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Upton Sinclair - Am Fliessband (1948)
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Tom Shutt wurde freigelassen. Aber ein anderer Gefangener schmachtete noch in seinem Verlies. Der kam nicht heraus und hatte auch keine Hoffnung, je wieder freigelassen zu werden: der Flivverking, der Gefangene seiner Dollarmilliarde. Ketten umschlangen seine Füße und sorgten dafür, dass er nie wieder frei schreiten würde; Ketten fesselten seinen Geist - er durfte nie mehr einen Gedanken denken, den seine Dollarmilliarde nicht guthieß. Die Dollars flüsterten ihm ein, dass die Arbeitermassen ihn tödlich hassten, dass eine halbe Million Menschen ihn anklagten, weil er sie zum langsamen Hungertode verdammt habe, dass in der ganzen Nation, ja, in der ganzen Welt eine Verschwörung bestehe, die ihm sein Vermögen rauben wolle. Der Farmerssohn war einst so fröhlich und gesprächig gewesen. Jetzt war er einsilbig und verbittert. Meistens blieb er allein und kontrollierte höchstens seine Wächter, um sicher zu sein, dass sie ihn bewachten.
Henry Ford, einst das Vorbild aller Arbeitgeber, war jetzt der schlimmste geworden. Er hatte seine Rivalen überholt. Er zahlte die niedrigsten Löhne in der Industrie, seine Arbeiter hatten einen Durchschnittslohn von höchstens 1000 Dollar im Jahr. Seine Antreiberei war die brutalste, der Name seines Werkes wurde ein Schimpfwort unter den Arbeitern. Vor sechzehn Jahren hatte er verkündet, die Arbeiter könnten ihre Gewerkschaft haben, wenn sie es wünschten. Jetzt gab er die Anweisung, jeden, der die Sache nur erwähnte, sofort hinauszuwerfen, und um dessen sicher zu sein, besoldete er mehr Spitzel, als man sie in der Industrie der Vereinigten Staaten je gekannt hatte.
Henrys ganzes Denken war von einem düsteren historischen Präzedenzfall beherrscht. Schon einmal hatte ein Herrscher gelebt, der eine Milliarde besaß - der Zar der Russen. 1905 waren die unzufriedenen Arbeiter vor seinen Palast gezogen und hatten um Gehör gebeten - man hatte sie mit Maschinengewehren zusammengeschossen. Etwa dreizehn Jahre später waren der Zar, seine Frau und seine lieblichen Töchter in einem Verlies erschossen worden. Der Autokönig hatte mit seinen Arbeitern das gleiche gemacht, und zwar unter den gleichen Umständen, natürlich nicht persönlich. Aber das hatte der arme Nicky genauso wenig getan. In beiden Fällen hatte die Milliarde das Verbrechen begangen; aber eben - nicht die Milliarde war im Verlies erschossen worden.

Ich bin die Größe und die Macht, ich bin der Stolz, der Prunk und die Herrschaft, sagte Henry Fords Vermögen. Ich bin eine Dynastie, die bis in fernste Zukunft leben wird; ich werde Geschichte machen, die kein >Geschwätz< ist; ich werde den Namen und den Ruhm Henry Fords den Milliarden noch Ungeborener überliefern. Aber es gibt ruchlose Menschen auf dieser Welt! Teufel in Menschengestalt treiben ihr Unwesen! Sie haben sich verschworen, mir diesen Ruhm zu rauben. Sie wollen nicht, dass die Welt von Henry, Edsel, Henry II., Benson, Josephine Clay und William Ford spricht, die jetzt erwachsen sind und ihren Teil am Ruhm haben sollen. Nein, die Welt soll von Menschen wie Trotzki und Sinowjew, Bela Kun und Radek, Liebknecht und Luxemburg, Jaures und Blum sprechen! Das wollen diese Ruchlosen!
Jüdische Namen! dachte Henry. Sein Widerruf damals in der Judenfrage geschah ja nur aus Geschäftsrücksichten, und er war nach wie vor überzeugt, dass die große Verschwörung gegen seine Dollarmilliarde keine andere sei als die jüdisch-bolschewistische, die der >Dearborn Independent< damals aufgedeckt hatte. Immer wieder veröffentlichte Henry Artikel, in denen er behauptete, dass die Bewegung für eine industrielle Arbeitergewerkschaft eine kommunistische Verschwörung sei und dass sie im geheimen von interessierten Bankkreisen finanziert werde. Man wolle die Ford-Motor-Company zerschlagen und sie Wallstreet in die Hand spielen. Und musste man noch besonders erwähnen, dass die kommunistischen Führer und die großen Bankiers >Internationale Juden< waren? Dies Detail verstand sich von selbst. Der ehemalige Herausgeber des >Dearborn Independent<, der auch die antijüdischen Artikel geschrieben hatte, war nun Henrys Geheimsekretär. Er war jetzt der Mann, der die Verbindung mit der Öffentlichkeit und der Außenwelt beherrschte. William J. Cameron hatte seine Ansichten auch nicht um einen Deut geändert, im Gegenteil: Er stand in Verbindung mit antisemitischen Kräften in der ganzen Welt und hielt Henry mit ihnen in Kontakt.

»Was soll ich tun?« fragte der Autokönig und die Milliarde beugte sich zu ihm und flüsterte ihm wie Mephisto ins Ohr:
»Sehen Sie, Mr. Ford, es ist schon alles vorbereitet. Die Roten bemächtigten sich der Fabriken in Italien, aber jetzt hat ein starker Mann das Land für das Geschäft gerettet. Sehen Sie auf Deutschland! Dort arbeiten keine Roten mehr, um die Autofabriken des Landes in ihre Hand zu bekommen! Der Weg der Rettung ist einfach; aber schnell müssen Sie handeln! Zertreten Sie die Ratten, eh ihre Macht zu groß wird! Lernen Sie von uns. Fangen wir an!«
Die Dollarmilliarde umgab ihren Gefangenen mit Naziagenten und faschistischen Einflüsterern. Sie hatten sich schon früher einmal an ihn herangemacht, als Hitlers Bewegung noch in den Anfängen steckte. Sie wollten vierzigtausend Dollar von ihm haben, um sein antijüdisches Pamphlet in deutscher Übersetzung zu drucken. Die
Namen Hitler und Ford sollten in den Ankündigungen nebeneinander stehen. Man munkelte sogar, ein Enkel des Exkaisers sei der Agent gewesen, durch dessen Vermittlung dreihunderttausend Dollar der Naziparteikasse übergeben wurden. War etwas Wahres daran? Henry hatte große Fabriken in Deutschland und hätte sicher nicht nur aus antisemitischem Idealismus dafür gesorgt, Streiks in diesem Lande zu verhindern.
Jetzt tauchte Fritz Kuhn auf, Hitlers Organisator Nummer eins in Amerika, der uniformierte Chef des marschierenden und exerzierenden >Deutsch-Amerikanischen Bundes<. Er verlegte sein Hauptquartier nach Detroit. Angeblich war er als Chemiker bei Ford tätig. Ein neuer antisemitischer Feldzug begann, und die Nazis schwärmten in den Ford-Werken aus. Grimmige, entschlossene Leute waren das, die mit Henry eine Eigenschaft gemeinsam hatten: Wenn sie etwas wollten, so wollten sie es sofort und unternahmen die nötigen Schritte. Jetzt waren sie in vielen Ländern der Welt am Zuge. Sie hatten den Premier von Rumänien und den Kanzler Österreichs, den König von Jugoslawien und einen Minister in Frankreich ermordet. Sie hatten Hunderte ihrer politischen Gegner in Mitteleuropa entführt und getötet, sogar in Frankreich. Sie raunten dem alten Karrenkönig ins Ohr:
»Wir bieten Ihnen, was Sie brauchen, Mr. Ford: eine reine uramerikanische Bewegung, die alle anderen vereinigt - den Ku-Klux-Klan, die Schwarze Legion, die Silver Shirts, die Amerikanische Freiheitslegion, die Angelsächsische Föderation - all jene Bewegungen, die verschworen sind, die Roten zu vernichten und die Interessen des Privatkapitals in Amerika zu wahren. Wir werden die Bolschewisten aus dem Weißen Haus jagen und ihre schielenden Professoren aus dem Staatsdienst vertreiben. Alle ausländischen Agitatoren werden wir auf steinerne Schiffe bringen, bleierne Segel setzen und sie in die offene See schleppen. Auf Diskussion über Kommunismus und den Aufruf zum Streik muss die Todesstrafe stehen!«
»Nur Geld brauchen wir! Geld für Silber-Hemden und schwarze Hemden. Geld für Stiefel zum Marschieren, für Flaggen zum Schwenken, für Schlagringe, Revolver und Maschinengewehre, für Panzerwagen und Gasbomben, für Flugblätter, antijüdische Zeitungen und Ford-Rundfunksendungen. Wer heute Geld hat, kann die Leute alles glauben machen. Wenn Sie uns genug davon geben, so schaffen wir Ihnen eine politische Partei. Wir werden einen Mann aus unseren Reihen zum Präsidenten der Vereinigten Staaten wählen lassen. Geben Sie uns ein Prozent Ihres Vermögens Mr. Ford, und wir retten ihnen 99 Prozent und Amerika dazu!«
Henry lauschte. Das war eine Möglichkeit! Aber es war auch riskant. Henry blieb, was er immer gewesen war -ein Ingenieur mit dem Geist eines starrköpfigen Farmers.

Bei Sonnenuntergang an einem warmen Frühlingsabend schlenderte der Autokönig im Garten seines Gutes umher und sah nach seinen Vögeln. Hier hatte er zweitausend Vogelkästen eingerichtet; sie wurden im Winter durch eine elektrische Heizung erwärmt und waren mit einer Wasserleitung versehen, die gegen Frost geschützt war. Hier hatte er 380 Paaren englischer Singvögel die Freiheit gegeben und ein andermal 75 Paaren Mauerseglern. Er wollte wissen, wie viele man den Winter über in diesen luxuriösen Nestern halten könnte und wie viele im nächsten Frühjahr wiederkommen würden. Er zählte sie, und die Zahlen interessierten ihn ebenso wie die täglichen Berichte über Erzeugung und Verkauf seiner Wagen.
Zur gleichen Stunde traf sich Tom Shutt mit seiner Frau in einer jener proletarischen Kneipen, in denen man eine Tasse Bouillon oder Kaffee, zuweilen auch ein Schinkenbrot bekam und in denen es stets so voll war, dass man seinen Teller auf die Lehne seines Stuhles stellen musste. Tom sollte heute abend auf einer Versammlung sprechen. Dell war draußen sehr tapfer, aber zu Hause ängstigte sie sich um ihn. Sie ließ ihn daher nie allein gehen und traf sich mit ihm, sobald ihre Arbeit beendet war. Und dann blieb sie bei ihm. »Immerhin kann ich schreien, wenn etwas passiert«, meinte sie.
Um sieben Uhr kam der Diener und erinnerte Henry daran, dass er sich umkleiden müsse. Der Autokönig betrat das Haus und fluchte leise vor sich hin; er hasste alle offiziellen Anlässe. Seine Frau musste diese Dinge arrangieren und ihn förmlich dazu zwingen. Heute lag allerdings etwas Besonderes vor: Ein Dinner im Hause einer jener alten Familien, die schon Würde und Besitz hatten, als der Autokönig noch ein Farmerjunge war und seine erste Taschenuhr zerlegte. Jetzt war er hundertmal so reich, als sie es je werden konnten. Aber was zählte, war die gesellschaftliche Stellung, deshalb hatte er sich Mrs. Fords Wunsch gefügt, dort einmal die Vergnügungen der guten alten Zeit vorzuführen, deren Wiederbelebung in Amerika er so eifrig betrieb.
Um diese Stunde beendeten Tom und Dell ihr Abendessen für 25 Cents. Dell wartete besorgt auf zwei Freunde, die versprochen hatte, sich mit ihnen zu treffen. Toms Wagen war nur ein Zweisitzer, und seine Frau versuchte stets, noch einen anderen Wagen aufzutreiben, der sie zur Versammlung begleitete. Sie sprach nicht viel darüber, sie wollte ihrem Mann mit ihren Ängsten nicht unnötig auf die Nerven fallen. Aber immer wieder musste sie an den Gewerkschaftler denken, der vor knapp einem Jahr ermordet wurde, und an den anderen, den man kurz vorher erschossen hatte.
Um neunzehn Uhr dreißig bestiegen Henry und seine Frau ihre Limousine. Es war doch gut, dass er damals die Lincoln Company gekauft hatte; so konnte er doch einen wunderbar bequemen Wagen seiner eigenen Produktion fahren. Der Chauffeur legte eine Decke über ihre Knie, und sie lehnten sich in die Polster zurück, um in die vornehme Gegend von Grosse Painte zu fahren. »Ich hab' sieben Hänflinge gezählt«, sagte Henry. »Möchte wohl wissen, ob sie von jenem Paar stammen, das damals über unserer Haustür nistete. Wie lange ist das her? Zweiundzwanzig Jahre? Mein Gott, wie die Zeit verfliegt! Möchte mal wissen, wie lange so ein Hänfling lebt? Ich werde in diesem Jahr einige der Jungen beringen.«
Tom und seine Frau, denen ein zweiter Wagen mit Freunden folgte, waren jetzt in die Nähe des Versammlungsortes gekommen. Sie parkten ihre Wagen und schlossen sie ab. Der Saal lag im zweiten Stock über einem Viehstall. Davor stand eine Straßenlaterne, dort ließen sich deshalb nur wenige Leute sehen. An der Rückseite war ein Zugang über eine Treppe, und eine Reihe Frauen und Männer, Taschentücher vor den Gesichtern, stiegen die Stufen hinauf und ertasteten sich in der Dunkelheit ihren Weg zu den freien Plätzen. Es waren fast nur Fordarbeiter hier, darunter auch einige alte, denen Henry Ford vor sechzehn Jahren noch versichert hatte, sie könnten Gewerkschaften haben, wenn sie es wollten.

Henry war stolz darauf, dass er stets pünktlich war, Schlag zwanzig Uhr stiegen er und seine Frau aus der Limousine vor dem hellerleuchteten Portal einer Villa, die ganz dem Geschmack und Format der Auto- und Geldkönige von Detroit entsprach, aber obendrein noch den Vorzug hatte, dass sie fast sechzig Jahre alt war. Ein Diener in schwarzer Gala nahm ihre Mäntel und geleitete sie in einen Raum, der mit alten kostbaren Möbeln eingerichtet war, die das Herz des Sammlers erfreuten. Sie wurden vom Gastgeber und seiner Gattin, einem betagten Paar, von ihrem Sohn und dessen Frau begrüßt. Es waren verhaltene, wohlerzogene, gütige Menschen. Auf den Farmerjungen machten sie großen Eindruck.
Zur gleichen Zeit erzählte der Vorsitzende der Versammlung seinen Zuhörern, dass in dieser Welt noch nie Freiheiten ohne Kampf gewonnen wurden. Die Rechte, deren sich die Amerikaner heute erfreuten, besäßen sie nur, weil es Menschen gegeben habe, die einst bereit gewesen seien, dafür zu kämpfen und zu sterben. Nicht anders würde es mit den Rechten der Arbeiter sein. Der industrielle Feudalismus werde ohne Kampf nichts aufgeben, und kein Fußbreit Boden sei ohne Helden zu erobern, die willens seien, Opfer für diese Sache zu bringen.
Um zwanzig Uhr fünfzehn wurden die Gäste mit Cocktails bewirtet, einige waren mit Bacardi, andere mit Tomatensaft gemixt. Henry und seine Gattin bevorzugten die letzteren. Es gab als Horsd'oeuvres Gänseleber auf kleinen Toaststücken, Kaviar, Anchovis auf Roggenbrot, Schinkenschnitzel und kleine Würstchen auf Holzspießen, viele wunderbare Sachen, sie regten den Appetit an.
Der Vorsitzende führte den Redner des Abends ein, einen Arbeiter der Ford-Werke, der auf der schwarzen Liste stand. Der Vorsitzende hätte gern hinzugefügt, dass er der Sohn eines Fordarbeiters sei, aber Tom hatte ihn gebeten, das nicht zu erwähnen. So sagte er, der Redner stamme aus einer Familie von Fabrikarbeitern. Sein Vater und Großvater hätten schon die Nöte ertragen, welche die Arbeiter des Distrikts Detroit jetzt beenden wollten.
Kurz vor halb neun saßen die sechzehn Gäste im Speisezimmer, wo die Bildnisse alter Vorfahren auf eine Szene stiller Eleganz herabschauten. Die Tafel war mit einer Filigrandecke aus schwerer Spitze bedeckt - poliertes Mahagoni schimmerte hindurch, Teerosen waren darauf verstreut, wunderbar schön im Schein weißer Kerzen, die in silbernen Leuchtern steckten. Alte handgeschliffene Gläser gab es und Silber mit Familienmonogramm. Hier fand ein Mahl nach alter Sitte statt, und eine Gastgeberin bot es dar, die von Kindheit an wusste, wie man so etwas anzurichten hatte. Ihre Diener waren so erzogen, dass alles reibungslos ablief, fast so wie in einem der perfekten Motoren des Autokönigs.
Tom Shutt sprach vor seinen unsichtbaren Zuhörern über die Situation der Arbeiterklasse im Kapitalismus und seinem Konkurrenzkampf: »Man schuf riesige Anhäufungen von Kapital - Großkapital«, sagte Tom und bemühte sich, seinen akademischen Hang zu Fremdwörtern zu unterdrücken. »Allein und einzeln sind die Arbeiterwehrlos. Die Massen der Arbeitslosen werden sie immer weiter schwankend machen, bis man in Amerika einen Standard hat wie die Kulis in China. Sie werden zur Arbeit rennen wie die Rikschamänner und mit vierzig Jahren alt und verbraucht sein. - Vereinigen wir uns und treten den Arbeitgebern mit einem Monopol entgegen, das den ihren ebenbürtig ist! Das ist der einzige Weg, diesem Schicksal zu entgehen.«

Die Gastgeberin hatte das Mahl wohl überlegt, und es hatte ihr Probleme gemacht. Sie wusste, ihr Ehrengast war überzeugter Amerikaner, ganz wie ihr verstorbener Großvater es gewesen war. Sie zweifelte, ob er die Künste ihres Küchenchefs schätzen würde, und wusste recht gut, dass er die Namen der französischen Speisen nicht richtig aussprechen konnte. Wenn man nun aber alte amerikanische Tänze tanzte, war es da nicht auch angebracht, die alten amerikanischen Gerichte wieder zu reichen? Aber sollte man das tun? Sah das nicht recht überspannt aus? Sie hatten einen ehrwürdigen alten Onkel befragt - welchen Salat hatten ihre Vorfahren eigentlich gegessen? Und er hatte geantwortet: »Rübenblätter, und dazu tranken wir den süßen pot-likker-Likör.« Aber dazu konnte sie sich nicht überwinden; sie beruhigte sich mit der Überlegung, dass Alligator-Birnen ja in Florida wüchsen und so auch rein amerikanischen Ursprungs seien. Es war auch gar nicht nötig, diese Fragen aufzuwerfen, denn Mr. Ford, der auf dem Ehrenplatz zu ihrer Rechten saß, sprach angelegentlich über seine englischen Vögel, während er seinen Salat aß.
Tom Shutt beschrieb seinen Zuhörern die Stufe, auf der das Großkapital heute stand. Die Automobilindustrie hatte die Kapazität, doppelt soviel Wagen zu erzeugen, wie das amerikanische Volk mit seinem Geld kaufen konnte. Die drei großen Gesellschaften lagen in so heftigem Konkurrenzkampf, dass sie es nicht wagten, die Jahresproduktion früher als im letztmöglichen Augenblick anlaufen zu lassen. Denn jeder fürchtete, seinen Spionen sei vielleicht doch irgendeine neue Verbesserung entgangen und die anderen könnten ihn überholen, wenn er sie nicht einführte. Deshalb wurde die Arbeit eines Jahres in zwei oder drei Monate zusammengedrängt. Die Leute wurden in dieser Zeit wie Rennpferde gehetzt, danach warf man sie wieder auf die Straße. Da konnten sie sich wieder bei den Notküchen anstellen, um ihr Leben zu fristen.
Als zweiten Gang gab es eine Schildkrötensuppe, und die Gastgeberin meinte, dieses Gericht besonders anpreisen zu dürfen. Ihre Vorfahren stammten von der Ostküste, und sie wusste, dass die Karrettschildkröte auch im alten Amerika als Delikatesse galt. Die Lobpreisungen des köstlichen Geschmacks flogen rund um die Tafel. Auch der Ehrengast hörte sie und vergaß die Warnungen seines Arztes, die er bei großen Dinners beachten sollte.
Tom Shutt konnte keinen seiner Zuhörer sehen, aber er konnte sie hören, und sie hielten durchaus nicht mit ihren Gedanken über seine Ausführungen zurück. Gab die Autoindustrie ihnen etwa einen Lohn, von dem sie leben konnten? Konnten sie die Erzeugnisse der Farmer und der Fabriken kaufen? Sie sagten klipp und klar, dass sie es nicht könnten, und Tom bewies ihnen, dass all ihre Nöte durch eine simple Tatsache zu erklären waren. Unter dem >New Deal< waren die Gewinne um 50 Prozent gestiegen, die Löhne aber nur um zehn Prozent. Der Faktor, der die Depression verursacht hatte, wirke jetzt also noch stärker als zuvor! Das führe geradenwegs in den nächsten Zusammenbruch, wenn man nicht einen Weg finde, die Löhne auf Kosten der Gewinne anzuheben.
Als nächstes gab es Wachteln. Ohne Zweifel haben die Vorfahren diese im Überfluss verzehrt. Allerdings hatten sie sie wohl nicht in kleinen Kasserollen aus feuerfestem Glas servieren können, und es war immerhin zweifelhaft, ob sie eine so delikate Sache wie diese Champignonsauce zubereiten konnten. Jene zutraulichen kleinen Geschöpfe, die so schnell und weit fliegen, haben zwei starke Brustmuskeln, deren jeder ein paar köstliche Bissen für ein Essen liefert. Auch bei einem so vornehmen Mahl, wo man sich die Finger mit feinen handgesäumten Tüchern säubert, pflegt man nur wenige Bissen von dieser Köstlichkeit zu essen.
Der Redner behandelte die Frage, wie man die Löhne erhöhen könne. »Politik ist eine Kunst der Winkelzüge«, sagte er, »der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ist ja geradezu eine Garantie dafür, dass die Gesetze nur das sind, was die Richter mit ihren Auslegungen aus ihnen machen. Nur die Macht aller Arbeiter, die in einer Gewerkschaft organisiert sind, kann man mit keinem noch so legalen Schachzug zerschlagen. Einer Industriemacht von einer Dollarmilliarde, wie es die Ford-Werke sind, können wir nur eines entgegensetzen, nur ein Mittel gibt es, sie zu bekämpfen: eine Gewerkschaft der 200000 Fordarbeiter, die von dem demokratischen Willen ihrer Mitglieder beherrscht ist. Das wollen wir, weil es für die Arbeiter der einzige Ausweg aus Not und Elend ist.«

Es war eine kleine Sensation, als die Gastgeberin Schöpfungen aus Eis servieren ließ, jede ein Abbild des neuen Stromlinienwagens Ford Victory 8, der jetzt das Land überschwemmt und dessen Produktionsziffer die Million bereits überschritten hatte. Dazu wurden kleine runde Kekse aus dunklem Teig gereicht, niedliche Imitationen von Automobilrädern, deren Speichen aus dünnen Zuckerschnüren zwischen Nabe und Felge kunstvoll eingesetzt waren. Das Lachen und die Unterhaltung darüber schmeichelten dem großen Mann; er liebte jegliche Art von Fordspäßen.
»Können die Arbeitergewerkschaften alter Prägung diese Aufgabe lösen?« fragte Tom Shutt. »Wären sie dazu
in der Lage, auch wenn sie ehrliche Führer hätten, die sich für die angelernten und ungelernten Arbeiter der Massenindustrie einsetzten? Sie können es nicht! Denn die Basis Ihrer Organisation ist falsch. Die Fachgewerkschaften alten Stils sind für kleine Unternehmungen geschaffen worden. Sie heute benutzen, hieße mit Pferd und Wagen auf einer Autobahn fahren, die für höchste Geschwindigkeiten gedacht ist. Stellt euch einmal vor, in den Ford-Werken hätten wir hundert verschiedene Gewerkschaften! Alle wollten ihr Recht durchkämpfen! Das River-Rouge-Werk wäre dann in Zimmerleute, Maschinisten, Kesselwarte, Glasarbeiter und Fahrer der Zugmaschinen aufgeteilt. Alle diese Arbeiter haben aber doch einen Chef! Dann soll dieser Chef auch gegen eine Gewerkschaft kämpfen müssen.«
Geräuschlos brachten die Diener den Kaffee. Er wurde in kleinen hauchdünnen chinesischen Tassen serviert, die vor vielen Jahren aus England gekommen waren. Sie wurden als Familienerbstücke gehütet und nur unter Aufsicht der Hausfrau gereinigt, und sie achtete darauf, dass der Wasserstrahl die dünnen Schalen nie direkt traf. Das brachte eine interessante Unterhaltung mit Mr. Ford, der eine Menge von China wusste. Er sagte, er würde dies Service gern für sein Museum kaufen, wenn je der Tag käme, da die Dame es über sich bringen könnte, sich davon zu trennen. Rasch verglich die Dame den Wert dieser Erbstücke mit der Macht der Ford-Banken - vielleicht ergab sich daraus die Möglichkeit einer Familienallianz mit einem der Enkel des Autokönigs? - Und dann schenkte sie großmütig ihrem Gast diese Kostbarkeiten. Henry rief es seiner Frau voll überschwänglicher Dankbarkeit zu. Da sie am anderen Ende der Tafel saß, konnte es jeder hören, er hatte sich somit gebührlich für die Eiscreme V 8 bedankt.
»Organisiert euch!« schrie Tom Shutt, er schlug auf das Rednerpult und fegte in der Dunkelheit fast das Wasserglas herunter. »Werdet euch darüber klar, dass ihr euren Anteil an den Erzeugnissen der Industrie endlich haben wollt. Amerika hat sehr wohl die Mittel, um alle Dinge zu erzeugen, die ihr braucht. - Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Gesundheit, Erziehung, Erholung. Menschenwürdige Wohnungen für Arbeiter gibt es nicht, aber man könnte sie bauen. Es gibt in Amerika keine Entschuldigung für das Elend derer, die arbeiten. Fordert euren Anteil! Fordert, fordert immer wieder, bis eure gerechte Forderung befriedigt ist!«
Es war halb zehn, die Gäste hatten sich in den Salon begeben, wo sie über den Markt und die Finanzlage schwatzten, während man ihnen Likör in dünnen Glasschalen reichte. Mrs. Ford erzählte der Schwiegertochter von den englischen Singvögeln, gerade diese hatte die junge Dame an ihren heimatlichen Brutplätzen beobachtet. Mr. Ford zeigte man einen Sheraton-Tisch mit dem eingelegten Bildnis eines englischen Edelmannes. Er bot bereitwillig an, einen seiner Experten zu schicken, der das Alter des Tisches feststellen und das Bildnis identifizieren könne.
Toms Versammlung war vorüber. Da es jetzt heftig regnete, liefen die Leute rasch zu ihren Wagen. Andere warteten und standen im Torweg zusammengedrängt. Ein paar Männer, die draußen herumgelungert hatten, drängten sich dazwischen und starrten den Arbeitern ins Gesicht. Jeder wusste, was das bedeutete. Wer nicht erkannt werden wollte, schlug sich die Jacke über den Kopf und verschwand schleunigst trotz des Regens. Andere ließen sich anrempeln. Es hatte wenig Sinn, sich mit den Schlägern der Gesellschaft, die stets bewaffnet waren, in einen Streit einzulassen.

Die Gäste wurden in den Ballsaal im ersten Stock geführt, er war erst vor kurzem in Creme und Gold renoviert worden, schwere karmesinrote Portieren hingen zwischen den großen Fenstern. Vergoldete Louis-Quinze-Stühle waren an den Wänden aufgereiht, hier saßen andere Gäste, die man zum Tanz geladen hatte. Auch eine Empore für die Musiker gab es. Aber natürlich nicht für eine Jazzkapelle, sondern für drei Fiedelleute war sie vorgesehen. Magere alte Männer mit Bärten waren das, die einzigen in der Gesellschaft ohne Abendanzug. Sie grinsten fröhlich, dabei sah man, dass einer ein Gebiss trug, ein anderer nur noch ein paar Zähne hatte und der dritte deren zwei - »aber sie beißen noch, Gott sei Dank«, sagte er.
Tom und Dell eilten zu ihrem Wagen, ihre Freunde mit ihnen. Sie liefen durch den Regen. Die Wagen sprangen an, fuhren los — bump, bump. Toms Wagen hatte einen Platten; das kommt schon vor, wenn man Geld sparen will und auf dem Cord fährt. Sie hielten an, Tom sprang heraus und machte sich an die Arbeit. Einer seine Freunde half ihm - kein Vergnügen bei so einem Regen. Aber sie würden ja bald zu Hause sein und aus ihren nassen Kleidern kommen. Die jungen Burschen machten sich einen Spaß daraus, während Dell ängstlich umherspähte.
Die Fiedelleute spielten auf: >Turkey in the Straw<, eine lustige Volksweise, nach der Millionen Kolonisten einst auf ihren Festen getanzt hatten. Das Herz wurde einem ordentlich warm, wenn man mit seinen Gedanken bei diesen Vorfahren weilte. Es gab einem doch ein Bewusstsein davon, welch eine große Tradition hinter einem stand - all diese herrlichen Leistungen, und man selbst war der Erbe. Der alte Fiedler mit den künstlichen Zähnen und dem längsten Bart rief die Tänze auf. >Polonaise. Alles aufstellen!< Die Paare stellten sich auf und marschierten um den Saal, fröhlich und dem Tanz hingegeben, aber auch selbstbewusst. Sie wussten ja, wer sie waren - die wichtigsten Leute in diesem Teil der Welt, aufs beste ernährt, aufs beste bedient -, die Damen mit weißem Busen und schimmernden Armen, in Seide, Satin und hauchdünne Gedichte von köstlichen Farben gehüllt, die Herren stark und tüchtig, jetzt dem galanten Spiel hingegeben. Einige der jüngeren trugen weiße Anzüge, das sah sehr schön aus. Alle marschierten im Kreis und lachten den Geigern zu, wenn sie an ihnen vorbeikamen. Ein reizendes Bild war es - ja, diese alten Tänze waren eine prächtige Neuheit.
Tom hatte seinen Ersatzreifen aufgesetzt, sie bogen in eine breite Straße ein, und der Wagen ihrer Freunde folgte ihnen. Dell schaute nach hinten aus, um zu sehen, ob noch ein Wagen käme. Aber es war schwer, im Regen etwas zu sehen. Sie sprachen über die Versammlung, die Reaktion der Zuhörer, die Wochenzeitung, welche die Gewerkschaft herausgab und die an der Tür unentgeltlich verteilt worden war. Es gab viel Arbeit, und über vieles musste man nachdenken. Die Saat war gut aufgegangen, aber der Schnitter waren noch zu wenige.

Es war halb elf, und die Gäste tanzten einen Lancier. Vier Gruppen, zweiunddreißig Personen, traten dazu an. >Old Zip Coon< hieß die Melodie, und die drei Fiedelleute spielten drauflos, dass es eine Art hatte. Einer komm dierte wild schreiend - so mochte er es wohl in dem abgelegenen Dorf seiner Jugend getrieben haben, wenn Ernten und Richtfeste ein Grund zum Feiern waren >Verbeugung!< Die Herren machten ihren Damen eine Verbeugung. >Damen zur Linken!< Sie verbeugten sich vor der Dame des nächsten Herrn. >Alles bei den Händen fassen und Kreis links herum.< Der Herr reichte seiner Dame zur Linken die linke Hand, schritt um sie herum fasste dann die rechte Hand einer anderen und schritt so durch den Kreis, jetzt die rechte, nun die linke Hand, die Damen kamen einem entgegen. Nicht alle kannten die alten Tänze, und sie hatten viel Spaß, wenn sie einen Fehler machten.
Tom und Dell kamen an die Stelle, wo ihre Freunde abbiegen mussten. Die Freunde boten ihnen an, sie noch bis zur ihrer Wohnung zu begleiten, aber Tom lehnte ab. Es gab ja keine Gefahr, und es war auch nicht mehr weit. Tom fühlte sich ganz sicher, und Dell wollte ihn nicht mit ihrer ewigen Ängstlichkeit beunruhigen. Es war ihnen ja auch niemand gefolgt. »Also dann gute Nacht, war eine gute Versammlung, du warst auch gut, wir sehen uns morgen früh - bis dann«, so rief man sich von Wagen zu Wagen zu.
Der alte Fiedler kam in Schwung, er spreizte sich und zeigte, was er konnte. Er kommandierte die Figuren im Singsang und warf allerlei Verse ein: >Rechts herum, außen um den Kreis, Hand in Hand mit der Liebsten, der Kleinen.< Bäuerliche Anweisungen folgten: >Links herum, die rechte Hand, Kartoffeln pflanzt man in den Sand.< Alle waren fröhlich; sie wurden von der Lust der Tänze ergriffen und stampften mit den Füßen. Es war wirklich so, wie Henry gesagt hatte - man kam bei diesen alten Tänzen mit sehr vielen Menschen in Kontakt. Das Herz ging einem für sie auf und wurde zu Güte und Toleranz bereit. Sie waren wahrhaft zivilisierte Menschen.
Tom und seine Frau waren von der Hauptstraße abgebogen und fuhren jetzt an den letzten Häusern eines Vororts vorbei: Offene Felder, ein paar Scheunen, Schienenstränge, die man in einer regnerischen Nacht mit Vorsicht überqueren musste. Tom sprach von einer Komiteetagung im Hauptquartier und von Uneinigkeiten über die Taktik. Dell hörte nur halb zu. Sie wandte sich nach hinten und versuchte durch das kleine Rückfenster hinauszuschauen, an dem der Regen herabströmte.

Jetzt kam der große Augenblick, auf den die Gäste gewartet hatten, das große Ereignis, das ihnen versprochen war. Vier ausgewählte Paare sollten eine Quadrille tanzen. Vier ältere Paare, würdige und besonnene Leute, traten dazu an. Sie wollten den jüngeren einmal zeigen, wie viel wirklich in diesen alten Tänzen lag. Mrs. Ford hatte einen Groß-Bankier aus Detroit zum Partner. Henrys Partnerin war die Frau des Bankiers. Der Tanzmeister war ganz Würde jetzt und machte keine Glossen mehr. >Zunächst viermal rechts- und linksherum<, rief er. >The Girl I left behind me< hieß der Tanz. Henry, würdevoll und zurückhaltend wie stets, nahm die Hand seiner stattlichen Dame und bewegte sich gemessen, doch lächelnd im Kreis. Man tanzte ein Menuett, das früher Könige und Kaiser getanzt hatten. Aber der Flivverking war ein amerikanischer König, und die amerikanische Art war doch die vortrefflichste. Wenn der alte Fiedelmann aus dem Hinterwäldlerdorf von Michigan >Promenade!< rief, wie schön reimte es sich dann auf >Limonade< die doch das passendste Getränk war, das man auf jeder Tanzgesellschaft ausschenken sollte.
Hinter Tom und Dell kam jetzt ein Wagen. Ein plötzliches Kreischen der Bremsen, der Wagen schleuderte streifte fast Toms Wagen und drückte ihn an den Straßenrand. »Himmel! Was soll das!« Dells Herz setzte aus - sie wusste, was es war: jetzt geschah das Furchtbare! Davor hatte sie sich immer gefürchtet! Sie waren hilflos, unbewaffnet, denn ein Gewerkschaftler darf keine Waffen tragen. Er ist froh, wenn die Polizei ihm keine Waffen unterschiebt und ihn dafür ein oder zwei Jahre ins Loch steckt.
»Damenkette«, rief der Tanzmeister, und Mrs. Ford im blassblauen Chiffon gab ihre Rechte der Dame zur Linken, und sie schritten zu den gegenüberstehenden Partnern, reichte ihnen die Linke, drehten sich im Kreis und kehrten zu ihren Partnern zurück. Der Herr, der Mrs. Ford gegenüberstand, war ihr geliebter Gatte. Sie blickte ihn strahlend an und drückte seine Hand, als er sie fasste. Der beste aller Männer war er und der klügste! Hatte er nicht diese reizende Art der Zerstreuung neu entdeckt und sie diese Gesellschaft gelehrt? Seine Kraft für alles Gute war so stark!
Fünf Gestalten sprangen aus dem Wagen und stürzten sich auf den Zweisitzer. Tom sprang heraus; er wollte sich nicht kampflos ergeben. Dell schrie, sie sprang aus dem Wagen, schrie noch lauter, aber ein Mann warf sich auf sie und riss sie zu Boden. Sie biss ihm in die Hand, als er versuchte, ihr den Mund zu schließen. Da drehte er sie herum und drückte ihren Kopf in den Straßenschlamm. Sie konnte nur noch würgen, und bald lag sie still. Tom landete eine Reihe von Schlägen, aber die brachten seine Gegner erst recht in Fahrt. Dann trat ihm einer in den
Unterleib, er sackte zu Boden. Die anderen stürzten sich auf ihn.
Zwei Männer rissen Toms Arme auf den Rücken und fesselten sie mit Handschellen. Die beiden anderen zogen lederne Peitschen unter ihren Jacken hervor, in deren Enden Bleikugeln saßen, und nun bearbeiteten sie ihn. Sie schlugen nicht auf den Kopf, das hätte ihm ja den Spaß an der Sache nehmen können! Aber jeden Zoll seines Körpers zerprügelten sie systematisch.
»Polonaise rechts- und linksherum!« rief der Tanzmeister. Zwei Paare wechselten die Plätze. Die Partner reichten einander die Hand und schritten auf ihren Platz zurück. Dabei passierten sie das Paar zur Rechten, und wenn sie ihren Platz wieder erreicht hatten, drehte der Herr, immer noch ihre Hand haltend, seine Dame am Platz.
Die Schläger machten ihre Arbeit gründlich, sie verstanden sich darauf. Sie hatten Tom auf die Seite gerollt und schlugen ihm in die Weichen, um die Nieren zu treffen.
»Chassez out« rief der Tanzmeister. Die alten Leute sprachen es >Shashay< aus. Und dann: »Formiert«. Die Tänzer bewegten sich mit vollendeter Grazie. Sie beherrschten jeden Pas.
Sie schlugen ihr Opfer ins Geschlecht. »An dem wird seine Alte lange keinen Spaß mehr haben!«
»Six hands around the ladies«, rief der Tanzmeister. Wie reizend lächelten da die betagten Damen. Sie kokettierten, sie waren wieder jung!
»Das reicht«, sagte der Chef der Schlägertruppe. Einer von ihnen löste die Handschellen und steckte sie in die Tasche. Sie riefen nach dem fünften Mann, der noch immer auf Dells Rücken kniete. Er hatte ihr vorsichtshalber den Kopf auf die Seite gedreht, damit sie nicht erstickte.
»Alle zwei Schritte vor und zurück«, rief der Tanzmeister. Sie trippelten leichtfüßig mit kleinen Schritten.
Die fünf Männer sprangen in ihren Wagen und fuhren schnell davon.

Das Menuett war getanzt. Die Gastgeberin trat auf Henry zu, um ihm zu danken. Andere drängten sich heran. »Ganz reizend, herrlich! Eine entzückende Sache... Sie haben uns wirklich ein Geschenk gemacht!«
Henry verbeugte sich; diese Leute zählten, und was sie sagten, hatte Gewicht. Sein Kreuzzug war doch ein Erfolg! Mochte die Menge über ihn lachen - man hatte schon oft über ihn gelacht und zum Schluss doch stets anerkennen müssen, dass er recht hatte.
Dell Shutt kroch im Schlamm herum, »Tom, Tom!« wimmerte sie. Der Regen ertränkte ihre Stimme, sie fühlte ihre Schmerzen nicht. War er tot? Hatten sie ihn fortgeschleppt? »Tom, wo bist du?«
Henry und seine Gemahlin verabschiedeten sich; er ging immer früh zu Bett. Wer die ganze Nacht tanzen wollte, konnte bleiben. Man dankte ihm nochmals, die Leute verabschiedeten sich zum zweiten Mal, er war der wichtigste Mann, es war schon wert, in seinem Gedächtnis zu bleiben, er beherrschte die Schicksale eines Reiches. Und seine Frau war die führende Dame der Gesellschaft - bei Frauen zählen kleine persönliche Berührungspunke. »Hat mich so gefreut, Sie wieder einmal zu sehen - und wie gut Sie aussehen! Kommen Sie doch auch einmal so zu uns! Vergessen Sie den nächsten Freitag nicht! Sie tanzen ganz entzückend, Mrs. Ford!«
Dells Kopf schmerzte, ihre Zähne klapperten, Hände und Füße waren wie Eis. Sie kroch umher und rief: »Tom!« Sie hatte fast keine Stimme mehr, sie hatte Dreck im Mund und konnte ihn nicht herauswürgen.
Die Fords zogen endlich ihre Mäntel an. »Die Nächte sind kalt«, sagte der Gastgeber, der sie zur Tür geleitete. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Freude Sie uns bereitet haben.« Der Chauffeur hielt die Tür der Limousine auf und breitete warme Decken über ihre Knie. Der Wachmann, dessen Platz neben dem Chauffeur war, stand auf der anderen Seite des Wagens. Er hatte nur diese Aufgabe - bewachen. Seine Pistole steckte im offenen Halfter, nur von der Mantelklappe verdeckt. Hinter ihnen stand ein zweiter schneller Wagen mit zwei bewaffneten Männern; sie waren ausgestiegen und hielten Ausschau; auch sie hatten nur die Aufgabe - >bewachen<. Die Gangster schreckten heutzutage vor nichts mehr zurück.
Dell hatte den Körper ihres Mannes gefunden. Er war bewusstlos. Sie begann zu weinen und zu schreien. Aber dann wurde ihr klar, dass damit nicht geholfen war. Er fühlte sich kalt an, aber doch nicht so kalt wie der Regen und der Schlamm. Sein Gesicht war aufwärts gewandt, der Mund stand offen. Sie drehte ihn auf die Seite, weil sie fürchtete, er könnte sich erbrechen und dann ersticken. An den Lichtern konnte sie erkennen, wo die Hauptstraße war, und die Verzweiflung gab ihr Kraft. Sie richtete sich auf und rannte in diese Richtung.

»Sei doch nicht zynisch, Henry«, sagte Mrs. Ford, als der Wagen nach Hause fuhr.
»Täusch dich nicht über die Leute«, sagte Henry, »Sie alle wollen nur etwas verkaufen.«
»Ich glaube, diese Leute haben soviel Geld, wie sie brauchen.«
»Das stimmt; ist aber nicht einer unter ihnen, der nicht noch mehr haben möchte und froh wäre, wenn er es mir oder dir abknöpfen könnte. Der erste Schritt dazu ist getan, man hat sich mit dir bekannt gemacht.«
»Solche Gedanken vergiften alle menschlichen Beziehungen, mein Lieber.«
»Ich habe mich früher auch nie nur so zum Spaß in Gala geworfen und Besuche gemacht. Ich hatte immer etwas dabei im Sinn. Das ist bei diesen Leuten nicht anders.«
»Das Tanzen war doch wunderbar.«
»War sehr schön, ja, aber ich wette, jetzt tanzen sie Jazz.«
Der Fahrer und der Wächter waren von den beiden durch eine Glaswand getrennt, die Augen auf die Straße geheftet. Als sie eine Strecke durch offenes Gelände fuhren, sahen sie durch den Regen eine Frau auf die Straße zukommen. Sie schien zu schwanken, und als sie näher kamen, begann sie zu winken und lief schneller, als ob sie sie aufhalten wollte. Sie mussten ausweichen, um sie nicht anzufahren. Der zweite Wagen dicht hinter ihnen wich auch aus.
»Was war das denn?« fragte der Chauffeur.
»Wahrscheinlich ist sie besoffen«, sagte der Leibwächter.
Der Wagen raste weiter. Sie hatten ihre Befehle, sie durften um keinen Preis anhalten. Sie fuhren eine Milliarde Dollar, und so eine Summe kann sich weder Teilnahme noch Neugier leisten. Sie hat genug damit zu tun, auf sich selbst aufzupassen.
Henry und seine Frau hatten nichts bemerkt. Sie saßen in ihren Polstern und ruhten sich aus, sie waren auch nicht mehr die Jüngsten.
»Du solltest dir öfter ein wenig Frohsinn gönnen«, sagte die Frau. »Du hast viel Gutes für die Welt getan.«
»So, wirklich?« fragte der Autokönig. »Manchmal frage ich mich, ob man überhaupt etwas Gutes tun kann. Wenn irgend jemand weiß, was aus dieser Welt wird, dann weiß er verteufelt viel mehr als ich.«

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