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Alexander Serafimowitsch - Der eiserne Strom (1924)
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VI

Durch die Straßen der Siedlung gehen singend, in langschößigen Reitermänteln, Kosaken aus den Elitebataillonen; an den zottigen schwarzen Fellmützen schimmern weiße Bändchen. Und die Gesichter sind sonderbar verziert: bei dem einen ist das Auge blaurot unterlaufen; ein anderer hat anstatt der Nase einen blutigen Hügel; die Backen sind geschwollen; die Lippen kissenartig gedunsen — man sieht keinen Kosaken, dessen Gesicht nicht in dieser Weise verschönert wäre.
Aber sie schreiten in dichten Reihen munter aus, zackiger, eiserner Takt schlägt durch die aufgewirbelten Staubwolken auf:
»Sie wollten nicht...... sie meuterten...«
klang kräftig, massig das Lied über den Gärten, hinter der) Gärten, in der Steppe, über die Siedlung hinaus. »... verloren die Ukraine!«
Kosakenfrauen gehen ihnen entgegen, blicken in die Gesichter, suchen nach den Ihren; manche stürzen jauchzend einem Kosaken entgegen, andere brechen verzweifelt zusammen, heulen auf, die Lieder übertönend; eine alte Mutter rauft sich das graue Haar — starke Arme tragen sie in eine
Hütte.
»... sie meuterten...«
Kosakenbuben tummeln sich zwischen den Großen; wo kommen auf einmal die vielen Kinder her, wo sind sie hervorgekrochen? Man hat sie bisher nicht gesehen. Sie rennen
und schreien:
»Vater!... Vater!«
»Onkel Mikola... Onkel Mikola!«
»Die Roten haben unsern Stier gefressen.«
»Und ich habe einem von ihnen mit meiner Armbrust das Auge ausgeschossen; er lag betrunken im Garten und schlief.« An Stelle des abgezogenen breitete sich jetzt ein anderes Lager in den Straßen und Gassen der Siedlung aus; man sah es dass dieses Lager zur Siedlung gehörte. Schon rauchten die Sommerküchen in allen Höfen. Kosakenmädchen machten sich eilig zu schaffen, irgendwo aus der Steppe trieb man versteckt gewesene Kühe ins Dorf; Hühner und Gänse tauchten auf; das Kochen und Braten war in vollem Gange.
Aber am Fluss ist eine andere eilige Arbeit im Gange — Äxte schlagen, hämmern, spalten um die Wette, sogar das Brausen des Flusses übertönend; in der Sonne funkelnd, fliegen nach allen Seiten weiße Späne: die Kosaken bauen fieberhaft an einer neuen Brücke, an Stelle der verbrannten, um den Feind noch einzuholen.
Und in der Siedlung das übliche. Neue Kosakenabteilungen werden gebildet. Offiziere mit Notizbüchern. Tische stehen mitten auf der Straße, Schreiber stellen Listen zusammen.
Aufrufe von Namen.
Die Kosaken warfen den auf und ab gehenden Offizieren Seitenblicke zu; die goldenen Achselklappen blitzten in der Sonne. Noch ganz vor kurzem — kaum sechs, sieben Monate ist es her — sah es ganz anders aus: auf den Plätzen, in den Straßen der Siedlung, in den Gassen lagen, blutigen Haufen gleich, mit abgerissenen Achselklappen solche Offiziere herum. In den Gehöften, in den Steppen und Schluchten, wo immer sie Zuflucht suchten, machte man Jagd auf sie, schleppte sie in die Siedlungen, schlug man sie schonungslos nieder, hängte sie, und tagelang hingen sie an den Pappeln, den Raben zur Freude.
Und begonnen hatte es vor etwa einem Jahr, als der sich von Russland aus entfaltende Brand die türkische Front ergriff. Woher kam das? Welche Umstände bewirkten das?
Niemand wusste etwas Genaueres darüber. Eines Tages tauchten unbekannte Bolschewiki in der Gegend auf, und es war, als wenn plötzlich der Star von den Augen gefallen wäre: alle wurden sehend, alle sahen auf einmal, was sie Jahrhunderte nicht gesehen, aber Jahrhunderte gefühlt hatten: die Offiziere, die Generalstäbler, die große Beamtenlegion, die Hetmans und den unerträglichen Militärdienst, der sie; ruinierte. Jeder Kosak musste seine Söhne, seine drei, vier Söhne auf eigene Kosten ausrüsten, jedem ein Pferd, Sattel, Uniform, Waffen kaufen — und da war ein Hof schnell ruiniert. Der Bauer aber kam fast nackt zum Militärdienst, er wurde mit allem ausgestattet, vom Kopf bis zu den Füßen eingekleidet. Die Kosakenmasse verarmte und verkümmerte allmählich immer mehr, zersetzte sich; die Schicht der reichen Kosaken stieg empor, erstarkte auf Kosten der anderen, die immer tiefer hinabsanken.

Unerträglich, blendend blickt die winzige Sonne auf das sich unter ihr hinstreckende Gebiet. Die Glut zittert, wallt drückend über der Erde.
Und die Menschen sagen:
»Kein Land ist so schön wie unseres.«
Blendendes Gefunkel spielt auf der Weite des seichten Asowschen Meeres. Kaum merklich schillern glasklare grüne Fältchen, ziehen träge dahin und bespülen den Ufersand. Es wimmelt von Fischen.
Nicht weit davon das Schwarze Meer. Bodenlos und bis auf den Grund, bis in seine tiefsten Tiefen spiegelt sich in ihm das umgestülpte Blau. Unerträglich ist das zitternde Geflimmer. Die Augen schmerzen. Schwarz, mit langen, sich auflösenden Schweifen, rauchen Dampfer in der blauen Ferne — sie kommen Getreide holen, sie bringen Geld ins Land.
Dunkel, massig türmen sich nah am Meere Felsen zu Gebirgen die Gipfel mit ewigem Schnee bedeckt, von tiefen, blauen Falten durchfurcht.
In den endlosen Gebirgswäldern, in Schluchten und Tälern,
auf Ebenen, Hochland und Gebirgskämmen — überall zahllose Vögel und Tiere, sogar solche Tiere, die sonst in der Welt schon fast ausgestorben sind: Auerochsen.
Im Innern des wilden, zerspülten, aufgewühlten Geklüfts gibt's Kupfer und Silber, Zink und Blei, Quecksilber und Graphit und Zement und vieles andere noch; wie schwarzes Blut sickert Erdöl durch alle Risse, in Bächen, auf Flüssen schillern in allen Regenbogenfarben zerfließende, ölige, nach Petroleum riechende Flecke.
Das allerschönste Land!
Von den Bergen aber, von den Meeren ziehen sich Steppen dahin, unendlich, grenzenlos.
»Sie sind ohne Ende, haben keine Grenzen!«
Weizen wallt seidig, Wiesen grünen, Schilfstauden rascheln über den Sümpfen, Weißen Flecken gleich schimmern, in Gartengrün gefasst, die Siedlungen, Höfe und Dörfer, Pyramidenpappeln recken sich in den heißen Himmel, und über den durchglühten Grabhügeln spreizen Windmühlen ihre grauen Flügel.
Regungslos sich drängende Schafherden bedecken mit grauen Flecken die Steppe; dichte Wolken von Millionen Bremsen, Mücken und Stechfliegen summen, schwanken über ihnen.
Bis zu den Knien im Spiegel der Steppenteiche steht träge das braunrote Vieh. Pferdeherden streben mit wiegenden Köpfen den schattigen Schluchten zu.
Und über allem die sengende, klingende, immerwährende Glut.
Die Köpfe der vorgespannten Pferde sind mit Strohhüten bedeckt - alle würden sie, vom tödlich scharfen Blick der winzigen Sonne getroffen, zusammenbrechen. Und auch die Menschen, die unvorsichtig ihren Kopf entblößen, stürzen mit plötzlich rot gewordenem Gesicht in den sengenden Staub des Weges nieder, die Augen verglasen bald. Überallhin dringt die feinklingende, alles durchzitternde Glut.
Wenn der schwere Pflug, von drei, vier Paaren steilhörniger Ochsen gezogen, durch die endlose Steppe seine Furchen zieht, wälzt das weißfunkelnde Pflugeisen eine so fette, ölige Erde zur Seite, dass man sie, die nicht wie Erde, sondern wie schwarze Butter aussieht, essen möchte. Und so tief man auch mit dem schweren Pfluge greift, niemals gelangt man bis zum toten Lehm, immer wendet der funkelnde Stahl unberührte, jungfräuliche, einzigartige Schichten von Schwarzerde um, die stellenweise metertief sind.
Und welche Kraft, welche übermenschliche, gebärende Kraft! Ein Junge bohrt spielend irgendeinen herumliegenden Stecken in die Erde, und ehe man sich umschaut, schießen Sprösslinge auf, und bald breitet ein Baum seine Äste zu einer Krone aus. Weintrauben, Wassermelonen, Zuckermelonen, Birnen, Aprikosen, Tomaten, Auberginen — es ist nicht aufzuzählen, was es da alles gibt! Und alles mächtig, erstaunlich, fast unnatürlich.
Eines Tages hüllen Wolken die Berge ein, ziehen schwer über die Steppen, schicken Ströme von Regen herab, die gierige Erde trinkt sich satt, und dann tritt die unbändige Sonne ihre Riesenarbeit an, und eine märchenhafte Ernte überschüttet das Land.
»Es gibt kein schöneres Land, als dieses Land!« Wer sind denn die Herren dieses wunderbaren Landes? Kubankosaken sind es, sind die Herren dieses herrlichen Landes. Und sie haben Knechte, ein Volk von Arbeitern, die ebenso zahlreich sind wie die Kosaken selbst, die ebenso ukrainisch sprechen und ebenso die ukrainischen Lieder singen.
Sie sind leibliche Brüder, diese zwei Völker; die einen wie die andern sind aus der geliebten Ukraine hierher gekommen.
Nicht freiwillig kamen die Kosaken; die Zarin Katharina II. hat sie vor anderthalb Jahrhunderten gewaltsam in dieses Land getrieben; sie zerstörte die freie Saporosher Kosakenwehr und schickte sie hierher; sie schenkte ihnen gnädig dieses damals wilde, furchtbare Land. Blutige Tränen weinten die Saporosher Kosaken über dieses Geschenk, sehnten sich nach ihrer ukrainischen Heimat zurück. Gelbe Fieber krochen aus den Sümpfen und aus dem Schilf, saugten sich fest an den Menschenleibern, schonten weder alt noch jung, brachten viel Volk ums Leben. Raubgierige Tscherkessen empfingen die Siedler mit scharfen Dolchen und treffsicheren Kugeln; blutige Tränen weinten die Saporosher Kosaken, sie gedachten ihrer alten Heimat, kämpften Tag und Nacht mit dem gelben Fieber, mit den Tscherkessen, mit dem wilden Neuland — es fehlte ihnen an geeigneten Geräten, um der uralten, unberührten Erde Herr zu werden.
Und jetzt... jetzt:
»Es gibt kein schöneres Land, als unser Land!«
Jetzt schielen alle gierig nach diesem Land, nach dieser Schale voll unbeschreiblicher Reichtümer. Aus den Gouvernements Charkow, Poltawa, Jekaterinoslawl, Kiew strömten die von der Not Getriebenen herbei — halbnackt, bettelarm, mit ihrer kargen Habe und ihren Kindern, zerstreuten sich in den vielen Kosakensiedlungen, blickten wie hungrige Wölfe auf das herrliche Land.
Ihr wollt Land haben? — könnt lange warten!
Und da wurden die Siedler zu Knechten bei den Kosaken, man nannte sie: »Auswärtige«. Die Kosaken setzten ihnen hart zu, ließen ihre Kinder nicht in die Kosaken-Volksschulen, zogen ihnen das Fell über die Ohren für jeden Fußbreit ihrer Höfe, ihrer Gärten, bei der Verpachtung des Bodens, ließen von ihnen alle Ausgaben der Siedlungen bestreiten und nannten sie mit tiefer Verachtung — »Teufelsbrut«, »Gesindel«.
Die Auswärtigen aber, hartnäckig wie Eisen, wandten sich, da sie landlos waren, jeglichem Handwerk, jeder industriellen Tätigkeit zu; sie waren geschickt, strebten nach Wissen, zur Kultur, zur Schule. Sie zahlten den Kosaken mit der gleichen Münze heim und nannten sie »Kurkul« (Anm.: »Kurkul« — ukrainisch, was auf russisch »Kulak« heißt, nämlich ein reicher Bauer, der durch Wucher u. dgl. die ärmeren Bauern ausbeutet und ruiniert. ), »Vogelscheuche« usw. So brennt gegenseitig Hass und Verachtung, und die zaristische Regierung, die Generale, Offiziere und Gutsbesitzer entfachten mit Freuden diese tierische Feindschaft;
Ein herrliches Land! — und das dampft, durchtränkt mit bitterer Galle, mit bissiger Wut, mit Hass und Verachtung,
Aber nicht alle Kosaken, nicht alle Auswärtigen verhalten sich so zueinander. Jene, die sich aus ihrer Armut emporgerungen, die in eiserner Arbeit, durch Findigkeit, Hartnäckigkeit zu Reichtum gekommen sind, werden von den wohlhabenden Kosaken geachtet. Sie haben Mühlen gebaut, ausgedehnte Kosakenländereien in Pacht genommen, sich Knechte, verarmte Auswärtige, gedungen, sie haben ihr Geld in Banken, handeln mit Getreide. Sie werden von jenen Kosaken hoch geachtet, deren Häuser mit Blech bedeckt sind und deren Scheunen von der Fülle des Getreides bersten; eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.

Warum jagen die Kosaken pfeifend, johlend, in Reitermänteln, die Fellmützen im Nacken, durch die Straßen hin und her? Der Märzschmutz sprüht unter den Pferdehufen nach allen Seiten, Schüsse blitzen in den blauen Frühlingshimmel. Ist vielleicht ein Festtag heute? Und die Kirchenglocken schleudern fröhliche blaue Klänge über die Siedlungen, Dörfer und Höfe. Und Menschen in festtäglichen Gewändern, Kosaken und Auswärtige, Mädchen und Burschen, Greise und alte Frauen mit eingefallenen Mündern — alles, alles wogt durch die frühlingshaften festlichen Straßen. Ist gar schon Ostern? Aber nein doch, das ist kein Pfaffenfeiertag! Es ist ein Menschheitsfeiertag, der erste nach Jahrhunderten. Seit Jahrhunderten, solange die Erde steht, das
erste Fest.
Nieder mit dem Krieg!. .-.
Kosaken umarmen einander, umarmen die Auswärtigen, die Auswärtigen fallen den Kosaken um den Hals, es gibt keine Kosaken, keine Auswärtigen mehr, es gibt nur Staatsbürger. Keine »Kurkuls« mehr, keine »Teufelsbrut« — nur Staatsbürger.
Nieder mit dem Krieg!...
Im Februar verjagte man den Zaren, im Oktober ereignete sich etwas im fernen Russland; niemand wusste recht, was geschehen war, nur das eine prägte sich in den Herzen ein:
Nieder mit dem Krieg!...
Prägte sich tief ein und war berauschend verständlich.
Und eins nach dem anderen strömten die Regimenter von der türkischen Front zurück. Zurück flutete die Kosakenreiterei, geschlossen marschierten die Fußbataillone der Kubankosaken, es kamen die aus den Auswärtigen zusammengesetzten Infanterieregimenter, es dröhnte die reitende Artillerie, und alles das zog, einem endlosen Strome gleich, nach dem Kuban, in die heimatlichen Siedlungen, mit allen Waffen, mit Vorräten, mit Munition und Train. Unterwegs wurden Schnapsbrennereien und Spirituslager geplündert. Man soff, ertrank, verbrannte bei lebendigem Leibe in einer Flut von Schnaps.
Aber im Kubangebiet herrschte schon die Sowjetmacht. Ins
Kubangebiet zogen schon Arbeiter aus den Städten, Matrosen
von den versenkten Schiffen, und durch sie wurde alles plötzlich
klar und einfach: Gutsherren, Bourgeois, die Kosakenhauptleute, die zaristische Saat des Hasses zwischen den Kosaken und den Auswärtigen und zwischen allen Völkern des Kaukasus. Und da flogen die Köpfe der Offiziere, in Säcke gebunden warf man die Offiziere ins Wasser.
Aber man muss pflügen, und säen muss man; die Sonne, die wunderbare südliche Sonne, wartet gierig auf die Ernte.
»Wo sollen wir denn ackern?« Man muss das Land aufteilen, die Zeit wartet nicht«, sagten die Auswärtigen zu den Kosaken.
»Euch Land geben?« antworteten die Kosaken, und ihre Gesichter wurden finster.
Und die Freude über die Revolution begann zu verblasse »Land wollt ihr haben, ihr Taugenichtse?'« Sie hörten auf, ihre Offiziere und Generale umzubringen, und die kamen schnell aus ihren Verstecken hervorgekrochen, schlugen sich in den geheimen Kosakenversammlungen an die Brust und sagten, den Aufruhr schürend:
»Von den Bolschewiki wurde beschlossen: den Kosaken das ganze Land zu nehmen und es den Auswärtigen zu geben, die Kosaken aber zu Knechten zu machen. Die sich widersetzen, werden nach Sibirien verbannt, ihr ganzes Eigentum wird beschlagnahmt und den Auswärtigen übergeben.«
Da verdunkelte sich das Land am Kuban, geheimer Brand schlich durch die Steppen und Schluchten, von Siedlung zu Siedlung, von Hof zu Hof.
»Es gibt kein schöneres Land, als unser Land!« Und wieder wurden die Kosaken zu »Kurkuls«, zu »Vogelscheuchen«.
»Es gibt kein schöneres Land, als dieses Land!« Und wieder wurden die Zugewanderten — zu »Teufelskindern«, zu »Gesindel«.
Fröhlich wurde im März des Jahres achtzehn der Brei gekocht; man schluckte ihn, der heiß war, dass einem die Tränen kamen, im August, zu einer Zeit, da die Sonne in diesem Lande noch sengend ist und mächtige Wolken heißen Staubes über die Steppe ziehen.
Ä xte klingen, weiße Späne fliegen, die neue Brücke stemmt sich gegen das andere Ufer. Schnell und dröhnend sprengt die Reiterei, marschieren die Fußkosaken hinüber; man eilt, den sich zurückziehenden roten Feind einzuholen.

 

VII

Wagen knarren, Soldaten schreiten, Arme bewegen sich im Takt. Bei diesem ist das Auge angeschwollen, bei jenem ist die Nase blau wie eine Pflaume. Bei diesem sind die Backenknochen mit Schrammen bedeckt — es gibt keinen, in dessen Gesicht nicht ungewohnte Farben glühen. Sie gehen, fuchteln mit den Armen und erzählen lustig:
»Da hau' ich ihm in die Magengrube, dass er die Beine hochwirft.«
»Und ich presse seinen Kopf zwischen die Beine und verdresch' ihm den Hintern... und er, der Schuft.. beißt
zu...!«
»Oho!... Ha-ha-ha!« braust es durch die Reihen.
»Und was wird dein Frauchen dazu sagen?«
Munter erzählen sie, und keinem fällt es ein, darüber nachzudenken, wie es kam, dass sie, statt zu stechen und zu töten, in wilder Begeisterung einander mit Fäusten bearbeiteten.
Man führt vier bei der Siedlung gefangene Kosaken mit und verhört sie unterwegs. Ihre Augen sind trüb, die Gesichter voll blauer Flecke; das macht sie den Soldaten vertrauter.
»Habt ihr denn keine Waffen gehabt, dass ihr mit Fäusten auf uns losgegangen seid?«
»Wir hatten ein wenig getrunken«, murmelten die Kosaken schuldbewusst.
Die Augen der Soldaten funkeln auf. »Wo habt ihr den Schnaps her?«
»Die Offiziere hatten in den Gärten der benachbarten Siedlung fünfundzwanzig Fässer vergraben gefunden. Die Unseren hatten ihn von Armawir mitgebracht, wo sie eine Brennerei gestürmt hatten. Die Offiziere haben uns antreten lassen und gesagt: ,Wenn ihr die Siedlung nehmt, so kriegt ihr Schnaps.' Und wir antworteten ihnen: ,Gebt uns lieber gleich den Schnaps — dann werden wir sie niedermachen wie die Hühner.' Da gaben sie denn jedem zwei Flaschen, wir tranken sie gleich aus. Zu essen kriegten wir nichts, dass der Schnaps besser wirkte. Da hat es uns nicht länger gehalten, wir sind losgestürmt und haben die Gewehre weggeworfen, denn die haben uns nur gehindert.«
»Verfluchte Sauhunde!« rief ein Soldat. »Wie die Schweine...« und holte zum Schlage aus. Aber man hielt ihn zurück:
»Lass ihn! — die Offiziere haben sie doch aufgehetzt. Warum schlagen?«
Hinter der Wegbiegung machte man halt, und die Kosaken begannen ihr Grab zu graben.
Endlose knarrende Wagenzüge, die alles in Staub hüllten, schlängelten sich kilometerlang auf der Landstraße. Vorn blauten die Berge. In den Wagen leuchteten rote Kissen, staken Rechen, Schaufeln, Fässer, funkelten Spiegel und Samoware, und zwischen Bergen von Kleidern, Pferdedecken und Bündeln zappelten Kinderköpfchen, Katzenohren, gackerten Hühner in geflochtenen Körben; Kühe trotteten hinterher, und zottige Hunde voller Kletten, mit hängenden Zungen, hielten sich keuchend im Schatten der Wagen. Die Fuhren mit dem aufgetürmten Sack und Pack knarrten, die Bauern hatten beim Verlassen ihrer Dörfer gierig nach allem gegriffen, was sich irgendwie mitnehmen ließ, um es ja nicht den aufständischen Kosaken zu lassen.
Es war nicht das erste Mal, dass die Auswärtigen ihre Höfe
verließen. Ausbrüche einzelner Kosakenaufstände gegen die Sowjetmacht hatten die Auswärtigen in der letzten Zeit schon öfter von ihren Wohnstätten vertrieben; aber das dauerte immer nur zwei bis drei Tage. Dann kamen die Roten Truppen, schafften Ordnung, und alles kehrte wieder an die alten Plätze zurück.
Aber jetzt dauert es etwas zu lange — schon die zweite Woche. Und das mitgenommene Brot hatte nur für einige Tage gereicht. Und jeden Tag, jede Stunde warten sie, dass man ihnen sagt: nun, jetzt kann man zurückkehren! Aber je länger es anhält, desto verwickelter wird die Sache. Die Kosaken rebellieren immer wütender, von allen Seiten kommen böse Nachrichten: in den Siedlungen sind Galgen aufgerichtet, an denen die Auswärtigen gehängt werden. Wann wird das ein Ende nehmen? Und was ist wohl aus der zurückgelassenen Wirtschaft geworden?
Es knarren die Wagen, Fuhren und Karren, Spiegel funkeln in der Sonne, Kinderköpfchen schwanken zwischen den Kissen, buntscheckige Haufen von Soldaten ziehen dahin, auf der Landstraße, längs der Felder, die ratzekahl sind, als seien Heuschrecken hier gewesen, auf denen es keine Wassermelonen, Kürbisse, Melonen und Sonnenblumen mehr gibt. Es gibt keine Kompanien mehr, keine Bataillone und Regimenter, alles vermischt sich, läuft durcheinander. Jeder geht, wie es gerade kommt. Die einen singen Lieder, die anderen streiten sich, schreien, fluchen, wieder andere hocken auf den Wagen und wackeln schläfrig mit den Köpfen.
An die Gefahr, an den Feind denkt niemand. Auch um die Kommandeure kümmert sich keiner. Wenn man versucht,
diesen fließenden Strom irgendwie zu organisieren, schickt man die Kommandeure zum Teufel und geht weiter, die Gewehre wie Knüppel, mit dem Kolben nach oben, auf der Schulter, rauchend, zotige Lieder singend. — Das alte Regiment ist eben ein für allemal vorbei!
Koshuch wird von dem unausgesetzt fließenden Strom mitgerissen. Es ist, als säße eine gespannte Feder in der Brust und presste sie zusammen: Wenn die Kosaken jetzt den Zug überfallen, wird keiner davonkommen. Die einzige Hoffnung, dass der Tod, wenn er ihnen ins Gesicht blickt, alle aufrüttelt, so aufrüttelt wie gestern, und sie in geschlossenen Reihen seinen Befehlen gehorchen werden... Aber wird es nicht zu spät sein? Und er wünscht, dass es bald Alarm gäbe.
In dem wildrauschenden Strom ziehen die Demobilisierten der zaristischen Armee und die durch die Sowjetmacht Mobilisierten, ziehen freiwillig jene, die aus eigenem Antrieb der Roten Armee beigetreten sind, meistens kleine Handwerker, Böttcher, Schlosser, Klempner, Tischler, Schuster, Friseure und besonders viele Fischer. Alles sich kümmerlich durchs Leben schlagende »Auswärtige« — lauter Arbeitsvolk, dem die Sowjetmacht plötzlich eine kleine Lebenshoffnung gab — sie fühlten auf einmal, dass das Leben nicht immer ein solches Hundeleben zu sein braucht wie bisher. Aber die überwiegende Masse sind doch Bauern. In dichten Haufen haben sie ihre Höfe verlassen, nur die Reichen sind geblieben, denen die Offiziere und Kosaken nichts zuleide taten.
Das Auge seltsam überraschend, reiten schlanke, enggegürtete Gestalten zahlreicher Kubankosaken ihre gutgepflegten Pferde. Nein, das sind keine Feinde, sondern revolutionäre Brüder, besitzlose Kosaken, in ihrer Mehrzahl Frontsoldaten, denen die Revolution unter Rauch, Flammen, unter immerwährender Todesgefahr einen unverlöschlichen Funken ins Herz gesenkt hat.
Eine Eskadron nach der anderen, in zottigen, mit roten Schleifen geschmückten Fellmützen. Die Gewehre über dem Rücken, schwarze, silberverzierte Dolche und Säbel am Ge-
hänge, gut ausgerichtet und diszipliniert inmitten des allgemeinen Wirrwarrs.
Die tüchtigen Pferde schütteln die Köpfe.
Man wird sich mit den Vätern und Brüdern schlagen. Alles haben sie verlassen: ihre Höfe, ihr Vieh, ihr Hab und Gut — ihre Wirtschaft ist zerstört. Schlanke, gewandte Gestalten, die roten Schleifen, von lieber Hand gebunden, leuchten an den Mützen; mit jungen, starken Stimmen singen sie ukrainische Lieder.
Koshuch betrachtet sie liebevoll: »Brav, Burschen, auf euch ruht die ganze Hoffnung.« Liebevoll sieht er sie an, aber noch liebevoller diese in den Staubwolken wandernde abgerissene Masse der Auswärtigen, denn er ist Blut von ihrem Blut.
Wie einen langen, schrägen Schatten schleppt er seine Vergangenheit nach sich, eine Vergangenheit, die man vergessen, der man sich aber nicht entziehen kann. Die allergewöhnlichste hungrige, arbeitsvolle, graue, dunkle Vergangenheit. Die Mutter, noch jung, aber das Gesicht schon von tiefen Runzeln durchfurcht, wie eine arbeitsüberbürdete Mähre; ein Haufen Kinder, die sich von allen Seiten an die Rockschöße klammern. Der Vater — seit jeher Tagelöhner beim Kosaken —, man mag arbeiten soviel man will, man bringt doch nichts zuwege — weder einen eigenen Hof noch ein eigenes Feld.
Von seinem sechsten Jahre an ist Koshuch Gemeindehirt. Steppe, Schluchten, Schafe, Wald, Kühe; Wolken ziehen darüber hin, und unter ihnen die Schatten — das war seine Schule.
Als geschickter, gewandter Junge kommt er als Lehrling in den Laden eines reichen Dorfhändlers, lernt nach und nach lesen und schreiben; dann kommt die Soldatenzeit, der Krieg, die türkische Front... Er ist ein ausgezeichneter Maschinengewehrschütze. In den Bergen brachte er seine Maschinengewehrabteilung in den Rücken des Feindes, und als die türkische Division sich zurückzuziehen begann, bearbeitete er sie von unten mit seinen Maschinengewehren — wie Gras mähte er sie nieder, das heiße, lebendige Blut stieg dampfend auf —, niemals hätte er früher gedacht, dass menschliches Blut in Bächen fließen kann — aber das war türkisches Blut, und das vergaß man bald.
Als Auszeichnung für seine unerhörte Tapferkeit schickte man ihn zur Offiziersschule. Wie schwer das war! Der Kopf zum Platzen. Aber mit unermüdlicher Hartnäckigkeit betrieb er sein Studium, Tag und Nacht, und... fiel durch. Die Offiziere lachten ihn aus, das Lehr- und Erziehungspersonal der Anstalt und die Junker; dieser Mushik will Offizier werden! So ein Schuft... ein Mushik... das stumpfe Vieh! Ha-ha-ha — ein Offizier will er werden!
Er hasste sie schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen. Man schickte ihn als unbefähigt zum Regiment zurück.
Und wieder Granaten und Schrapnells, tausend Tote, Blut, Stöhnen, und wieder mähen seine Maschinengewehre (er hatte ein erstaunliches Auge) und legen sich die Menschen nieder wie Gras. In unmenschlicher Anspannung, unter fortwährender Todesgefahr, die um die Köpfe raste, dachte man nicht daran, wessen Blut in Bächen fließt, in wessen Namen es fließt: für den Zaren, fürs Vaterland, für den rechten Glauben? Mag sein, aber alles blieb nebelhaft. Deutlich und nahe war eins: Offizier werden. Herauskommen um jeden Preis aus dieser Welt von Blut und Klagen, emporkommen, so wie aus einem Hirtenjungen ein Ladenjunge geworden war. Und ruhig, mit ehernen Kinnladen, inmitten der krepierenden Geschosse, die Menschen mähend, war er wie bei sich zu Hause, auf der Wiese, wenn er Gras mähte, das sich rund um ihn legte.
Zum zweiten Male schickte man ihn in die Offiziersschule: Es fehlt an Offizieren, im Kampf fehlt es immer an Offizieren, und in Wirklichkeit nimmt er ja schon lange die Stelle eines Offiziers ein; er befehligt zuweilen große Abteilungen, keine einzige Niederlage konnte man ihm nachsagen. Denn die Soldaten betrachteten ihn als einen der Ihren, auch er kam von der Erde, von den Feldern. Und sie folgten ihm rückhaltlos, diesem knorrigen Mann mit den ehernen Kinnladen, gehen mit ihm durch Feuer und Wasser. In wessen Namen? — Für den Zaren, für das Vaterland, für den wahren Glauben? Mag sein. Aber das alles verschwindet im blutigen Nebel; zurück kann man nicht; dort droht Erschießung, also lieber vorwärts, lieber ihm, diesem ruhigen, starken Bauern folgen.
Wie schwer, wie qualvoll schwer! Der Kopf platzt einem; es ist viel schwerer, sich die Dezimalbrüche anzueignen, als in den Tod zu gehen.
Die Offiziere schütteln sich vor Lachen; die Offiziere, die nötiger- und unnötigerweise in der Schule stecken. Die Schule ist ja ein ruhiges, behagliches Plätzchen, um sich von der Front zu drücken, und es findet sich immer ein Posten, den wohlwollende Menschen freihalten. Die Offiziere schütteln sich vor Lachen: Lümmel, ungehobelter, schmutziger Schuft! Aber so schwer man es ihm auch machte, wie man ihn auch trotz seiner immerhin richtigen Antworten schikanierte — er bewältigte es doch...
Und doch, und doch... man schickte ihn als unbefähigt zum Regiment zurück.
Aufflammende Blitze der Geschütze, explodierende Schrapnells, das seelenlose Knattern der Maschinengewehre, ein blutig-feuriger Wirbelsturm, »und Tod und Hölle von überall« — und er ist wie zu Hause, wie der Bauer in seiner Wirtschaft.
Ein tüchtiger Bauer, hartnäckig wie ein Stier, macht er sich voller Wut an alles, was er vorhat; nicht umsonst ist er ein Ukrainer, die Stirn hängt schwer über den winzigen, grauen stechenden Augen.
Für seine Wirtschaftlichkeit in diesem Todesbetrieb wird er zum dritten Male, ja zum dritten Male, in die Offiziersschule geschickt.
Schon wieder da! Wieder Stoff zum Gelächter für die Offiziere. Ein Mushik... Einer aus dem Gesindel... Und schicken ihn als unbefähigt zum Regiment zurück.
Da kommt aus dem Stab ein gereizter Befehl: Koshuch sofort zum Fähnrich zu machen — es fehlt an Offizieren!
Ho-ho! An Offizieren ist großer Mangel: vorn an der Front, aber nicht in der Etappe.
Verächtlich stellte man ihm das Patent aus. Er kehrt zu seiner Kompanie zurück — auf seinen Schultern funkelt es: er hat's erreicht. Und er freut sich und auch wieder nicht.
Freut sich: denn er hat's erreicht, erreicht unter schrecklichen Schwierigkeiten mit seinem hartnäckigen, übermenschlichen Willen. Und freut sich doch nicht; denn die funkelnden Achselstücke trennten ihn von den Seinen, von den Vertrauten, von den Bauern und Soldaten. Sie trennten ihn von den Soldaten, brachten ihn aber den Offizieren nicht näher: um Koshuch bildete sich ein leerer Kreis.
Die Offiziere, seine neuen Kameraden, nannten ihn nicht offen einen »Bauernlümmel«, »Gesindel«, »Tölpel«, aber im Lager, in der Offizierskantine, überall, wo ein paar Menschen mit Achselstücken waren, bildete sich um ihn herum ein leerer Kreis. Sie sagten es nicht mit Worten, aber ihre Augen, ihre Gesichter, jede ihrer Bewegungen sagten es: Bauernlümmel, Canaille...
Er hasste sie mit einem ruhigen, immerwährenden, tiefversteckten Hass. Und verachtete sie. Diesen Hass und die Kluft, die sich zwischen ihm und den Soldaten jetzt bildete, erstickte er mit kaltem Mut in tausendfachen Todesgefahren.
Aber auf einmal begann alles zu wanken: die Berge Armeniens, die türkischen Divisionen, die Soldaten, Generale mit ratlosen, verblüfften Gesichtern, die verstummten Geschütze, der Märzschnee auf den Gipfeln — es war, als wenn der Weltraum einen Riss erhalten hätte und Unerhörtes, Nie gesehenes, aber immer in den geheimsten Tiefen Lebendes zum Vorschein gekommen wäre; etwas, was nie mit Worten genannt wurde, trat auf einmal klar, einfach, greifbar in Erscheinung.
Es kamen Menschen, gewöhnliche Menschen, mit mageren gelben Fabrikgesichtern, die anfingen, diesen Riss immer mehr zu verbreitern. Und uralter Hass, uralte Unterdrückung, uralte Sklaverei brachen mit eins aus diesem Riss hervor.
Jetzt bedauerte Koshuch zum ersten Mal, dass an seinen Schultern die Achselstücke glänzten, die er sich mit solch eiserner Energie erkämpft hatte. Er fand sich in den Reihen der Arbeiterfeinde, der Bauernfeinde, der Soldatenfeinde.
Als die Oktobertage heranrollten, riss er sich voller Verachtung die Achselstücke ab und fuhr, von dem rauschenden Strom der Truppen, die ihren Heimatdörfern zustrebten, erfasst, im dunklen Winkel eines voll gepfropften Güterwagens, bemüht, sich nicht zu zeigen, nach Hause. Trunkene Soldaten brüllten Lieder und machten Jagd auf die sich versteckenden Offiziere. Er wäre nicht heimgekommen, hätte man ihn entdeckt.
Als er ankam, lag alles in Scherben, die alte Ordnung, die alten Verhältnisse, das Neue aber war noch trübe und unklar. Die Kosaken umarmten die Auswärtigen, machten Jagd auf die Offiziere und schlugen sie nieder.
Wie Hefebrocken fielen die aus den Fabriken angekommenen Arbeiter und die Matrosen von den versenkten Schiffen in die fiebernde Bevölkerung, und wie ein Sauerteig erhob sich das Kubangebiet: in den Siedlungen, Dörfern und Flecken herrschte die Sowjetmacht.
Obwohl Koshuch es mit Worten nicht zu sagen vermochte, nicht über Klassen, Klassenkampf, Klassenverhältnisse reden konnte — das, was die Arbeiter darüber sagten, erfasste er mit seinem ganzen Wesen. Und das, was früher; seinen glühenden Hass ausmachte — die Offiziere —, das schrumpfte jetzt zu einem Nichts vor jenem Gefühl zusammen, das ihn jetzt erfasste, vor dem Ahnen des grenzenlosen Klassenkampfes. Er wusste jetzt, dass die Offiziere nur jämmerliche Lakaien der Gutsherren und der Bourgeoisie waren.
Die Spuren der einstmals mit so großer blutiger Mühe errungenen Achselstücke brannten auf seinen Schultern. Obwohl man ihn als einen der Ihren kannte, sah man ihn doch scheel an.
Und ebenso eisern, mit derselben ukrainischen Hartnäckigkeit beschloss er, diese Spuren auf seinen Schultern mit glühendem Eisen, mit seinem Blute und dem Preis seines Lebens zu vertilgen und dieser Masse der Armut, die Fleisch von seinem Fleisch war, ebenso — nein noch hingebungsvoller zu dienen.
Und da geschah es. Die Dorfarmut begann die Bourgeois zu enteignen. Da aber dazu alle zählten, die ein zweites Paar Hosen hatten, gingen die Burschen von Hof zu Hof, brachen alle Behälter und Truhen auf, teilten das Erbeutete an Ort und Stelle auf; manche zogen sich gleich die neuen Stücke an, denn — man muss doch alles gleichmachen.
Auch zu Koshuch hatten sie während seiner Abwesenheit hereingeschaut und mitgenommen, was sich fand. Und dem zurückkehrenden Koshuch blieb nichts als das, was er trug — ein zerrissener Kittel, ein alter Strohhut, zerrissene Stiefel, während seiner Frau nur der eine Rock blieb, den sie gerade anhatte. Koshuch, ganz erfüllt von einem einzigen Gefühl, einem hartnäckigen Gedanken, machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
Man wollte alle gleichmachen, als man aber daranging, das Land unter alle aufzuteilen, erhob sich das ganze Kubangebiet und stürzte die Sowjetmacht.
Jetzt zieht Koshuch inmitten des Lärms, des Knarrens der Räder, des Schnaubens der Pferde und inmitten mächtiger Staubwolken als Führer einer Roten Kolonne dahin.

 

VIII

Auf der letzten Station vor den Bergen herrschte eine babylonische Wirrnis: Lärm, Schreien, Weinen, schweres Fluchen, verstreute, durcheinander gemengte Truppen, einzelne Soldatengruppen — und hinter der Station Schüsse, Schreie, Verwirrung. Von Zeit zu Zeit dröhnen Kanonenschüsse.
Hier ist auch Koshuch mit seiner Kolonne und seinen Flüchtlingen. Auch Smolokurow ist mit seiner Kolonne und Flüchtlingen bei dieser Station eingetroffen. Unaufhörlich kommen neue Abteilungen heran, von allen Seiten von Kosaken verfolgt und bedrängt. Auf diesem letzten Fleck drängten sich Zehntausende dem Tode geweihte Menschen zusammen — die Kadetten und Kosaken verschonen keinen, weder alt noch jung, alle werden entweder unter den Säbeln, im Feuer der Maschinengewehre fallen, oder an den Bäumen hängen, oder in tiefe Schluchten geworfen und lebendig begraben werden.
In der Verzweiflung werden schon wiederholt Rufe laut: »Wir sind verraten.« »Die Kommandeure haben uns verraten!...«
Und als sich das Geschützfeuer plötzlich verstärkte, brach es los:
»Rette sich, wer kann! Lauft, Jungens...!«
Koshuchs Kolonne hielt die Kosaken so gut es ging zurück, aber man fühlte, dass es nicht lange dauern würde.
Die Befehlshaber berieten ununterbrochen, aber es hatte nicht viel Zweck; niemand wusste, was im nächsten Augenblick geschehen würde.
Koshuch erklärte:
»Die einzige Rettung ist: über die Berge und drüben an der Küste des Meeres durch Gewaltmärsche auf einem Umwege den Anschluss an unsere Hauptkräfte erreichen. Ich: ziehe gleich los.«
»Wenn du das wagen wirst, werde ich auf dich feuern lassen«, sagte Smolokurow, ein Riese mit schwarzem breitem Bart und weiß funkelnden Zähnen. »Wir müssen uns ehrenvoll verteidigen und nicht fliehen.«
Eine halbe Stunde darauf setzte sich Koshuchs Kolonne in Bewegung, niemand wagte es, sie zurückzuhalten. Und kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, folgten ihr Zehntausende von Soldaten, Flüchtlingen, Wagen und Tieren, in panikartiger Flucht, sich drängend, die Chaussee verstopfend, bemüht, einander zu überholen und die Vorderwagen in den Graben zu werfen.
Eine endlose lebende Schlange wand sich durch die Berge.

 

IX

Man zog den ganzen Tag und die ganze Nacht. Vor Tagesgrauen machte man halt, ohne die Pferde auszuspannen; der Zug nahm viele Kilometer der Chaussee ein. Über dem Gebirgspass, ganz dicht über ihm, funkelten riesige Sterne. Unermüdlich rauschte in der Schlucht das geschwätzige Wasser. Allenthalben Finsternis und Schweigen, als wenn es weder Berge, noch Wälder, noch Abhänge gäbe. Nur die Pferde hörte man kauen. Kaum war man eingeschlafen, als schon die Sterne zu erblassen begannen. Ferne Waldhöhen traten hervor; durch die Schluchten wallten milchweiße Nebelschleier. Wieder rührte sich alles, wieder bewegte sich der Trupp kilometerlang über die Chaussee.
Hinter den fernen Bergkämmen flammten blendende Sonnenstrahlen auf, und lange blaue Schatten flüchteten über die Abhänge. Die Spitze der Kolonne erreichte den Pass. Als man oben war, stockte jedem der Atem: ein schwindelnder Abgrund stürzt von den Gipfeln, und wie ein unwirklicher Traum leuchtet tief unten die Stadt. Hinter der Stadt aber erhebt sich verblüffend, wie eine grenzenlose blaue Mauer, das Meer, eine solche nie gesehene gewaltige Mauer, dass an ihrer tiefen Bläue aller Augen hell werden.
»He, Nachbar, siehst du das Meer?!«
»Das steht ja wie eine Mauer!«
»Da wirst du halt über die Mauer klettern müssen.«
»Aber wie denn, wenn man am Ufer steht, liegt's doch ganz glatt da, bis an den Horizont?«
»Hast denn nicht gehört, wie der alte Moses die Juden aus der ägyptischen Knechtschaft führte, und das Wasser für sie wie Mauern war, und sie mitten ins Meer hineingingen wie auf dem Trockenen?«
»Uns wird es wohl nicht durchlassen, es steht ja da wie eine Wand.«
»Das ist ja wegen Garasjka, damit seine neuen Stiefel nicht nass werden.«
Den Berg hinab geht es sich lustiger, die Arme schlenkern, Geplauder und Gelächter laufen durch die Reihen. Immer tiefer senkt sich der Kopf der Schlange, und niemand denkt an das schwarze gigantische Bügeleisen, das unheilvoll regungslos, mächtig qualmend das blaue Gesicht der Bucht verunstaltet — ein deutscher Panzerkreuzer. Um ihn herum liegen feine schwarze Striche — türkische Torpedoboote; auch sie geben schwarzen Qualm von sich.
Ü ber den Bergkamm fließen immer neue Reihen munter ausschreitender Soldaten, alle sind gleich überrascht von dem dichten Blau der sich bis zum Himmel erhebenden Mauer; hell werden aller Augen, und erregt bewegen sich die Arme beim Abstieg auf der sich schlängelnden Chaussee.
Da kommt auch der Tross. Die Pferde schütteln die Köpfe, die Kummete rutschen ihnen auf die Ohren, im Trab laufen die Kühe. Mit Geschrei jagen, auf Gerten reitend, die Kinder. Die Erwachsenen stemmen sich bremsend gegen die rollenden Fuhrwerke. Und alle zusammen ziehen munter auf den Windungen der Chaussee dem unbekannten Schicksal entgegen.
Hinten erhob sich der Kamm des Gebirgspasses und deckte den halben Himmel zu.
Die Stadt zwischen der Bucht und den Zementwerken umgehend, erreichte der Kopf der endlosen Schlange den schmalen Uferstrich. Auf der einen Seite schoben sich kahle Berge dicht zur Küste heran, auf der anderen — das Herz stand einem still bei diesem Anblick — dehnte sich mit blauäugiger Zartheit die endlose, lichte Wasserebene.
Kein Rauch, kein Segel. Nur eine ständig neu entstehende durchbrochene Spitzenrüsche taucht auf, zieht taunass über das Steingeröll am Ufer und verschwindet zwischen den feuchten Blöcken. In dem lautlosen Schweigen klingt, nur dem Herzen vernehmbar, das Lied der Urzeit.
»He, Nachbar, siehst du, jetzt hat sich das Meer wieder hingelegt!«
»Hast du geglaubt, dass es immer wie eine Mauer stehen wird? Der Blick vom Berge trügt. Wie könnte man es sonst befahren?«
»He, Garasjka, jetzt sind deine Stiefel hin; jetzt werden sie nass, wenn wir durchs Meer gehen!«
Garasjka aber schreitet munter, barfuss, mit geschultertem Gewehr.
Ein schallendes Gelächter rollt durch die Reihen; auch hinten, wo man nichts gehört hat, wird mitgegrölt.
Und eine finstere Stimme:
»Jetzt ist alles eins, jetzt gibt's kein Zurück mehr: rechts ist Wasser, links die Berge und hinten die Kosaken. Also vorwärts, weiter bleibt uns nichts!«
Der Kopf der Schlange bewegte sich schon lange auf dem schmalen Uferweg und verschwand hinter der Biegung. Die Mitte des Zuges bog um die Stadt, und das Ende schlängelte sich noch immer die weißen Windungen der Chaussee hinab.
Der deutsche Stadtkommandant, der an Bord des Panzerkreuzers seinen Aufenthalt hatte, bemerkte die unvorhergesehene Bewegung bei der fremden, aber seinen kaiserlichen Kanonen unterstellten Stadt, und diese Bewegung war entschieden ungehörig. Er gab Befehl, dass diese unbekannten Menschen, Soldaten, Kinder und Frauen, alles, was hastig an der Stadt vorüberzog, sofort Halt mache, Waffen, Munition, Mundvorrat, Furage ausliefere und sich bis auf weitere Befehle nicht vom Fleck rühre.
Aber die staubige, graue Schlange kroch hastig weiter; eilig trabten die Kühe, trippelten die Kinder, sich an die Wagen klammernd; die Erwachsenen trieben die Pferde an, und aus den Reihen drang dichter, dumpfer, von den Bergen widerhallender Lärm; blendendweißer Staub begleitete den Zug.
In diesen endlosen Strom begann krachend, fluchend, fremde Achsen und Räder brechend, ein anderer Strom von beladenen Wagen sich aus der Stadt zu ergießen; vom Seewind salzdurchtränkte heisere Matrosenstimmen fluchten und schrieen. Auf den Wagen der neuen Ankömmlinge sah man sehnige, stämmige, nach Schnaps riechende Matrosengestalten, in weißen Matrosenhemden mit blauen umgeschlagenen Kragen; schwarze, goldbedruckte Bänder flatterten von den runden Mützen. Über tausend Wagen, Kaleschen, Fuhren, Korbwagen ergossen sich in den vorbeikriechenden Zug, geschminkte Weiber und an die fünftausend schwer fluchende Matrosen saßen in ihnen.
Der deutsche Kapitän wartete eine Weile, aber der Zug hielt noch immer nicht.
Da, auf einmal, die hellblaue Stille durchbrechend, krachte es vom Kreuzer. Und das Krachen rollte weiter durch die Berge und Schluchten, als wenn ungeheure Felsen barsten. Nach einer Sekunde hallte es wider, weiß Gott wie weit, hinter der regungslos hängenden blauen Ferne.
Ü ber der fortkriechenden Schlange tauchte rätselhaft weich ein weißes Wölkchen auf, barst mit schwerem Krachen und löste sich langsam auf.
Der braune Wallach, der nachts wie ein Rappe aussah, bäumte sich unerwartet und brach, die Deichseln zersplitternd, zusammen. Etwa zwanzig Menschen stürzten hinzu, packten ihn an der Mähne, an den Beinen, an Schweif und Ohren und zogen ihn von der Chaussee in den Graben, und die Fuhre rollte mit ihm hinab. Keine Sekunde stockte der ungeheure Zug: Fuhre an Fuhre, Wagen an Wagen, Karren an Karren rollte er, die ganze Breite der Chaussee einnehmend, unaufhaltsam vorwärts. Gorpina und Anka griffen weinend von dem umgekippten Wagen, was ihnen unter die Hände geriet, steckten es in fremde Wagen und gingen zu Fuß weiter, während der Alte mit zitternden Händen das Zaumzeug des toten Pferdes durchschnitt und ihm das Kummet abzog.
Zum zweiten Male leckte eine blendende Zunge vom Kreuzer, wieder rollte es in der Stadt und in den Bergen, hallte es hinter der blauen Ferne wider. Abermals leuchtete hoch oben ein Schneeklümpchen auf, und allerorts sanken stöhnende Menschen zusammen. Eine junge, schwarzäugige Mutter, mit matten Silberstreifen in den Ohren, hatte ein kleines Kind an der Brust; das hielt plötzlich im eifrigen Saugen inne, seine Händchen fielen herab, die erkaltenden Lippen lösten sich von der Brust, der kleine Kopf sank in den Nacken.
Die Mutter stieß einen wilden, tierischen Laut aus, man stürzte auf sie zu, sie wehrte ab, stopfte ihre Brust, aus der die Milch weiß herabtropfte, in den kleinen, erblassenden Mund. Das kleine Gesichtchen mit den verdrehten Augen erlosch, überzog sich mit gelber Blässe.
Und die Schlange kroch immer weiter, immer weiter im Bogen um die Stadt. Oben auf dem Gebirgspass, dicht unter der Sonne, erschienen jetzt Menschen, Pferde. Sie waren winzig, kaum einen Fingernagel groß. Sie machten sich an etwas zu schaffen, rannten geschäftig um die Pferde und — erstarben plötzlich.
Und gleich darauf krachte es dort oben viermal hintereinander und rollte vieltausendfach durch die Berge. Da begannen hastige, sprühende, kleine Wölkchen in der Luft zu entstehen und zu zerrinnen. Zuerst hoch oben, dann immer tiefer, immer dichter über der Chaussee. Bald hier, bald dort brachen Menschen, Pferde, Kühe schreiend, wimmernd, stöhnend zusammen. Man warf die Menschen, ohne auf ihr Stöhnen zu achten, auf die Wagen, das Vieh und die Pferde zerrte man in den Graben, und die Schlange kroch, ohne auch nur eine Sekunde zu stocken, weiter, Rad an Rad, Achse an
Achse.
Der kaiserliche Kommandant fühlte sich beleidigt. Wohl durfte er Frauen und Kinder erschießen, die Ordnung erforderte dies, aber andere durften das nicht wagen, ohne seine, des Kommandanten, Erlaubnis. Der lange Rüssel des Kreuzers hob sich und spie eine ungeheure feurige Zunge aus. Hoch oben, über der blauen Tiefe, über den Zug und die Berge hinweg, strich etwas sausend, lispelnd durch die Luft und platzte dort, am Gebirgspass, wo die winzigen, fingernagelgroßen Merischlein waren. Das brachte neue Bewegung unter sie. Die vier Geschütze der Batterie widmeten sich jetzt ausschließlich dem Kapitän der »Goeben« und schickten ihre weißen Wölkchen zu dem Kreuzer. Die »Goeben« verstummte ärgerlich. Ungeheure schwarze Rauchschwaden quollen auf einmal aus ihrem Schornstein hervor; finster setzte sie sich in Bewegung, verließ die blaue Bucht, drehte um und...
... eine gewaltige Erschütterung zerriss Meer und Himmel. Das Blau des Wassers wurde trübe. Die Erde erbebte; qualvoll presste etwas die Lungen, das Gehirn; im Städtchen flogen Fenster und Türen auf — alle waren einen Augenblick lang taub.
Ü ber dem Gebirgspass erhob sich, die Sonne verfinsternd, das riesenhafte Ungetüm einer Sprengwolke, trüb grünlich, sich langsam windend. In seinen giftigen Dünsten peitschte das übrig gebliebene Kosakenhäuflein wie rasend die Pferde und verschwand mit dem einzigen übrig gebliebenen Geschütz hinter der Höhe. Und noch immer stand der grünliche Trauerflor des Ungeheuers in der Luft; langsam, kaum merklich; löste er sich auf.
Von der unmenschlichen Erschütterung zerbarst die Erde, es war, als öffneten sich die Gräber, auf allen Straßen zeigten sich Gestalten, die ihnen entstiegen waren. Wächsern, mit schwarz eingefallenen Löchern statt Augen, in zerrissener, stinkender Wäsche schleppten sie sich, krochen, humpelten sie — alle in einer Richtung — der Chaussee zu. Die einen schweigend, in sich gekehrt, die Blicke nicht vom Ziel wendend, andere auf Krücken humpelnd, schlenkernd, ihre Leidensgenossen überholend, wieder andere rannten und stießen unartikulierte, schrille, herzzerreißende Laute aus.
Und eine feine, klingende Stimme, wie die eines angeschossenen Vogels, wimmerte unausgesetzt:
»Trin—ken... trin—ken... trin—ken... « — wie ein verwundeter Vogel über einer nackten, verdorrten Wiese.
Ein ganz junger Bursche in zerrissener Wäsche, durch die der Körper gelb hervorschimmerte, schiebt gleichgültig die erstorbenen Beine vor sich her und wimmert, den fiebernden Blick gerade vor sich hin gerichtet:
»Trin—ken... trin—ken... «
Eine Schwester mit jungenhaft kurzgeschorenem Kopf, mit verblasstem Kreuz auf dem zerrissenen Ärmel, läuft ihm barfuss nach.
»So wart doch, Mitja... Wohin willst du?... Ich gebe dir gleich Wasser zu trinken, Tee... so wart doch... komm zurück! Es sind doch Menschen und keine Tiere...«
»Trin—ken... trin—ken... «
In den Bürgerhäusern werden eiligst Fenster und Türen geschlossen. Aus den Dachfenstern, hinter den Zäunen fallen Schüsse — den Flüchtenden in den Rücken. Aus den Lazaretten, aus Hospitälern, aus Privathäusern kriecht alles heraus, stürzt aus den Fenstern, fällt von den oberen Stockwerken herab und trottet dem abziehenden Tross nach.
Da sind schon die Zementwerke und die Chaussee... Auf der Chaussee aber ziehen hastig Kühe, Pferde, Hunde, Menschen, Fuhren, Karren vorbei — der Schweif der Schlange entfernt sich.
Beinlose, Armlose, mit zertrümmerten, von schmutzigen Lappen zusammengehaltenen Kinnladen, mit Turbanen aus blutigen Binden, mit verbundenen Bäuchen, eilen dahin, ohne die fiebernden Blicke von der Chaussee abzuwenden. Aber die Wagen entfernen sich immer mehr, und die Menschen, die neben ihnen her schreiten, haben verschlossene, finstere Gesichter, sie blicken nur gerade vor sich hin. Und ein klagendes Flehen steht über der Erde.
»Brüder... Brüder... Genossen!«
Heisere, zerrissene Stimmen klingen bald durchdringend hell, bald dumpf von allen Seiten:
»Genossen, ich habe keinen Typhus, glaubt mir's — keinen Typhus! Ich bin nur verwundet, Genossen!«
»Auch ich habe keinen Typhus... Wahrhaftiger Gott...«
»Auch ich nicht...«
»Auch ich...«
»Auch ich...«
Aber die Wagen kriechen weiter.
Ein Verwundeter klammerte sich an einen mit aufgetürmtem Gerümpel und Kindern beladenen Wagen und hüpfte, sich mit beiden Händen festhaltend, auf einem Bein. Der graubärtige Besitzer des Wagens, mit von der Sonne dunkel gegerbtem Gesicht, bückte sich, packte ihn bei seinem einzigen Bein und schob ihn hinauf, auf die Köpfe der verzweifelt aufschreienden Kinder...
»So gib doch acht, du zerquetschst ja die Kinder!« schrie die Bäuerin, der das Tuch vom Kopf gerutscht war.
Der Einbeinige machte das glücklichste Gesicht von der Welt. Aber längs der Chaussee folgten mehr und mehr, humpelnd, fallend, sich wiederaufrichtend oder an der Böschung liegen bleibend.
»Ihr lieben Leut', würden euch ja alle mitnehmen, aber wohin mit euch? Haben so schon unsere eigenen Verwundeten, und zu essen haben wir auch nichts, werdet mit uns doch elendiglich zugrunde gehen, ihr tut uns so leid...« Die Weiber schnäuzen sich und trocknen die immer wieder hervorquellenden Tränen.
Ein Soldat von ungeheurem Wuchs, mit finster zusammengezogenen Brauen und einem Bein, wirft, konzentriert vor sich hinblickend, seine Krücken vor, dann seinen starken Körper nach und misst so, pendelnd, die Chaussee ab:
»Ihr verfluchten Hunde... dass euch...«
Der Zug geht weiter und weiter. Die letzten Räder wirbeln schon weit entfernt den Staub auf, nur schwach dringt das Klappern der eisernen Achsen herüber. Die Stadt, die Bucht entfernen sich immer mehr. Die Chaussee zieht sich öde hin, und langsam bewegen sich wächserne, halbtote Menschen in lang gestreckter Kette, den nicht mehr sichtbaren Wagen folgend. Nach und nach bleiben sie kraftlos stehen, setzen sich nieder, bleiben auf der Böschung liegen. Und aller Augen sind dorthin gerichtet, wo der letzte Wagen verschwand. Still legt sich der von den letzten Sonnenstrahlen gefärbte Staub.
Der große einbeinige Soldat aber wirft noch immer seinen starken Körper, zwischen den Krücken pendelnd, über die menschenleere Chaussee und murmelt:
»Hol euch der Satan... haben unser Blut für euch vergossen... Dass euch...«
Von der anderen Seite rücken die Kosaken in die Stadt ein.

 

X

Lang dehnt sich die müde Nacht, und keinen Augenblick unterbricht der schwarze Menschenstrom seinen lärmenden Lauf.
Schon erblassen erschöpft die Sterne. Braune, versengte Berge, Flussbetten und Schluchten treten hervor.
Der Himmel wird hell. Unermesslich dehnt sich das immer wieder seine Farben wechselnde Meer, bald zartviolett oder weißlichgrau, bald von der blauen Tiefe des in seinen Fluten tauchenden Himmels überzogen.
Die Bergkuppen erglühen. Und es erglühen die dunklen, zahllosen schwankenden Bajonette.
Auf felsigen, dicht an die Chaussee vorgeschobenen Abhängen — Weinberge, weiße Landhäuser, leere Villen. Zuweilen sieht man dort Menschen stehen, mit Schaufeln und Hacken, in selbstgeflochtenen Strohhüten. Sie stehen und schauen; an ihnen vorüber schreiten in endlosen Reihen Soldaten mit herabhängenden Armen, und zahllos schwanken die spitzen Bajonette.
Wer sind sie? Woher kommen sie? Wohin gehen sie so unaufhaltsam — mit müde schlenkernden Armen? Mit Gesichtern, die gelb sind wie gegerbtes Leder. Verstaubt, zerfetzt. Schwarze Ringe unter den Augen. Die Wagen knarren, dumpf schlagen müde Hufe auf. Kinderköpfe schauen aus den Fuhren heraus. Die erschöpften Pferde lassen die Köpfe hängen.
Und wieder graben die Spaten das Erdreich um. Was geht's sie an!... Aber wenn sie die müden Rücken wiederaufrichten, da bewegen sich den Windungen des Ufers gehorsam folgend, noch immer zahllose schwankende Bajonette an ihnen vorüber.
Und schon steht die Sonne hoch über den Bergen, schon ist die Erde von glühender Luft überflutet, und das Gefunkel des Meeres schmerzt in den Augen. Stunde um Stunde — sie schreiten und schreiten. Menschen beginnen zu wanken, die Pferde halten an.
»Ist er übergeschnappt, der Koshuch?«
Flüche werden laut.
Man meldete Koshuch, dass die beiden Kolonnen Smolokurows sich mit ihrem Train von seiner Kolonne abgelöst und in einem Dorf ihr Lager aufgeschlagen hätten, und dass zwischen ihnen auf der Chaussee eine Lücke von etwa zehn Kilometern frei geworden sei. Er zog die kleinen Augen noch mehr zusammen, als wollte er ihre spöttischen Funken verbergen, und sagte nichts. Sie zogen weiter und weiter.
»Er hetzt uns zu Tode!« ging es dumpf die Kolonne entlang.
»Und warum jagt er uns: hüben ist das Meer, drüben sind die Berge, wer kann uns was anhaben? So aber gehen wir auch ohne die Kosaken vor lauter Plackerei zugrunde. Fünf Pferde sind schon gefallen... und auch die Menschen legen sich in die Straßengräben.«
»Was kümmert ihr euch um ihn!« schreien die mit Revolvern, Handgranaten und Patronengurten behängten Matrosen, sich unter die Reihen der Soldaten mischend, »seht ihr denn nicht; dass er auf seinem Kopf bestehen will? Ist er nicht auch Offizier gewesen? Werdet schon sehen, er wird euch kaputt hetzen. Wenn ihr noch lange fackelt, wird es zu spät sein.«
Als die Sonne am höchsten stand, machte man eine Viertelstunde halt, tränkte die Pferde, und auch die in Schweiß gebadeten Menschen tranken sich satt, und wieder ging es auf der glühenden Chaussee weiter. Die bleischweren Beine bewegten sich kaum, der glühende Wind versengte die Gesichter. Unerträglich funkelte das Meer. Und weiter ziehen sie. Ein dumpfes Murren wird laut, und die Kolonnen drohen auseinanderzulaufen. Einige Befehlshaber von Kompanien und Bataillonen erklären Koshuch, dass sie ihre Abteilungen absondern und selbständig marschieren werden.
Koshuchs Gesicht verdunkelte sich, aber er antwortete nicht. Die Kolonne zieht weiter und weiter.
Nachts machte man halt. Kilometerweit flammten Lagerfeuer längs der Chaussee auf. Man hackte niedriges, trockenes, knorriges Gestrüpp. In dieser Wüste gibt es keine Wälder: man zerschlug die Zäune der Landhäuser, brach Fensterrahmen aus, schleppte Möbel herbei, verbrannte alles. Feldkessel mit Suppe kochten über den Feuern.
Man sollte wohl meinen, dass alle vor unmenschlicher Müdigkeit sofort zusammenbrechen müssten und wie tot schlafen würden. Aber die von Flammen erhellte Dunkelheit wallte purpurn, war seltsam belebt. Man hörte Gespräche, Gelächter, Harmonikas. Die Soldaten scherzten, stießen einander ins Feuer. Gingen zum Tross, schäkerten mit den Mädchen. In den Kesseln kochte die Grütze. Das Feuer leckte die großen Kessel der Kompanien. Seltener rauchten Feldküchen.
Es war ein ungeheures Lager, gerade so, als hätte man sich hier für lange niedergelassen.

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