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Alexander Serafimowitsch - Der eiserne Strom (1924)
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XXI

Über den Sattel gebeugt, die Fellmütze im Nacken, jagt über die Chaussee, dem Zuge entgegen, ein Kubaner.
»Wo ist der Führer?«
Das Gesicht ist schweißnass, die feuchten Flanken des Pferdes atmen schwer.
Hinter den Waldhängen gleiten glänzende, weiße, runde Riesenwolken hervor und blicken auf die Chaussee hinab.
»Sieht nach einem Gewitter aus.«
Irgendwo, hinter der Chausseebiegung, machte die Spitze der Kolonne halt. Die Reihen der Fußsoldaten rückten aufeinander; die Wagen hielten, die Pferde rissen die Köpfe in die Höhe —, nach und nach kam der ganze Zug zum Stehen.
»Was ist los? Warum so früh Rast?« Das schwitzende Gesicht des Kubaners, das abgehetzte Pferd, der plötzliche Halt — verbreiteten Unruhe, Unsicherheit. Weit vorne verhallende einzelne Gewehrschüsse gaben mit einem Schlage allem einen unheilvollen Sinn. Der Klang der Schüsse prägte der eintretenden Stille einen Stempel auf, der nicht mehr verschwand.
Das Grammophon verstummte. Koshuch jagte in einem Korbwagen an die Spitze des Zuges. Dann sprengten Reiter von dort herbei und sperrten, unmenschlich fluchend, den Weg.
»Zurück!... Zurück!... Werden schießen!...« »Seid ihr taub!... Gleich wird der Kampf losgehen!... Zurück! Koshuch hat befohlen zu schießen, wenn ihr nicht zurückgeht.«
Sofort war alles in heller Aufregung. Weiber, Greise, Mädchen, Kinder begannen zu jammern und zu klagen.
»Wohin sollen wir denn? Wohin treibt ihr uns, wir gehören doch zu euch! Wenn es ans Sterben geht, dann zusammen!«
»Koshuch hat befohlen — fünf Kilometer Abstand sollen zwischen euch und den Soldaten sein. Ihr hindert den Kampf!« »Was sollen wir denn hier? Mein Iwan ist ja dort...« »Und mein Mikita!« »Und mein Opanas!«
»Ihr werdet fortgehen, und wir bleiben hier zurück — ihr wollt uns verlassen.«
»Denkt ihr mit dem Hintern oder wie? Habt ihr nicht gehört: Man kämpft ja für euch! Sobald der Weg frei gemacht ist, ziehen wir zusammen weiter. Ihr hindert dort nur den Kampf!«
Soweit man sehen konnte, schoben sich die Wagen immer dichter aneinander. Fußgänger, Verwundete drängen sich; Weiber heulten. Die ganze Chaussee kilometerweit verstopfend, lag der Zug regungslos da. Die Fliegenschwärme fielen gierig über die Pferderücken, Flanken, Hälse her; bedrängten die Kinder; die Pferde schüttelten verzweifelt die Köpfe, schlugen sich mit den Vorderhufen unter den Bauch. Durch das Laub leuchtet das Meer. Aber alle sehen nur das Stück Chaussee vor sich, das von den Reitern versperrt ist, und hinter den Reitern — mit Gewehren die eigenen Soldaten, die allen so bekannt und vertraut sind. Sie sitzen und drehen sich Zigaretten aus breitblättrigen Pflanzen, die sie mit trockenen, verriebenen Gräsern füllen.
Aber da rühren sie sich schon, stehen langsam auf, setzen sich in Bewegung — die Chaussee wird immer leerer, der Abstand vergrößert sich mehr und mehr, der Staub legt sich langsam —, Unheil und Unglück liegen in der Luft. Die Reiter sind unerbittlich.
Eine Stunde vergeht, eine zweite. Vorn die leere Chaussee schimmert bedrückend weiß, wie der Tod. Weiber mit geschwollenen Augen schluchzen, jammern. Zwischen den Bäumen blaut das Meer, und die Wolken blicken über die Waldhöhen auf das Meer hinab.
Irgendwo ertönt ein schwerer Kanonenschuss, dann ein zweiter, ein dritter. Eine Salve rollt über die Schluchten, Wälder und Berge. Gleichmütig und kalt trommelt ein Maschinengewehr dazwischen.
Da geraten auf einmal sämtliche Peitschen in krampfhafte Bewegung und fallen sausend auf die Pferderücken nieder. Die Pferde reißen sich los, bäumen sich, drängen vor, aber die Reiter beginnen, unnatürlich fluchend, mit ihren Nagaikas auf Pferdeköpfe, Augen, Ohren dreinzuschlagen. Die Pferde schnauben, schütteln die Köpfe, blähen die roten Nüstern, sie wälzen die runden Augen, werfen sich gegen die Deichseln, bäumen sich auf. Aber von hinten drängen die Pferde der anderen Wagen nach, unmenschlich gehetzt, von Peitschen geprügelt; Kinder schreien, hauen mit Gerten auf die Beine und Bäuche der Tiere; Weiber reißen aus allen Kräften an den Zügeln; Verwundete schlagen mit ihren Krücken gegen die Flanken der Pferde.
Die wild gewordenen Pferde stürzten vorwärts, warfen die Reiter beiseite und jagten vor Entsetzen schnaubend mit vorgestreckten Köpfen und zurückgelegten Ohren auf der Chaussee. Bauern sprangen in die Wagen; Verwundete klammerten sich an die Deichseln, fielen hin, wurden mitgeschleift, rollten in die Chausseegräben.
Durch die weißlich wirbelnden Staubknäuel jagte das Dröhnen der Räder, das unerträgliche Klirren der unter den Wagen hängenden Eimer und das verzweifelte Gejohle dahin. Durch das Laub schimmerte das blaue Meer.
Man begann erst dann langsamer zu fahren, als man die Infanterie einholte.
Niemand wusste etwas Genaueres. Man sagte, dass vorn die Kosaken seien. Woher aber sollten hier die Kosaken auftauchen? Längst sind sie durch die Bergmassen voneinander getrennt. Einige meinten, es seien Tscherkessen, andere — Kalmücken oder Georgier oder Völker mit unbekannten Namen — unzählige Heere. Und das führte dazu, dass die Flüchtlingswagen sich noch ängstlicher an die Truppenteile drängten — es gab keine Mittel, sich von ihnen loszureißen, sei es denn, dass man sie bis auf den letzten Mann niederschieße.
Ob Kosaken oder Georgier, Tscherkessen oder Kalmücken — leben musste man. Wieder sang das Grammophon auf dem Pferderücken: »Lasst ab von mir, ihr Liebesplagen.« Von allen Seiten sangen die Burschen mit. Man ging, wie es gerade kam. Manche kraxelten den Berg hinauf, zerrissen sich an Dornen und Ästen die letzten Fetzen und aßen wie Tiere mit verzogenem Gesicht bittersaure Beeren und wilde Äpfel. Man sammelte Eicheln, kaute sie, spuckte sie wieder aus. Als sie dann aus dem Walde herauskamen, hingen ihnen die Fetzen vom blutig zerkratzen Leibe herab — sie hatten Mühe sich die Schamteile zu bedecken.
Weiber, Mädchen, Kinder — alle streben in den Wald. Schreiend, lachend, weinend — die Nadeln stechen, die Dornen ritzen, die Lianen winden sich um die Glieder —, es gibt kein vorwärts noch rückwärts mehr — aber mit dem Hunger ist nicht zu spaßen.
Zuweilen schieben sich die Berge zurück, die Abhänge werden weniger steil, kleine Felder mit unausgereiftem Mais leuchten herab, irgendwo ans Ufer schmiegt sich ein Dörfchen an. Im Nu sind die Felder mit Menschen wie mit Heuschrecken bedeckt, Soldaten brechen die Stauden, gehen dann zur Chaussee zurück, lösen die feuchten Körner aus der Hülle und kauen lange und gierig an ihnen.
Mütter kauen ebenfalls, aber sie verschlucken die Körner nicht, sondern schieben mit ihren warmen Zungen den gekauten Brei ins Mäulchen ihrer Kinder.
Aber weit vorn ertönten wieder Schüsse, knattert wieder ein Maschinengewehr — doch niemand beachtet es mehr, man hat sich daran gewöhnt. Dann wieder Ruhe. Das Grammophon zwitschert: »Ich glaub' nicht mehr den Schwüren...«
Im Walde erschallen Zurufe, klingt Lachen, von allen Seiten tönen Soldatenlieder. Die Flüchtlinge vermischen sich mit den letzten Infanterieabteilungen, und alles zusammen fließt, von mächtigen Staubwolken umgeben, rastlos auf der Chaussee entlang.

 

XXII

Zum ersten Male haben Feinde den Weg verlegt, neue Feinde. Warum? Was wollen sie?
Koshuch begreift — es ist wie eine Mausefalle. Links — die Berge, rechts — das Meer, und dazwischen die schmale Chaussee. Die Chaussee führt über einen schäumenden Gebirgsbach, dessen Ufer eine Brücke nach Art der Eisenbahnbrücken verbindet: Man kommt um diesen Punkt nicht herum. Vor der Brücke haben die Feinde Maschinengewehre und Geschütze aufgestellt. In diesem von stählernen Balken umrahmten Loch kann man die stärkste Armee zum Halten bringen. Ja, wenn man sich entfalten könnte — es ist eben anders als in den Steppen.
Man reicht ihm einen Befehl von Smolokurow, der ihn darüber belehrt, wie man den Feind angreifen müsse. Gelb vor Wut wie eine Zitrone und die Kinnbacken zusammenpressend, wirft Koshuch ihn fort, ohne ihn gelesen zu haben. Die Soldaten heben ihn eilig auf, glätten ihn auf den Knien und drehen sich Zigaretten daraus, die sie mit trockenem Laub stopfen.
Die Truppen ziehen sich längs der Chaussee hin. Koshuch betrachtet sie: abgerissen, barfuss, die Hälfte hat zwei, drei Patronen pro Mann, die andere Hälfte hat überhaupt keine Munition mehr. Ein einziges Geschütz mit nur sechzehn Geschossen. Aber Koshuch presst die Kinnladen zusammen, sieht die Soldaten mit einem Blick an, als wenn ein jeder von ihnen dreihundert Patronen im Sack hätte, als wenn Batterien mit überfüllten Munitionskästen dastünden und als wenn ringsherum die vertraute Steppe sich ausbreitete, auf der sich die ganze Kolonne frei entfalten könne.
Und mit ebensolchen Augen, mit demselben Gesicht sagt er: »Genossen! Wir haben uns mit den Kosaken und Kadetten geschlagen. Wir wissen, warum wir mit ihnen gekämpft haben — deshalb, weil sie die Revolution erdrosseln wollten.«
Die Soldaten sahen ihn mit finsteren Gesichtern an, und ihre Augen sagen:
,Das wissen wir auch ohne dich. Was soll das schon... Aber in das Loch da vorn auf der Brüske wollen wir ja doch nicht kriechen...'
»... die Kosaken sind wir los — die Berge schützen uns, wir können eine Weile aufatmen. Aber ein neuer Feind verlegt uns den Weg. Wer ist dieser Feind? Es sind georgische Menschewiki, und die Menschewiki sind dasselbe wie die Kadetten, auch sie verbrüdern sich mit den Reichen und denken nur an das eine — wie sie der Sowjetmacht den Garaus machen könnten...«
Und die Soldatenaugen sprechen:
,Liebt euch nur immer — du und deine Sowjetmacht! Wir sind barfuss, nackt, und zu fressen haben wir auch nichts...'
Koshuch verstand ihre Augensprache, er wusste, das ist der Untergang.
Und er griff zum letzten Trumpf, er wandte sich an die Kavalleristen:
»Genossen, eure Aufgabe ist: die Brücke im Sturm nehmen.«
Bis auf den letzten Mann verstanden die Kavalleristen, dass der Kommandierende ihnen eine wahnwitzige Aufgabe stellt: der Ritt über die schmale Brücke, im Gänsemarsch (auf der Brücke kann man sich nicht entfalten), unter Maschinengewehr- und Geschützfeuer, das bedeutet, dass die eine Hälfte auf der Brücke fallen und die andere — da sie über den Berg von Leibern nicht herüberspringen kann — beim Rückprallen niedergemäht wird.
Aber die Gestalten waren so schlank, die Reiterkittel legten sich so eng um die silbergegürteten Hüften, die Fellmützen saßen so forsch auf den Köpfen, die Waffen der Väter und Großväter blinkten so mutig in der Sonne, und die prachtvollen Steppenpferde schüttelten so lebhaft ihre Köpfe, und alle sahen auf sie, mit offensichtlichem Gefallen, dass sie laut ausriefen:
»Wir nehmen die Brücke, Genosse Koshuch!«
Das gedeckt aufgestellte Geschütz begann, Felsenschluchten und Berge mit gewaltigem, wachsendem Echo erfüllend, jenen Punkt hinter der Brücke zu beschießen, wo die feindlichen Maschinengewehre aufgestellt waren, während die Kavalleristen, sich die Fellmützen zurechtrückend, schweigend, lautlos und ohne einen Schuss abzugeben, hinter der Wegbiegung hervorsprengten und mit ihren Pferden, die vor Schrecken die Ohren zurücklegten, die Hälse streckten und die blutroten Nüstern blähten, zur Brücke und über die Brücke jagten.
Die georgischen Maschinengewehrschützen duckten sich unter den aufknallenden Schrapnellwölkchen, das wilde Dröhnen in den Bergen betäubte sie... Auf eine solche Tollkühnheit nicht gefasst, griffen sie zu spät zu den Maschinengewehren... Ein Pferd fiel, ein zweites, ein drittes, aber die Mitte der Brücke war schon erreicht, dann das Ende der Brücke — jetzt fiel der sechzehnte, der letzte Schuss des Geschützes — und... die Feinde ergriffen die Flucht.
Hurraaa!... Es begann ein Gemetzel.
Die georgischen Truppenteile, die in einiger Entfernung von der Brücke aufgestellt waren, zogen sich auf der Chaussee zurück und verschwanden hinter der Straßenbiegung.
Jene aber, die unmittelbar an der Brücke standen und denen der Rückzug jetzt abgeschnitten war, stürzten zum Ufer. Die georgischen Offiziere aber waren ihnen schon vorausgeeilt, sie sprangen in die Boote und ruderten auf die Dampfer zu. Dichte Rauchwolken stiegen aus den Schornsteinen auf — die Dampfer gingen in See.
Bis zum Halse im Wasser stehend, streckten die georgischen Soldaten die Arme nach den Dampfern aus und schreien, verfluchten, beschworen sie bei dem Leben ihrer Kinder — von hinten aber sausten Säbelhiebe auf sie nieder, und blutige Lachen bildeten sich auf dem Wasser.
Immer kleiner wurden die Dampfer, als winzige schwarze Punkte verschwanden sie am Horizont, und am Ufer gab es niemand mehr, der flehen und fluchen konnte.

 

XXIII

Felsige Höhen begannen sich über den Wäldern und Schluchten zu türmen. Wenn ein Windhauch von dort herüberkommt, bringt er Kühle mit, auf der Chaussee unten aber — Fliegen, Glut, Staubwolken.
Die Chaussee zog sich jetzt wie ein schmaler Korridor hin — hohe Felsen ragen an beiden Seiten auf. Von den Höhen hängen herausgewaschene Wurzeln. Die Windungen der Chaussee hindern immer häufiger den Ausblick nach vorn und zurück. Man kann weder abbiegen noch umkehren. Und unaufhaltsam strömt die lebendige Masse durch dieses Felsenbett. Steinmassen verbergen das Meer.
Die Bewegung stockt. Wagen halten an, Menschen und Pferde. Lange, ermüdend lange wartet man, dann kommt der Zug wieder langsam in Bewegung, um nach einer Weile wieder haltzumachen. Niemand weiß etwas, es ist nichts zu sehen — nur Wagen, Steinmauern und oben ein Stückchen blauen Himmels.
Ein dünnes Stimmchen:
»Ma-ama, essen!...«
Und auf dem nächsten Wagen:
»Ma-ama, essen!...«
Und auf dem dritten auch.
»Werd't ihr wohl still sein! Wo soll ich's denn hernehmen... Soll ich etwa die Wände da 'raufklettern? Ihr seht doch die Wände.«
Die Kinder wollen nicht still sein, schluchzen und jammern, dann erheben sie ein Zetergeschrei.
»Ma-ama...! Gib Maisgrütze! Beeren! Maisgrütze!«
Wie gehetzte Wölfinnen blicken die Mütter mit blitzenden Augen um sich, prügeln die Kinder.
»Kusch!... ist ja rein nicht zum Aushalten! Wenn ihr bloß endlich krepieren würdet, ihr reißt einem ja das Herz aus dem Leibe...«, und sie weinen böse, ohnmächtige Tränen.
Irgendwo, weit weg, fallen Schüsse. Niemand beachtet es, niemand weiß etwas.
Sie stehen eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, setzen sich dann in Bewegung und halten wieder.
»Ma-ama! Maisgrütze!«
Die Mütter sind so erbost, dass sie allen an die Kehle fahren könnten; sie wühlen in den Wagen, beschimpfen sich gegenseitig, suchen junge Maishalme hervor, kauen sie lange, qualvoll, bis das Blut aus dem Zahnfleisch fließt, dann neigen sie sich zu dem gierig geöffneten Kindermund und füllen ihn, mit Nahrung. Die Kinder versuchen zu schlucken, das harte Stroh sticht im Hals, sie husten, sind am Ersticken, spucken es aus, brüllen.
»Ich will nicht, ich wi-ill nicht!«
Die verzweifelten Mütter fallen über sie her.
»Was wollt ihr denn... satt seid ihr eben...«
Die Kinder schmieren sich die Tränen über das schmutzige Gesicht, versuchen zu schlucken, würgen sich damit.

Die Kinnladen zusammengepresst, beobachtet Koshuch von einem Felsen aus mit einem Feldstecher die Stellungen des Feindes. Die Kommandeure drängen sich um ihn, sehen ebenfalls durch Feldstecher; Soldaten kneifen ihre Augen zu und sehen auch ohne Feldstecher nicht schlechter als die Kommandeure.
Hinter der Biegung wurde die Schlucht weiter. Durch den breiten Trichter leuchten blau die fernen Berge. Dichte Wälder liegen an den Abhängen des Gebirgsstocks, der die Kluft versperrt. Sein vorderer Teil ist kahl und steinig, und der Gipfel ragt ganz steil acht Meter empor. Dort sind die Schützengräben des Gegners, und sechzehn Geschütze blicken gierig auf die aus dem Korridor sich herausschlängelnde Chaussee.
Als die Kolonne das Felsentor verlassen wollte, begannen Geschütze und Maschinengewehre zu arbeiten. Die Soldaten fluteten hinter die Felsen zurück. Koshuch sieht klar: Hier kommt nicht einmal ein Vogel lebendig durch. Die Kolonne kann sich nicht entfalten, es gibt nur einen Weg — die Chaussee, und dort ist der Tod. Er blickt auf das weißschimmernde Städtchen, weit unten am Ufer, auf die blaue Bucht, in der dunkel georgische Dampfer stehen. Man muss etwas Neues ausdenken, aber was? Ein Ausweg muss gefunden werden, aber welcher? Und er kniet nieder und beginnt auf der auf dem Staub der Chaussee ausgebreiteten Karte herumzukriechen, er prüft die geringsten Windungen, die kleinsten Pfade und Falten des Gebirges.
»Genosse Koshuch!«
Koshuch hebt den Kopf. Zwei stehen vor ihm — auf unsicheren Beinen.
,Die Canaillen! Haben sich schon vollgesoffen...'
Aber er sieht sie schweigend an.
»Also, Genosse Koshuch, über das weiße Handtuch da springen wir nicht 'rüber — Georgien schließt uns alle zusammen. Wir haben sozusagen ausgekundschaftet... freiwillig!«
Koshuch wendet den Blick nicht von ihnen ab.
»Na, atme mal! Aber ordentlich, atme mich an und nicht in dich hinein! Du weißt, darauf steht Erschießen!«
»Ich schwöre dir bei allen Heiligen — das ist Waldluft, wir gingen die ganze Zeit durch den Wald, und da haben wir uns damit vollgeatmet.«
»Oder meinst du etwa, es gibt in diesem Wald Schenken und Gastwirtschaften?!« fällt der andere, mit den listig-lustigen ukrainischen Augen, ein. »Im Wald gibt's nur Bäume und Vögel, zu saufen nichts.«
»Na, was gibt's, redet!«
»Also, Genosse Koshuch, wir gehen zu zweit, er und ich, und führen ein ernstes Gespräch miteinander: sollen wir hier nun alle auf der Chaussee sterben oder zurückgehen und den Kosaken in den Rachen fallen? Sterben wollen wir nicht, und in den Rachen wollen wir auch nicht. Also, was tun? Da sehen wir hinter den Bäumen eine Kneipe. Wir schleichen heran — vier Georgier sitzen da, trinken Wein und essen Schaschlyk —, das ist ja bekannt — die Georgier sind Trunkenbolde. Und der Bratenduft sticht uns so in die Nase, dass es nicht mehr zum Aushalten war. Die Kerle haben alle Revolverchen. Wir springen heraus, schießen zwei nieder: ,Halt, nicht vom Fleck! Ihr seid umzingelt, Hände hoch! Sie stehen ganz sprachlos da, die haben uns nicht erwartet; den dritten haben wir niedergestochen, und diesen da gebunden, der Schankwirt hat einen Schreck gekriegt, dass bald gestorben wäre. Es ist wahr, den Schaschlyk haben wir gefuttert, den Wein aber haben wir nicht angerührt — weil Sie es uns doch so befohlen haben.«
»Mag es der Teufel holen, das elende Gesöff! Bei Gott, nicht einmal gerochen haben wir dran... mag der Satan mir die ganze Fresse umdrehen, wenn es nicht wahr ist. Mag...«
»Zur Sache!«
»Wir schleppten also die Georgier in den Wald, nahmen ihnen die Waffen ab und brachten den vierten und den Wirt hierher. Unterwegs begegnen wir fünf Bauern mit Weibern und Mädchen — 's sind unsere russischen Bauern, die in der Nähe der Stadt wohnen. Sind auf die Georgier schlecht zu sprechen, die sind ja auch nicht unsere Landsleute, diese braunen Teufel, stellen immer unseren weißen Mädchen nach. Die Bauern haben alles liegen- und stehen lassen und sind mit uns gekommen. Sie sagen nun, dass es Wege gibt, auf denen man die Stadt umgehen kann. Schwere Wege, über Abgründe, an Felsen vorbei, aber gangbar sind sie. Ein Angriff von vorn, meinen sie, ist nicht möglich. Aber die Wege und Pfade kennen sie, wie ihre fünf Finger. Na klar, schwer ist es, aber vorn ist doch der Untergang, und man kann ihn vermeiden...«
»Wo sind sie?«
»Hier!«
Ein Bataillonskommandeur kommt auf Koshuch zu.
»Genosse Koshuch, wir waren eben am Meer, dort kommt man nicht durch: steiniges Ufer, fällt steil ins Wasser ab.«
»Ist es dort tief?«
»Dicht am Felsen bis zum Gurt oder auch bis zum Halse, stellenweise — darüber.«
»Das macht nichts«, sagt ein danebenstehender zerlumpter Soldat mit einem Gewehr in der Hand, der aufmerksam zugehört hat. »Es sind ja Steine da, sind von den Felsen ins Meer gestürzt, man kann, wie ein Hase, von Stein zu Stein springen.«
Von allen Seiten kommen zu Koshuch Meldungen, Hinweise, Pläne, die oft unerwartet geistreich sind und die die allgemeine Lage klären.
Die Kommandeure werden zu einer Beratung gerufen. Koshuchs Kinnladen sind hart aufeinandergepresst, die stechenden Augen blicken unnahbar unter der vorgeschobenen Stirn.
»Genossen, so steht es: alle drei Eskadronen fallen auf einem Umwege in die Stadt ein. Der Umweg ist schwierig, geht durch Wälder, über Felsen, an Abgründen vorbei, und dazu muss man den Marsch nachts ausführen. Aber er muss um jeden Preis gemacht werden.«
,Wir werden zugrunde gehen... alle unsere Pferde verlieren... ' stand in den Augen der Reiter zu lesen — ihre Zunge hätte es nicht ausgesprochen.
»Wir haben fünf Führer — es sind Russen, die hier lange leben. Die Georgier haben ihnen hart zugesetzt... Ihre Familien bleiben in unserer Hand. Es ist den Führern gesagt worden, dass ihre Familien für sie haften. Der Angriff muss im Rücken der Stadt ausgeführt werden...«
Er schwieg eine Weile, blickte in die durch die Schlucht heraufkriechende Nacht und fügte kurz hinzu:
»Alles niedermachen!«
Die Kavalleristen rückten ihre Fellmützen verwegen in den Nacken:
»Wird gemacht, Genosse Koshuch!«
Und sie schwangen sich gewandt in die Sättel.
Koshuch:
»Das Infanterieregiment... Genosse Chromow, Sie steigen mit Ihrem Regiment die Felswand zum Ufer hinab und schleichen über die Steine am Wasser zum Hafen. Bei Morgendämmerung schlagen Sie ohne einen einzigen Schuss zu und besetzen die Dampfer.«
Und wieder fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Alles niedermachen!«
,Die Georgier brauchen auf den Schiffen nur ein Maschinengewehr aufzustellen, und das ganze Regiment wird zum Teufel gehen..." dachten sie, sagten aber mit entschlossenen Stimmen:
»Zu Befehl, Genosse Koshuch.«
»Zwei Regimenter sind für den Sturmangriff bereitzustellen.«
Nach und nach begann die sanfte Röte der fernen Berggipfel zu verlöschen: gleichmäßiges, tiefes Blau kroch aus der Tiefe zu den Spitzen. Durch die Schluchten schlich die Nacht.
»Ich werde sie führen«, sagte Koshuch.
Vor aller Augen breitete sich das regungslose Bild aus: der schwarze Hochwald, dahinter eine Bergwand und darüber, wie der Tod mit leerem Blick, der einsame Felsvorsprung. Das stand eine Zeitlang und verblasste. Die Nacht kroch durch die Schluchten. Koshuch kletterte auf einen Felsblock. Unten grau, schmutzige Fetzen, nackte Füße, eine Menge funkelnder Bajonettspitzen.
Keiner wandte den Blick von Koshuch: er besaß das Geheimnis, die Frage über Leben und Tod zu lösen. Er war verpflichtet, einen Ausweg zu finden, einen Ausweg — alle sahen es klar — aus einer ausweglosen Lage.
Von diesen Tausenden auf ihn gerichteten fordernden Augen getragen, sich im Besitz des unfassbaren Geheimnisses über Leben und Tod fühlend, sagte Koshuch:
»Genossen! Wir haben keine Wahl: entweder fallen wir hier, oder die Kosaken dahinten werden uns bis auf den letzten Mann niedermetzeln. Die Schwierigkeiten sind fast unüberwindlich: Wir haben keine Patronen, keine Munition für die Geschütze, wir müssen mit bloßen Händen kämpfen, und von dort blicken uns sechzehn Geschütze an. Aber wenn alle...«, dann brüllte er mit einer wilden, fremden Stimme auf, dass allen das Herz zusammenzuckte: »Wenn alle wie ein Mann dreinschlagen, dann liegt der Weg zu den Unsrigen frei!«
Das, was er sagte, wusste auch ohne ihn jeder, auch der einfachste Soldat, aber als er mit dieser seltsamen Stimme aufschrie, waren alle von der Neuheit des Gesagten überrascht; die Soldaten riefen:
»Wie ein Mann! Wir schlagen uns durch oder fallen.«
Die letzten Flecken der weißschimmernden Felsen verschwanden. Nichts mehr zu sehen: weder Berge noch Felsen noch Wälder. Die letzten Reihen der abziehenden Pferde verschwanden. Man konnte auch die hinabsteigenden Soldaten nicht sehen, die, einander an den Lumpen haltend, ausgleitend, zum Meeresstrand hinunterschlichen. Die letzten Reihen der zwei Regimenter tauchten in den undurchdringlichen Wald, über dem der steile Felsen mit den Feinden wie der Tod mit geschlossenen Augen fühlbar war.
Die Wagenkolonne erstarrt im nächtlichen Schweigen. Kein Feuer, kein Gespräch, kein Gelächter, selbst die Kinder legten sich lautlos, trotz des brennenden Hungers, nieder. Schweigen, Dunkelheit,

 

XXIV

Ein georgischer Offizier in einem enggegürteten roten Tscherkessenkittel mit goldenen Achselklappen, schwarzen mandelförmigen Augen, die die Frauen (er wusste es gut) um den Verstand brachten, ging auf dem Bergplateau auf und ab und warf prüfende Blicke um sich. Schützengräben, Brustwehren, Maschinengewehre.
Vierzig Meter weiter ein ungangbarer, steiler Abhang, darunter ein steiniger Pfad, und dann die undurchdringliche Finsternis der Wälder, und hinter den Wäldern — jene Felsenschlucht, aus der das weiße Band der Chaussee sich hinauswindet. Dorthin sind die Geschütze gerichtet, dort ist der Feind.
Mit gleichmäßigen Schritten gehen die Posten in schmucken, funkelnagelneuen Uniformen an den Maschinengewehren auf und ab.
Dieses zerlumpte Gesindel da unten hat heute morgen tüchtig abgekriegt, als es den Versuch machte, hinter dem Felsen hervorzukommen — sie werden es nicht so bald vergessen.
Er, der Oberst Micheladse (so jung und schon ein Oberst), hat diese Stellung auf dem Bergpass gewählt und im Generalstab auf ihr bestanden. Sie ist der Schlüssel, der das ganze Ufergebiet abschließt.
Er warf wieder einen Blick auf das Steinplateau, auf den steilen Abhang, auf die Uferfelsen, die ebenfalls steil ins Wasser abfielen — ja, alles war wie auf Bestellung gemacht, um jede beliebige Armee aufhalten zu können.
Aber damit nicht genug. Es genügt nicht, sie nicht heranzulassen, man muss sie vernichten. Und er hat schon einen Plan dazu ausgearbeitet: Es müssen Dampfer mit Truppentransporten in den Rücken — dorthin, wo die Chaussee zum Meeresufer hinunterläuft — geschickt werden, von den Schiffen aus das Feuer aufnehmen, Landungstruppen ausschiffen und diese ganze stinkende Bande in dem Felsenkorridor, wie Ratten in der Falle, einsperren.
Er ist es, Fürst Micheladse, der Besitzer eines nicht sehr großen, aber reizenden Landgutes bei Kutais, er ist es, der dieser giftigen das Ufer entlangkriechenden Natter mit einem Hieb den Kopf abhauen wird.
Die Russen sind die Feinde Georgiens, des herrlichen Georgiens mit seiner Kultur, ebensolche Feinde wie die Armenier, Türken, Aserbaidshaner, Tataren, Abchasier. Die Bolschewiki sind Feinde der Menschheit, sind Feinde der Weltkultur. Er, Micheladse, ist auch Sozialist, aber er (sollte man dieses kleine Mädchen, diese Griechin, vielleicht doch holen lassen?... nein, es geht nicht... der Soldaten wegen...) ist ein echter Sozialist, mit einem tiefen Verständnis für den Mechanismus der historischen Ereignisse, aber er ist ein Todfeind aller Abenteurer, die unter der Maske des Sozialismus auf die niedrigsten Instinkte der Massen spekulieren...
Er ist nicht blutgierig, das vergossene Blut ekelt ihn an, aber wenn es sich um die Weltkultur handelt, um das Wohl und die Größe seines Volkes — dann ist er unerbittlich. Diese da müssen bis auf den letzten Mann vernichtet werden!
Er geht mit einem Feldstecher in der Hand auf und ab, blickt auf den drohenden, steilen Abhang, in das Dunkel der undurchdringlichen Wälder, auf den weißen, gewundenen Streifen der öden Chaussee, auf die sich im Abendrot rötenden Bergkuppen, und hört die Stille, die friedliche Stille des weich anbrechenden Abends.
Dieser prachtvolle, aus bestem Tuch gefertigte Tscherkessenrock, der seine hübsche Gestalt so gut zur Geltung bringt, die schneeweiße Fellmütze, der kostbare, goldverzierte Dolch, der goldverzierte Revolver — das Werk des berühmtesten Meisters im Kaukasus, Osman —, alles das verpflichtet ihn zu einer Heldentat, zu einer besonders großen Leistung; alles das sondert ihn von allen ab, sowohl von den Soldaten, die bei seinem Anblick in strammer Haltung ersterben, als auch von den Offizieren, die seine Erfahrungen und seine Kenntnisse nicht haben; und wenn er mit elastischen Schritten auf und ab geht, fühlt er die Schwere seiner Einsamkeit.
»He!«
Ein Bursche springt herbei, ein junger Georgier mit einem unregelmäßigen, gelben, freundlichen Gesicht und ebensolchen mandelförmigen, feuchtschimmernden Augen wie die des Obersten; er salutiert:
»Herr Oberst befehlen?«
,... dieses... Mädchen... die Griechin... hol sie her...'
Aber er sagte es nicht, sondern fragte mit strengem Blick:
»Das Abendessen?«
»Zu Befehl. Die Herren Offiziere warten.«
Der Oberst schritt majestätisch an den auffahrenden, regungslos ersterbenden Gestalten der Soldaten vorbei — sie hatten alle magere Gesichter, sie hungerten, die Verpflegung war schlecht organisiert, und sie erhielten nur eine Handvoll Mais täglich. Sie salutierten, folgten ihm mit den Blicken, während er lässig mit seinem weißen Handschuh spielte. Er schritt an den abendlichen, verlöschenden Lagerfeuern, an Artilleriepferden und Gewehrpyramiden vorüber und trat in ein langes, weißes Zelt, in dem ein langer, mit Flaschen, Tellern, Gläsern, Kaviar, Käse, Obst schwer beladener Tisch funkelte.
Die Unterhaltung der jungen, ebenso wie er schlanken, ebenso wie er gekleideten Offiziere brach ab, alle erhoben sich.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der Oberst.
Und als er sich in seinem Zelt niederlegte, wiegte ihn ein angenehmer Schwindel ein; er hielt dem Burschen, der ihm den funkelnden Lackstiefel ausziehen sollte, sein Bein hin. Der Oberst dachte:
,Schade, dass ich die Griechin nicht holen ließ... Übrigens ist es gut, dass ich es nicht getan habe...'

 

XXV

Die Nacht ist so gewaltig, dass sie die Berge und Felsen und die ungeheure Tiefe, die tagsüber unter der Bergwand gähnt, verschlingt.
An der Brustwehr geht ein Posten auf und ab, ebenso schwarzsamten ist er wie alles in dieser samtenen Finsternis. ET geht zehn Schritte vor, dreht sich langsam um, geht wieder zehn Schritte zurück. Wenn er in der einen Richtung geht, treten die unklaren Umrisse eines Maschinengewehrs aus der Dunkelheit, geht er zurück, dann wird der felsige Abhang spürbar, der bis zum obersten Rand gleichmäßig mit Dunkel gefüllt ist. Dieser unsichtbare steile Abhang verbreitet ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit: keine Eidechse kann hier heraufklettern.
Und wieder langsam zehn Schritte vor, eine langsame Wendung und wieder...
Er hat zu Hause einen kleinen Garten, ein kleines Maisfeld, und seine Frau Nina, und auf ihren Armen — der kleine Sergo. Beim Abschied blickte ihn Sergo mit seinen kirschschwarzen Augen lange an, dann hüpfte er auf den Armen der Mutter, streckte die weichen, vollen Händchen in die Luft und lächelte ein reizendes, zahnloses Kinderlächeln. Als aber der Vater ihn auf seinen Arm nahm, spritzte er ihm Speichelblasen ins Gesicht. Und dieses zahnlose Kinderlächeln und diese Blasen schimmern nun durch die Dunkelheit.
Zehn langsame Schritte, der dunkle Umriss des Maschinengewehrs, eine langsame Wendung, der Rand des steilen Abgrunds, und wieder...
Die Bolschewiki haben ihm nichts Böses getan... Er wird sie von dieser Höhe aus beschießen... Keine Eidechse wird die Chaussee passieren können... Die Bolschewiki haben den Zaren gestürzt, und der Zar hat Georgien auch bloß ausgeplündert, sehr gut... Die Leute erzählen sich, dass man in Russland das ganze Land den Bauern gegeben hat... Er seufzte. Er ist Soldat, er wird schießen, wenn es ihm befohlen wird, auf jene, die dort hinter den Felsen sind.
Das zahnlose Lächeln und die Blasen tauchen, ungerufen, wieder aus der Dunkelheit; in der Brust wird es warm, der Mann lächelt, innerlich, aber auf dem dunklen Gesicht liegt tiefer Ernst.
Noch immer dehnt sich die gleiche Stille, bis zum Rande mit Finsternis gefüllt. Es geht wahrscheinlich zum Morgen, und diese Stille drückt ein wenig... Der Kopf ist unendlich schwer, er sinkt immer tiefer, um plötzlich wieder hochzufahren. Sogar inmitten der Nacht breitet sich undurchdringlich die ungleichmäßige Schwärze der Berge hin; über ihren Hängen blitzen einzelne Sterne.
Weit in der Ferne ertönt die Stimme eines Nachtvogels — eine seltsame Stimme. Wie kommt es, dass er in Georgien nie solche Nachtvögel gehört hat?
Alles ist mit Schwere erfüllt, ist unbeweglich und schwimmt ihm wie ein Ozean von Finsternis entgegen — und da ist nichts Seltsames dabei, dass es unbeweglich ist und doch ihm entgegenschwimmt.
,Nina, du?... Und wo ist Sergo?...'
Er schlug die Augen auf, der Kopf wackelt ihm auf der Brust, er selbst lehnt an der Brustwehr. Die letzten Sekunden des unterbrochenen Schlafes schwimmen vor seinen Augen durch den nächtlichen Raum.
Er schüttelt den Kopf, alles um ihn her scheint erstorben; er blickt misstrauisch ringsumher: dieselbe regungslose Dunkelheit, dieselbe kaum sichtbare Brustwehr und das Maschinengewehr und der Abgrund, den man nicht sieht, den man nur ahnt. Weit in der Ferne schrie ein Vogel auf. Solche Vögel gibt es doch in Georgien nicht...
Er richtet den Blick in die Ferne. Die gleiche zerklüftete Schwärze. Schwach schimmern die erblassenden Sterne — ihr Stand hat sich schon verändert. Dicht vor ihm — der schweigsame Ozean der Finsternis, und er weiß, dass in seiner Tiefe undurchdringliche Wälder sind. Er gähnt und denkt: ,Man muss auf und ab gehen, sonst...'
Aber er dachte nicht zu Ende, denn schon wieder begann die undurchdringliche Finsternis unter dem Abhang zu schwimmen, endlos, unüberwindlich, und "das Herz presste sich ihm kummervoll zusammen.
Er fragte:
,Kann denn die Nachtfinsternis schwimmen?'
Und es antwortete ihm:
,Doch, sie kann.'
Aber man antwortete nicht mit Worten, man lachte nur mit dem Zahnfleisch.
Und weil der Mund zahnlos und weich war, begann er sich zu fürchten. Er streckte die Hand aus, und Nina ließ den Kopf des Kindes fallen. Der graue Kopf rollte (das Herz stockte ihm), aber dicht über dem Rande hielt der Kopf an... Die Frau erstarrt entsetzt. — Ah!... aber nicht deshalb, sondern aus einem anderen Grunde: in der gespannten Morgenfinsternis grauten zahllose Köpfe am Rande des Abgrundes — wahrscheinlich sind sie alle gefallen und hinabgerollt... sie hoben sich immer mehr: es kamen Hälse zum Vorschein, Arme, Schultern, und eine eiserne, klirrende Stimme, als wenn sie zwischen geschlossenen Kinnladen mit Gewalt herausgepresst würde, brach in die Starrheit der Stille:
»Vorwärts!... Zum Sturm!!!...«
Ein unerträgliches, tierhaftes Gebrüll zerriss die Dunkelheit ringsum. Der Georgier schoss, warf die Hände hoch, und... ein unerträglicher Schmerz stach ihm in den Rücken... Er brach zusammen und rollte dahin, und in diesem unmenschlichen Schmerz erlosch plötzlich das auf den Armen der Mutter mit ausgestreckten Händchen hüpfende Kind, das Blasen spritzte und sein zahnloses Lächeln lächelte.

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