, Gewehrschmiede, Uhrmacher, Messerschleifer, Corridosänger, Musikanten, Schausteller, die gestohlene Kinder als Künstler und Akrobaten vorführten und sie zur Belustigung der Festbesucher die Glieder verrenken und verbiegen ließen. Nur Zirkusse, Karussells, Luftschaukeln und ähnliche Dinge waren nicht vertreten.
Diese großen Unternehmen konnten nicht auf Maultieren und Eseln verfrachtet werden. Und alles, was man nicht auf dem Rücken von Lasttieren oder Indianern befördern konnte, das konnte nicht herbeigeschafft werden.
Die Marktleute bauten auf der Plaza eine kleine Stadt für sich auf. Einzelne der Handelsgruppen, wie etwa die Kleiderstoffhändler, die Kattunhändler und die Seidenhändler, hatten ganze Straßen für sich allein.
Die besonderen Stände für jeden einzelnen Händler wurden ausgelost. Bei der Verlosung mussten alle Händler persönlich anwesend sein, um spätere Streitigkeiten zu verhüten.
Bei solchen Streitigkeiten der Händler ging es sehr ernsthaft zu. Es flogen reichlich Revolverkugeln durch die Lüfte, aber einige flogen dem einen oder dem anderen in die Eingeweide. Unangenehm war es, wenn verirrte Revolverkugeln jemand unter das Vorhemd zwitschten, der mit dem Streit und mit den Händlern gar nichts zu tun hatte, sondern nur gerade zufällig vorüberkam, als die Marktleute das Gottesurteil anriefen.
Diejenigen Händler, die sich mit dem Bürgermeister vorher verständnisvoll über die privaten Sorgen jener Herren geeinigt hatten, bekamen ihre Gewinnnummern zugesteckt, und sie brauchten nur, wenn die Nummer aufgerufen wurde, zu rufen »Presente! Anwesend!« und ihren Namen nennen. Wer die privaten Zugänge zu den Sorgen des Bürgermeisters nicht kannte oder wer jene Türen nicht gut und geschickt zu ölen verstand, musste sich mit den Plätzen begnügen, die übrig blieben oder die ihm von der Heiligen Jungfrau in der Auslosung überwiesen wurden.
Freilich, so leicht, wie sich das jemand denkt, der das Land und seine besonderen Verhältnisse nicht kennt, war das Geldverdienen der Händler keineswegs. Unter diesem Himmel, unter dem die Menschheit lebt, wird niemand etwas geschenkt, und niemand wird das Leben zu leicht gemacht.
Die arabischen Händler gelangten zu Wohlstand und Reichtum. Das ist richtig. Jedoch das war nur ein gerechter Lohn für ihr hartes Arbeiten.
Die Mexikaner hatten in ihrem eigenen Lande ebenso viele Freiheiten und Rechte wie die Syrier.
Aber der Mexikaner, wenigstens die große Mehrzahl der Mexikaner, kann es nicht ertragen, Geld in seiner Tasche oder in seinem Kasten zu wissen. Wenn er fünf Pesos am Tag verdient, so bemüht er sich, sieben Pesos auszugeben.
Er liebt es, Feste zu feiern und Feste zu geben. je mehr, desto besser. Er feiert den Tag seines Schutzpatrons mit einem Aufwand, der ihn ein Vierteljahr seines Einkommens kostet. Dann wird natürlich der Tag des Schutzpatrons seiner Frau gefeiert, dann der seines Sohnes, dann der seiner Tochter, darauf der seines Onkels und dann der seiner Tanten, seiner Neffen, seiner Brüder, seiner Schwestern, seiner Schwäger, seiner Vettern und Basen, und endlich noch feiert er die Namenstage aller seiner Freunde. Aber darüber darf er die offiziellen Kirchenfeste nicht vergessen, die etwa zweihundert Tage im Jahre ausfüllen. Hinzu kommen die fünfzig patriotischen Festtage. Endlich muss er die Semena Santa, die heilige Karwoche, feiern, in der er auf seine jährliche Ferienreise geht. Es ist keineswegs übertrieben, zu sagen, dass der Mexikaner, der es seiner Familie, seinem Vaterlande, seinen Freunden und der katholischen Kirche recht machen will, dreitausendsiebenhundert Tage benötigt, um alle die Feste zu geben und zu feiern, die er innerhalb eines Jahres als guter Familienvater, als Patriot und als gläubiger Katholik zu geben und zu begehen verpflichtet ist. Aus diesem Grunde hat er nie Geld, kommt nie zu Geld, und wenn er wirklich auf irgendwelchen Umwegen zu einem Wohlstand gelangt, gibt er ein großes Bankett für alle seine Freunde, um diesen Vorgang zu feiern - und er steht am nächsten Tage mit so vielen Schulden da, dass er fünf Jahre braucht, um dort wieder hinzugelangen, wo er vor dem Bankett stand.
Die Araber in Mexiko tun das nicht. Darum müssen die mexikanischen Frauen für die arabischen Fabrikanten in Mexiko für einen Taglohn von zwanzig oder fünfundzwanzig Centavos arbeiten, wobei sie freilich das Recht behalten, gegen die unverschämte Ausbeutung durch die Libanesen zu protestieren.
Denn ein Recht muss ja schließlich auch dem ausgebeutetsten Proletarier bleiben.
In der Arbeit selbst waren die mexikanischen Händler den arabischen Händlern in keiner Weise unterlegen.
Sie waren ebenso zäh wie jene, intelligenter meist als die Syrier, und sie scheuten ebenso wenig wie die Araber vor keinen noch so harten Entbehrungen und Mühen zurück. Und wer zu dem Candelaria- Heiligenfest nach Hucutsin kommen und dort Geschäfte machen wollte, musste zäh, ausdauernd und intelligent sein.
Der Ort lag etwa vierhundert und einige dreißig Kilometer von der nächsten Eisenbahnstation entfernt.
In der vollen Trockenzeit, das ist von Ende Februar bis Anfang Mai, konnten innerhalb jener Strecke zweihundertsechzig Kilometer mit einem robusten und widerstandsfähigen Auto gefahren werden.
Während der halbtrockenen Zeit, das ist von Ende Dezember bis Ende Juni, konnte man die ersten hundertfünfzig Kilometer von der Eisenbahnstation aus mit dem Auto fahren. Freilich, in der Halbtrockenzeit geschah es oft genug, dass man mit dem Auto im Morast einige Tage lang stecken blieb.
In der Regenzeit konnte die gesamte Reise nur auf Maultieren, Pferden oder in Carretas geschafft werden.
Das letzte Drittel des Weges, ganz gleich, ob man von Jovel oder von Balun-Canan aus kam, konnte nur auf Maultieren gereist werden, ohne Rücksicht darauf, ob es Trockenzeit oder Regenzeit war.
Denn diese Strecke hatte keine Straße, weder für Carretas noch für leichte Wagen und erst recht nicht für Autos.
Dieser Weg ging über so viele Höhenwege der Sierra Madre del Sur, dass man ununterbrochen fünfhundert Meter hochkletterte, dann wieder fünfhundert Meter hinunter, dann wieder hinauf und dann abermals hinunter.
Eine solche Reise auf gutem Mule, nur von einem Burschen begleitet, zu machen ist anstrengend genug.
Nicht immer lebensgefährlich. Handfeste Arbeit aber war es, diese Reise mit einem großen Transport von Waren, die alle auf dem Rücken von Tragtieren befördert werden, machen zu müssen.
Und es war nicht nur harte Arbeit, sondern ein ewiges Sorgen. Ein Tier brauchte sich nur im Wasser eines Flusses, der gekreuzt wurde, hinzulegen, um sich abzukühlen oder um die Beißfliegen abzuwehren, dann war die schöne teure Seidenware aus Frankreich dahin, dann waren die Spiegel und die Uhren und die Munition oder was immer in den Paketen war, verdorben und verloren. Der Gedanke, solche Waren in eleganten eisernen Tropenkoffern zu befördern, ist ein sehr guter Gedanke. Aber wenn er in die Tat umgesetzt werden soll, so braucht der Transport viermal mehr Tragtiere, viermal mehr Maultiertreiber und viermal mehr Maisrationen, die mit aufgepackt werden müssen, weil es bei großen Transporten geschieht, dass unterwegs kein Futter gekauft werden kann. Die Ware wird dann so teuer an ihrem Verkaufsplatz, dass niemand sie kaufen kann und der Händler sie wieder mit sich schleppen muss.
Der Marsch von Jovel bis Hucutsin mit einer Karawane dauerte etwa fünf Tage. Manche der Händler verdoppelten diese Reisezeit dadurch, dass sie in einigen der indianischen Orte, die sie auf dem Marsche antrafen, einen Tag Aufenthalt nahmen, um ihre Waren auszulegen. Das aber verursachte neue Steuern und höhere Ausgaben für die gemieteten Tragtiere und für die Treiber.
Viele Händler, besonders ärmere, mieteten sich Indianer, die auf ihrem Rücken die Waren nach Hucutsin schleppten. Die Indianer waren billiger als die Maultiere, und sie legten sich nicht mit den Waren in das Wasser des Flusses. Sie stürzten auch seltener mit den Waren in einen Abgrund, und sie stießen auch nicht mit den Packen gegen Felswände oder gegen Bäume. Denn trotz des geringeren Lohnes hatten die indianischen Träger ja mehr Verstand als die Maultiere.
Aber die indianischen Träger hatten für den Händler einen Nachteil gegenüber den Maultiere.
Denn weil sie Verstand hatten, waren sie nicht immer ganz so zuverlässig wie die Maultiere. Die Indianer bekamen zuweilen Heimweh nach ihren Frauen und Kindern. Dann ließen sie die Packen im Ort, wo übernachtet wurde, liegen und verschwanden vor dem Morgengrauen. Der Händler stand dann da mit seinen Packen und konnte nicht weiter. Es gelang ihm vielleicht, Träger in dem Ort, wo er gerade war, zu finden. Aber denen musste er das Dreifache zahlen, weil sie, geschäftstüchtig genug, die Verlegenheit des Händlers zu ihrem Vorteil ausnutzten.
Von Jovel, der nächsten größeren Stadt und der Endstation der Carretas, führten drei Pfade über die Höhenzüge nach Hucutsin. Aber jeder Weg war gleich lang, gleich schwierig und gleich mit allen möglichen Gefahren, Unannehmlichkeiten und Ärger behaftet.
Der bevorzugteste Weg nach Hucutsin führt über den indianischen Ort Teultepec. Dieser Ort liegt zweitausend Meter hoch auf der Sierra. Es ist der letzte Ort, ehe man Hucutsin erreicht. Hat man den Ort etwa zwei Stunden hinter sich, gelangt man auf ein kleines Plateau, wo drei Kreuze stehen, um dem Reisenden Gelegenheit zu geben, hier seine Seele und seine Waren den Heiligen zu empfehlen.
Denn von hier aus, tausendeinhundert Meter steil unter sich, sieht man nun Hucutsin liegen. Es war eine gute Idee, hier an dieser Stelle drei Kreuze zu errichten. Kreuze erinnern immer an Leiden.
Sie lassen den Menschen nie vergessen, dass der irdische Lebensweg ein Leidensweg ist und eine mit Dornen und Disteln bestreute Straße.
Durch diese Kreuze ist der Reisende nun vorbereitet auf das, was alles geschehen kann.
Der Pfad, der hier steil hinunterführt, ist steinig, morastig, brüchig. Zuweilen rollen oder stürzen große Gesteinsbrocken von den Kuppen des felsigen Höhenzuges ab, die über den Pfad poltern und die alles, was ihnen in den Weg kommen sollte, Bäume, Reiter, Lastmules, mit sich in den Abgrund reißen. An zahlreichen Stellen ist der Weg so tief abgebrochen, ausgeschwemmt oder zerbröckelt, dass die Tragtiere auf einen Ruck fünfzehn und zwanzig Meter an den steilen Wänden hinunterrutschen, bis sie auf eine neue Schleife des Pfades fallen, der sich in Hunderten von Windungen am Abhang abwärts zieht.
Es geschieht oft, dass die Mules mit ihren Lasten auf dem Rücken seitlich um sich herum kugeln, bald sind die Packen oben, bald die Beine des Tieres.
Durchaus natürlich ist es, dass in einem Ort, der so weit von der Eisenbahn und damit von der Zivilisation entfernt liegt und der so ungemein schwer zugänglich ist, sich Dinge begeben können, die in einer anderen Gegend und in einem anderen Ort nicht einmal gedacht werden.
Wer in diesem Ort herrscht, sei er Bürgermeister, Polizeichef oder Richter, der herrscht absolut.
Keine Zeitung berichtet über ihn. Und der Regierung ist nur das bekannt, was er berichtet.
Hucutsin ist ein indianisches Wort und heißt Großer Platz oder Großer Ort. Aus der indianischen Bezeichnung ist zu erkennen, welche Bedeutung der Ort einst hatte.
Zur rechten Seite, wenn man den steilen Pfad von Teultepec herunterkommt, liegt, überdeckt von Erde, die sich in Hunderten von Jahren angehäuft hat, eine gewaltige Tempelpyramide, deren Formen vom Ort aus deutlich gesehen werden können.
Drei Stunden Ritt vom Ort entfernt befinden sich die Ruinen einer heiligen Stadt, die das religiöse Zentrum der reichbevölkerten Gegend war. Wie Zugvögel Jahrhunderte, vielleicht gar Jahrtausende hindurch jedes Jahr die gleiche Reise unternehmen und zu den gleichen Orten zurückkehren, so kommen in jedem Jahr alle die Tausende von Indianern, die in der Region weit verstreut leben, einmal zu diesem Zentralort ihrer Rasse und ihrer Geschichte zurück. Wie von einem unausrottbaren Instinkt getrieben, vereinigen sie sich hier einmal im Jahr, obgleich der Ort nur von Mexikanern bewohnt wird, von denen freilich viele mit indianischem Blut überreich gemischt sind.
Das Fest, das die Indianer einmal im Jahr hier hertreibt, ist das Candelariafest, das in der ersten Woche des Februar gefeiert wird.
Das Fest hat katholischen Charakter, und die religiösen Festlichkeiten werden in der Kathedrale des Ortes abgehalten. Die Indianer, die zum Feste kommen, sind alle katholisch getauft. Dennoch darf man ganz sicher sein, dass hier die katholische Geistlichkeit die gleiche sehr geschickte Vermanschung betrieben hat, die sie auch in Europa zur Zeit der Bekehrung der Germanen betrieb, eine Vermanschung, die der katholischen Kirche das Geschäft wesentlich erleichterte. Es ist recht merkwürdig, dass Christus gerade und ganz genau am Julfeste der alten Germanen geboren wurde.
Dass in Hucutsin das Candelaria-Heiligenfest als das Jahresfest der katholischen Kirche gefeiert wird, hat an sich keinen Sinn. Denn Hucutsin hat mit der Candelaria in keiner Weise irgendeine Beziehung.
Das große religiöse Fest der Indianer war in der ersten Woche des Februar.
Da die Katholiken jeden Tag im Jahre wenigstens einen Heiligen oder einen mystischen Vorgang zu feiern haben, so können sie aus dem vollen greifen. Und weil sie in der ersten Woche des Februar überall das Candelariafest begehen, so nannten sie vom Tage ihres Einzuges in Hucutsin ab das indianische Fest einfach Candelariafest. Damit war die Heidenbekehrung vollzogen. Denn wie bisher in vergangenen Jahrhunderten die Indianer in der ersten Woche des Februar eines jeden Jahres nach Hucutsin kamen, dort vor dem Tempel den religiösen Zeremonien beiwohnten, den Priestern die Opfergaben überbrachten und dann den Markt besuchten und sich weltlichen Freuden hingaben, so taten sie es nun auch in Zukunft. Der indianische Tempel war niedergerissen und an seiner Stelle die Kathedrale errichtet worden, auf denselben Steinfundamenten, auf denen der indianische Tempel gestanden hatte.
Und die katholische Kirche wurde von denselben Steinen erbaut, aus denen der Tempel erbaut worden war. Die Mönche, nur auf raschen Profit denkend, nahmen sich nicht einmal die Mühe, die Steine alle zu prüfen. So finden sich denn bis heute in den Mauern der katholischen Kirche innen und außen und im Boden zahllose Steine, die alte indianische Symbole tragen.
Der Dienst in der Kirche und die Handlungen der Priester in der Kathedrale unterschieden sich nicht allzu sehr von den Zeremonien in den indianischen Tempeln. Hier wie dort redeten und sangen die Priester etwas herunter, was niemand verstand, der zuhörte; hier wie dort tanzten und gestikulierten die Priester vor dem Altar herum, drehten sich und wandten sich, verbeugten sich und warfen ihre Arme hoch in die Luft. Die Indianer wollten ihre religiösen Bedürfnisse befriedigen, weil sie das so gewohnt waren, und so gingen sie von nun an mit der gleichen Gewohnheit und Regelmäßigkeit in die Kathedrale, wie sie früher in ihren Tempel gegangen waren. Wer tanzen will, muss zu der Musik tanzen, die ihm geboten wird.
Hucutsin war aber auch der politische Mittelpunkt, die Hauptstadt der Nation der Tseltalen gewesen.
In allen ihren Rechtsstreitigkeiten, in allen ihren geschäftlichen Handlungen, die die Bestätigung der Obrigkeit erforderten, um gültig zu sein, mussten sie nach Hucutsin gehen. Hier war ihr König, der Recht sprach, hier waren die Richter, die urteilten, hier wurden Erbrechte und Eigentumsrechte bestätigt, hier wurden Kontrakte abgeschlossen, hier wurden alle Entscheidungen getroffen, die das persönliche oder das staatliche Leben des Indianers oder seiner Familie betrafen.
Es lag den Tseltalen seit Jahrtausenden wohl im Blut, dass Hucutsin einmal im Jahre besucht werden musste, wie Mohammedaner einmal im Leben Mekka besucht haben müssen, um in ihrem Innern Frieden zu finden. Wie früher, so wurde auch jetzt in Hucutsin alles das für die Indianer erledigt, was sie zu erledigen gedachten und was sich in ihren Wünschen, Bedrängnissen und Notwendigkeiten während des Jahres angehäuft hatte. Die großen Latifundienbesitzer, die Finqueros, hatten bald die Wichtigkeit des Ortes Hucutsin erkannt. Sie lernten in kurzer Zeit, dass alles, was sie mit den Tseltal-Indianern abzuschließen und zu handeln hatten, eine erhöhte Rechtskraft bekam, wenn es in Hucutsin am Candelaria-Heiligenfest abgeschlossen wurde.
Dies war einer der wichtigsten Gründe, warum die Agenten, die Indianer für die Monterias anwarben, die Arbeitsverträge in Hucutsin am Candelariafest unterzeichnen und bestätigen ließen. Der andere Grund war der, dass sich in Hucutsin die letzte Behörde befand, die vom Gesetz und von der Konstitution anerkannt war.
Der Ort war der äußerste Außenposten der Zivilisation und der Regierungsgewalt der mexikanischen Republik. Hinter dem Garten des letzten Hauses begannen die ersten Sträucher des Dschungels, und die Bewohner des Dschungels, insbesondere Tiger, Löwen, Coyoten, Alligatoren und Schlangen, fürchteten sich nicht, des Nachts oder oft schon während der Dämmerung bis in die Höfe der letzten Häuser des Ortes einzubrechen.
Von hier aus zwanzig Tagereisen weit nach Osten und Südwesten gab es keine gesetzliche Behörde mehr.
Sobald der Dschungel begann, war derjenige Behörde, der den besten Revolver hatte und diesen Revolver am schnellsten zu ziehen und am wirkungsvollsten zu feuern verstand.
In Hucutsin wurden an manchen Candelariafesten die Verträge von fünfhundert Indianern, die für Monterias angeworben worden waren, von der Behörde bestätigt.
Diese Leute bekamen, sobald der Vertrag rechtskräftig geworden war, zwanzig bis fünfzig Pesos Vorschuss, je nach der Höhe des Betrages, den sie bereits bei der Anwerbung erhalten hatten, und mit Rücksicht auf die Zeit, die sie nach Ansicht der Werbeagenten im Dschungel aushalten würden, ehe sie eingegraben werden musste.
Geld hatte weder im Dschungel noch in den fernen Arbeitsdistrikten der Monterias irgendwelchen Wert.
Wert hatten nur Gebrauchsgegenstände aller Art. Darum gaben die Indianer, die als angeworbene Arbeiter in die Monterias geführt wurden, hier alles Geld aus, was sie besaßen und was sie als Vorschuss bekommen hatten oder von ihren Agenten hier noch nachträglich erhalten konnten. Sie betrachteten den Einkauf von Waren hier als eine gute Anlage ihres Lohnes; denn in den Monterias waren die Waren um das Vierfache und Sechsfache, ja Zehnfache teurer als hier. Hier war eine harte Konkurrenz unter den Händlern, während in den Monterias keinerlei Wettbewerb unter Händlern bestand.
Diese großen Trupps von Indianern, die für die Monterias angeworben waren und hier ihre Verträge bei der Behörde bestätigen mussten, waren ein ungemein wichtiger Grundstock für die große ökonomische Bedeutung des Candelaria-Heiligenfestes in Hucutsin. Man schätzte nicht zu hoch in der Berechnung, wenn man annahm, dass jeder einzelne der angeworbenen Indianer auf diesem Feste wenigstens dreißig Pesos ausgab. Aber sicher mehr als ein Drittel gab bis zu hundert Pesos aus. Das waren diejenigen, die mit ihren Familien hier hergekommen waren und hier von ihnen Abschied nahmen. Diese Indianer kauften nicht nur für sich ein, sondern sie nahmen ungemein hohe Vorschüsse, um für ihre Frauen, Kinder, Mütter oder jüngeren Geschwister alles zu kaufen, was jene Familienmitglieder, die von ihnen abhängig waren, während ihrer Abwesenheit gebrauchen konnten.
Die Agenten zeigten sich hier mit Vorschüssen bei weitem freigebiger als in den Heimatorten der Indianer.
Hier war der Kontrakt gezeichnet und von den Behörden bestätigt, und die Indianer standen sofort unter polizeilicher Bewachung. Sie hätten den Ort kaum nach irgendeiner Richtung hin verlassen können, ohne von einem der zahlreichen Hilfspolizisten gesehen und aufgefangen zu werden. So gaben diese Indianer dem Fest eine solche wirtschaftliche Bedeutung, dass die Händler willig die zuweilen ungemein hohen Marktsteuern, die ihnen der Bürgermeister auferlegte, bezahlten, um einen guten Platz auf diesem Markte zu haben. Da der Bürgermeister von jedem Vertrag der Arbeiter, den er unterschrieb und unterstempelte, fünfundzwanzig Pesos erhielt, so waren für ihn die Trupps der angeworbenen Indianer die wichtigste Quelle seines Einkommens als Bürgermeister. Und diese so wichtige Einnahmequelle neben der großen Einnahme aus den Extrasteuern des Candelariafestes waren Grund genug, dass bei den Wahlen für den Posten des Bürgermeisters jedes Mal so etwa zwanzig Bürger auf dem Schlachtfeld der demokratischen Wahlen blieben, kaum zu zählen jene, die nur einige abgefeilte Revolverkugeln irgendwo zwischen ihrem Knochengerüst stecken hatten.
Außer diesen angeworbenen Indianern kam aber auch die große Mehrzahl, wohl neunzig Prozent, aller der Indianer zu dem Fest, die über die ganze Region verstreut wohnten.
Einmal kamen sie zu dem Feste der Kirche wegen. Es war für die Mehrzahl der Indianer der einzige Gottesdienst innerhalb eines Jahres, dem sie beiwohnten. In den meisten ihrer Orte und Siedlungen hatten sie die Kirche zerstört, weil sie keinen Geistlichen ständig um sich dulden wollten; denn sie betrachteten die Geistlichen als Parasiten. In den wenigen Orten, wo sie die Kirche nicht zerstört hatten, waren die Kirchen, die dort unter spanischer Herrschaft errichtet worden waren, zerfallen. Wo aber dennoch eine Kirche vielleicht übrig geblieben war, kam nie ein Geistlicher hin, weil es für ihn nichts einbrachte.
Die Indianer fühlten sich in ihrem Gewissen durchaus beruhigt, wenn sie einmal im Jahre zu dem großen Feste nach Hucutsin pilgerten, hier einer Messe beiwohnten, von der Kirchentür auf ihren Knien bis zum Altar rutschten, auf diesem Wege jeder Heiligenfigur, an der sie vorbeirutschten, die lackierten Füße küssten, ihren Kindern den Schmutz des steinernen Bodens der Kirche in den Mund schmierten, um die Kinder vor Krankheit und bösen Geistern zu schützen, sich selbst diesen Schmutz als Medizin in Wunden rieben, die sie am Körper hatten, und dann endlich, wenn sie am Altar angekommen waren, dem Kirchendiener die Kerzen übergaben, die sie der Gottesmutter und den Heiligen zu opfern gedachten.
Dann legten sie Blumen und Früchte auf den Stufen des Hauptaltars und auf den Kniebrettern der zahlreichen Nebenaltäre der Heiligen nieder, und zuletzt, wenn sie die Kirche wieder verließen, zahlten sie auf die Teller, die ihnen von den Einkassierern vor die Brust gehalten wurden, ihre Pesos zur Sättigung des Heiligen Vaters.
Sobald sie alles richtig hier bezahlt, war für sie für die Dauer eines Jahres alles wieder einmal getan, was sie mit der katholischen Kirche verknüpfte.
War ihre religiöse Pflicht soweit nun erfüllt, so gaben sie sich ihren irdischen Verpflichtungen und Genüssen hin.
Alle Indianer hatten Waren eigener Erzeugung mitgebracht, die sie hier auf dem Markte zu verkaufen gedachten: Töpfe, Hüte, Wolldecken, Wollbänder, Matten, Felle von Rehen, Antilopen, Tigern und Löwen, Häute von Schlangen und Alligatoren, ferner Bohnen, Mais, Eier, Hühner, Ziegen, Schafe,
Kälber, Schweine, Hunde, Papageien, Singvögel, Eidechsen, Tabak, Baumwolle, Wolle, Kaffee, Kakao, Vanilleschoten, Bananen, Kaugummi, medizinische Pflanzen und Kräuter.
Hatten die Indianer ihre mitgebrachten Waren verkauft, so begannen sie selbst, auf dem Markte einzukaufen.
War das erledigt, kauften sie Comiteco und betranken sich gründlich.
Sobald die Männer mit dem Trinken begannen, tauchten die Agenten der Monterias in ihrer Nähe auf. Die Agenten waren freigiebig mit dem Branntwein. Wenn die Männer genügend in sich hatten, dann borgten ihnen die Agenten Geld, um mehr Branntwein zu kaufen. So wurden die Indianer und die Agenten gute Freunde.
Aber die Agenten liegen ihre Freunde nun nicht mehr aus den Fängen. Am nächsten Morgen, wenn die Männer noch halb im Schwung waren, begann das Vertiefen der Freundschaft mit neuen Einladungen zu einer Copita, einem Gläschen.
Dann wurden den Amiguitos, den lieben Freunden, die Herrlichkeiten der Welt gezeigt.
»Hermanito, mein kleines Brüderchen«, sagte der Agent freundlich zu dem Indianer, »was denkst du wohl, was deine Mujer, deine Frau, sagen würde, wenn du ihr diese schöne bunte Schürze kaufen würdest?«
»Oh, sie würde sich gewiss, sehr freuen«, erwiderte der junge Indianer mit glänzenden Auge.
»Gut, du bist mein Freund, mi amigo, ich borge dir das Geld für die Schürze«, sagte darauf der Agent.
Waren es nicht Geschenke, die der Indianer seiner Frau oder seinem Mädchen oder seiner Mutter machen wollte, dann wusste der Agent ihm andere Dinge begehrlich zu machen: ein schönes Taschenmesser, ein paar glitzernde Fingerringe mit großen Diamanten oder Rubinen aus Glas, ein gesticktes Hemd, wie es die großen Finqueros trugen, eine Uhr.
Der Indianer konnte alles haben, worauf der Blick seines Auges fiel. Es war wie in der Halle des Schlosses, in der ein Zauberer seine Schätze ausgelegt hatte, von denen jeder, der kam und sich die Mühe machte, nehmen durfte, was er wollte. Der Indianer brauchte nur zu sagen: »Das will ich haben!«, und da
war es auch schon in seinen Hände.
Wenn nichts den Indianer verlocken konnte, weil sein Sinn nicht nach Besitz trachtete, so kam der Agent dennoch nicht in Verlegenheit. Comiteco, Branntwein, half immer. Die ersten zwei Gläschen wurden geschenkt.
Der Indianer konnte den freundlichen Agenten doch nicht beleidigen und sich weigern, mit ihm zu trinken. Hatte er aber erst einmal zwei oder drei Gläschen getrunken, dann gab es kein Halten mehr.
Der Agent borgte und borgte, und der Indianer unterschrieb, was man wollte.
Zu dem Candelariafest kamen aber auch alle die großen Finqueros, die Domänenbesitzer. Sie kamen meist mit ihren Familien und mit einem halben Dutzend von Burschen und Mägden. Sie besuchten das Fest, um ihrer religiösen Pflicht zu genügen. Es war aber auch eine gewisse gesellschaftliche Pflicht aller
Finqueros und Großgrundbesitzer der Region, sich während des Candelariafestes in Hucutsin mit ihren Familien einzufinden.
Manche dieser Latifundienbesitzer hatten zehntausend, manche fünfzigtausend Hektar Land. Sie besaßen zuweilen so große Ländereien, dass sie in vielen Fällen sechs Stunden zu reiten hatten, um ihrem nächsten Nachbarn einen Besuch abzustatten. Die Familien dieser Finqueros waren alle miteinander
verwandt oder verschwägert. Aber wenn auch die Männer irgendwo, in Hucutsin oder in Jovel oder in Balun-Canan oder in Achlumal, sich zuweilen gelegentlich trafen, so hatten die Familien kaum eine andere Gelegenheit, sich zu sehen, als bei dem Candelariafest, wo alle in derselben Woche anwesend
waren.
Hatten die Finqueros ihre Kerzen in der Kirche gestiftet, einer Messe halb hingehört und die Pflichtzahl von Kniebeugen und Bekreuzigungen abgeliefert, dann gingen sie an ihre Geschäfte.
Die Mehrzahl ihrer Verkäufe an Vieh, Mais, Zucker, Kaffee oder was sie produzierten wurde so abgeschlossen, dass die Lieferungen am Candelariafest ausgeglichen und bezahlt wurden. Mit dem Candelariafest endete für die Finqueros das alte Geschäftsjahr und begann das neue. Es kamen alle Händler, die mit den Domänen im Geschäftsverkehr standen, zu dem Feste, um neue Verträge abzuschließen und um die Verpflichtungen aus laufenden Verträgen zu erfüllen. Alle Rechnungen wurden bezahlt.
Der Finquero, der das ganze Jahr hindurch alle Waren auf Kredit nahm, um zu verhindern, dass seine Burschen Geld mit sich führten, bezahlte an diesem Tage alle die Rechnungen, die ihm in Hucutsin vorgelegt wurden, sobald er, am gleichen Tage, das Geld für die ausgeführten Lieferungen erhalten hatte.
An diesem Tage bezahlten die Finqueros gleichfalls alle ihre Steuern in der Tesoreria in Hucutsin und in der Agentur der Hacienda der Steuerbehörde der Federalregierung.
Die Finqueros, die sich jetzt im Besitz der Gelder befanden, die sie für Lieferungen einkassiert hatten, waren nach allen Seiten hin freigebig. Sie ließen ihre Frauen und Töchter einkaufen, soviel diese nur wollten. Sie gaben ihren Söhnen hundert oder zweihundert Pesos in Gold in die Hand, damit sich die Söhne nach dem langen eintönigen Leben auf der fernen Finca einige gute Tage machen sollte.
Die Söhne kauften sich große silberne Sporen, mit Gold und Silber ausgelegte Revolver, Lederjacken mit gepunzten und gebrannten Ornamenten, Hosen mit gigantischen Silberstücken an den Seiten benäht, große Hüte mit echter Goldstickerei, Hüte, von denen einzelne bis zu zweitausend Pesos das Stück kosteten. Sie kauften rote, gelbe, weiße Hemden aus reiner Seide. Und wenn der Dentist, der während dieser Zeit hier seinen Laden aufgemacht hatte, eine Stunde frei haben sollte, dann gingen die Söhne der Finqueros hin, ließen sich vorn drei oder vier kerngesunde Zähne abschleifen und Goldklappen aufsetzen, um jedes Mädchen sehen zu lassen, dass sie die Söhne schwerreicher Finqueros seien, die es sich leisten können, goldene Zähne zu habe.
War das alles getan, dann wurde getrunken und gespielt, gespielt und getrunken, getanzt auf freiem Platze, wieder getrunken und gespielt, eine indianische Magd gelegentlich aufgegriffen und nach einer Stunde losgelassen mit einer funkelnden Halskette oder einer bunten Guatemalaschürze oder drei Metern Seidenband oder einem großen Haareinsteckkamm, mit Perlchen besetzt, als bleibendes Andenken für einen vorbeigerauschten Augenblick des Entzückens.
Aus allen diesen Gründen ist zu verstehen, warum das Candelariafest in diesem so fernen Hucutsin ein so wichtiges Fest für ein halbes Tausend von Händlern arabischer, mexikanischer, spanischer, kubanischer und indianischer Nation war.
Es wurden allein für fünftausend Pesos Kerzen in jedem Jahr verkauft, Kerzen, die in der Kirche geopfert wurden. Es gab Jahre, in denen für achttausend Pesos Kerzen verkauft worden waren und in denen man für dreitausend Pesos mehr hätte verkaufen können, wenn sie vorhanden gewesen wären.
Zu jeder anderen Zeit im Jahr machte Hucutsin den Eindruck, als sei der Ort nicht nur von der übrigen Welt, sondern sogar von seinen eigenen Bewohnern vergessen worden. Die Bewohner schienen nur zu leben, weil sie nicht wussten, auf welche Weise sie sterben konnten. Wenn der Inhaber des größten Ladens am Ort an einem Samstag für vier Pesos Ware verkauft hatte, so betrachtete er das als ein so glänzendes Ergebnis, dass er davon träumte, ein Bankgeschäft anzulegen. Wer in den Ort einritt, suchte sich in den mit Gras bewachsenen Straßen einen Pfad aus, der ihm weich genug schien, um zu verhindern, dass man die Hufe seines Pferdes höre; denn er fürchtete, die Bewohner des Ortes in ihrem gesunden Schlaf zu stören. Manchem Reiter, der hier ankam, wurde beklommen im Gemüt. Er bildete sich ein, die Bewohner seien alle gestorben und lägen unaufgebahrt in den Häusern herum. Erst wenn der Reiter nahe der Plaza angelangt war, wo die Straße gepflastert war und die Huftritte seines Pferdes über den Platz schallten, trat hier und da jemand in die Tür, um zu sehen, wer in dieser weiten Welt, wo so viel Platz ist, auf den verwegenen Gedanken gekommen sei, ausgerechnet nach Hucutsin zu reisen.
Nach einer Weile kam dann ein Mann in Sandalen, einen alten Vorderlader umgehängt, um eine Ecke gezottelt, sah sich den Reiter an und überlegte, ob er nicht einen Grund habe, den Reiter wegen irgend etwas zu verhaften, um zu beweisen, dass er seine fünfundzwanzig Centavos den Tag als Polizist redlich verdiene, und um dem Ortsvorsteher eine Gelegenheit zu geben, eine Geldstrafe zu erheben und Abwechslung in den verödeten Ort zu bringen.
Die Indianer, die aus ihren Siedlungen gelegentlich nach Hucutsin kamen, um hier die Erzeugnisse ihrer Felder zu verkaufen, betrachteten den Ort freilich als eine große Stadt und als einen äußerst rührigen, reichen, fortschrittlichen und hochmodernen Zentralpunkt der Welt.
Jene Indianer, die in den gewöhnlichen Zeiten des Jahres nach Hucutsin kamen, ihre Frauen, Kinder und Hunde mitbrachten und Reisen von mehreren Tagen hinter sich hatten, näherten sich dem Ort immer mit Furcht. Diese Furcht verschwand mit der Zeit, wenn sie sehr oft in den Ort gekommen waren, ihre Erzeugnisse zu erträglichen Preisen hatten verkaufen können und unter vielem Handeln zu erträglichen Preisen das hatten einkaufen können, was sie in ihren fernen Siedlungen brauchten, und wenn sie von den Behörden des Ortes nicht belästigt worden waren. Aber dann geschah es, dass mehrere Gruppen von Indianern, die friedlich in den Ort gekommen waren, um zu verkaufen und einzukaufen, von den Polizisten ganz einfach aus irgendeinem erdachten Grunde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurden, aus dem sie sich nur dadurch befreien konnten, dass sie für die Ortsbehörde eine Woche Arbeit in den Straßen oder beim Bau einiger Gebäude leisteten. Kamen aber diese Indianer in jener Woche, in der das Candelariafest gefeiert wurde, in den Ort, dann lagerten sie erst einen vollen Tag weit außerhalb des Ortes mit ihren Familien irgendwo im Busch. Von hier machte sich dann ein Mann auf, der oft in Hucutsin gewesen war und Erfahrung hatte, um zu erforschen, ob es genügend sicher sei, in den Ort zu kommen.
Der Eindruck, den die Indianer während jenes Heiligenfestes in Hucutsin empfingen, war um ein vielfaches tiefer als der Eindruck, den ein Farmer erhält, der aus einer entlegenen Ranch in Kentucky zum ersten Male nach New York kommt und ohne Einleitung und Übergang mitten auf den Broadway hingestellt wird.
Der Unterschied im Aussehen des Ortes und im Leben seiner Bewohner zu den gewöhnlichen Zeiten und im Aussehen des Ortes und im Gelärme und Gewoge während des Candelariafestes war so groß, dass die Indianer jede innere und äußere Verbindung mit der Wirklichkeit verloren.
Die große Verschiedenheit des Ortes, den die Indianer in den ruhigen Zeiten kannten, und des Ortes, den sie jetzt antrafen, wird begreiflich, wenn man berücksichtigt, dass der Warenumsatz an diesem weltvergessenen Platze während des Candelariafestes zuweilen bis auf eine und eine viertel Million Pesos kam, dass Schecks von zehntausend Pesos so leicht von Hand zu Hand gingen, wie in den gewöhnlichen Zeiten des Jahres nicht einmal zehn Pesos liefe.
Irgendein Diktator oder Despot hätte den Hintergrund in keiner Weise so vortrefflich schaffen oder kommandieren können, wie er sich hier von selbst in Hunderten von Jahren herangebildet hatte.
Es ist bekannt, wie in zivilisierten Ländern freie Menschen zwangsweise zum Militärdienst oder zum Arbeitsdienst ausgehoben werden. Für die Vereidigung der Rekruten wird ein pompöser Hintergrund geschaffen. Die heiligen Fahnen werden entrollt. Choräle werden gesungen und patriotische Hymnen gespielt. Die Rekruten oder deren Vertreter müssen die Hand auf die Fahnen legen und einen fürchterlichen Schwur leisten. Alles das wird so feierlich und pompös getan, als ob der liebe Gott im Himmel persönlich sich bemüht hätte, die Militärlieferungen zu schützen.
So wird es verständlich, warum die Arbeiteragenten die endgültige Bestätigung der Verträge für die Arbeiter, die in die fernen Monterias transportiert wurden, hier in Hucutsin während des Candelaria- Heiligenfestes vornahmen. Es wurde den Sklaven die Macht und der Pomp und der allmächtige Gott ihrer Herren offenbart. Die Indianer, die unter dem Eindruck dieser rauschenden Herrlichkeiten Verträge tätigten, dachten so wenig an Desertion wie die Rekruten, denen man bei der richtigen Gelegenheit die Hirne verräuchert hat.
Wann immer auch der Indianer unter den Mühen und Qualen seines Daseins in den Monterias für einen Augenblick nur an Flucht oder gar an Selbstmord denken sollte, erinnerte er sich sofort des pompösen Candelariafestes in Hucutsin und der unüberwindlichen Macht jener, denen er zu dienen verpflichtet worden war.
Wer in den verschlafenen, stillen, trockenen Ort Hucutsin einen solchen Pomp, ein solches Leben, eine so große wogende Menschenmasse hineinzuzaubern vermochte, sei es auch nur für die Dauer von zehn Tagen, der hatte göttliche Kraft, dem konnte kein Indianer entweichen, wohin er sich auch immer wenden mochte. Einem solchen Herrn hatte man den Vertrag einzuhalten bis auf das letzte hingespritzte Pünktchen hinter dem letzten Wort.

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