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Alexander Serafimowitsch - Der eiserne Strom (1924)
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XXXVI

Den vierten Tag dröhnen die Geschütze, und die Patrouillen melden, dass ein neuer General von Maikop aus mit Kavallerie, Infanterie und Artillerie zum Feinde gestoßen sei. In der Beratung der Kommandeure wurde in dieser Nacht beschlossen, sich durchzuschlagen und weiterzumarschieren, ohne die zurückgebliebenen Kolonnen abzuwarten.
Koshuch gibt den Befehl: das Gewehrfeuer ist, um den Feind zu täuschen, gegen Abend nach und nach einzustellen.
Die Geschütze sind sorgfältig auf die Schützengräben des Feindes einzuschießen und in der Nacht jedes Feuer einzustellen. Die Regimenter sind, sobald es dunkel wird, in Schützenlinie möglichst dicht an die vom Feinde besetzten Höhen heranzuführen, aber so, dass der Feind dadurch nicht alarmiert wird. Alle Truppenverschiebungen müssen ein Uhr dreißig beendet sein; ein Uhr fünfundvierzig ist aus allen verfügbaren Geschützen Schnellfeuer von je zehn Schuss abzugeben. Mit dem letzten Schuss beginnt zwei Uhr nachts der allgemeine Angriff, die Regimenter stürmen die Schützengräben der Gegner. Das Kavallerieregiment bleibt in Reserve — zur Unterstützung der Infanterie und zur Verfolgung des Gegners.
Schwarze, tiefhängende ungeheure Wolken schoben sich. heran und blieben regungslos über der Steppe stehen. Seltsam verstummten die Geschütze auf beiden Seiten; sogar das Gewehrfeuer hörte auf, man hörte wieder den Fluss brausen.
Koshuch horcht in die Dunkelheit hinaus — verdammt! — kein einziger Schuss; während der letzten Tage und Nächte hörte das Geschütz- und Gewehrfeuer keinen Augenblick auf. Sollte der Feind das gleiche beabsichtigen, dann prallen zwei Angriffe aufeinander, das Moment der Überraschung kommt nicht zur Geltung, und beide Angriffe werden aneinander zerschellen.
»Genosse Koshuch!...«
In die Stube trat der Adjutant, hinter ihm zwei Soldaten mit Gewehren und zwischen ihnen — ein unbewaffneter kleiner, bleicher Soldat.
»Was ist?«
»Vom Gegner. Ein Brief vom General Pokrowski.«
Koshuchs Blick saugte sich an dem kleinen Soldaten fest — dieser, erleichtert aufatmend, griff unter das Hemd und begann zu suchen. Er stotterte:
»Ich bin ein Gefangener... als wir uns zurückzogen, gerieten sieben Mann von uns in Gefangenschaft zu den Weißen... die andern sechs sind zu Tode gequält worden...«
Er schwieg eine Weile. Man hörte das Brausen des Flusses. Hinter den Fenstern war es dunkel.
»Hier ist der Brief. General Pokrowski hat mich übel heruntergemacht... «
Und fügte verlegen hinzu:
»Und auch Sie, Genosse Kommandeur. ,Hol ihn der und jener', sagte er zu mir, ,da, bring ihm diesen Brief.'«
In Koshuchs Augen spielten Funken, als er mit schlauer, zufriedener Miene die vom General Pokrowski selbst geschriebenen Zeilen überflog:
»Du niederträchtiger Hund... mag Dich der Teufel holen, hast alle Offiziere der russischen Armee und Flotte geschändet, indem Du in die Reihen der Bolschewiki, dieser Diebe, dieses Gesindels getreten bist. Ich erkläre Dir hiermit, Schurke und elender Bandit, dass Dir und Deinem barfüßigen Gesindel das Ende bevorsteht: denn weiter wirst Du nicht kommen. — Du bist von meinen Trappen und von den Truppen des Generals Heiman umzingelt. Wir werden Dich Hundsfott nicht entwischen lassen. Wenn Du Begnadigung haben willst, das heißt, wenn Du für Deine Verbrechen mit dem Dienst in einer Strafkompanie davonkommen willst, dann befehle ich Dir folgendes: noch heute Nacht alle Waffen an der Station Beloretschenskaja abzuliefern und die entwaffnete Bande in einer Entfernung von vier bis fünf Kilometer westlich von der Station aufzustellen; sobald dieser Befehl durchgeführt ist, melde es mir sofort nach dem vierten Bahnwächterhäuschen.«
Koshuch blickte auf die Uhr und auf die Dunkelheit hinter den Fenstern. Es war zehn Minuten nach eins.
,Also deshalb haben sie zu schießen aufgehört: der General wartet auf Antwort', dachte er. Fortwährend kamen Meldungen von den Kommandeuren der Truppenteile — seine Befehle waren überall durchgeführt — die Truppen lagen dicht vor den Stellungen des Feindes.
»Gut... gut...«, sagte Koshuch vor sich hin und blickte schweigend, mit unbeweglichem Gesicht auf die vor ihm Stehenden.
Draußen in der Dunkelheit durchbrach ein hastiger Pferdegalopp das Rauschen des Flusses. Koshuchs Herz stockte: »Schon wieder etwas los..., es bleibt nur noch eine Viertelstunde... «
Man hörte, wie ein Mann vom schnaubenden Pferde sprang.
»Genosse Koshuch«, sagte hastig der Bote, ein Kubaner, sich den Schweiß von der Stirn wischend, »die andere Kolonne - trifft ein.«
Mit blendendem Licht füllte sich die Nacht, die Stellung des Gegners, der General Pokrowski und sein Brief, die ferne Türkei, wo sein Maschinengewehr Tausende von Menschen niedermähte, und wo er, Koshuch, unter Tausenden von Toten heil geblieben, am Leben geblieben war — um nicht nur seine Leute, sondern auch die Tausende ihm folgenden wehrlosen und dem Tode geweihten Kosaken zu retten.

Zwei Pferde, die rabenschwarz schienen, jagten durch die Nacht, in der nichts zu erkennen war. Irgendwelche schwarze Reihen von Truppen marschierten in die Siedlung.
Koshuch sprang ab und trat in die hellerleuchtete Stube eines reichen Kosaken.
Am Tisch stand hoch aufgerichtet der Riese Smolokurow, trank, ohne sich zu bücken, starken Tee — der schwarze Bart hob sich gut auf dem sauberen Matrosenanzug ab.
»Holla, Brüderchen«, sagte er mit seinem tiefen samtenen Bass, den hereingetretenen Koshuch von oben betrachtend, ohne ihn dadurch etwa kränken zu wollen, »willst du Tee?«
Koshuch sagte:
»In zehn Minuten beginnt unser Angriff. Meine Leute stehen dicht vor den Schützengräben des Gegners, die Geschütze sind gerichtet. Bringe deine Truppen an die beiden Flanken, und der Sieg ist sicher.«
»Tu ich nicht!«
Koshuch presste die Kinnladen zusammen und fragte:
»Warum?«
»Warum, weil sie noch nicht da sind«, sagte Smolokurow gutmütig und lustig und blickte den kleinen zerlumpten Mann von seiner Riesenhöhe schalkhaft an.
»Die zweite Kolonne marschiert in die Siedlung — ich habe es eben selbst gesehen.«
»Ich gebe meine Leute nicht her.«
»Warum?«
»Warum, warum!« ahmte jener mit seinem tiefen Bass nach, »darum, weil die Leute müde sind, weil sie sich ausruhen müssen. Bist du eben erst zur Welt gekommen, dass du das nicht verstehst?«
Wie eine gespannte Feder füllte der eine Gedanke Koshuchs Gehirn und verdrängte alle anderen Empfindungen: ,Wenn ich siege, dann allein...'
Und er sagte ruhig:
»Dann stell' wenigstens deine Leute bei der Station in Reserve auf, und ich nehme dann alle meine Reserven und verstärke dadurch den Angriff.«
»Ich gebe meine Leute nicht her. Ich habe es gesagt — und damit basta —, du kennst mich.«
Er ging von einer Ecke zur andern, und auf seiner ganzen mächtigen Gestalt und auf dem kurz zuvor gutmütigen Gesicht breitete sich jetzt der Ausdruck eines starren Eigensinns aus; jetzt war nichts mehr von ihm zu wollen. Koshuch begriff das und sagte zum Adjutanten:
»Kommen Sie.«
»Einen Augenblick«, erhob sich Smolokurows Stabschef, trat auf Smolokurow zu und sagte mit einer Stimme, die gleichzeitig weich und gewichtig klang:
»Jeremej Alexejitsch, man könnte ja die Leute bei der Station in Reserve aufstellen — sie werden ja nur in Reserve stehen.«
Hinter seinen lässigen Worten klang: »Wird Koshuch geschlagen, dann schlachtet man auch uns ab.«
»Hm..., ich habe ja eigentlich... nichts dagegen... Meinetwegen nimm dir die Truppen, die eben angekommen sind.«
Bei Smolokurow war nichts auszurichten, wenn er sich einmal auf etwas versteift hatte. Aber einem kleinen Druck von einer Seite, von wo er ihn nicht erwartete, gab er sofort hilflos nach.
Das schwarzbärtige Gesicht wurde wieder gutmütig. Er schlug mit seiner mächtigen Pranke auf die Schulter des untersetzten Mannes:
»Nun, Bruderherz, wie steht's, he? Weißt du, Bruder, wir sind Seebären — auf dem Wasser, da können wir was ausrichten; da mag uns der Satan selber kommen. Aber auf dem Trocknen — davon verstehen wir soviel wie die Kuh vom Tanzen.«
Und er brach in ein Gelächter aus, dass die blendenden Zähne unter dem schwarzen Bart aufblitzten.
»Willst du Tee?«
»Genosse Koshuch«, sagte der Stabschef freundschaftlich, »ich schreibe sofort einen Befehl — die Kolonne wird an der Station Reservestellung einnehmen.«
Aus den Worten klang: »Nun, mein Lieber, bist also doch nicht ohne unsere Hilfe ausgekommen...«
Koshuch trat zu den Pferden und sagte im Dunkeln mit leiser Stimme zum Adjutanten:
»Bleiben Sie hier, gehen Sie mit der Kolonne bis zur Station, und dann erstatten Sie Meldung. Man kann nicht wissen, woran man bei diesen Leuten ist.«
In langen Ketten lagen die Soldaten an die harte Erde gedrückt — das dichte Schwarz der Nacht presste sie noch mehr an die Erde. Tausende tierhaft scharfer Augen drangen in die Dunkelheit, aber in den Schützengräben der Kosaken war es regungslos und stumm. Der Fluss rauschte.
Die Soldaten hatten keine Uhren, und die Erwartung wurde immer angespannter. Die Nacht stand schwer und regungslos da, aber ein jeder fühlte, wie es langsam und unentwegt auf zwei Uhr ging. Die Zeit floss wie das ununterbrochene Rauschen des Wassers dahin.
Obwohl alle nur darauf warteten, zerbrach das Dunkel doch völlig unerwartet, und purpurne Wolkenknäuel schossen durch die Nacht. Dreißig Geschütze begannen unermüdlich zu donnern. Und die bisher unsichtbaren Schützengräben der Kosaken zeichneten sich durch die blendend aufflammenden Schrapnellgeschosse gerade dort, wo Menschen fielen, in leuchtender Kette ab.
»Noch immer nicht zu Ende!« dachten qualvoll die Kosaken, sich an die trockenen Wände der Schützengräben drückend, jede Sekunde darauf wartend, dass die purpurnen Ränder der schwarzen Wolken zu blinken aufhören, die Scherben der zerbrochenen Nacht sich wieder zusammenfügen, dass man nach diesem das ganze Eingeweide erschütternden Dröhnen endlich wieder aufatmen kann. Aber das purpurne Blinken hörte nicht auf, und das Donnern dauerte, Erde, Brust und Gehirn erschütternd, fort, bald hier, bald dort klangen einsame, stöhnende Laute sich windender Menschen dazwischen.
Und ebenso plötzlich, wie es durchbrochen wurde, schloss sich das Dunkel wieder, die plötzlich eingetretene Stille löschte das purpurne Zucken und erstickte das unmenschliche Gebrüll der Geschütze. Vor den Schützengräben tauchte auf einmal eine dichte Reihe von Gestalten auf, und ein anderes Gebrüll rollte jetzt die Gräben entlang — es war ein lebendiges, tierisches Brüllen. Die Kosaken waren im Begriff, aus den Schützengräben zu fliehen — sie hatten nicht die mindeste Lust, sich mit bösen Geistern abzugeben. Aber auch dazu kamen sie nicht mehr: die Gräben füllten sich mit Toten. Da wandten sie sich dann mit mutiger Verzweiflung dem Gegner zu, um mit ihm bis aufs äußerste zu kämpfen.
Ja, es war eine satanische Kraft: fünfzehn Kilometer wurden sie verfolgt, fünfzehn Kilometer flohen sie in anderthalb Stunden.
General Pokrowski sammelte die Reste der Kosakenkavallerie und -infanterie, die Offrziersbataülone und führte die erschöpfte, ratlose Armee nach Jekaterinodar zurück, dem »Gesindel« den Weg freigebend.

 

XXXVII

Mit Anspannung aller Kräfte, in schnellen Märschen die Erde stampfend, ziehen sie, eng geschlossen, in Lumpen, vom Pulverdampf geschwärzt, über die Steppe, die staubigen Augenbrauen eng zusammengezogen. Und aller Blicke richteten sich scharf in die Ferne, auf den Horizont der sonndurchglühten
Steppe.
Schwer dröhnen die rollenden Geschütze. Pferde schütteln ungeduldig in den Staubwolken die Köpfe... Artilleristen wenden ihren Blick nicht von dem fernen blauen Strich.
Endlose Wagenketten knarren über den Weg, nackte Füße wirbeln den Staub auf, einsame Mütter ziehen an fremden Wagen dahin. Auf den geschwärzten Gesichtern leuchten trocken die leergeweinten Augen, auch sie richten sich nach dem fernen Strich des Steppenblaus.
Von der allgemeinen Eile erfasst, humpeln Verwundete dahin. Der eine hinkt auf schmutzig verbundenem Fuß, ein anderer pendelt zwischen den weitschwingenden Krücken, ein dritter hält sich krampfhaft mit seinen dürren Händen am Wagenrand, aber alle blicken sie unausgesetzt in die blaue Ferne.
Zehntausende von entzündeten Augen blicken hartnäckig, gespannt vor sich hin: dort ist Glück, dort ist das Ende der Qualen und der Müdigkeit.
Die heimatliche Kubansonne brennt auf sie nieder. Man hört keine Stimmen, keine Lieder, kein Grammophon mehr. Das endlose Knarren in den dicken Staubwolken, die dumpfen Hufschläge, der schwere Tritt der ungeordneten Reihen und die unruhige Legion der Fliegen — alles fließt, einem hastenden Strom gleich, strebt dem verlockenden Blau der geheimnisvollen Ferne zu. Bald, bald öffnet sie ihr Tor, dass das Herz freudig aufjauchzt: da sind sie, die Unsrigen! Aber, soviel sie auch gehen, so viele Siedlungen, Gehöfte, Vorwerke und Aule sie auch passieren — es bleibt immer das gleiche: die blaue Ferne tritt immer weiter und weiter zurück, . bleibt ebenso geheimnisvoll, ebenso unerreichbar. Soviel sie auch gehen, überall hören sie ein und dasselbe:
»Sie sind dagewesen, sind aber fort... Vorgestern Abend noch waren sie da, dann machten sie sich eilig auf und zogen alle davon.«
Ja, sie waren da. Da sind die Spuren der Pferde — überall Heu verstreut, überall ist Pferdedünger zu sehen. Und jetzt ist alles leer.
Hier stand die Artillerie; man sieht die graue Asche der erloschenen Feuer und die schweren Spuren der Artillerieräder, die hinter der Siedlung in die große Landstraße eingebogen sind.
Die alten Pyramidenpappeln am Wege sind voller Wunden: die Achsen zahlreicher Räder haben sie ihnen zugefügt.
Alles spricht dafür, dass sie noch vor kurzem da waren, jene, um derentwillen man unter den Schrapnells des deutschen Panzerschiffs marschierte, um derentwillen man mit den Georgiern kämpfte, um derentwillen man die Kinder in den Gebirgsschluchten zurückließ, um derentwillen man wie irrsinnig sich mit den Kosaken herumschlug... Aber es hilft alles nichts, noch immer bleibt die blaue Ferne unerreichbar. Knarrend hastet der Wagenzug über den Weg, unermüdlich klingen die eiligen Huftritte, unermüdlich folgen Fliegenschwärme dem hastigen Knarren des Zuges, unermüdlich bewegen sich endlose Staubwirbel über den Strom von Zehntausenden, unermüdlich leuchtet noch immer die Hoffnung in zehntausenden Augen, die sich auf den Horizont richten.
Bis auf die Knochen abgemagert — die Haut ist wie versengt —, sitzt Koshuch mit finsterer Miene in seinem Korbwagen; Tag und Nacht blicken seine zu schmalen grauen Spalten zusammengekniffenen Augen auf den fernen Himmelsstrich. Auch für ihn bleibt er geheimnisvoll und fern — fest sind Koshuchs Kinnladen zusammengepresst.
Eine Siedlung nach der andern, ein Bauernhof nach dem andern ziehen an ihnen vorbei.
Kosakenfrauen begegnen ihnen, verbeugen sich tief: in ihren freundlich lächelnden Augen glimmt der Hass. Und wenn der Zug vorüber ist, blicken ihm die Weiber erstaunt nach: sie haben ja niemand erschlagen, niemand beraubt — wie ist es möglich, diese verhassten Bestien!
Des Nachts meldet man Koshuch immer dasselbe: Kosakenabteilungen lassen sie, ohne einen Schuss abzugeben, durch, räumen ihnen immer den Weg. Weder des Tages noch des Nachts greifen sie den Zug an. Und hinter ihm schließen sie
sich wieder — auch da, ohne die Nachhut anzugreifen.
»Es ist recht!... Haben sich die Finger verbrannt...«, sagt Koshuch, und die Muskeln in seinem Gesicht zucken. Er gibt den Befehl:
»Schickt Berittene zu allen Kolonnen, zu allen Teilen des Zuges: sie sollen nicht zurückbleiben. Ununterbrochen weitergehen, keinen Augenblick Halt machen. Die Nachtruhe darf höchstens drei Stunden dauern.«
Und wieder knarren die Wagenreihen, zerren erschöpfte Pferde an den Wagenriemen, mit schwerer Hast dröhnen die Geschütze. In stiller, staubiger Mittagsglut, in sternfunkelndem Dunkel der Nacht, in früher, noch nicht erwachter Morgendämmerung zieht das schwere Dröhnen durch die Kubansteppen.
Koshuch wird gemeldet:
»Die Pferde fallen, Menschen bleiben zurück.«
Er presst durch die Zähne:
»Lasst die Wagen stehen, die Lasten legt auf andere, deren Pferde noch laufen können. Passt auf die Zurückbleibenden auf, nehmt sie mit. Ununterbrochen weitermarschieren.«
Wieder kleben Zehntausende von Augenpaaren an dem fernen Strich, des Tages und des Nachts streifen sie über die graugelben Stoppelfelder. Und immer wieder berichten die Kosakenweiber in den Siedlungen mit glimmendem Hass in den lächelnden Augen:
»Freilich waren sie hier — gestern noch...«
Sie sprachen die Wahrheit: erloschene Feuer, umherliegendes Heu, Pferdedünger zeugen davon.
Auf einmal lief die Nachricht durch alle Kolonnen. Frauen und Kinder sprachen sie nach:
»Sie sprengen die Brücken... Sie ziehen sich vor uns zurück und sprengen hinter sich die Brücken...«
Großmutter Gorpina flüstert mit starrem, entsetztem Blick:
»Sie sprengen die Brücken... sie wollen nichts mit uns zu schaffen haben, sprengen die Brücken.«
Die Soldaten umklammern fest ihre Gewehre in den schwarzen, knochigen Händen und sagen dumpf:
»Sie sprengen die Brücken... sie wollen nichts mit uns zu schaffen haben... sprengen die Brücken.«
Und wenn der Kopf des Zuges sich einem Flüsschen nähert, einem Bach oder einer Schlucht, dann sehen es alle: wie schwarze Zahnstümpfe ragen die verkohlten zerspaltenen Brückenpfosten auf, die Straße bricht ab, Hoffnungslosigkeit weht ihnen entgegen.
Mit finsterer Stirn befiehlt Koshuch: »Die Brücken wiederherstellen, Balken und Bretter herbeischaffen. Eine besondere Abteilung formieren aus Leuten, die mit der Axt umzugehen wissen. Sie sollen mit der Vorhut vorausreiten. Nehmt die dazu nötigen Balken und Bretter von der Bevölkerung und führt sie bei der Vorhut mit.«
Ä xte traten in Tätigkeit, weiße, frische Späne funkelten in der Sonne. Und auf den knarrenden, oberflächlich zusammengefügten Brettern rollten wieder Tausende von Wagen, schwerfällige Artillerie; ängstlich schnaubten die Pferde, mit furchtsamen Blicken auf das Wasser.
Endlos fließt der Menschenstrom, und wie ehedem sind aller Augen dorthin gerichtet, wo der unerreichbare Strich Steppe und Himmel scheidet.
Koshuch versammelt die Kommandeure und sagt ihnen in aller Ruhe — die Muskeln zucken auf seinen Backenknochen: »Genossen, unsere Hauptarmee zieht sich mit aller Kraftanstrengung zurück...«
Man gibt ihm finster zur Antwort: »Wir verstehen nicht, warum tun sie das?« »Sie fliehen und sprengen die Brücken. Lange halten wir es so nicht mehr aus — die Pferde fallen zu Dutzenden. Die Menschen sind bis aufs letzte erschöpft, bleiben zurück und werden von den Kosaken niedergehauen. Wir haben ihnen eine gute Lehre erteilt, die Kosaken fürchten uns, machen uns Platz, die Generale und ihre Truppen räumen uns den Weg und lassen es zu keinem Zusammenstoß kommen. Aber wir sind trotzdem in einem eisernen Ring, und wenn es noch lange so andauert, dann wird er uns erdrosseln; Patronen haben wir wenig und Artilleriemunition fast gar nicht mehr. Wir müssen etwas unternehmen, um aus dieser Lage herauszukommen.«
Er blickte sie mit seinen winzigen, zusammengekniffenen Augen scharf an. Alle schwiegen.
Da sagte Koshuch, und die durch die Zähne gepressten Worte fielen scharf und klar:
»Wir müssen sie einholen. Eine Kavallerieabteilung können wir nicht schicken, unsere Pferde taugen nichts, sie werden die Jagd nicht aushalten, die Kosaken werden alle niederhauen. Dann werden sie wieder Mut kriegen und uns von allen Seiten anfallen. Wir müssen es anders machen. Wir müssen die Hauptarmee einholen und ihr Nachricht von uns geben.«
Wieder Schweigen. Koshuch sagte:
»Wer meldet sich dazu?«
Es meldete sich ein noch ganz junger Kommandeur.
»Genosse Seliwanow, nehmen Sie zwei Soldaten, setzen Sie sich ins Auto und sehen Sie zu, dass Sie um jeden Preis durchkommen. Bringen Sie der Hauptarmee Nachricht von uns. Erklären Sie ihnen unsere Lage, machen Sie ihnen klar, dass sie uns der Vernichtung preisgeben.«
Eine Stunde später stand vor dem von schrägen Sonnenstrahlen übergossenen Dorfhause, in dem der Stab untergebracht war, ein Auto. Zwei Maschinengewehre guckten aus dem Wagen hervor: das eine nach hinten, das andere nach vorn. In einer ölglänzenden Bluse machte sich der Chauffeur — schweigsam und verschlossen — an dem Motor zu schaffen, prüfte alle seine Teile, ohne dabei die Zigarette aus dem Munde zu nehmen. Seliwanow und zwei Soldaten mit jungen sorglosen Gesichtern, in deren Augen eine tief versteckte Spannung lag, warteten.
Der Motor begann zu schnaufen, trug mit einem Ruck den Wagen von der Stelle, der bohrte sich durch die Staubwolken, wurde immer kleiner, verengte sich zu einem Punkt und verschwand.
Und die endlosen Haufen, die endlosen Wagenreihen, die endlosen Pferdeketten flossen, von dem Auto nichts ahnend, finster und unaufhörlich dahin, bald mit Hoffnung, bald mit Verzweiflung in die blaue Ferne starrend.

 

XXXVIII

Der Sturmwind pfeift. Schräg, wie ein Blitz vorüberhuschend, weichen die Hütten, die Pappeln an den Wegrändern, Flechtzäune und ferne Kirchen zur Seite. Menschen, Pferde und Vieh auf den Straßen, in der Steppe und in den Siedlungen haben kaum Zeit, ihrem Schreck Ausdruck zu geben — aber ehe sie um sich blicken, ist nichts mehr da, auf dem Wege wirbelt nur wie toll der Staub, in dem von den Bäumen heruntergerissene Blätter und ein paar Strohhalme kreisen.
Die Kosakenfrauen schütteln die Köpfe: »Muss verrückt geworden sein. Wer es wohl ist?« Kosakenstreifen und Patrouillen lassen den toll dahinsausenden Wagen an sich vorüber, im ersten Augenblick halten sie ihn für einen der ihren: die Roten werden sich doch nicht allein mitten unter den Feind wagen! Manchmal kommen sie doch darauf und feuern ein paar Schüsse ab — dann ist es jedoch meist zu spät. Nur ein wachsendes Sausen in der Luft, das immer ferner wird.
So wird im sausenden, pfeifenden Winde ein Kilometer nach dem anderen, ein Dutzend Kilometer nach dem anderen zurückgelegt. Wenn es jetzt eine Panne gibt, wenn der Reifen platzt, dann ist es aus. Gespannt blicken die beiden Maschinengewehre nach vorn und zurück, und ebenso gespannt spähen vier Paar Augen auf den ihnen entgegenrasenden Weg voraus.
Im sausenden Dröhnen, das verzweifelte Atmen zum feinen Geheul steigernd, flog das Auto dahin. Unheimlich war es, wenn sie einem Fluss entgegenflogen und dort die Zahnstummel zerstörter Brücken herausstarrten. Dann wandte man seitwärts, machte einen ungeheuren Umweg, bis man irgendwo eine von der Bevölkerung provisorisch gebaute Brücke fand.
Gegen Abend leuchtete in der Ferne der weiße Glockenturm einer großen Siedlung auf. Gärten, Pappeln, die weißen Punkte der Dorfhütten wuchsen ihnen schnell entgegen.
Ein Soldat jauchzte plötzlich auf, wandte den anderen sein ganz verändertes Gesicht zu: »Die Un-se-ren...« »Wo?... Wo?... Was du sagst!«
Aber sogar das Gebrüll des dahinsausenden Motors vermochte seine Stimme nicht zu ersticken. »Die Unseren! Die Unseren! Da!«
Seliwanow erhob sich brüsk, als wappne er sich, um im Falle eines Irrtums seiner Enttäuschung Herr zu werden, und: »Hurra-a-a-a!«
Eine große Streife ritt ihm entgegen — wie Mohnblumen leuchteten die roten Sterne auf den Mützen.
Im selben Moment pfiff aber schon das bekannte Singen an ihren Ohren vorbei: dsi-i-i... ti-i... ti-i... und wieder und wieder — wie das entfernte Summen der Mücken. Auch aus den grünen Gärten, hinter den Hütten knallten ihnen die Schüsse entgegen.
Seliwanows Herz krampfte sich zusammen: den Tod von den eigenen Leuten! Und mit heller, sich brechender Knabenstimme schrie er verzweifelt mit der Mütze winkend: »Gut Freund!... Gut Freund!...«
Lächerlich, als wenn im Brausen des dahinsausenden Autos auch nur ein Wort zu verstehen wäre: er begriff das schließlich selbst und packte die Schulter des Chauffeurs:
»Halt, halt!... Bremse!...«
Die beiden Soldaten versteckten die Köpfe hinter den Maschinengewehren. Der Chauffeur, dessen Gesicht in diesen wenigen Sekunden plötzlich erschreckend verfiel, bremste den sich in Rauch und Staub hüllenden Wagen — alle fielen nach vorn über; zwei Kugeln knallten klirrend gegen den Wagen.
»Gut Freund!... Gut Freund!...«, brüllten vier menschliche Kehlen.
Die Schüsse dauerten fort. Die Soldaten der Streife rissen die Karabiner von den Schultern, jagten vom Wege abseits, um das Feuer aus den Gärten nicht zu hindern — und feuerten im Reiten.
»Sie werden uns töten...«, stammelte mit trockenen Lippen der Chauffeur, ließ das Steuer fahren und brachte den Wagen völlig zum Stehen.
In Karriere sprengten sie heran. Ein Dutzend Mündungen drohten schwarz herüber. Einige Kavalleristen sprangen mit angstverzerrten Gesichtern von den Pferden.
»Weg von den Maschinengewehren! Hände hoch!... Aussteigen!... «
Die andern brüllten mit blassen Gesichtern:
»Haut sie nieder! Was wartet ihr... Offiziere sind es... Man muss die...«
Aufblitzend flogen die Säbel aus der Scheide.
»Sie werden uns töten!...« Seliwanow, die beiden Soldaten, der Chauffeur sprangen hastig aus dem Wagen. Aber sobald sie zwischen die schnaubenden Pferdeköpfe, die gezückten Säbel und vor die zielenden Mündungen gerieten, beruhigten sich die Reiter sofort: es waren die Maschinengewehre, die sie in diese Raserei versetzt hatten.
Jetzt war die Reihe zu fluchen an den Insassen des Autos.
»Seid ihr toll geworden?... Gegen die Eigenen... Habt ihr die Augen im Hintern?... Müsst euch doch zuerst die Papiere ansehen... Hättet uns alle samt und sonders niedergemacht... , dann ist's zu spät...«
Die Kavalleristen beruhigten sich:
»Wer seid ihr denn?«
»Wer seid ihr denn!... Ihr müsst zuerst fragen und dann schießen! Führt uns zum Armeestab!«
»Was sollten wir tun?« erwiderten die Kavalleristen kleinlaut, während sie sich in den Sattel schwangen. »Vergangene Woche ist genau so ein Panzerauto herangerast und hat uns mit Maschinengewehrfeuer überschüttet. War das eine Panik! Setzt euch in den Wagen!«
Sie nahmen wieder im Auto Platz. Zwei Kavalleristen setzten sich zu ihnen, die übrigen umringten sie misstrauisch, mit dem Karabiner in der Hand.
»Genossen, haltet euren Wagen im Zaum — sonst kommen wir nicht nach, die Pferde sind abgehetzt.«
Sie näherten sich den Gärten, bogen in die Straße ein. Die ihnen begegnenden Soldaten blieben stehen, fluchten:
»Schlagt sie doch einfach nieder... , wohin schleppt ihr sie?!«
Schräg und lang sanken die noch warmen Schatten des Abends. Irgendwo grölten Betrunkene ihre Lieder. Unterwegs, hinter den Bäumen, gähnten mit ihren zerschlagenen Fenstern ausgeplünderte Kosakenhütten. Ein gefallenes Pferd verbreitete schweren, üblen Dunst. Auf allen Straßen lag verstreutes Heu. Hinter den Gartenzäunen ragten verstümmelte Obstbäume hervor. Während der ganzen Fahrt durch die Siedlung war kein Schwein, kein Huhn zu sehen.
Sie hielten beim Stab. Der ganze Haufe wälzte sich ins Zimmer des Kommandeurs der Abteilung.
Mit vor Glück erregter Stimme erzählte Seliwanow von dem ganzen Feldzuge, von den Kämpfen mit den Georgiern, mit den Kosaken, kam von einem zum andern, ohne eins zu Ende zu erzählen:
»... Mütter... Kinder verhungert... Wagen stürzten in Schluchten... keinen Schuss mehr hatten wir... mit nackten Händen haben wir gekämpft...«
Auf einmal stockte er: seinen langen Schnurrbart und das borstige Kinn in der Hand, saß der Kommandeur gebückt da, ohne die fremden kalten Augen von ihm zu wenden.
Die anderen Kommandeure — lauter junge, braune Gesichter — standen oder saßen unbeweglich da und hörten, ohne Lächeln, ohne eine Miene zu verziehen, zu.
Seliwanow fühlte, wie ihm das Blut in Hals, Nacken und Ohren stieg; er brach brüsk ab und sagte mit einer Stimme, die plötzlich heiser geworden war:
»Hier sind die Papiere«, und reichte sie dem Kommandeur.
Dieser schob sie, ohne sie anzusehen, seinem Gehilfen zu, der sie unwillig und mit sichtlicher Voreingenommenheit zu betrachten begann. Der Kommandeur sagte, ohne den Blick von Seliwanow abzuwenden, langsam, jedes Wort betonend:
»Wir haben ganz entgegengesetzte Nachrichten.«
»Erlauben Sie«, Seliwanows Gesicht und die Stirn wurden blutrot. »Sie haben uns also... Sie halten uns also für...«
»Wir haben ganz andere Nachrichten«, sagte mit gelassener Betonung wieder der Kommandeur, er hielt noch immer seinen langen Schnurrbart und das Kinn in seiner Faust, ließ sich nicht unterbrechen und wandte den Blick nicht von dem andern ab: »Wir haben genaue Nachrichten: die gesamte Armee, die die Tamanhalbinsel verlassen hat, ist bis auf den letzten Mann an den Ufern des Schwarzen Meeres aufgerieben.«
Im Zimmer wurde es still. Durch das geöffnete Fenster drangen betrunkene Soldatenstimmen und schwere Flüche herein.
,Und hier ist die Disziplin nicht auf der Höhe...', dachte Seliwanow mit seltsamer Befriedigung.
»Aber erlauben Sie... genügen Ihnen die Papiere nicht... Was soll denn das schließlich... nach so viel Anstrengungen, nach unmenschlichen Kämpfen — uns zu den Unsrigen durchgeschlagen, um hier...«
»Nikita!« wandte sich der Kommandeur ruhig an seinen Gehilfen, indem er sein Kinn losließ, sich erhob und seinen Körper reckte — ein langer Kerl mit langem, hängendem Schnurrbart.
»Ja?«
»Such den Befehl heraus!«
Der Gehilfe suchte in der Aktentasche, holte ein Papier hervor, reichte es ihm hin. Der Kommandeur legte es auf den Tisch und begann, ohne sich zu bücken, wie von einem Glockenturm aus, zu lesen. Dass er in solcher Stellung zu lesen begann, schien in lässiger Weise die Unerschütterlichkeit seiner eigenen Meinung und der aller Anwesenden auszudrücken.
»Befehl Nr. 73 vom Oberkommando. Es ist ein Funkspruch des Generals Pokrowski an den General Denikin aufgefangen worden. Darin wird mitgeteilt, dass vom Meere her, aus der Richtung Tuapse, eine zahllose Horde im Anzug ist. Diese wilde Horde besteht aus russischen, aus Deutschland zurückgekehrten Gefangenen und aus Seeleuten. Sie sind ausgezeichnet bewaffnet, haben zahlreiche Geschütze, Vorräte und führen eine Menge geraubter Wertgegenstände mit sich. Dieses wohlausgerüstete Gesindel schlägt alles auf seinem Wege nieder: die besten Kosaken und Offizierstruppen, Kadetten, Menschewiki und Bolschewiki.«
Der Lange verdeckte, sich auf den Tisch stützend, mit der Hand das Papier, sah Seliwanow scharf an und wiederholte gedehnt:
»Und Bolsche—wi—ki!«
Dann nahm er seine Hand von dem Papier und fuhr, noch immer stehend, fort zu lesen:
»Im Hinblick darauf befehle ich: den Rückzug ununterbrochen fortzusetzen, die Brücken hinter sich zu sprengen; alle Überfahrtsmöglichkeiten zu vernichten; die Boote restlos zu verbrennen. Für den geordneten Rückzug sind die Kommandeure der Truppenteile verantwortlich.«
Und wieder sah er Seliwanow scharf an und sagte, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen:
»Sehen Sie, Genosse. Ich will Sie in keiner Weise verdächtigen, aber Sie müssen sich auch in unsere Lage versetzen: wir sehen uns... zum ersten Male, und die Nachrichten widersprechen sich, wie Sie selbst sehen... wir haben doch kein Recht... wir sind für die Massen verantwortlich, und wir wären Verbrecher...«
»Aber dort wartet man doch, wartet!« rief Seliwanow verzweifelt aus.
»Ich verstehe, ich verstehe, regen Sie sich nicht auf. Ich will Ihnen etwas sagen: kommen Sie, essen wir, trinken wir einen Tee, Sie sind gewiss hungrig, auch Ihre Leute...«
,Er will uns einzeln verhören...', dachte Seliwanow und fühlte auf einmal eine unüberwindliche Schläfrigkeit.
Eine hübsche, gesetzte Kosakenfrau brachte eine Schüssel Krautsuppe auf den ungedeckten Tisch; die Suppe war von einer so dicken Fettschicht bedeckt, dass sie nicht dampfte. Die Frau verbeugte sich tief:
»Wohl bekomm's!«
»Schon gut, Hexe, friss zuerst selbst!«
»Ich bitt' Sie, Väterchen, warum denn?«
»Na, wird's bald?«
Sie bekreuzigte sich, nahm einen Löffel, tauchte ihn in die plötzlich aufdampfende Suppe und begann vorsichtig zu schlürfen.
»Friss noch! Diese Canaillen: ein paar von den Unsrigen haben sie schon vergiftet. Wein her!«
Nach dem Essen kam man überein: Seliwanow fährt im Auto zurück, zur Kontrolle wird ihm eine Eskadron mitgegeben.
Das Auto fährt in langsamem Tempo, fährt in umgekehrter Reihenfolge an den bekannten Siedlungen und Bauernhöfen vorbei.
Seliwanow sitzt mit zwei Kavalleristen — sie haben gespannte Gesichter, die Revolver sind schussfertig. Und ringsherum: vorn, hinten, seitwärts, heben und senken sich bald im Takt, bald durcheinander Soldatengestalten in den Sätteln auf schnellfüßigen Kavalleriepferden.
Der Motor schnaubt zurückhaltend, langsam erhebt sich eine Staubwolke.
Die Spannung bei den im Wagen sitzenden Kavalleristen lässt allmählich nach, die Gesichter werden schlaffer; sie beginnen beim gedämpften Summen des Wagens Seliwanow vertraulich ihre Leidensgeschichte zu erzählen. Die Armee ist geschwächt, die Kampfbefehle werden nicht durchgeführt, kleine Häuflein Kosaken genügen, um sie in Flucht zu setzen; wohin das Auge blickt, desertieren die Soldaten aus den demoralisierten Truppenteilen.
Seliwanow senkt den Kopf, denkt:
,Wenn wir jetzt auf Kosaken stoßen — ist alles verloren.'

 

XXXIX

Kein einziger Stern leuchtet, und das macht, dass der weiche, schwarze Samt alles aufsaugt — man sieht weder Straßen noch Pappeln, noch Gärten, noch Hütten. Wie Nadelstiche blitzen die winzigen Lichter.
In dem weichen, dunklen Raum spürt man die gewaltige lebendige Menge. Man schläft nicht. Bald rasselt ein mit dem Fuß angestoßener Eimer, bald geraten Pferde aneinander, dann hört man:
»Brr, haltet still, ihr Teufel!« Bald erklingt eine monotone Mutterstimme, die sich nur in zwei Tönen wiegt: »A-u-u!... a-u-u!... a-u-u!«
Ein ferner Schuss, aber man weiß, es sind unsere. Hier und da schwillt der Lärm von Stimmen an und legt sich wieder. Wieder herrscht nur die Dunkelheit.
»Nun heute schon den letzten Tag...«, klingt schläfrig ein Lied mit müdem Lächeln.
Warum will der Schlaf nicht kommen?
Fern, vielleicht auch dicht vor den Fenstern, Knistern von Rädern.
»He, wohin willst du denn? Unsere Wagen stehen doch dort!«
Aber man sieht nichts — weicher, schwarzer Samt.
Seltsam — ist man etwa nicht müde genug? Blickt man etwa nicht Tag und Nacht, ohne die Augen abzuwenden, auf die ferne Linie des Horizonts?
Es ist, als wenn dieser Septembersamt und die unsichtbaren Dornhecken und der Geruch des Dorfes, als wenn das alles die langersehnte vertraute Heimat wäre.
Morgen findet draußen hinter dem Dorf die Begegnung mit den Truppen der Hauptarmee statt. Deshalb ist die Nacht voll fließender Bewegung, voller Stimmen und Geräusche — von dem Knistern der Räder und einem schläfrigen Lächeln erfüllt.

Der Lichtstreifen aus der angelehnten Tür legt sich schmal über die Erde, bricht sich an dem Flechtwerk des Zaunes, verschwindet in dem Gemüsegarten.
In der Kosakenhütte brodelt der Samowar. Die Wände leuchten weiß. Geschirr steht auf dem Tisch, weißes Brot. Ein reines Tischtuch.
Koshuch sitzt mit offenem Hemd auf der Bank, man sieht die behaarte Brust. Seine Schultern hängen herab, die Arme hängen, der Kopf ist gesenkt. So kehrt der Landwirt vom Felde zurück — den ganzen Tag hat er, mit funkelndem Pflugeisen die schwarze, fette Erde brechend, seine Felder abgeschritten; jetzt nagt eine angenehme Müdigkeit in den Armen und Beinen, das Weib bereitet ihm das Essen, und von der Wand, ein wenig rußend, scheint ein Blechlämpchen herab — müde ist er vom Wirtschaften, arbeitsmüde.
Neben ihm sitzt der Bruder — auch er ist ohne Waffen. Sorglos hat er seine Stiefel ausgezogen und betrachtet aufmerksam die vollkommen durchgelaufene Sohle. Koshuchs Frau hebt mit hausfraulicher Gebärde den Deckel vom Samowar — eine rebellische Dampfsäule steigt auf —, sie nimmt die in das dampfende Handtuch eingewickelten Eier heraus, legt sie auf den Teller, wo sie rund und weiß leuchten. In der Ecke dunkle Heiligengesichter. Drüben, wo die Wirtsleute wohnen, ist alles still.
»So, jetzt könnt ihr essen...«
Auf einmal schriller Lärm, die drei wandten den Kopf: im Lichtstreifen tauchte ein bekanntes bebändertes Mützchen auf, ein zweites, ein drittes... Wilde Flüche, Gewehrkolben stießen auf.
Ohne eine Sekunde zu verlieren — ,Verdammt, wo ist bloß der Revolver geblieben!' — rief Alexej:
»Mir nach!«
Wie ein Stier stürzte er davon. Ein Kolben traf ihn gegen die Schulter. Er wankte, hielt sich aber auf den Beinen, und unter seiner eisenschweren Faust krachte ein Nasenbein: stöhnend, fluchend brach ein Körper zusammen.
Alexej sprang über ihn hinweg:
»Mir nach!«
Er verschwand aus dem Bereich des Lichtes, tauchte in die Finsternis und jagte mit langen Sätzen über Gemüsebeete, dabei die hohen Stängel der Sonnenblumen niederbrechend, Den ihm folgenden Koshuch trafen wohlgezielte Kolbenschläge. Er brach hinterm Zaun zusammen, um ihn herum tobten vom Meereswind heisere Stimmen: »Aha!... Da ist er, haut zu!« Scharf und durchdringend klang die Stimme des Bruders:
»Hilfe!«
Schläge hagelten auf Koshuch nieder, er verzehnfachte die Kräfte, rollte aus dem Lichtstreifen in die Dunkelheit, sprang auf und jagte der Stimme seines Bruders nach. Und hinter seinem Rücken, ihm hart auf den Fersen, stampften schwere Tritte; heiser klang es hinter ihm her, unterbrochen vom
stoßweisen Atem:
»Nicht schießen, sonst laufen alle zusammen... Haut ihn
mit dem Kolben! Da ist er!«
Dunkler als die Finsternis der Nacht wuchs ein Zaun vor ihnen empor. Bretter knackten, Alexej schwang sich hinüber. Elastisch wie ein Jüngling setzte auch Koshuch über das Hindernis, und beide stürzten in einen unbeschreiblichen Wirrwarr von Schreien, Stößen, Flüchen, Kolbenschlägen hinein: »Haut die Offiziere nieder! Auf sie mit dem Bajonett!« »Nicht anrühren!... Wir nehmen sie mit!...« »Seid hereingefallen, ihr Schufte!... Stehenbleiben, sonst...« »Sofort zum Stab — sie müssen vernommen werden... Wir werden ihnen die Sohlen mit glühenden Kohlen kitzeln!« »Schlagt sie nieder!...« »Zum Stab! Zum Stab!«
Koshuchs und Alexejs Stimmen tauchten im schwarzen Wirbel unter, sie konnten sich in dem stürmischen Durcheinander selbst nicht hören.
Mit unausgesetzten Flüchen, unter fortwährendem Lärm schleppte man sie durch die Finsternis; ein Klirren der Waffen, Schwanken der Bajonette, ein Chor von Flüchen begleitete sie.
,Das Schlimmste scheint vorbei zu sein', ging es durch Koshuchs Kopf; er wandte sein Gesicht nicht von dem Licht ab, das sich aus den Fenstern des großen, zweistöckigen Schulgebäudes — des Stabs — ergoss.
Jetzt traten sie in den Lichtschein — alle sperrten die Mäuler auf:
»Das ist ja der Alte!«
Koshuch sagte ruhig, nur die Gesichtsmuskeln zuckten: »Seid ihr toll geworden?«
»Ja, wir... Ja, wie konnten sie bloß!... Die verdammten Matrosen! Sie kommen, erzählen: zwei Offiziere, zwei Kosakenspione hätten sie aufgespürt — wollen Koshuch ermorden —, verlangten, wir sollten sie hoppnehmen. ,Wir', sagten sie, ,stöbern sie auf, und ihr lauert hier hinter dem Zaun. Wenn die beiden über den Zaun setzen, dann haltet ihnen die Bajonette unter den Hintern... Zum Stab führt sie nicht, dort sitzen Verräter, die sie wieder loslassen werden. Bringt sie heimlich um die Ecke...' Und wir hatten ihnen geglaubt...« Koshuch sagte ruhig:
»Mit den Kolben auf das Matrosenpack loshauen.« Die Soldaten stürzten nach allen Seiten auseinander; eine ruhige Stimme kam aus der Dunkelheit:
»Auseinandergelaufen. Sind's Narren, dass sie warten werden, bis sie der Tod holt?«
»Komm, Tee trinken«, sagte Koshuch zum Bruder, sich das Blut vom Gesicht wischend. »Stellt Posten auf.« »Zu Befehl!«

 

XL

Auch die späte kaukasische Sonne ist noch heiß genug. Nur die Steppen sind durchsichtig, nur die Steppen sind blau. Feines Spinngewebe glitzert. Nachdenklich stehen die Pappeln mit ihrem sich lichtenden Laub. Zartes Gelb legt sich über die Gärten. Weiß ist der Glockenturm.
Und hinter den Gärten, in der Steppe — ein unendliches Menschenmeer, wie damals, zu Anfang des Feldzuges: wie damals — unübersehbar. Aber etwas Neues liegt über ihm. Dieselben zahllosen Wagen der Flüchtlinge, aber warum leuchtet in den Gesichtern wie ein Widerschein, wie ein lebender Abglanz der Ausdruck unauslöschlicher Zuversicht? Es sind dieselben zerfetzten, halbnackten, barfüßigen Soldatengestalten... Aber warum stehen die Reihen so schnurgerade, so schweigsam ausgerichtet — die Gesichter wie aus geschwärztem Eisen geschmiedet, einem schlanken Walde gleich geordnet die unübersehbaren Spitzen der Bajonette? Und warum stehen diesen Reihen gegenüber, aber ungeordnet, ebensolche unendliche Reihen von leidlich gutgekleideten Soldatengestalten, deren Bajonette aber hin und her wanken und deren Gesichter Verwirrung und unsichere
Erwartung verraten?
Wie damals lagert eine ungeheure Staubwolke über der Menge; jetzt aber getränkt von herbstlicher Schwere, beginnt sie sich zu senken, und klar wird die Steppe und deutlich sichtbar jeder Zug auf den Gesichtern.
Damals erhob sich über dem grenzenlosen aufrührerischen Menschenmeer ein öder Hügel mit schwarzen Windmühlen; jetzt ist es eine leere Wiese, auf der dunkel ein Wagen steht.
Aber damals ergoss sich das Menschenmeer stürmisch und wild über die Steppe, jetzt ist es straffgefaßt in eisernen Ufern.
Man wartet. Und eine schweigsame, laut- und wortlose feierliche Musik wogt über der unübersehbaren Menschenmenge — durch den blauen Himmel, durch die blauen Steppen, durch die goldene Glut.
Ein kleines Menschenhäuflein erschien. Und jene, die zu den Reihen mit den eisernen Gesichtern gehörten, erkannten in diesem sich nähernden Häuflein ihre Kommandeure, die ebenso abgemagert, ebenso geschwärzt waren wie sie selbst. Auch die andern, die ihnen gegenüberstanden, fanden ihre Kommandeure heraus, die ebenso gesunde, braune Gesichter hatten wie sie selbst.
In der ersten Gruppe schritt Koshuch, bis auf die Knochen verdorrt, bis auf die Knochen abgemagert, zerfetzt wie ein Barfüßler, mit Stiefeln, aus denen die Zehen hervorblickten. Auf seinem Kopfe hingen die Reste des einstmaligen Strohhutes.
Sie schritten auf den Wagen zu und drängten sich um ihn. Koshuch bestieg ihn, riss die Strohhutreste von seinem Kopf und warf einen langen Blick über die eisernen Reihen seiner Leute, über die zahllosen, in der Steppe verschwindenden Wagen, über die traurigen Gesichter der Flüchtlinge, die Pferd und Wagen verloren hatten, und über die Reihen der
Hauptarmee.
Alle, soviel es ihrer hier gab, sahen ihn an. Er sagte:
»Genossen!«
Alle wussten, wovon die Rede sein würde, aber ein lebendiger Funke durchzuckte dennoch alle Herzen.
»Genossen, fünfhundert Kilometer haben wir zurückgelegt — hungrig, nackt, barfuss. Die Kosaken haben uns hart zugesetzt. Wir hatten kein Brot, keine Vorräte, keine Furage. Die Menschen starben, stürzten in die Abgründe, fielen unter feindlichen Kugeln; wir hatten keine Patronen, mit nackten Händen haben wir kämpfen müssen...«
Und obwohl sie alles das wussten — sie hatten es ja selbst durchgemacht —, so funkelten Koshuchs harte Worte doch neu und unerwartet auf.
»... Unsere Kinder haben wir in den Bergen zurückgelassen...«
Und über den Köpfen, über dem ganzen großen Heer wehte es, zitterten, krampften sich die Herzen zusammen:
»Ach du mein Weh, o unsre Kinder!«
Von Rand zu Rand schwankte das Menschenmeer:
»Unsere Kinder!... Unsere Kinder!...«
Unbeweglich ruhte sein Blick auf ihnen, er wartete ab und
sagte:
»Und wie viele unserer Brüder erlagen unter den Kugeln in den Steppen, in den Bergen, in den Wäldern, sind auf ewig dahin!...«
Alle Köpfe entblößten sich, und ein Grabesschweigen breitete sich wie eine Welle über die Menge aus. Bunten Blumen am Grabe gleich, klang durch diese Stille leises Frauen-
schluchzen.
Koshuch stand eine Weile mit gesenktem Kopf da, richtete sich dann auf, blickte auf diese Tausende und brach das
Schweigen:
»Und wofür denn haben Tausende, Zehntausende von Menschen das Leid und die Qual auf sich genommen? Wofür?«
Er sah sie wieder eine Weile schweigend an und sagte
plötzlich das Unerwartete:
»Für eins allein, für die Sowjetmacht, denn für die Bauern und Arbeiter gibt es außer ihr nichts auf der Welt...«
Da brach ein Seufzer aus zahllosen Lungen — die Spannung wurde unerträglich, einsame Tränen tropften über die starren Gesichter, langsam tropften sie über die Gesichter der zur Begrüßung Angetretenen, über die Gesichter der Greise — leuchtend funkelten sie in den Augen der Mädchen...
»... für die Macht der Bauern und Arbeiter...«
»Also das ist es! Das ist es, wofür wir gekämpft, unsere Kinder verloren haben wofür die Unseren gefallen, gestorben sind.« Es war, als wenn sich die Augen weit öffneten, als wenn sie zum ersten Mal das tiefste Geheimnis erkannt hätten.
»So lasst mich's doch sagen, ihr guten Leute«, schrie weinend und sich schnäuzend Großmutter Gorpina, die sich zum Wagen drängte und alle zur Seite stieß, »so lasst mich's doch sagen...«
»So wart' doch, Großmutter Gorpina, lass doch den Alten zu Ende reden — hernach kommst du dran.«
»Stört mich nicht«, sie drängte sich mit den Ellbogen durch die Menge, niemand vermochte sie aufzuhalten.
Und sie schrie mit heiserer Stimme; das Haar hing ihr in grauen Strähnen unter dem losen Kopftuch auf die Schulter. Immer wieder schrie sie:
»Kämpft, ihr guten Leute, kämpft gegen die Herren und Offiziere! Unsern Samowar haben wir verloren. Als ich heiratete, hat mir die Mutter ihn zur Aussteuer mitgegeben und gesagt: Hüte ihn wie deinen Augapfel!... Und nun haben wir ihn nicht mehr... Aber mag alles darüber zugrunde gehen, wenn nur unsere Bauernmacht lebt, unser Leben lang haben wir geschuftet, keine Freude gekannt und nicht gewusst warum. Und meine Söhne... meine Söhne...«
Die Alte erstickte in greisenhaften Tränen und wusste selbst nicht, ob es Tränen des Leids oder einer unbegreiflichen, aufleuchtenden Freude waren.
Und wieder entrang sich aus der Brust dieses Menschenmeeres ein schweres und doch freudiges Seufzen und breitete sich aus bis zum Steppenrand. Mit finsterer Miene, schweigend, arbeitete sich der Mann der alten Gorpina zum Wagen hinauf. Der ist nicht so leicht herunterzuschleppen — ein unverwüstlicher Greis —, durchtränkt mit Teer- und Erdgeruch, die Hände hart wie Pferdehufe.
Er kletterte hinauf und wunderte sich, dass er plötzlich so hoch über der Menge stand. Aber im nächsten Augenblick vergaß er es wieder, und eine wetterharte, wie ein ungeschmiertes Wagenrad knarrende Stimme erklang:
»Es war ein alter Gaul, den wir hatten, aber gut war er. Ihr wisst es selbst — die Zigeuner sehen einem Pferd bis auf die Nieren, sie guckten ihm ins Maul und untern Schwanz und sagten, er sei nicht älter als zehn Jahre, und er war doch schon dreiundzwanzig! Ein tüchtiger Gaul war das!...«
Und der Alte lachte plötzlich, lachte zum ersten Mal — tausend kleine Fältchen bildeten sich um die Augen; es war ein kindliches, spitzbübisches Lachen, das seiner ganzen klobigen, erdigen Gestalt so wenig entsprach.
Und Großmutter Gorpina schlug sich verblüfft auf die
Schenkel:
»Herr du mein Gerechter! So sagt mir doch, Leute, ist er verrückt geworden? Sein Lebtag hat der Alte geschwiegen; schweigend hat er mich genommen, schweigend hat er mich geliebt, schweigend hat er mich geschlagen — und jetzt schwätzt er auf einmal. Hat der Alte den Verstand verloren?«
Der Alte vertrieb die lustigen Fältchen um seine Augen, die zottigen Brauen schoben sich vor, und wieder knarrte seine Stimme durch die ganze Steppe wie ein ungeschmiertes
Wagenrad:
»Sie haben unsern Gaul erschlagen, tot ist er! Alles haben wir verloren, alles, was wir im Wagen hatten. Zu Fuß haben wir laufen müssen. Das Kumt habe ich ihm abgeschnitten, aber auch das ist auf dem Wege liegen geblieben. Der Alten ihr Samowar und das ganze Hab und Gut zu Hause haben wir verloren... Und ich sage euch, wahrhaftigen Gottes«, und des Alten Stimme schwoll zu einem Brüllen an: »mir tut's nicht leid! Mag alles hin sein — es ist um unsere Bauernmacht! Ohne sie werden wir verrecken, wie Aas am Zaun liegen bleiben... « Kalte, sparsame Tränen hinderten den Alten, weiterzusprechen.
Wie ein Windstoß, wie ein Gewitter rollte es von Rand zu Rand:
»... Hu-r-r-a-a!... Unsere eigene Macht! Unsere Bauernmacht! Hoch lebe sie, die Sowjetmacht!«
Von Rand zu Rand ging es.
»Da ist es also das Glück?!...« ging es versengend durch Koshuchs Brust, und seine Kinnladen zuckten zum ersten Mal.
»Das ist es also!...« sprühte es unerträglich freudig durch die eisernen Reihen der zerfetzten, abgemagerten Menschen — »dafür haben wir also gehungert, gefroren! Also nicht bloß, um unsere Haut zu retten!...«
Und die Mütter mit den verwundeten, nicht mehr heilenden Herzen, mit den nie trocknenden Tränen — nein, niemals werden sie diese hungrig gefletschten Zinken der Bergschluchten vergessen! Aber auch diese furchtbaren Orte, diese furchtbare Erinnerung an sie verwandelte sich jetzt in eine stille Trauer, fand ebenfalls Platz in diesem Großen und Festlichen, das lautlos über der endlosen, in der Steppe ausgebreiteten Menschenmasse klang.
Und jene, die satt und angezogen in langen Reihen den eisernen, verhungerten, nackten Menschen gegenüberstanden — sie fühlten sich als Waisen bei diesem unvorhergesehenen Fest. Und ohne sich der hervorquellenden Tränen zu schämen, brachen sie ihre Reihen und fluteten, einer Lawine gleich, alles überschwemmend, dem Wagen zu, auf dem der abgerissene, abgemagerte Koshuch stand. Und ein neuer Ruf erklang in der Steppe:
»Unser Va-a-ter!... Führe uns, wohin du willst. Wir werden kämpfen auf Tod und Leben!«
Tausende von Händen streckten sich ihm entgegen, rissen ihn vom Wagen, Tausende von Händen erhoben ihn über die Schultern, über die Köpfe und trugen ihn. Und die Steppe erzitterte kilometerweit, von zahllosen menschlichen Stimmen aufgerüttelt.
»Hurra-a!!... Hurra-a!!... a-a-a!... Unser Alter, unser
Koshuch!...«
Und man trug ihn dort, wo die schnurgeraden Reihen standen, und auch dort, wo die Artillerie stand, man trug ihn zwischen den Pferden der Eskadronen, und die Reiter drehten sich auf ihren Sätteln um und schreien mit vor Begeisterung verzerrten Gesichtern, mit dunkel geöffneten Mündern, unausgesetzt schreien sie.
Man trug ihn zwischen den Flüchtlingen und ihren Wagen, und die Mütter hielten ihm ihre Kinder entgegen.
So trug man ihn und brachte ihn wieder zurück — stellte ihn behutsam auf den Wagen. Koshuch öffnete den Mund, um zu sprechen, und alle sahen ihn verblüfft an, als wenn sie ihn zum ersten Mal gesehen hätten. »Er hat ja blaue Augen!«
Nein, sie schreien es nicht, denn sie vermochten ihren Gefühlen keinen Ausdruck zu geben: er hatte wirklich blaue, zärtliche Augen, sie lächelten ein liebes Kinderlachen; nein, das sagten sie nicht, aber sie schreien dafür:
»Hurrra-a-a-a! Es lebe unser Alter, unser Koshuch! Wir folgen ihm bis ans Ende der Welt!... Wir wollen kämpfen für die Sowjetmacht! Wir werden kämpfen gegen die Herrschaften, gegen die Generale, gegen die Offiziere!«
Und er sah sie zärtlich aus seinen blauen Augen an, und in sein Herz brannte sich der Gedanke ein:
,Für mich gibt es weder Vater noch Mutter, weder Frau, Brüder, noch Nächste, noch Verwandte — ich habe nur diese, die ich vom Tode gerettet habe... Ich, ich habe sie in die Heimat geführt... Solche gibt es Millionen, sie tragen eine Schlinge um den Hals, und ich will für sie kämpfen. Hier ist mein Vater, mein Haus, meine Mutter, meine Frau und meine Kinder... Ich, ich habe diese Tausende, diese Zehntausende vom Tode gerettet...'
Wie mit flammender Schrift brannte es sich in sein Herz ein, die Lippen aber sagten:
»Genossen!...«
Aber er kam nicht weiter. Die Soldatenmenge zur Seite drängend, stürmte eine wilde Matrosenmasse heran. Allenthalben blauten runde Mützen, flatternde Bänder. Gewaltig mit dem Ellbogen arbeitend, flutete die Matrosenlawine immer näher an den Wagen heran.
Koshuch betrachtete sie ruhig aus seinen grauen Augen, die wieder wie Stahl blinkten; sein Gesicht war wieder starr, die Kinnladen fest zusammengepresst.
Sie sind schon ganz nahe — nur eine dünne Schicht von Soldaten trennt sie von ihm. Alles ringsherum haben sie überschwemmt; allenthalben, wohin man auch blickt, blaue Mützchen und flatternde Bänder. Wie eine Insel steht der dunkle Wagen da und auf ihm Koshuch.
Ein kräftiger, breitschultriger Matrose, über und über behängt mit Handgranaten, zwei Revolvern und Patronengurten, packte den Wagenrand. Der Wagen neigte sich, knarrte. Er stellte sich neben Koshuch hin, nahm sein blaues Mützchen ab, schwenkte es durch die Luft, und seine heisere Stimme, in der Seewind und salzige Weite, Trunkenheit, Tollkühnheit und haltloses Leben war, erhob sich über dem ganzen Umkreis:
»Genossen!... Wir Matrosen, wir Revolutionäre — wir gestehen es offen ein, vor Koshuch und vor euch. Wir haben ihm in jeder Weise geschadet, als er das Volk rettete, wir haben ihm sozusagen Schweinereien gemacht!... Wir haben ihm nicht geholfen, wir haben ihn nur kritisiert — und jetzt sehen wir, dass wir unrecht hatten! Im Namen aller hier versammelten Matrosen reichen wir unserm Genossen Koshuch die Hand und sagen in aller Offenheit: ,Wir sind schuldig — sei uns nicht böse!'«
Und die gleichen, vom Seewasser rauen Stimmen brüllten ringsherum:
»Wir sind schuld, Genosse Koshuch, sei uns nicht böse!«
Hunderte von kräftigen Armen zerrten ihn vom Wagen und begannen ihn hochzuwerfen. Koshuch flog hoch in die Luft, fiel wieder auf die Hände zurück, flog wieder hoch — Steppe, Himmel und Menschen —, alles drehte sich vor seinen Augen.
»Ich kann nicht mehr — alle Eingeweide bringen sie einem durcheinander!«
Von Rand zu Rand dröhnte es: »Hurrra-a-a unserem Alten!... Hurrra-a-a!« Als sie ihn auf den Wagen stellten, wankte Koshuch ein wenig; die Augen waren wieder hell, verengten sich, lächelten ein schlaues ukrainisches Lächeln.
,Diese verfluchten Spitzbuben — haben sich geschickt aus der Affäre gezogen. Wäre ich ihnen anderswo so in die Hände geraten, dann wär's mein Ende gewesen! Aber seine eiserne, harte Stimme sagte: »Wer ans Vergangene denkt — der wird gehenkt!« »Ho-ho, ha-ha, hurra-a-a!«
Viele Redner wollen noch sprechen, warten, bis sie an die Reihe kommen, ein jeder meint, dass das, was er zu sagen hat, die Hauptsache, das Allerwichtigste ist, und wenn er es nicht sagt, dann wird alles einstürzen. Die Menschen hören zu. Aber nur jene, die dicht am Wagen stehen, können die Worte vernehmen, die andern hören nur Bruchstücke, die noch weiter Stehenden überhaupt nichts; aber alle lauschen gierig, strecken die Köpfe vor, hören zu. Weiber halten den Kindern ihre leere Brust hin, oder wiegen sie hastig in ihren Armen, um sie zum Schweigen zu bringen, um ebenfalls besser hören zu können.
Und es ist seltsam, wenn sie auch nichts hören, oder doch nur Wortfetzen, das Wichtigste wird letzten Endes doch von allen erfasst.
»Die Pans wollen ihr Land zurückhaben.«
»Leck mir... kriegst aber auch dann das Land nicht zurück!«
»Hast gehört, Panasjuk, in Russland gibt's eine Rote Armee.«
»Was ist das für eine?«
»Eine richtige rote: die Hosen sind rot und das Hemd ist rot und die Mütze ist rot, hinten und vorn und durch und durch rot — wie ein Krebs.« »Schwätz keinen Unsinn.« »Wahrhaftig! Der Redner hat's eben gesagt!« »Und ich hab' gehört: Soldaten gibt es in Moskau nicht mehr — sie heißen jetzt alle Rotarmisten.« »Vielleicht kriegen wir auch rote Hosen?« »Und eine strenge Disziplin sollen sie haben.« »Besser als bei uns kann's nicht sein: seit unser Alter uns verdreschen wollte, gehen wir alle, als wenn wir ein Zaumzeug anhätten. Schau, wie wir im Glied marschieren, wie an einer Schnur. Als wir durch die Dörfer gingen, hat keiner unsertwegen einen Schaden gehabt, keiner unsertwegen geweint.«
So riefen sie einander zu, von den Reden nur Bruchstücke aufschnappend, unfähig, alles Erlebte und Erkannte auszusprechen, aber fühlend, dass sie, durch unermessliche Steppen, unpassierbare Berge und Urwälder von dem Mutterland abgeschnitten, vielleicht in weit geringerem Maße, aber zweifellos dasselbe schufen, was dort in Russland im großen geschaffen wurde, dass sie so, wie sie waren, hungrig, nackt, barfuss, ohne materielle Mittel, ohne irgendwelche Hilfe, es dennoch geschafft haben. Selber geschafft. Sie verstanden es nicht klar, aber sie fühlten es, auch ohne es aussprechen zu können.
Bis zum späten Abend sprachen die Redner, einander ablösend, die Brocken ihrer Worte fügten sich zusammen, schufen ein klares Bild — und das Gefühl eines unermesslichen Glücks und der Zusammengehörigkeit, mit jenem Großen, das sie kennen und doch nicht kennen und das sich Sowjetrussland nennt — schwoll immer mehr an.

Zahllos funkeln die Feuer im Dunkeln, ebenso zahllos sind die Sterne darüber.
Still erhebt sich der durchleuchtete Rauch, Soldaten in Fetzen, Weiber in Fetzen, Greise, Kinder sitzen um die Feuer, sitzen müde, erschöpft.
Wie an dem bestirnten Himmel die Rauchspur verblasst, so zerfließt in der tiefen Erschöpfung der freudevolle Schwung der ungeheuren Menschenmenge. In dieser weichen Dunkelheit, im Widerschein der Feuer, in diesem zahllosen Menschenmeer erlischt das neue, weiche Lächeln, erlischt im leise heraufziehenden Traum.
Die Feuer erlöschen. Still ist es. Blaue Nacht.

ENDE

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