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Alexander Serafimowitsch - Der eiserne Strom (1924)
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XVI

Jener, der voranlief, sagte atemlos:
»Wo ist es denn?«
Der andere antwortet:
»Hier, wo der Baum steht«, und er rief:
»Großmutter Gorpina!«
Aus der Dunkelheit antwortete es:
»Was denn?«
»Seid ihr hier?«
»Ja, ja, hier...«
»Wo ist denn der Wagen?«
»Da steht er ja, dort rechts am Graben.«
Und nach einer Weile drang aus der Dunkelheit die gurrende, in Tränen aufklingende Stimme:
»Stepan!... Stepan!... Er lebt ja nicht mehr...«
Und sie reichte ihm demütig das Bündel hin. Er nahm das seltsam kalte, regungslose Körperchen, von dem ein schwerer Geruch ausging. Sie drückte ihren Kopf an seine Brust, und die Dunkelheit leuchtete plötzlich von perlenden, herzbrechenden Tränen.
»Er lebt ja nicht mehr, Stepan...«
Und schon sind die Weiber da; keine Müdigkeit, kein Schlaf können sie hindern, mit dabei zu sein. Ihre trüben Gestalten drängen sich um den Wagen, sie bekreuzigen sich, seufzen, geben gute Ratschläge.
»Jetzt weint sie endlich...«
»Jetzt wird's ihr besser werden.«
»Man muss ihr die Milch aussaugen, sonst steigt sie ihr zu Kopf.«
Die Weiber betasteten eines nach dem andern die straffgespannten Brüste.
»Wie Stein.«
Und sich bekreuzigend, Gebete flüsternd, drücken sie ihre Lippen an die Brüste des jungen Weibes und saugen, spucken andächtig nach drei Seiten aus und bekreuzigen das Ausgespuckte.
Zwischen niedrigen, stacheligen Sträuchern des Christdorns grub man ein kleines Grab. Dann legte man etwas in Lappen Gehülltes hinein und schüttete die Erde wieder zu.
»Stepan... Stepan... er lebt ja nicht mehr.«
Man sah undeutlich, wie die im Dunkel schwarz aufragende Mannergestalt mit beiden Armen den Kreuzdornstamm umschlang, und man hörte ihn schnaufen. Sie umfing seinen Hals:
»Stepan!... Stepan!... Stepan!...«
Und wieder glitzerten in der Dunkelheit perlende Tränen.
»Er lebt nicht mehr... Stepan... Er ist fort...«

 

XVII

Die Nacht überwältigt doch alle. Kein Feuer, kein Gespräch. Nur das Geräusch der kauenden Pferde. Aber auch sie verstummen nach und nach. Einige legen sich nieder. Der Morgen ist nahe.
An den regungslosen schwarzen Bergen zieht sich stumm das schwarze Band des Lagers hin.
Nur an einer Stelle vermochte das alles einschläfernde nächtliche Dunkel den Menschen nicht zu überwältigen. Durch die Bäume eines schlafenden Gartens blinkt ein Flämmchen— es ist einer da, der für alle anderen wacht.
In dem ungeheuren eichengetäfelten Esszimmer, mit zerstochenen, zerrissenen kostbaren Gemälden an den Wänden, erkennt man im schwachen Schimmer einer feinen Wachskerze die in den Ecken aufgehäuften Sättel und die zusammengestellten Gewehre, die am Boden auf den schweren, teuren, von den Fenstern abgerissenen Portieren und Vorhängen in toten, seltsamen Stellungen liegenden Soldaten. Ein schwerer Dunst von Menschen- und Pferdeschweiß hängt im Raum.
Schwarz und schmal blickt ein Maschinengewehr aus der Tür hinaus.
Ü ber den prächtigen, geschnitzten Eichentisch gebeugt, der sich massig durch die Mitte des Raumes hinzieht, verfolgt Koshuch mit scharfen, stechenden Augen, vor denen es kein Entrinnen gibt, die Linien der auf den Tisch ausgebreiteten Karte. Der Stummel des Kirchenlichts flimmert, das erkaltende Wachs tropft herab, und flüchtige Schatten bewegen sich über Tisch, Wände und Gesichter.
Ü ber dem blauen Meer der Karte, über den Bergzügen, die wie zottige Tausendfüßler aussehen, neigt sich aufmerksam der Adjutant.
Die Ordonnanz, das Gewehr umgehängt und die Patronentasche umgeschnallt, steht wartend daneben, und die zauberhaft huschenden Schatten erwecken den Eindruck, es rege sich alles an ihm.
Der Lichtstummel erstirbt eine Sekunde lang, dann wird alles regungslos.
»Hier!« stupst der Adjutant mit dem Finger auf einen Tausendfüßler, »von dieser Schlucht aus können sie uns noch angreifen.«
»Hierher können sie nicht durch — der Berggrat ist hoch und unpassierbar, sie können uns von jener Seite nicht erreichen.«
Ein heißer Wachstropfen fiel auf die Hand des Adjutanten.
»Wenn wir nur diese Biegung erreichen, dann kriegen sie uns nicht mehr. Wir müssen vorwärts, was das Zeug hält.«
»Nichts zu fressen gibt es da.«
»Gleichviel: bleiben wir hier, fliegt uns auch kein Brot ins Maul. Vorwärts, das ist die Rettung. Ist nach den Kommandeuren geschickt?«
»Sie werden gleich da sein«, antwortete die Ordonnanz, über deren Gesicht und Hals schnell dämmernde Schatten huschten.
Nur in den riesigen Fenstern dunkelte unbewegt die schwarze Nacht.
Ta-ta-ta-ta... hallt es irgendwo in den Felsen, und wieder füllt sich die Nacht mit unheilvoller Spannung.
Schwere Schritte auf der Treppe, dann auf der Veranda, durch das Speisezimmer; es ist, als trügen sie diese unheilvolle Spannung oder eine Nachricht darüber herein. Sogar die flimmernde Kerzenflamme reichte aus, um die Müdigkeit, die eingefallenen Gesichter der verstaubten Kommandeure erkennen zu lassen.
»Nun, was gibt's?« fragte Koshuch.
»Verjagt.«
In dem ungeheuren, kaum erleuchteten Esszimmer herrschte
trübe Unklarheit.
»Die haben nichts zum Angreifen«, sagte einer mit heiserer Stimme, »sie hatten keine Geschütze, bloß ein Maschinengewehr auf einem Maultier.«
Koshuchs Gesicht wurde steinern, der gerade Strich der Augenbrauen senkte sich; alle begriffen — nicht um den Angriff der Kosaken ging es.
Sie drängten sich um den Tisch, der eine rauchte, der andere kaute an einer Brotkruste, ein dritter blickte stumpf und erschöpft auf die Karte, die im trüben Schimmer auf dem Tisch ausgebreitet lag.
Koshuch brummte durch die Zähne:
»Ihr führt die Befehle nicht durch.«
Da gerieten auf einmal die müden Gesichter und staubigen Hälse in Bewegung; der Raum füllte sich mit scharfen, ans Befehlen im Freien gewohnte Stimmen:
»Die Soldaten sind abgehetzt.«
»Meine Leute sind nicht mehr hochzukriegen.«
»Meine Kompanie hat nicht einmal Feuer angemacht — sie fielen wie tot nieder, als wir hier ankamen.«
»Mit solchen Gewaltmärschen kann man eine ganze Armee kaputt machen.«
»Zum Kotzen ist es.«
Koshuchs Gesicht war regungslos. Die kleinen Augen unter der vorgeschobenen Stirn blickten nicht auf, sondern warteten, horchten. In den riesigen, geöffneten Fenstern lag regungslose Schwärze und hinter ihr — die Nacht, voller Müdigkeit, voll unruhiger Spannung. Von der Schlucht her waren keine Schüsse mehr zu hören. Man spürte, dass die Finsternis dort noch dicht war.
»Ich, meinesteils, bin jedenfalls nicht gesonnen, das Leben meiner Leute zu riskieren!« brüllte ein Oberst, als kommandiere er, »ich habe die moralische Verantwortung für Leben, Gesundheit und Schicksal der mir anvertrauten Menschen übernommen.«
»Ganz richtig«, sagte ein Brigadekommandeur, der sich mit seiner Gestalt, seiner Sicherheit und seiner fühlbaren Gewohnheit, Befehle zu erteilen, von den anderen unterschied.
Er war in der alten Armee Offizier gewesen, und er fühlte, dass jetzt endlich der Augenblick gekommen sei, seine ganze Kraft zum Ausdruck zu bringen, alle seine Fähigkeit zu zeigen, die man in der zaristischen Armee nicht zur Geltung kommen ließ.
»... ganz richtig. Überdies ist überhaupt kein Feldzugsplan ausgearbeitet. Die Verteilung der einzelnen Truppenteile muss eine ganz andere sein — die Kosaken können uns jeden Augenblick den Weg abschneiden.«
»Wenn ich an deren Stelle wäre«, rief hitzig der schlanke Kommandeur einer kubanischen Hundertschaft, in enggegürtetem Tscherkessenkittel, mit einem silbernen Dolch schräg an der Hüfte und die Pelzmütze keck auf ein Ohr gerückt, »wenn ich an deren Stelle wäre — würde ich von der Schlucht aus einen Überfall machen — und — im Handumdrehen... "in wäre das Geschütz.«
»Und dann — wir haben keine Befehle, keine Dispositionen; sind wir denn eine Horde oder eine Bande?«
Koshuch sagte langsam:
»Bin ich der Kommandierende, oder seid ihr es?«
Und seine Worte drückten dem ungeheuren Zimmer einen unsichtbaren Stempel auf. Die kleinen, stechenden Augen Koshuchs warteten auf etwas, nur eine Antwort erwarteten sie nicht.
Und wieder rührten sich die Schatten, die Gesichter und ihren Ausdruck verändernd.
Und wieder füllten übertriebene Laute, verwitterte Stimmen den Raum.
»Auch auf uns Kommandeuren liegt die Verantwortung, und keine geringere...«
»Sogar zur Zarenzeit hat man sich in schwierigen Augenblicken mit den Offizieren beraten— und jetzt ist doch Revolution!«
Und hinter den Worten stand unausgesprochen: ,Du einfältiger, untersetzter, ungeschlachter Mann von der Ackerscholle, du bist unfähig, die ganze Schwierigkeit der Lage zu erfassen. Du hast den Offiziersrang an der Front erhalten. Aber an der Front hat man aus Mangel an echten Offizieren sogar Trottel zu Offizieren gemacht. Die Massen haben dich zum Befehlshaber ernannt, aber die Massen sind ja blind... '
So sprachen die Augen, der Gesichtsausdruck, die ganze Gestalt der ehemaligen Armeeoffiziere. Und die Kommandeure, die ehemals Böttcher, Tischler, Klempner und Friseure gewesen waren, dachten:
,Du bist ebenso einer wie wir, nicht um ein Haar besser! Warum stehst du an der Spitze und nicht wir? Wir würden viel besser als du mit der Sache fertig werden.' Und Koshuch hörte das eine wie das andere, die Worte selbst und das, was hinter den Worten war. Noch immer horchte er mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinter den Fenstern hinaus und wartete.
Und dann kam es.
Irgendwo weit in der Nacht erwachte ein schwacher dumpfer
Ton. Immer größer und stärker, immer klarer und klarer
wurde er; langsam anschwellend, dumpf, schwer und ungeschlacht füllte sich die Nacht mit schweren, aus der Finsternis
kommenden Schritten. Da erreichten sie die Stufen,
verloren ihren Rhythmus, zersplitterten sich und begannen über die Veranda zu stampfen, durch die offen stehenden, schwarzblickenden Türen strömten, einem Strome gleich, Soldaten in den trübe beleuchteten Raum. Es kamen immer mehr und mehr, bis sie endlich den ganzen Raum ausfüllten. Es war schwer, den einzelnen zu erkennen, man fühlte nur, dass es ihrer viele und dass sie alle gleich waren.
Die Kommandeure drängten sich an jenes Tischende, wo die Karte ausgebreitet lag. Mühsam flackerte der Lichtstummel.
Die Soldaten hüsteln im Halbdunkel, schnäuzen sich, spucken aus, reiben mit den Sohlen auf dem Parkett, drehen sich Zigaretten, ein stinkender Rauch breitet sich unsichtbar über der verschwommenen Menge aus.
»Genossen!«
Der ungeheure Raum, voller Halbdunkel und Menschen, füllte sich mit Stille.
»Genossen!«
Koshuch brachte mühsam die Worte durch die Zähne.
»Ihr, Genossen, Vertreter der Kompanien, und ihr, Genossen Kommandeure, sollt es wissen, in welcher Lage wir sind. Stadt und Hafen hinter uns sind von den Kosaken besetzt. Zwanzigtausend kranke und verwundete rote Soldaten sind dort zurückgeblieben, und diese ganzen zwanzigtausend sind von den Kosaken auf Befehl der Offiziere niedergemacht worden. Das gleiche erwartet auch uns. Die Kosaken sitzen der Nachhut von der dritten Kolonne im Nacken. Rechts ist das Meer, links die Berge. Zwischen ihnen — ein Loch, und in diesem Loch sind wir. Die Kosaken hinter den Bergen setzen uns schnell nach, überfallen uns aus den Schluchten, wir müssen sie also jeden Augenblick abwehren. Das wird auch fortdauern, bis wir jene Stelle erreichen, wo die Bergkette sich vom Meer abwendet — dort ist sie hoch und breit, und die Kosaken können uns nichts mehr anhaben. So können wir am Ufer entlang Tuapse erreichen, von hier sind's dreihundert Kilometer. Dort führt eine Chaussee über die Berge, und von dort können wir wieder nach dem Kuban gelangen, und dort stehen unsere Hauptkräfte, dort ist unsere Rettung. Wir müssen mit ganzer Kraft weitermarschieren. Proviant haben wir nur noch für fünf Tage — wenn wir warten, werden wir alle vor Hunger krepieren. Vorwärts, immer vorwärts — wir müssen laufen, weder schlafen, noch trinken, noch essen; nur wenn wir marschieren, was das Zeug hält, sind wir gerettet. Und verlegt uns jemand den Weg, dann müssen wir uns durchschlagen.«
Er schwieg, ohne jemanden zu beachten.
Es war eine Stille im Zimmer, das von Menschen und den letzten Schatten des niedergebrannten Lichtstummels erfüllt war. Auch in dem gewaltigen Dunkel der Nacht hinter den schwarzen Fenstern und über dem gewaltigen, unendlichen Meere lagerte dieselbe Stille.
Hunderte erregter Augen richteten ihre brennenden Blicke auf Koshuch. Und wieder presste er mühsam durch die Zähne:
»Brot und Furage werden wir unterwegs nicht finden — wir müssen also laufen, bis wir in die Ebene kommen.«
Er schwieg wieder, senkte die Augen und sagte dann:
»Wählt euch einen anderen Kommandeur, ich lege das Kommando nieder.«
Der Stummel war niedergebrannt, gleichmäßiges Dunkel hüllte alles ein. Nur die regungslose Stille blieb.
»Gibt es denn keine Kerze mehr?«
»Doch«, sagte der Adjutant, zündete ein Streichholz nach dem anderen an, das, wenn es aufflammte, Hunderte von regungslosen, auf Koshuch gerichteten Augen hervortreten ließ, oder, wenn es im Verlöschen war, alles wieder in Dunkelheit hüllte. Endlich glimmte das dünne Wachskerzchen auf, und das schien die Spannung aufzulösen: man begann zu sprechen, sich zu bewegen, zu hüsteln, zu schnäuzen, zu spucken, das Ausgespuckte auf dem Parkett zu verreiben, einander anzusehen.
»Genosse Koshuch«, begann der Brigadekommandeur, und zwar mit einer solch weichen Stimme, dass man meinen könnte, er hätte nie in seinem Leben kommandiert, »wir alle wissen, welche Schwierigkeiten, welche ungeheuren Hindernisse auf unserem Wege zu überwinden sind. Hinter uns wartet der Tod, aber auch vor uns erwartet uns der Tod, wenn wir Zeit verlieren. Wir müssen mit der größtmöglichen Schnelligkeit vorwärts kommen. Und nur Sie mit Ihrer Energie und Findigkeit werden imstande sein, die Armee zu retten. Das ist, hoffe ich, auch die Ansicht aller meiner Genossen.«
»Recht so!... Stimmt!... Wir bitten!...« erwiderten hastig alle Kommandeure.
Die vielen durch das Halbdunkel glänzenden Soldatenaugen richteten sich noch immer hartnäckig auf Koshuch.
»Wie können Sie das Kommando niederlegen«, sagte der Kommandeur der Kavallerieabteilung, wobei er sich seine Fellmütze der größeren Überzeugung halber so energisch in den Nacken schob, dass sie fast heruntergefallen wäre, »Sie sind doch von allen gewählt worden.«
Die Soldaten blickten schweigend mit glänzenden Augen.
Koshuch warf einen unversöhnlichen, stechenden Blick unter seiner vorgeschobenen Stirn hervor:
»Gut denn, Genossen. Ich stelle aber eine unabänderliche Bedingung — bei der geringsten Außerachtlassung der Befehle — Erschießung! Unterschreibt's!«
»Nun ja denn, wir wollen...«
»Aber wozu denn... ?«
»Warum denn nicht unterschreiben... ?«
»Wir sind ja auch so immer bereit...«
Die Kommandeure waren sichtlich betreten.
»Jungens!« rief Koshuch, die Kinnladen zusammenpressend, »Jungens, sagt jetzt, was ihr denkt!«
»Tod!« dröhnten Hunderte von Stimmen — der große Esssaal schien sie nicht fassen zu können, sie quollen durch die offenen, schwarzen Fenster hinaus, aber dort hörte sie niemand.
»Jeden erschießen!... Die Hundsfötter!... Soll man ihnen etwa die Köpfchen streicheln, wenn sie die Befehle nicht ausführen... Schlagt sie nieder!«
Als wenn Eisenreifen von einem Fass abgesprungen wären, geriet alles in Bewegung, drehte sich, fuchtelte mit den Händen, schnäuzte sich, stieß einander an, rauchte hastig, warf die Stummel auf den Boden, zerdrückte sie.
Koshuch sagte, die Worte durch die Zähne pressend — es war, als wenn er sie einzeln in die Gehirne einhämmerte:
»Jeder, der die Disziplin verletzt, ob Kommandeur oder Soldat, wird erschossen.«
»Erschießen!... Erschießen die Kerle, ob Kommandeur oder Soldat — einen wie den anderen...«, dröhnte es durch den riesigen Raum, der zu eng war, und wieder quollen die Stimmen in die Dunkelheit hinaus.
»Gut! Genosse Iwanjko, schreiben Sie ein Papier, die Kommandeure sollen es unterschreiben: Für den geringsten Verstoß gegen einen Befehl — standrechtliche Erschießung!«
Der Adjutant holte aus seiner Tasche einen Fetzen Papier hervor, beugte sich bei der Kerze nieder und begann zu schreiben.
»Und ihr, Genossen, an eure Plätze. Teilt euren Leuten den Beschluß mit: Eiserne Disziplin, verschont wird keiner.«
Sich drängend, stoßend und die Zigaretten zu Boden werfend, strömten sie auf die Veranda hinaus, von dort in den Garten, und ihre Stimmen zerstreuten sich in der Dunkelheit.
Ü ber dem Meere wurde es heller.
Die Kommandeure spürten plötzlich: eine Last fiel von ihnen, alles erhielt seinen Platz, wurde einfach, klar und präzis; sie warfen sich Scherze zu, lachten, kamen nacheinander zum Tisch, um das Todesurteil zu unterschreiben.
Koshuch, noch immer mit zusammengezogenen Augenbrauen, erteilte kurze Befehle, als wenn das, was augenblicklich vorging, in keiner Beziehung zu jener wichtigen und großen Sache stünde, die er zu leisten berufen sei.
»Genosse Wostrotin, nehmen Sie eine Kompanie und...«
Das Stampfen eines heransprengenden Pferdes ertönte. Vor der Veranda verstummte es. Man hörte, wie das Pferd — wahrscheinlich wurde es angebunden — schnaubte und, sich schüttelnd, mit den Steigbügeln klirrte.
In der trüben, flimmernden Halbfinsternis tauchte ein Kubaner in einer Fellmütze auf.
»Genosse Koshuch«, sagte er, »die zweite und dritte Kolonne haben zehn Kilometer hinter uns zur Nacht Halt gemacht. Der Kommandierende befiehlt, dass Sie warten, bis ihre Kolonnen Sie erreicht haben — um zusammen weiterzugehen.«
Koshuch mit seinen steinernen Gesichtszügen sah ihn regungslos an:
»Weiter?«
»Die Matrosen gehen haufenweise zu den Soldaten und zwischen die Wagen, brüllen und hetzen die Leute auf — sie sollen den Kommandeuren nicht gehorchen und selber kommandieren; sie sagen, man müsse den Koshuch erschlagen.«
»Weiter?«
»Die Kosaken sind aus der Feldschlucht vertrieben. Unsere Schützen sind die Schlucht hinauf und haben sie auf die andere Seite gejagt. Jetzt ist's ruhig dort. Drei von den Unsrigen sind verwundet, einer ist tot.«
Koshuch schwieg eine Weile.
»Es ist gut. Geh.«
Die Gesichter und die Wände im Esszimmer wurden schon heller. Im Rahmen eines Bildes leuchtete kaum merklich das Blau eines von des Künstlers Hand geschaffenen Meeres; im Rahmen des Fensters leuchtete schon das blaue Wunder des wirklichen Meeres.
»Genossen Kommandeure — in einer Stunde brechen wir auf. Wir müssen so schnell wie möglich marschieren. Halt wird nur dann gemacht, wenn Menschen und Tiere trinken müssen. Bei jeder Schlucht müssen Schützenketten mit einem Maschinengewehr vorgeschoben werden. Sie müssen dafür sorgen, dass die Truppenteile zusammenbleiben. Sehen Sie zu, dass die Einwohner dieser Gegend von den Soldaten nicht belästigt werden. Schicken Sie mir mit Berittenen öfters Meldungen über den Zustand Ihrer Truppenteile.«
»Zu Befehl!« riefen die Kommandeure.
»Sie, Genosse Wostrotin, führen Ihre Kompanie als Nachhut, um die Matrosen von uns zu trennen. Hindern Sie sie daran, mit uns zu marschieren, mögen sie mit den anderen Kolonnen ziehen.«
»Zu Befehl.«
»Nehmen Sie Maschinengewehre mit, und machen Sie von ihnen Gebrauch, wenn es nötig sein sollte.«
»Zu Befehl.«
Die Kommandeure wandten sich dem Ausgange zu.
Koshuch begann dem Adjutanten einen Armeebefehl zu diktieren — wer von diesen Kommandeuren abgesetzt, wer versetzt werden und wer ein höheres Kommando erhalten soll.
Dann legte der Adjutant die Karte zusammen und ging zusammen mit Koshuch hinaus.
In dem ungeheuren leeren Raum mit dem bespienen, mit Stummeln bedeckten Parkett flackerte rötlich die vergessene Kerze, Stille herrschte und schwerer Menschendunst. Weder Gewehre noch Sättel waren zurückgeblieben. Und das Holz unter dem Lichtstummel begann zu schwellen, wurde schwarz, zog sich zusammen.
Durch die weitgeöffnete große Tür dampfte in blauen morgendlichen Nebeln das Meer.
Längs der Ufer, längs der Berge, weit vorn und ganz hinten wirbelten, als hagele es Erbsen, Trommeln den Weckruf. Hier und da sangen Trompeten wie eine Schar kupferner Schwäne — es hallte in den Bergen, in den Schluchten und am Ufer wider und erstarb in der Ferne des Meeres, denn das dehnte sich grenzenlos. Über der soeben verlassenen wunderbaren Villa erhob sich eine Rauchsäule. Die vergessene Kerze war nicht müßig geblieben.

 

XVIII

Die zweite und dritte Kolonne, die der Kolonne Koshuchs folgten, blieben weit zurück. Niemand hatte Lust, sich anzustrengen — Hitze herrschte und Müdigkeit. Abends machte man früh halt, des Morgens brach man spät auf. Die leere weiße Chaussee zwischen der Spitzenkolonne und den beiden anderen wurde zusehends größer.
Wenn man des Abends Halt machte, zog sich auch hier das Lager kilometerlang auf der Chaussee zwischen den Bergen und dem Ufer hin. Ebenso verstaubt, erschöpft und von der Sonne versengt waren die Menschen. Aber wenn das Lager aufgeschlagen war, verschwand auch hier bald die Müdigkeit, lustige Feuer flammten auf, man hörte Lachen, Scherze, Rufen; die lieben ukrainischen Lieder, bald zärtlich weich, bald drohend und zornig, wie die Geschichte dieses Volkes — ertönten zu den Klängen der Harmonika.
Wie vorher in der ersten Kolonne gingen die mit Revolvern und Handgranaten behängten Matrosen, die man von dort vertrieben hatte, auch hier zwischen den Wagen umher und fluchten:
»Eine Hammelherde seid ihr! Wem lauft ihr eigentlich nach? — Einem goldbetressten Zarenoffizier! Wer ist dieser Koshuch? Hat er nicht dem Zaren gedient? Er hat ihm gedient, und jetzt spielt er den Bolschewik. Und wisst ihr, wer diese Bolschewiki sind? Man hat sie aus Deutschland als Spione in plombierten Wagen nach Russland geschickt — und Narren haben sich in Russland gefunden, die es zu ihnen hinzieht. Wisst ihr denn nicht, dass sie mit Wilhelm einen Geheimvertrag gemacht haben? Freilich, so eine Hammelherde weiß nie etwas! Russland und das Volk stürzt ihr ins Verderben. Nein, wir Sozialrevolutionäre haben gewusst, was wir zu tun hatten: Die bolschewistische Regierung in Moskau hat uns den Befehl gegeben, dass wir den Deutschen die Flotte ausliefern sollten. Aber wir haben sie versenkt — da, nehmt euch die Flotte! Und ihr Schafsköpfe wisst von nichts und folgt ihnen gesenkten Hauptes! Aber sie haben eine geheime Vereinbarung. Die Bolschewiki haben dem Wilhelm ganz Russland mit allem Drum und Dran verkauft; einen ganzen Zug voll Gold haben sie aus Deutschland dafür bekommen. Ihr lausiges, dreckiges Gesindel.«
»Was kläfft ihr wie die Hunde! Macht, dass ihr weiterkommt... «
Die Soldaten schimpften, aber wenn die Matrosen weitergingen, dann hieß es hinterher:
»Alles, was recht ist, die Matrosen sind ein schwatzhaftes Volk, aber die Wahrheit sagen sie. Warum helfen uns denn die Bolschewiki nicht?! Die Kosaken hetzen uns wie die Hasen, und die sitzen in Moskau, schicken uns keine Hilfe, denken immer nur an sich selber.«
Und genau sowie die Tage zuvor kamen aus einer Schlucht, die sogar in dieser Finsternis schwarz gähnte, Schüsse, und an verschiedenen Stellen flammten sekundenlang Feuernadeln auf und erloschen wieder, ein Maschinengewehr knatterte noch ein wenig, dann versank das ganze Lager langsam in eine schwere Ruhe.
Und ebenso wie bei der ersten Kolonne versammelten sich auch hier die Kommandeure der beiden Kolonnen in einer leeren Villa, deren Terrasse auf das unsichtbare Meer hinausging. Man eröffnete die Sitzung erst, als ein herangesprengter Bote Kerzen brachte, die er in einem nahe gelegenen Dorfe aufgestöbert hatte. Auch hier lag auf dem Esstisch eine Karte ausgebreitet, auch hier waren die Dielen mit Zigarettenstummeln bedeckt und die kostbaren Bilder an den Wänden zerstochen und zerschnitten.
Smolokurow, ein riesiger, schwarzbärtiger, gutmütiger Mann, der selber nicht wusste, was mit seiner strotzenden physischen Kraft anzufangen, saß in weißer Matrosenjacke, mit gespreizten Beinen da und trank Tee. Ringsherum die Kommandeure der Truppenteile.
Aus der Art, wie sie rauchten, einander Bemerkungen zuwarfen und die Zigaretten am Boden zertraten — fühlte man heraus, dass sie nicht wussten, womit anfangen.
Auch hier fühlte sich jeder der Anwesenden berufen, diese ungeheure Masse von Menschen zu retten.
Wohin?!
Die Lage ist unbestimmt, unklar. Was erwartet sie weiter? Nur das eine wusste man: hinter ihnen war der Untergang.
»Wir müssen einen Kommandierenden für alle drei Kolonnen wählen«, sagte einer der Kommandeure.
»Sehr richtig!... stimmt!«
Jeder dachte sich:
,Selbstverständlich bin ich der geeignetste dazu' — aber sagen konnte es keiner. Und da alle das gleiche dachten, so schwiegen sie, sahen aneinander vorbei und rauchten.
»Wir müssen doch schließlich etwas unternehmen... man muss jemand wählen. Ich schlage Smolokurow vor.« »Smolokurow!... Smolokurow!...« Der Ausweg aus der unbestimmten Lage war gefunden. Jeder dachte: .Smolokurow ist ein ausgezeichneter Genosse, ein gutmütiger Bursch, restlos der Revolution ergeben, eine Stimme hat er wie eine Posaune, die wunderbar auf Kundgebungen dröhnt ... an dieser Sache aber wird er sich wohl den Hals brechen, und dann ... dann... wird man sich natürlich an mich wenden
Und wieder schreien alle einmütig: »Smolokurow!... Smolokurow!«
Smolokurow breitete verwirrt seine mächtigen Arme aus:
»Ihr wisst ja selbst... ich... Ihr wisst es ja, ich kenne mich eigentlich nur auf dem Wasser aus, dort werde ich, wenn's darauf ankommt, mit einem Panzerkreuzer fertig... aber hier, auf dem Lande...«
»Smolokurow!... Smolokurow!«
»Nun ja, wenn es sein muss... natürlich, ich nehme es an, nur müsst ihr mir alle helfen — denn sonst stehe ich allein da... Also gut... Morgen brechen wir auf — schreiben Sie einen Befehl.«
Alle wussten sehr gut, ob der Befehl geschrieben wurde oder nicht, es blieb doch nichts weiter übrig, als sich auf der Chaussee weiterzuschleppen — denn man konnte doch nicht stehen bleiben oder zurückgehen und den Kosaken in die Hände fallen. Und alle wussten, dass sie gar nichts weiter zu tun hatten, als zu warten, bis Smolokurow nicht mehr aus noch ein weiß und sich durch seine Anordnungen den Hals bricht. Übrigens war auch dafür wenig Aussicht, denn er hat ja doch nichts weiter zu tun, als der Kolonne Koshuchs zu folgen.
Und jemand sagte:
»Man muss Koshuch diesen Befehl schicken; dass ein neuer Oberkommandierender gewählt ist.«
»Er pfeift darauf, er wird ja doch tun, was er will«, riefen alle.
Smolokurow schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Bretter unter der Karte aufstöhnten.
»Ich werde ihn zum Gehorsam zwingen, ich werde ihn zwingen! Er floh mit seiner Kolonne auf die schmachvollste Weise in die Stadt. Er hätte bleiben und kämpfen sollen, um zu siegen oder ehrenvoll zu fallen.«
Alle blickten auf ihn. Er richtete seine riesige Gestalt auf, und nicht so sehr die Worte als die mächtige Gestalt mit dem schwungvoll erhobenen Arm wirkten auf alle überzeugend. Alle fühlten auf einmal — der Ausweg war gefunden: Koshuch war an allem schuld. Er rennt immer weiter, gibt keinem die Möglichkeit sich auszuzeichnen, die innewohnenden Geisteskräfte und Fähigkeiten zu verwerten, und alle Anstrengungen, die ganze Aufmerksamkeit nimmt der Kampf mit diesem Koshuch in Anspruch.
Eine geschäftige Arbeit begann. Zu Koshuch wurde mitten in der Nacht eine Ordonnanz geschickt. Man organisierte einen Stab, schaffte Schreibmaschinen herbei, richtete eine Kanzlei ein — es konnte losgehen.
Man begann, Aufrufe an die Soldaten zum Zweck ihrer Erziehung und Organisation auf diesen Schreibmaschinen zu schreiben.
»Wir Soldaten fürchten keinen Feind...«
»Denkt daran, Genossen, dass unsere Armee mit jeder Schwierigkeit fertig wird...«
Diese Befehle wurden vervielfältigt, man las sie in den Kompanien und Eskadronen vor. Die Soldaten hörten schweigend zu, ohne die Augen von dem Lesenden abzuwenden, dann gaben sie sich die größte Mühe, wandten jede List an, um den Befehl in ihre Hand zu bekommen — es kam nicht selten zu Schlägereien, sie glätteten dann das Papier sorgfältig auf ihren Knien und verwendeten es als Zigarettenpapier.
Auch an Koshuch schickte man Befehle, aber er kümmerte sich nicht um sie, ging immer weiter, ließ hinter sich die öde Chaussee, und der leere Raum zwischen den beiden Kolonnen wurde immer größer. Und das ärgerte alle.
»Genosse Smolokurow, Koshuch fragt nicht nach Ihnen — er marschiert immer weiter«, sagten die Kommandeure, »pfeift auf alle Ihre Befehle.«
»Ja, was soll man mit ihm anfangen«, lachte Smolokurow gutmütig, »ich habe es Ihnen ja gesagt, dass ich nur auf dem Wasser zu Hause bin.«
»Aber Sie sind doch der Kommandierende der gesamten Armee, man hat Sie doch gewählt, und Koshuch ist Ihr Untergebener.«
Smolokurow schweigt eine Weile, dann füllt sich auf einmal seine ganze riesige Gestalt mit Zorn:
»Gut, ich werde ihn schon zurechtbiegen... zurechtbiegen werde ich ihn...!«
»Das geht doch nicht, dass wir so weiter hinter ihm dreintrotten. Wir müssen unseren eigenen Plan ausarbeiten. Er will am Ufer entlang den Gebirgspass erreichen, der vom Meere aus in die Kubansteppen führt, aber wir können gleich von hier aus das Gebirge überschreiten — hier führt eine alte Straße über Dofinowka durch die Berge, die ist viel kürzer.« »Sofort einen Befehl an Koshuch schicken!« brüllte Smolokurow, »er soll auf der Stelle mit seiner Kolonne Halt machen und sofort zu einer Beratung hierher kommen. Die Armee wird den Weg über die Berge von hier aus einschlagen. Wenn er nicht sofort Halt macht, werde ich der Artillerie Befehl geben, seine Kolonne über den Haufen zu schießen.«
Koshuch erschien nicht und zog immer weiter — er blieb unerreichbar.
Smolokurow gab den Befehl, den Weg über die Berge einzuschlagen. Da benutzte sein Stabschef, ein ehemaliger Hörer der Kriegsakademie, die Gelegenheit, als keiner der Kommandeure zugegen war — denn in ihrer Gegenwart bäumte sich Smolokurow wie ein wildes Ross (Smolokurow war unglaublich störrisch), und sagte vorsichtig:
»Wenn wir den Weg von hier aus über die Berge nehmen, verlieren wir in den Bergen unseren ganzen Tross, die Flüchtlinge und vor allem die ganze Artillerie; es gibt ja keine richtige Straße hier, sondern nur Gebirgswege, und Koshuch handelt sehr richtig, wenn er bis zu jener Stelle weiterzieht, wo eine Chaussee über den Bergrücken führt. Ohne Artillerie werden uns die Kosaken mit bloßen Händen niederschlagen, und außerdem werden sie die Kolonnen einzeln erledigen — die Koshuchs und die unsrige.«
Obwohl das vollkommen klar war, so war doch nicht dies das Überzeugende an der Sache. Überzeugend wirkte der Umstand, dass der Stabschef Smolokurow gegenüber außerordentlich vorsichtig und bescheiden, dass dieser Stabschef die Militärakademie hinter sich hatte und doch darauf nicht eingebildet war.
»Schreiben Sie den Befehl, dass wir weiter die Chaussee entlang marschieren werden«, sagte Smolokurow mit finsterer Miene.
Und wieder strömten Soldaten, Flüchtlinge und Wagen in lärmenden, unordentlichen Haufen über die Chaussee.

 

XIX

Wie immer herrschte des Nachts in der Kolonne Koshuchs statt der Ruhe und des Schlafes Geplauder, das Geklimper der Balalaikas und Harmonikas, Singen und Mädchenlachen. Oder es strömten, die Nacht erfüllend und belebend, die harmonischen, mächtigen Klänge eines Chors, Stimmen voller Jugendkraft, getragen von einem geheimen Sinn, der die Kräfte vervielfacht.

»Es brüllen,
stöhnen die Wellen
Im blauen Meer,
Es weinen und klagen Kosaken
In türkischer Gefangenschaft...«

Bald schwoll das Lied an, bald sank es bis zum Flüsterton. Und war es nicht das Meer, das sich in den Wellen der jungen Stimmen hob und senkte, war es nicht die Trauer dieser Nacht, die Trauer der Mädchen und Burschen, die, der Knechtschaft bei den Offizieren, Generalen und Reichen entronnen, ausziehen, um für ihre Freiheit zu kämpfen? Und Trauer, Trauer und Freude zugleich ergossen sich durch die lebendige, gespannte Stille der Nacht.

»... Im blauen Meer...«

Nahe ist ja das Meer, tief, ihnen zu Füßen, aber es schweigt und ist unsichtbar.
Im Einklang mit dieser Freude und Trauer begannen sich die Ränder der Bergkämme fein zu vergolden. Das machte die Berge noch schwärzer, noch trauernder steht ihr Massiv.
Dann leuchteten wie durch Rauchschleier lange Streifen des Mondlichts zwischen den Schluchten und Bergkuppen auf, und noch dunkler, noch dichter zogen neben ihnen die schwarzen Schatten der Bäume, der Hänge und Gipfel dahin.
Dann stieg hinter den Bergen der Mond auf, überflutete alles mit seinem Schein. Die Welt wurde eine andere. Die Burschen hörten auf zu singen. Alles war deutlich zu sehen — auf Steinen, Felsen, gestürzten Bäumen sitzen die Burschen und Mädchen, unter den Felsen das Meer —, strömend ergoss sich, bis zum Horizont hin, kaltes, geschmolzenes Gold über die Fluten. Der Anblick war kaum zu ertragen.
»Es atmet«, sagte jemand.
»Die Leute sagen, der liebe Gott hat das alles gemacht.«
»Wie ist das — fährt man geradeaus, so kommt man in Rumänien an, und anders wiederum in Odessa oder Sewastopol. Kommt man dahin, wohin sich der Kompass dreht?«
»Bei uns an der türkischen Front haben die Pfaffen immer, wenn's zum Kampf ging, eine Messe gelesen. Aber es half alles nichts — die Unsrigen starben wie die Fliegen...«
Neue, rauchblaue Streifen legen sich über die Abhänge, brechen an dem vorstehenden Felsen, holen bald eine weiße Bergwand aus der Dunkelheit, bald die ausgestreckten Arme der Bäume oder eine faltige Schlucht — und alles ist deutlich, klar, lebendig.
Lärmende Stimmen, Stampfen von vielen Füßen und schweres Fluchen bewegen sich über die Chaussee.
Alle heben die Köpfe...
»Was ist denn da los? Welche Schufte fluchen denn da so...?«
»Die Matrosen, wer denn sonst.«
Vom Mondschein beleuchtet, gingen die Matrosen in großen, unordentlichen Haufen. Bald tauchten sie in die Finsternis, bald wurden sie wieder sichtbar, und wie eine üble Dunstwolke folgte ihnen das gemeine Fluchen. Es war langweilig geworden. Burschen und Mädchen spürten die Müdigkeit und schickten sich, gähnend und sich rekelnd, an, auseinander zugehen.
»Man muss schlafen...«
Lärmend, johlend nähern sich die Matrosen einem vorspringenden Felsen. Im finsteren Mondschatten stand der Wagen, in dem Koshuch schlief.
»Wohin?« verlegten ihnen zwei Posten mit ihren Gewehren den Weg.
»Wo ist der Kommandierende?«
Aber Koshuch war schon aufgesprungen, in der Dunkelheit über dem Wagen funkelten zwei Wolfsaugen auf. Die Posten legten an:
»Wir werden schießen.«
»Was wollt ihr?« klang Koshuchs Stimme.
»Wir kommen zu Ihnen, Kommandierender, der Proviant ist uns ausgegangen. Sollen wir vor Hunger krepieren? Wir sind fünftausend Menschen. Unser ganzes Leben haben wir der Revolution geopfert, und jetzt sollen wir wie Hunde umkommen?«
Koshuchs Gesicht blieb unsichtbar — so dicht war der Schatten, wo er stand, aber alle sahen das Funkeln der zwei Wolfsaugen.
»Tretet in die Armee ein, wir werden euch Gewehre geben und mit verpflegen. Wir haben nur noch wenig Proviant. Wir können nur wirkliche Kämpfer ernähren, sonst schlagen wir uns nicht durch. Aber auch den Kämpfern sind die Rationen verringert worden.«
»Sind wir etwa keine Kämpfer? Ihr wollt uns mit Gewalt in eure Reihen hineinpressen. Wir wissen selbst, was wir zu tun haben. Wenn es zum Kampf kommt, werden wir nicht schlechter, sondern besser als ihr kämpfen. Uns alte Revolutionäre habt ihr nicht zu belehren. Wo wart ihr denn, als wir den Zarenthron gestürzt haben? Ihr wart Offiziere in der Zarenarmee. Und jetzt sollen wir krepieren, nachdem wir alles der Revolution geopfert haben? In der Stadt sind anderthalbtausend unserer Leute niedergemacht worden, die Offiziere haben sie lebendig vergraben, und wir...«
»Freilich, jene haben ihr Leben geopfert, und ihr treibt euch hier mit Weibern herum...«
Die Matrosen brüllten wie eine Herde wilder Stiere auf:
»Hast du uns revolutionären Kämpfern so was vorzuhalten?!«
Sie fuchtelten mit den Armen vor den beiden Soldaten, aber die Wolfsaugen hintergeht man nicht so leicht, sie sehen gut - alles sehen sie; hier brüllen die Leute und fuchteln mit den Armen, an den Seiten aber und hinter ihnen schleichen Gestalten heran, huschen gebückt über die mondbeschienenen Stellen und lösen schon ihre Handgranaten von den Gürteln. Und plötzlich stürzen sie sich von allen Seiten auf den Wagen.
Und in derselben Sekunde: Ta-ta-ta-ta...
Das Maschinengewehr bellt aus dem Wagen. Und wie gehorsam war es diesem scharfen Auge! Keine einzige Kugel verirrte sich in dieser gefleckten, wirren Finsternis, keine einzige traf, sondern strich nur mit unheimlichem Todeswehen dicht über die Matrosenmützen. Alle zerstoben entsetzt.
»Ist das ein Satan!... Ist der geschickt! Wenn man solche Schützen hätte!...«
In dem weiten Raume schläft im dunstigen Mondlicht das Lager. Es schlafen die mondhellen Berge, und über das ganze Meer krümmt sich eine schimmernde Straße.

 

XX

Noch hatte sich der Himmel nicht aufgehellt, als schon die Spitze der Kolonne auseinander gezogen auf der Chaussee entlangkroch.
Rechts dehnte sich noch immer die blaue Weite aus, links türmten sich dichtbewaldete Berge und über ihnen öde Felsen.
Hinter den felsigen Bergkämmen steigt immer zunehmende Glut hervor. Die unausbleiblichen Staubwolken erheben sich auf der Chaussee, Legionen von Fliegen kleben unausgesetzt an Menschen und Tieren — es sind die heimatlichen Steppenfliegen aus dem Kuban, die den Flüchtlingen treu folgen, mit ihnen übernachten und, kaum ist der Morgen da, wieder zusammen mit ihnen ausschwärmen.
Einer weißen Schlange gleich gleitet die Chaussee in das Walddickicht. Tiefe Stille. Kühle Schatten. Zwischen den Stämmen Felsen. Wenige Schritte von der Chaussee fort ist das Dickicht undurchdringlich: Unterholz, von Hopfen und Lianen umschlungen. Es recken sich die großen Nadeln des Kreuzdorns, verkrampftes Gestrüpp unbekannter Sträucher. Hier leben Bären, Wildkatzen, Gemsen, Hirsche, Luchse, die des Nachts widerwärtig nach Katzenart schreien. Hunderte von Kilometern ist kein Mensch zu sehen, von den Kosaken keine Spur.
Früher einmal lebten hier in den Bergen verstreut Tscherkessen. Pfade schlängelten sich durch Schluchten und Wälder. Zuweilen schimmerten, wie an die Felsen angeklebt, winzige kleine Häuser. Inmitten der Urwälder gab es kleine Maisfelder oder kleine gut gepflegte Gärten in den Schluchten beim Wasser.
Vor siebzig Jahren etwa vertrieb die zaristische Regierung die Tscherkessen nach der Türkei. Seit jener Zeit überwucherte das Gestrüpp die Bergpfade, die Gärten der Tscherkessen verwilderten, über Hunderte von Kilometern streckte sich die öde Bergwüste, die Heimat des Wildes.
Die Soldaten ziehen den Gurt immer enger — immer kleiner werden die Rationen.
An die Wagen klammern sich die Verwundeten, Kinderköpfchen wackeln, magere Artilleriepferde ziehen mühsam das einzige Geschütz vorwärts.
Die Chaussee aber macht mutwillig Schleifen und schlängelt sich bis dicht an das Meer hinab. Über die blaue grenzenlose Weite zieht sich — die Augen schmerzen beim Hinschauen—eine blendende Sonnenstraße hin.
Durchsichtige, glashelle, kaum merkliche Fältchen gleiten irgendwoher aus der Ferne heran und bespülen das angeschwemmte Geröll des Strandes.
Der Zug kriecht unausgesetzt weiter, ohne anzuhalten, doch die Burschen, Mädchen, Kinder, Verwundete, alle, die dazu imstande sind, laufen zum Strand, streifen sich im Laufen die Fetzen ihrer Hosen, Hemden, Röcke vom Leibe, stellen hastig die Gewehre zusammen und stürzen sich in das blaue Wasser. Aufspritzende Funken, flüchtige Regenbogen. Und Ausbrüche eines ebenso sonnigen, funkelnden Lachens, Kreischens, Rufens — ein lebendiger menschlicher Lärm —, der Strand hat seinen Sinn erhalten.
Das Meer, das ruhige große Tier mit gütigen weißen Fältchen, liegt still da und leckt zärtlich die lebendige Küste, die lebenden gelblichen Körper, die sich inmitten des sprühenden Wassers, des Lärmens und Lachens bewegen.
Die Kolonne kriecht weiter und weiter.
Die einen springen heraus, greifen nach ihren Hosen, Hemden, Röcken, Gewehren, rennen nackt, die stinkenden Kleider unter dem Arm, zur Chaussee — Tropfenperlen zitternd auf den gelben Körpern— und ziehen sich unter lauten Scherzen und Zoten der anderen hastig im Laufen an.
Andere hingegen eilen voller Gier zum Strand hinab, entkleiden sich im Laufen und stürzen in den Strudel, in Schaum und Gefunkel, und das schweigende Meer mit den immer gleich dahinhuschenden durchsichtigen Wellen leckt zärtlich ihre Leiber.
Und die Kolonne kriecht weiter und weiter.
Villen tauchen auf, die weißen Häuschen eines Fleckens, verwaist am öden Strand. Alles drängt sich zur schmalen weißen Bahn der Chaussee — der einzigen Möglichkeit der Fortbewegung inmitten dieser Wälder, Felsen, Klüfte, felsigen Küsten.
Bauern und Soldaten laufen unterwegs in die Villen, durchsuchen alles.— aber alles ist leer, öde, verlassen.
Im Flecken — dunkelbraune Griechen mit großen Nasen, kirschschwarzen Augen: sie sind abweisend und schweigen mit verhaltener Feindseligkeit.
»Kein Brot... haben selbst keins... sind selber hungrig...«
Sie wissen nicht, wer diese Soldaten sind, woher sie kommen, wohin sie gehen und was sie tun — sie fragen auch nicht danach in ihrer abweisenden Feindseligkeit.
Man durchsuchte alles — es fand sich wirklich nichts. Aber man errät aus den Gesichtern, dass sie es versteckt halten. Da sie keine Landsleute, sondern Griechen waren, nahm man ihnen alle Ziegen, wie sehr auch die schwarzäugigen Griechinnen schreien mochten.
In einer breiten, die Berge auseinanderdrängenden Schlucht
— ein russisches Dorf, dessen Bewohner irgendwann hierher verschlagen worden sind. Ein Bächlein funkelt am Grunde der Schlucht. Hütten. Vieh. Auf einem Hang neigen sich gelbe Weizenfelder. Es sind Landsleute aus dem Poltawaer Gebiet, die russisch sprechen. Sie gaben, soviel sie konnten — Brot und Hirse. Fragten, wohin und woher des Weges. Sie hatten gehört, dass man den Zaren vertrieben habe, und dass die Bolschewiki gekommen seien, sonst wussten sie nichts. Die Soldaten erzählten ihnen alles und, wie leid es ihnen auch tat
— denn es waren ja Landsleute —, nahmen ihnen trotz Geschrei und Gejammer der Weiber alle Hühner, Gänse, Enten fort.
Die Kolonne zieht weiter, hält sich nirgends auf.
»Wenn wir bloß was zu fressen hätten«, sagen die Soldaten und ziehen den Gurt noch enger.
Kavalleristen durchsuchten alle Villen, in der allerletzten stöberten sie ein Grammophon und eine Menge Platten auf. Sie packten es auf einen leeren Sattel, und zwischen den Felsen, in die Waldesstille und inmitten der dicken Staubwolken klang eine rissige heisere Stimme:
»...Hohoho — ein Floh! Ho-hoho — ein Floh!« — es klang akkurat wie eine menschliche Stimme und doch auch wieder nicht.
Die Kavalleristen und Soldaten schüttelten sich vor Lachen.
»Noch einmal, noch einmal! Den Floh!«
Dann kamen nach der Reihe: »Wenn ich an das Flüsschen gehe...«, »Oh, versuch mich nicht...«, »Die ganze Menschheit auf der Erde...«
Dann sang eine Platte: »Gott schütze den Zaren.«
Ringsherum brüllte man auf...
»Weg mit dem Dreck!«
»Häng ihn dir an den...«
Man warf die Platte auf die Chaussee, unter die zahllosen Füße, Hufe und Räder der Dahinziehenden.
Seit dieser Zeit hatte das Grammophon keinen Augenblick Ruhe mehr: Heiser, krächzend, sang es vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein — Romanzen, Lieder, Opern. Es wanderte der Reihe nach von Eskadron zu Eskadron, von Kompanie zu Kompanie, und wenn man es nicht rechtzeitig weitergab, kam es zu Schlägereien. Der Kasten wurde zum erklärten Liebling aller, man behandelte ihn wie etwas Lebendiges.

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