XXVI
Der Oberst stürzte aus dem Zelt und rannte hinab zum Hafen. Ringsherum flogen Soldatengestalten, sprangen über Steine und über die Gefallenen durch das sich lichtende Morgengrau. Von hinten kam ein unmenschliches, noch nie gehörtes Gebrüll. Pferde rissen sich los und rasten in wildem Entsetzen mit fliegendem Zaumzeug...
Wie ein munterer Bengel sprang der Oberst mit einer solchen Schnelligkeit über Steine und Sträucher, dass sein Herz alle Mühe hatte, nachzukommen. Vor seinen Augen schwebte nur das eine: die Bucht... die Dampfer... die Rettung...
Und mit derselben Geschwindigkeit, mit der sich seine Beine bewegten, schoss ihm der Gedanke — nein, nicht durch das Gehirn, sondern — durch den ganzen Körper:
,... Wenn sie nur nicht... wenn sie nur nicht... totschlagen... wenn sie mich nur verschonen... leben... nur leben... werde alles für sie tun... das Vieh, das Geflügel will ich hüten... Töpfe waschen... Erdarbeiten machen... den Mist fortschaffen... aber nur leben... mein Gott!... leben!...'
Aber das schwere, die Erde erschütternde Stampfen klingt furchtbar dicht hinter ihm, neben ihm: noch furchtbarer die sterbende Nacht erfüllend, rollt von hinten das wilde, unmenschliche Gebrüll: rra-a-a! und heisere, wütende Flüche.
Und wie um den Schrecken dieses Brüllens zu unterstreichen, ertönt bald hier, bald dort: Krach!... Krach!... Er weiß, was es ist, es sind Gewehrkolben, die Schädel zerschmettern. Klägliches Aufschreien, das plötzlich verstummt — er weiß, dass es der Tod unter dem Bajonett ist. Er rast, die Zähne zusammenbeißend, der glühende Atem pfeift ihm dampfend aus der Nase.
,... Nur leben... dass sie mich nur verschonten, ich habe keine Heimat, keine Mutter... keine Ehre, keine Liebe... nur dem Tode entgehen, dann wird das alles wieder kommen... Aber jetzt, leben, leben, leben!...'
Es schien, als seien alle Kräfte erschöpft, aber er straffte den Hals, zog den Kopf in die Schultern ein, presste die Fäuste zusammen und jagte mit einer solchen Schnelligkeit dahin, dass der Wind um ihn herumpeitschte und die wahnsinnig rennenden Soldaten zurückzubleiben begannen — ihre Todesschreie trugen den fliehenden Oberst weiter.
Krach!... Krach!...
Da blaut schon die Bucht... Die Dampfer... ah, die Rettung !...
Als er zur Landungsbrücke stürzte, hielt er eine Sekunde lang an: auf den Dampfern, auf der Brücke, am Kai, auf der Mole war etwas im Gange — ach, überall klang es: Krach! Krach!....
Er war bestürzt: auch hier war jenes furchtbare, die Luft erschütternde Brüllen, auch hier flammten Todesschreie auf und erloschen.
Er machte sofort kehrt und jagte mit größerer Leichtigkeit und Geschwindigkeit von der Bucht fort, zum letzten Male blitzte hinter der Mole das endlose Blau auf...
,... leben... leben... leben...'
Er jagte an weißen Häuschen vorbei, deren schwarze stumme Fenster seelenlos blickten, er jagte dorthin, wo die weiße, ruhige Chaussee nach Georgien führte. Aber nicht in das Groß-Georgien, nicht in jenes Georgien, das die Mission hat, in der ganzen Welt die Kultur zu verbreiten, nicht in jenes Georgien, das ihn zum Oberst gemacht hat, sondern in das liebe, einzige, heimatliche Georgien, wo die Blüten der Bäume im Frühling so herrlich duften, wo hinter den bewaldeten Höhen die Schneekuppen funkeln, wo die Glut klingend über der Erde steht, wo Tiflis ist, wo der Gebirgsfluss Kura schäumt und wo er seine Kindheit verbracht hat... ,... leben... leben... leben
Die Häuschen wurden seltener, es kamen Weinberge, und das Brüllen, das furchtbare Brüllen und die vereinzelten Schüsse blieben weit hinten, weit unten am Meere. ,Gerettet!!!'
In derselben Sekunde füllten sich alle Straßen wie mit einem Erdbeben: hinter der Straßenbiegung kam eine Flut von galoppierenden Pferden und mit ihr dasselbe entsetzliche Brüllen: rrra-a-a..., schmale Säbelstreifen funkelten auf.
Der ehemalige Fürst Micheladse, einstmals ein georgischer Oberst, stürzte sofort zurück. ,... rettet!!!'
Und den Atem anhaltend, jagte er in das Stadtzentrum. Einige Male hämmerte er gegen die Haustore, sie waren fest verschlossen und verriegelt, niemand gab ein Lebenszeichen von sich, dort gab es nur eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sich auf der Straße abspielte.
Da wusste er, dass die einzige Rettung — die Griechin war. Mit schwarzfunkelnden liebevollen Augen wartet sie jetzt auf ihn. Sie ist der einzige Mensch in der Welt, den er noch hat... er wird sie heiraten, ihr sein Geld und sein Gut schenken, den Saum ihres Kleides küssen...
Mit furchtbarer Gewalt sprengte eine Explosion seinen
Kopf.
In Wirklichkeit war es keine Explosion: es war ein Säbel, der ihn spaltete und sein Hirn verspritzte.
XXVII
Die Glut flammt immer mehr auf. Ein unsichtbarer toter Nebel liegt schwer über der Stadt, den Straßen und Plätzen, den Kais. Die Mole, die Höfe, die Chaussee sind mit Körpern bedeckt. In den verschiedensten Stellungen liegen regungslose Menschenhaufen. Die einen haben furchtbar verdrehte Köpfe, die anderen sind ohne Köpfe. Wie Gallert zitterten Gehirnklumpen auf dem Pflaster. Wie in einem Schlachthause ziehen sich Ströme geronnenen Blutes längs der Häuser und Mauern, rinnen unter den Toren.
Auf den Dampfern, in den Kajüten, auf der Kommandobrücke, auf Deck, in den Laderäumen, vor den Feuerungen, zwischen den Maschinen liegen sie — mit feinen Gesichtern, mit jungem, dunklem Bartflaum. Regungslos hängen Körperteile über den Rand des Kais, und wenn man in das durchsichtig blaue Wasser blickt, liegen sie ruhig auf den schleimiggrünen Steinen — graue Fischscharen decken sie fast zu.
Nur aus dem Zentrum der Stadt klingen häufige Schüsse und hastiges Geknatter eines Maschinengewehrs: bei der Kathedrale hat sich eine georgische Kompanie festgesetzt und stirbt heldenhaft. Aber auch ihre Schüsse sind bald verstummt.
Die Toten liegen da, und die Lebenden überfüllen das Städtchen, die Straßen, die Höfe, die Häuser, die Kais, die Chaussee, die Abhänge und Schluchten, Ströme von Menschen, Pferden und Wagen. Hasten, Lachen, Lärmen, Rufen.
Zwischen den Lebenden und Toten reitet Koshuch.
»Sieg, Genossen, Sieg!«
Und als gäbe es keine Toten und kein Blut, klingt es freudig und ungestüm: »Hurra!«
Weit in den blauen Bergen hallt es wider und erstirbt hinter den Dampfern und Molen in dem feuchten Blau.
Aber auf den Basaren, in den Läden, in den Geschäften ist ein geschäftig Hasten und Rennen: man zerschlägt Kisten, zerreißt Tuchballen, häuft Berge von Wäsche, Decken, Schlipsen, Brillen, Unterröcken auf.
Vor allem sind die Matrosen da. Überall blinken die stämmigen Gestalten in den weißen Jacken und breiten Hosen, die goldbedruckten Bänder flattern über den schwarzgebräunten Nacken. Schallend klingt es: »Klargemacht!« »Legt an!...« »Marsch ab...« »Jetzt — das nächste Regal!«
Sie arbeiten geschickt, schnell, organisiert. Der eine stülpt sich einen prachtvollen Damenhut auf, wickelt einen Schleier um die borstigen Kinnladen, der andere gefällt sich unter einem seidenen Spitzenschirm.
Soldaten, unglaublich zerlumpte barfüßige Soldaten rennen umher, holen sich Kattun, Leinwand, Rohleinen für ihre Frauen und Kinder.
Einer zerrt aus einem Karton gestärkte Hemden hervor, hält ein Hemd hoch und brüllt:
»Jungens, Hemden, habt ihr schon so etwas gesehen!« Wie in ein Kumt steckt er den Kopf durch die Hemdbrust. »Warum biegt sich das nicht? Wie aus Pappe!« Und er bückt sich und streckt sich, blickt sich auf die Brust, wie ein Schafbock.
»Wahrhaftiger Gott, das biegt sich nicht, wie aus Pappe!« »Du Narr! Es ist gestärkt.«
»Was heißt — gestärkt?«
»Die Herren machen das mit Kartoffelmehl, damit sie eine Brust haben.«
Ein langer dürrer Bursch, der schwarze Körper schimmert überall durch die Lumpen, brachte einen Frack ans Tageslicht. Lange betrachtete er ihn von allen Seiten, warf sich kurz entschlossen die Fetzen ab und steckte seine wie bei einem Orang-Utan langen zottigen Arme in die Ärmel, sie reichten nur bis zum Ellbogen. Er zog ihn direkt auf den nackten Körper an. Knöpfte vorne zu, unten war der Ausschnitt. Er murmelte:
»Eine Hose müsste man haben.«
Er begann zu suchen, die waren schon fort. Er ging in die Wäscheabteilung, zog einen Karton hervor, der Seltsames enthielt. Er breitete es auseinander, murmelte wieder:
»Merkwürdig! Hosen und doch keine Hosen, verdammt dünn sind sie. Fjodor, was ist das?«
Aber Fjodor hatte alle Hände voll zu tun, er zerrte Kattunballen hervor, Frau und Kinder waren ja fast nackt.
Der Soldat betrachtete seine Beute eine Weile und begann dann, finster entschlossen, sich die Fetzen, die einmal eine Hose waren, vom Leibe zu reißen. Und er zog sich das Gefundene über die sehnigen, von Sonne und Schmutz schwarzen Beine. Es stellte sich heraus, dass das, was er gefunden, nicht einmal bis zu den Knien reichte und mit Spitzen besetzt war.
Fjodor sah ihn an und brach in ein lautes Gelächter aus:
»Jungens, schaut mal hin, der Opanas...!«
Der Laden bebte vor Lachen:
»Das sind doch Weiberhosen!!«
Opanas gab finster zur Antwort:
»Na, und ist ein Weib etwa kein Mensch?!«
»Wie willst du denn in dem Ding laufen, ist ja geschlitzt, man sieht ja alles, und dünn ist es auch.«
Opanas betrachtete sie betrübt.
»Es ist wahr... diese Schafsköpfe, machen die Hosen aus einem so dünnen Stoff, verderben bloß das Material.«
Er holte alles heraus, was der Karton enthielt, und begann schweigend ein Paar über das andere anzuziehen. Sechs Stück waren es; prächtige Spitzenwolken schwollen über seinen Knien an.
Die Matrosen horchten eine Weile hinaus und stürzten plötzlich zu den Türen und Fenstern. Draußen erklangen schwere Huftritte, Flüche, Peitschen knallten auf menschlichen Körpern. Die Soldaten stürzten zu den Fenstern. Matrosen rannten aus Leibeskräften über den Platz, bemüht, das Aufgeraffte zu retten. Kavalleristen jagten hinter ihnen drein, hieben unerbittlich mit Peitschen auf sie ein, blaue Striemen legten sich über die Gesichter und Hälse, Blut rann.
Die Matrosen blickten wie gehetzte Hunde um sich, warfen endlich ihre vollgestopften Säcke hin und stoben nach allen Seiten auseinander.
XXVIII
Unruhig, hastig wirbelten die Trommeln. Der Hornist blies zum Appell.
Zwanzig Minuten später standen Soldatenreihen mit strengen Gesichtern auf dem Platz. Seltsam kontrastierte diese Strenge mit ihrer Kleidung. Die einen standen wie ehedem in durchschwitzten Lumpen, die andern in gestärkten, mit Stricken umgürteten Hemden, manche in Damennachtjacken oder Leibchen, aus denen die schwarzen Hälse und Arme seltsam hervorstarrten. Und der Flügelmann der dritten Kompanie, ein großer, dürrer Mann mit finsterem Gesicht, stand im schwarzen Frack da, die Spitzen der Damenhöschen reichten ihm bis zu den Schenkeln.
Mit fest zusammengepressten Kinnladen trat Koshuch auf die Reihen zu, seine Augen waren grau, funkelten scharf. Hinter ihm die Kommandeure in schönen georgischen Fellmützen, in purpurnen Tuchröcken mit silberbeschlagenen Dolchen.
Koshuch stand eine Weile da, das spitze Funkeln seiner kleinen Augen strich über die Reihen.
»Genossen!«
Es war dieselbe rostig klingende Stimme, die nachts »Vorwärts! Zum Sturm!« kommandiert hatte.
»Genossen! Wir sind eine revolutionäre Armee, wir kämpfen für unsere Kinder und Frauen, für unsere alten Mütter und Väter, für die Revolution, für unser Land. Und wer hat uns das Land gegeben?«
Er schwieg und wartete, obwohl er wusste, dass keine Antwort kommen würde, denn sie standen in Reih und Glied.
»Wer hat uns das Land gegeben? Die Sowjetmacht! Und was habt ihr getan? Ihr seid zu Räubern geworden! Ihr seid auf Raub ausgegangen!«
Die Stille war so gespannt, dass es schien, sie würde jeden Augenblick platzen. Und das rostige Eisen brach klirrend weiter, dröhnte:
»Ich, der Kommandierende der Kolonne, bestimme, dass jeder, der auch nur einen Faden genommen hat, 25 Rutenschläge erhält.«
Alle sahen ihn regungslos an, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Er war abgerissen, die Hosen hingen in Fetzen an ihm, der alte Strohhut war wie ein Pfannkuchen.
»Wer auch nur etwas Geraubtes hat, trete drei Schritt vor!«
Eine Sekunde Schweigen dehnte sich, niemand rührte sich. Plötzlich aber dröhnte die Erde: Eins! Zwei! Drei! Es waren nicht viele, die in ihren zerfetzten Lumpen stehen blieben.
Aber im vorgetretenen Glied standen sie buntscheckig aufgeputzt.
»Alles, was ihr in der Stadt genommen habt, wird zusammengetan und an eure Frauen und Kinder verteilt. Legt alles hin, alles, was ihr habt!«
Die erste Reihe geriet in Bewegung und begann Stücke von Kattun, Leinwand und Rohleinen niederzulegen, die andern fingen an, ihre gestärkten Hemden, Damenjäckchen und Leibchen auszuziehen, auf der Erde bildeten sich Häuflein, vor denen nackte, verbrannte Gestalten standen. Auch der Flügelmann zog Frack und Damenhosen aus und stand dürr und nackt da.
Ein Wagen rollte vor, von dem ein Bündel Ruten genommen wurde.
Koshuch trat an den vorderen Flügelmann heran:
»Leg dich nieder!«
Der streckte sich auf alle viere und legte sich dann ungeschickt mit dem Gesicht auf die Damenhosen. Die Sonne brannte auf seinem nackten Hintern.
Koshuch brüllte heiser:
»Legt euch alle nieder!«
Und alle legten sich nieder und hielten ihren Rücken der heißen Sonne entgegen.
Koshuch sah sie an, und sein Gesicht war steinern. Haben nicht diese selben Menschen, als sie noch eine wilde Horde waren, ihn zum Befehlshaber gewählt? Haben sie ihm nicht zugeschrieen: »Verraten... Er hat uns verkauft!« Haben sie nicht mit ihm gespielt wie mit einem Holzspan? Haben sie ihn nicht mit ihren Bajonetten bedroht?
Und jetzt liegen sie demütig, nackt vor ihm.
Und eine Welle von Kraft und Macht, jener gleich, die ihn erfüllte, als er den Offiziersrang erstrebte, wallte in seiner Seele auf. Aber diesmal war es eine andere Welle, ein anderer Ehrgeiz. Er wird sie retten, er wird diese Menschen, die in der Erwartung der Züchtigung so demütig vor ihm liegen, zur Freiheit führen. Ja, jetzt sind sie demütig, aber wenn er es wagte ihnen zu sagen: Jungens, geht zurück zu den Kosaken, zu den Offizieren, dann würden sie ihn mit den Bajonetten aufspießen.
Und wieder rasselte Koshuchs rostige Stimme über die Liegenden:
»Anziehen!«
Alle erhoben sich und begannen ihre gestärkten Hemden, die Blusen und Jacken anzuziehen, und der lange Rotarmist kroch wieder in seinen Frack und in die sechs Höschen hinein.
Koshuch gab ein Zeichen, und zwei Soldaten ergriffen mit aufleuchtenden Gesichtern das unberührte Rutenbündel und legten es zurück in den Wagen. Dann fuhr der Wagen längs der Reihen, und alle warfen freudig Leinwand, Kattunstücke und andere geraubte Sachen hinein.
XXIX
Im schwarzsamtnen Ozean des Dunkels flimmern rötlich die Wachtfeuer — Menschengesichter, flache, wie aus Pappe geschnittene Gestalten, Fuhren, Pferdeköpfe flüchtig bescheinend. Die ganze Nacht ist von Stimmen, Rufen, Lachen erfüllt; Lieder entstehen bald nah, bald fern und erlöschen wieder: eine Balalaika klimpert auf, Harmonikas klingen dazwischen. Und Wachtfeuer, lange Reihen von Wachtfeuern...
Die Nacht ist noch mit etwas anderem erfüllt, mit etwas, woran man nicht denken möchte.
Ü ber der Stadt liegt ein blauschimmernder Glanz.
Der rötliche Widerschein des Lagerfeuers blickt neugierig in ein altes Gesicht, ein bekanntes Gesicht. He, guten Abend, Großmutter! Großmutter Gorpina! Daneben liegt der Großvater schweigend auf seinem Schafpelz. Soldaten mit rotbeschienenen Gesichtern sitzen um das Feuer herum, sie sind aus demselben Dorfe. Die Feldkessel hängen am Feuer, aber in diesen Feldkesseln ist kaum mehr als Wasser.
Und Großmutter Gorpina:
»Heilige Mutter Gottes! Was soll bloß werden?! Nun sind wir gelaufen, gelaufen und noch immer nichts zu essen, es ist rein, um zu krepieren. Was ist das für eine Obrigkeit, die nicht einmal etwas zu essen verschaffen kann. Eine Obrigkeit... , die Anka ist fort, der Alte schweigt.«
Die Chaussee entlang verläuft eine ungleichmäßige Kette von sich weit hinziehenden Lagerfeuern.
Am Feuer liegt ein Soldat auf dem Rücken (man sieht ihn nicht), sein Kopf liegt auf den verschränkten Armen, er blickt in den dunklen Himmel und sieht die Sterne nicht. Ist es, dass er sich an etwas erinnern möchte, oder ist es Sehnsucht? Er liegt, den Kopf auf den verschränkten Armen, denkt seine eigenen Gedanken, und wie diese Gedanken gleitet seine Stimme jung, weich und nachdenklich dahin.
»... Ni-i-i-mm dein Fra-u-chen...«
Das Wasser sprudelt im Kessel.
Großmutter Gorpina:
»Jesus, Jesus, wohin kommen wir noch! Wir werden hier doch noch krepieren. Das Wasser bläht einem bloß den Bauch auf, es mag kochen, soviel es will!«
»Sieh mal!« sagt der Soldat, der sein rotbeschienenes Bein im neuen englischen Stiefel und neuen Reithosen hochhebt.
Am Nebenfeuer erklingt munter eine -Harmonika. Die lange Flammenkette flackert.
»Und Anka ist rein wie verschwunden..., das Teufelsmädel! Wo ist sie? Was soll man bloß mit ihr machen? Wenn du, Älter, sie wenigstens beim Schopf nehmen wolltest. Was
schweigst du denn wie ein Holzklotz?«
»... G-i-b me-i-n Pf-e-i-fchen zur-ü-ü-ck...«
Er wandte sich um, stützte das Kinn auf die Hand und
blickte ins Feuer. Die Harmonika vollführte komplizierte musikalische Schnörkel. In dem rotschimmernden Dunkel waren leises Lachen, Stimmen, Lieder.
»Und alle waren Menschen, und jeder hatte eine Mutter...«
Er sagte das mit seiner jungen Stimme,- ohne sich an jemand zu wenden, und sofort breitete sich Schweigen aus, Harmonikastimmen und Lachen verlöschend, und alle fühlten auf einmal den schweren, von den Berghängen herüberwehenden Verwesungsgeruch: dort lagen ihrer besonders viele.
Ein älterer Soldat erhob sich, um zu sehen, wer das gesagt hatte... Er spie ins Feuer, es zischte. Wahrscheinlich hätte das Schweigen diese plötzlich fühlbar gewordene Dunkelheit noch lange beherrscht, aber auf einmal ertönten Schreie, Stimmen, Fluchen. »Was ist los?!« »Was gibt's?!«
Alle Köpfe wandten sich einer Richtung zu. Und von dort, aus der Dunkelheit, kam es: »Los, vorwärts, Canaille!«
In den beleuchteten Kreis trat eine erregte Soldatenmenge, und die Flammen rissen bald den Teil eines roten Gesichts, bald einen erhobenen Arm oder ein Bajonett aus der Dunkelheit. Und mitten drin glänzten, es kam so unerwartet, dass es verblüffte, goldene Achselklappen auf den Schultern eines jungen, schlanken, enggegürteten Georgiers, der kaum dem Knabenalter entwachsen war.
Er blickte mit seinen großen, wie bei einem Mädchen anmutigen Augen gehetzt um sich, und an den langen Wimpern zitterten Blutstropfen wie rote Tränen. Es schien, als würde er jeden Augenblick klagend ausrufen: Mama!... Aber er sagte nichts, blickte nur gehetzt um sich.
»Er hockte in den Sträuchern«, erzählte ein Soldat, noch immer erregt, »das kam so: Ich wollte gerade meine Notdurft verrichten und ging in die Büsche, und unsere Leute schreien immer wieder: Geh, mach, dass du weiterkommst! Ich setz' mich also hinter einen Strauch und sehe etwas Schwarzes?! Ich dachte, es wäre ein Stein, packte ihn an, und da war es der Junge. Da hat er denn eins mit dem Gewehrkolben abgekriegt.«
»Stecht ihn nieder, den Hundsfott!« rannte ein kleiner Soldat mit erhobenem Bajonett herbei.
»Halt!... Wartet!...«, wurden Stimmen laut, »man muss es dem Kommandeur melden.« Der Georgier begann flehend:
»Ich bin eingezogen worden..., man hat mich mobilisiert... , ich konnte nicht anders..., man hat mich gezwungen... , ich habe eine Mutter...«
Und an den Wimpern hingen neue rote Tränen, rannen von der zerschlagenen Stirn herab. Die Soldaten standen, die Hände auf den Gewehrmündungen, mit finsteren Blicken da. Jener, der auf dem Bauch gelegen und die ganze Zeit regungslos in die Flamme geblickt hatte, sagte: »Ein junges Kerlchen..., kaum sechzehn...« Da wurden empörte Stimmen laut: »Wer bist du denn? ein Herrschaftlicher? Wir kämpfen gegen die Kadetten, was haben sich die Georgier einzumischen? Haben wir sie hergebeten? Wir schlagen uns auf Leben und Tod mit den Kosaken herum, da soll sich keiner in die Sache mengen. Wer seine Nase in den Türspalt steckt, dem wird sie mitsamt dem Kopf abgerissen.«
Allenthalben ertönten erregte, wütende Stimmen. Auch von den anderen Feuern traten Soldaten hinzu.
»Was ist das für 'n Bursch?«
»Ein Bürschlein, noch nicht trocken hinter den Ohren.«
Ein Soldat fluchte schwer und begann den Kessel vom Feuer zu nehmen. Der Kommandeur trat hinzu. Er sah den Jungen flüchtig an und sprach, sich umwendend, so dass der Georgier es nicht hören konnte, leichthin:
»Fort mit ihm!«
»Komm!« sagten zwei Soldaten übertrieben streng; sie warfen die Gewehre hoch, ohne den Georgier anzusehen.
»Wohin führt ihr mich?«
Die drei setzten sich in Bewegung, und aus der Dunkelheit kam es mit demselben übertriebenen Ernst:
»Zum Stab... , zur Vernehmung... Du wirst dort übernachten... «
Kurz darauf fiel ein Schuss. Er rollte, lange sich brechend, in den Bergen und verstummte endlich; aber die Nacht war noch immer voll stummen Donnergrollens. Die zwei kamen zurück, setzten sich schweigend, ohne jemand anzusehen, ans Feuer; die Nacht war erfüllt von dem Eindruck des letzten Schusses.
Als wenn sie den unauslöschlichen Ton verwischen wollten, begannen alle zu sprechen, lebhaft, lauter als sonst. Die Harmonika spielte wieder, eine Balalaika klimperte.
»Wir zwängen uns also dort durch den Wald und kommen an den Felsen, da fühlen wir, aus der Sache wird nichts. Weder zu jenen hinauf werden wir klettern können, noch davonkommen — sobald es Tag wird, werden sie uns alle niederschießen... «
»Weder hin noch her!« lachte jemand.
»Und dabei dachten wir alle: die verfluchten Hunde stellen sich, als wenn sie schliefen, beim nächsten Schritt wird es Blei regnen. Wenn sie dort oben zehn Schützen aufstellen, fegen sie die beiden Regimenter nieder. Wir klettern also vorwärts, steigen einander auf die Schultern oder gar auf die Köpfe!«
»Und der Alte, der Koshuch, wo war der?«
»Der war auch mit dabei. Als wir fast oben waren, es blieben nur noch vier Meter, aber akkurat wie eine Mauer, keine Menschenmöglichkeit, weder hin, noch zurück, nun hielten alle den Atem an. Da reißt der Alte einem das Bajonett vom Gewehr, haut es in den Felsen und klettert weiter. Und wir alle machen es ihm nach und klettern so bis zum obersten Rand...«
»Und bei uns ist ein ganzer Zug ertrunken. Wie die Hasen hüpften wir von einem Stein zum andern. Stockfinster war es. Da rutschten sie einer nach dem anderen ins Wasser hinunter und ersoffen alle.«
Aber so lebhaft das Gespräch auch war, so lustig die Flammen auch flackerten, die Dunkelheit war doch zum Bersten voll mit etwas, was jeder vergessen wollte und doch spürte: der schwere Verwesungsgeruch.
Großmutter Gorpina sagte:
»Was ist denn das?« und wies in die Dunkelheit hinein.
Alle wandten die Blicke dorthin. In der Dunkelheit, wo sich unsichtbar die Bergmassen erhoben, flackerten rauchige Fackeln auf, bewegten sich, neigten sich.
Die junge Stimme im Dunkel sagte:
»Das sind unsere Kommandos, die gemeinsam mit den Städtern die Toten auflesen. Den ganzen Tag sammeln sie schon.«
Alle schwiegen.
XXX
Wieder die Sonne. Wieder das Funkeln des Meeres, die blaugrauen Umrisse der fernen Berge. Alles das senkt sich langsam — die Chaussee schlängelt sich immer höher und höher.
Winzig klein schimmert das weiße Städtchen, verschwindet allmählich. Wie mit Bleistiftstrichen ist die blaue Bucht von den dünnen Linien der Mole umrissen. Die georgischen Dampfer sehen wie schwarze Striche aus. Es ist nur schade, dass man sie nicht mitnehmen kann.
Mitgenommen hat man übrigens genug. Man schleppt sechstausend Geschosse, dreihunderttausend Patronen mit. Die ölig-schwarzen Riemen straffend, ziehen ausgezeichnete georgische Pferde sechzehn georgische Geschütze die aufsteigende Chaussee hinan. Auf georgischen Wagen türmt sich allerlei Kriegsgerät — Feldtelephone, Zelte, Stacheldraht, Medikamente; Sanitätswagen rollen —, alles in Hülle und Fülle. Nur das Wichtigste fehlt: Brot und Heu.
Die Pferde schreiten geduldig, schütteln hungrig die Köpfe. Die Soldaten ziehen ihre Gurtriemen immer enger, aber alle sind guter Dinge; ein jeder hat zwei- bis dreihundert Patronen zu schleppen — munter schreiten sie inmitten der lustigen heißen Wolken des weißen Staubes. In Schwärmen begleiten die Fliegen den vertrauten Zug. Im Takt mit den Schritten schwingt sich das Lied in das Sonnengefunkel:
»Hat denn die Wirtin wenig Schnaps? Hat sie denn wenig Bier und Met?«
Endlos knarren Wagen, Fuhren, Karren, Planwagen. Zwischen roten Kattunkissen wackeln abgemagerte Kinderköpfchen.
Auf den die Chausseeschleifen abkürzenden Pfaden ziehen sich endlose Ketten von Fußgängern hin — immer noch in den alten zerrissenen Mützen, Hüten, mit Stöcken in den Händen, die Weiber barfuss, in zerschlissenen Röcken. Aber man sieht keinen mehr, der das Vieh antreibt, denn Kühe, Schweine und sogar Hunde sind spurlos verschwunden. Das macht der Hunger.
Die endlos sich windende Schlange, schillernd mit ihren zahllosen Gliedern, kroch wieder in die Berge, den öden Felsen zu; an Abhängen, Schluchten, Klüften vorbei, kroch zum Gebirgspass, um sich wieder in die Steppe hinabzuwinden, wo es Brot und Butter gibt, wo die Freunde warten.
»Wir schlagen zu Boden das Elend, den Kummer,
Wir wollen trinken und fröhlich sein.«
»Auf, in den Kampf! — To-r-re-ro — To-r-re-ro...«
Man hatte im Städtchen neue Platten gefunden.
Unerreichbare Höhen ragen in den blauen Himmel hinein.
Das Städtchen unten ist im Meer versunken, versunken sind die Ufer. Einer blauen Mauer gleich erhebt sich das Meer, aber allmählich verdecken es die neben der Chaussee wachsenden Bäume. Staub, Hitze, Fliegen, von Menschen verlassene Wälder, in denen nur Tiere leben.
Gegen Abend zog ein Klagen über den endlosen, knarren den Zug hin:
»Mutter... essen... essen... Mutter!«
Die abgemagerten Mütter, mit den geschwärzten, vogelähnlichen Gesichtern, blickten mit vorgestrecktem Halse aus entzündeten Augen auf die sich immer höher schlängelnde Chaussee; barfuss liefen sie eilig neben den Wagen her — sie hatten keine Antwort für ihre Kinder.
Man stieg immer höher und höher; die Wälder lichteten sich und blieben schließlich ganz zurück. Eine Felsenwüste umfing sie, ein Gewirr von Klüften, Spalten, Blöcken. Der geringste Ton, jeder Hufschlag, das Knarren der Räder — alles hallte wider, schwoll an und erstickte die menschlichen Stimmen. Alle Augenblicke musste man gefallene Pferde aus dem Wege räumen.
Auf einmal ließ die Hitze nach; es wehte von den Höhen, alles wurde grau. Die Nacht kam unvermittelt. Vom dunkelnden Himmel ergossen sich Ströme. Das war kein Regen mehr — lärmend stürzte das Wasser, warf die Menschen um, erfüllte die Dunkelheit mit tosenden Wasserwirbeln. Aus allen Richtungen kam es, von oben, von unten, von den Seiten. Das Wasser strömte über die Fetzen, über das an der Stirn klebende Haar. Man verlor die Richtung und die Verbindung miteinander; Menschen, Wagen, Pferde schleppten sich gesondert hin, als wenn zwischen ihnen stürmische Weiten klafften — ohne zu wissen, was und wer rundum ist.
Jemand wurde fortgeschwemmt... Jemand schrie auf... Aber was vermochte die menschliche Stimme hier auszurichten? Das Wasser brodelte... War es der Wind, oder wütete der schwarze Himmel, oder stürzten die Berge nieder, oder wird gar alles, mitsamt Wagen und Pferden, fortgeschwemmt.
»Hil-fe!«
»Hil-fe! Die Welt geht unter!«
Sie meinten, sie hätten geschrieen, aber ihre blauen Lippen brachten nur ein Flüstern heraus.
Pferde, vom brausenden Strom seitwärts getrieben, zogen den Wagen mit den Kindern in den Abgrund, und die Menschen merkten es nicht, glaubten noch immer dem Wagen zu folgen.
Kinder vergruben sich in durchnässte Kissen und Kleider:
»Mu-utter! Mu-utter! Va-ater!«
Es schien ihnen, als schreien sie verzweifelt, in Wirklichkeit aber toste nur das rasend strömende Gewässer. Die Felsen sah man nicht, aber man hörte das Rollen der Steine. Es goss ununterbrochen, und der Wind heulte wie toll.
Ein Jemand, der in diesem Tollhaus das Wort zu führen schien, riss auf einmal einen gewaltigen Vorhang beiseite, und unerträglich klar und scharf erzitterte im blauen Lichte alles, was bisher in der Schwärze der unermesslichen Nacht
versunken war. Schneidend blau erbebten die Krümmungen der fernen Berge, die Zinken der hängenden Felsen, der Rand des Abgrunds, die Pferdeohren, und das Furchtbare an alledem war, dass in diesem flackernden Licht alles regungslos tot schien: regungslos die schrägen Wasserstreifen in der Luft, regungslos die schäumenden Sturzbäche, regungslos die Pferde mit zum Schritt erhobenen Hufen, regungslos die im Schreiten erstarrten Menschen, regungslos die zum Schreien geöffneten Münder und die bleichen, blauen Händchen der Kinder zwischen den nassen Kissen. Alles war im unsteten zuckenden Flackern wie erstarrt.
Dieses blaue Flackern schien die ganze Nacht anzuhalten; wenn aber der Vorhang der Wolken plötzlich wieder zugezogen wurde, erwies sich jedes Mal, dass es nur der Bruchteil einer Sekunde war.
Das Ungetüm der Nacht verschlang alles, sogleich diesen Hexensabbat übertönend, barsten die Berge, ihren Tiefen entrang sich ein Rollen, für das die Unermesslichkeit der Nacht zu eng schien, es zersplitterte in tönende Blöcke, brach sich, breitete sich immer wachsend, anschwellend nach allen Seiten hin aus, erfüllte die unsichtbaren Klüfte, Abgründe; Menschen wurden taub, Kinder lagen wie tot da.
Inmitten der brausenden Ströme, der fortwährend zuckenden Blitze, des unaufhaltsam anwachsenden Donners blieb der Zug stehen — die Truppen, die Geschütze, Munitionswagen, Flüchtlinge, Wagen —, der letzte Rest der Kraft war erschöpft. Alles stand, hilflos dem Willen der stürmenden Ströme preisgegeben, dem Winde, dem Dröhnen und dem unerträglich zuckenden toten Licht. Das Wasser jagte dahin erreichte die Knie der Pferde. Die entfesselte Nacht war endlos.
Und am Morgen — wieder leuchtende Sonne. Die Luft durchsichtig, wie gewaschen, duftig leicht — die blauen Berge. Nur die Menschen sind schwarz, noch magerer und haben eingefallene Augen. Mit Anspannung der letzten Kräfte helfen sie den Pferden. Diese Pferde aber haben knochige Köpfe, jede ihrer Rippen kann man zählen, das Fell ist blank gewaschen.
Man meldet Koshuch:
»Also, Genosse Koshuch: drei Wagen sind mitsamt ihren Insassen in den Abgrund gestürzt. Einen Wagen hat ein Felsblock zerschmettert. Zwei Menschen hat der Blitz erschlagen. Zwei aus der dritten Kompanie werden vermisst. Und die Pferde fallen zu Dutzenden, die ganze Chaussee ist mit ihnen besät.«
Koshuch betrachtet die blankgespülte Chaussee, die finster sich türmenden Felsen und antwortet:
»Es wird kein Nachtlager gemacht, wir marschieren ohne Aufenthalt weiter — Tag und Nacht.«
»Die Pferde halten es nicht aus, Genosse Koshuch. Wir haben kein Bündel Heu mehr. In den Wäldern konnten wir wenigstens mit Laub füttern, und jetzt — lauter kahle Steine.«
Koshuch schwieg eine Weile.
»Wir marschieren ohne Aufenthalt weiter. Halten wir erst einmal — gehen alle Pferde zum Teufel. Schreiben Sie den Befehl.«
Herrliche klare Bergluft, wie gut, sie einzuatmen. Aber den Zehntausenden ist es nicht um die gute Luft zu tun, schweigend schreiten sie mit gesenkten Köpfen neben den Wagen, an den Böschungen, neben den Geschützen her, die Kavalleristen gehen zu Fuß und führen ihre Pferde.
Nackt türmen sich ringsum die Felsen. Schmal dunkeln die Klüfte. Bodenlose Abgründe, in denen der Untergang lauert. Durch öde Schluchten ziehen Nebelschwaden.
Die dunklen Schluchten und Klüfte und Felsen sind erfüllt vom endlosen Knarren der Wagen, von Hufschlägen, von dröhnendem Eisenrasseln und Geklirr. Und alles das, tausendfach widerhallend, schwillt an zu einem wüsten unaufhörlichen Getöse. Alle gehen schweigend, aber wenn auch jemand wütend aufschrie, die menschliche Stimme würde in dieser Dutzende Kilometer weit kreischenden Bewegung spurlos verwehen.
Die Kinder weinen nicht mehr, bitten nicht mehr um Brot, nur ihre blassen Köpfchen wackeln in den Kissen. Die Mütter trösten sie nicht mehr, herzen sie nicht mehr, nähren sie nicht mehr — sie schreiten neben dem Wagen, mit irren Blicken verfolgen sie die endlosen Schleifen der jetzt zu den Wolken ansteigenden Chaussee. Aber aller Augen sind trocken.
Unüberwindliches, wildes Entsetzen verbreitet sich jedes Mal, wenn ein Pferd im Gehen innehält. Wie besessen greifen alle nach den Rädern, stützen mit den Schultern den Wagen, schlagen wie rasend auf das Tier ein, schreien mit unmenschlichen Stimmen — aber all ihre Anspannung, ihre Anstrengung wird von dem gelassenen, tausendfach widerhallenden, tausendfach wiederholten Knarren der zahllosen Räder übertönt.
Das Pferd macht noch einen, zwei Schritte, wankt und stürzt, die Deichseln brechend, zu Boden. Keine Kraft vermag es dann aufzuheben: die Beine sind steif ausgestreckt, das Mau] zähnegefletscht, und der Tag verblasst in den violett angelaufenen Augen.
Man nimmt die Kinder vom Wagen; die Mutter prügelt die älteren in wilder Verzweiflung, damit sie weitergehen, die Kleinsten nimmt sie auf den Arm. Aber wenn es ihrer viele sind, dann... dann lässt sie eines oder zwei der Kleinsten im unbeweglichen Wagen zurück und geht weiter, mit trockenen Augen, ohne sich umzublicken. Und die anderen hinter ihr schreiten langsam, ohne aufzuschauen; langsam rollen die weiterziehenden Wagen an dem liegengebliebenen vorüber, die lebenden Pferde an dem toten, die lebenden Kinder an den auch noch lebenden — und das keine Sekunde aussetzende, tausendfach widerhallende Knarren nimmt gelassen das Geschehene in sich auf.
Eine Mutter, die ihr Kind viele Kilometer weit geschleppt hat, beginnt zu wanken, die Beine zittern ihr, die Chaussee verschwimmt im Nebel, die Wagen, die Felsen beginnen zu kreisen.
»Ich... ich kann nicht weiter.«
Sie setzt sich abseits auf einen Steinhaufen und schaut und wiegt ihr Kind — endlos ziehen die Wagen an ihr vorüber.
Der schwarze, ausgetrocknete Mund des Kindes ist weit geöffnet, die kornblumenblauen Augen blicken regungslos.
Die Mutter jammert verzweifelt:
»Ich habe ja keine Milch mehr, mein Herzchen, mein Täubchen...«
Ganz von Sinnen, küsst sie ihr Kind — ihr Leben, ihre letzte Freude. Aber die Augen sind trocken.
Regungslos ist der dunkle kleine Mund; regungslos blicken die trüb gewordenen Augen. Sie presst diesen lieben, hilflos erkaltenden kleinen Mund an die Brust.
»Mein Herzenskind — jetzt wirst du dich nicht mehr quälen... Jetzt brauchst du nicht mehr auf den Tod zu warten.«
In ihren Armen das langsam erkaltende Körperchen.
Sie reißt den Steinhaufen auseinander, legt ihren Schatz hinein, nimmt das Kreuzchen von ihrem Halse, streift es über den zurückgesunkenen Kopf, verscharrt den kleinen Leichnam und bekreuzigt die Stelle, bekreuzigt sie unzählige Male.
An ihr vorüber ziehen die anderen, schweigend, ohne hinzusehen. Ununterbrochen ziehen Wagen vorbei, und ein tausendstimmiges, tausendfach sich wiederholendes Knarren ist inmitten der kahlen Felsen zu hören.
Weit vorn, an der Spitze der Kolonne, ziehen die Kavalleristen gewaltsam die wankenden Pferde hinter sich her; die Ohren der Pferde hängen schlapp herunter wie bei Hunden.
Es wird heiß. Legionen von Fliegen, die während des Gewitters verschwunden schienen, alle klebten an den unteren Planken der Wagen, summen jetzt in dichten Wolken über
dem Zuge.
»He, Jungens! Na, was ist denn mit euch los? Ihr seht ja aus wie Katzen, wenn sie was gemaust haben. Los, singen
wir eins!«
Niemand gab eine Antwort. Erschöpft schritten sie langsam weiter, zogen die Pferde nach sich.
»Himmelsakrament, ihr Miesepeter! Zieht doch den Kasten auf, dass wir Marschmusik haben.«
Er wühlte im Sack mit den Grammophonplatten, zog die erste beste heraus und begann mit Mühe die Aufschrift zu entziffern:
»B-bb-b-i-bb-i-Bim bbb-o-bim-bom... Was ist 'n das für 'n Kauderwelsch? Co... lo... on... Lachende Clowns... Sonderbar! Na, spielen wir!«
Er zog das am Sattel befestigte Grammophon auf und ließ es spielen.
Eine Sekunde lang drückte sein Gesicht eine unaussprechliche Verwunderung aus, dann verengten sich seine Augen zu schmalen Spalten, er sperrte den Mund bis zu den Ohren auf, die Zähne glänzten auf — und er brach in ansteckendes Lachen aus. Statt des erwarteten Liedes drang aus dem Grammophontrichter ein betäubendes Lachen — zwei lachten, bald einer, bald ein anderer, bald beide zusammen. Sie lachten mit verblüffenden Stimmen; zuweilen kicherten sie mit dünner Stimme wie kleine Jungens, die man kitzelt, bald grölten sie wie brüllende Stiere, und alles ringsherum dröhnte; sie lachten bis zum Ersticken, hielten sich die Bäuche, lachten wie hysterische Frauen, lachten wie besessen, als wenn sie nicht mehr aufhören könnten.
Die ringsum schreitenden Kavalleristen begannen zu lächeln, schauten auf das Grammophon, das noch immer wie besessen in allen Tonarten lachte. Ein leises Gelächter ging durch die Reihen; dann vermochte man nicht mehr an sich zu halten und begann so wie das Grammophon zu lachen; das Lachen schwoll an, ging von Reihe zu Reihe, rollte weiter und weiter. Es erreichte die langsam schreitenden Infanteristen, auch sie begannen zu lachen, ohne zu wissen, warum — das Grammophon war hier nicht zu hören —, sie lachten immer lauter, von den vorderen Reihen angesteckt. Und das Gelächter rollte unaufhaltsam von Reihe zu Reihe den kilometerlangen Zug weiter.
»Was grölen die denn? Was ist denn los?« Aber im nächsten Augenblick lachten auch die Frager, schüttelten die Köpfe, lachten bis zur Erschöpfung.
»He, Väterchen, verschluck nicht den Bart...«
Die ganze Infanterie marschierte und lachte, es lachte der ganze Zug, es lachten die Flüchtlinge, es lachten die Mütter, Furcht und Wahnwitz in den Augen; durch das Knarren der Räder, inmitten der kahlen Felsen rollte das Lachen der Menschen kilometerweit dahin.
Als dieses Lachen Koshuch erreichte, wurde er bleich, gelb, wie gegerbtes Schaffell.
»Was ist los?«
Der Adjutant unterdrückte nur mühsam das aufsteigende Lachen und sagte:
»Weiß der Teufel..., sind wohl verrückt geworden..., will sehen, warum sie lachen.«
Koshuch riss ihm Peitsche und Zügel aus der Hand, warf sich schwer in den Sattel und begann erbarmungslos auf das Pferd einzuhauen. Das abgemagerte Tier schritt langsam mit hängenden Ohren dahin, die Peitsche schlug ihm blutige Striemen. Endlich begann es zu trotten — ringsherum rollte das Lachen...
Koshuch fühlte, wie seine Wangen zu zucken begannen, er presste die Zähne zusammen. Endlich erreichte er die sich vor Lachen schüttelnde Spitze. Fürchterlich fluchend hieb er mit der Peitsche auf das Grammophon ein.
»Ruhe!«
Die Grammophonplatte knackste und verstummte. Und Schweigen lief über die Reihen, löschte das Lachen aus. Wieder herrschte nur das eine quälende, tausendfach widerhallende Knarren und Rasseln der Räder.
Vorbei glitten die dunklen Zinnen öder Felsen.
Jemand sagte:
»Der Pass!«
Die Chaussee begann sich spiralförmig zu senken. |
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