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Alexander Serafimowitsch - Der eiserne Strom (1924)
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I

Gärten, Straßen, Hütten und Flechtzäune des Kosakendorfes sind in undurchsichtige, erstickend heiße Staubwolken gehüllt, und nur die Wipfel der Pyramidenpappeln ragen spitz daraus hervor.
Von allen Seiten tönt vielstimmiges Schreien, Getöse, Hundegebell, Pferdewiehern, Eisenklirren, Kinderweinen, saftiges Fluchen, Weibergeschrei, wüster heiserer Gesang, von den trunkenen Lauten einer Ziehharmonika begleitet. Es ist, als habe ein ungeheurer Bienenschwarm seine Königin verloren und schwirre nun bestürzt, verwirrt, mit aufgeregtem, ärgerlichem Summen durcheinander.
Dieser schrankenlose, glühende Wirbel hat auch die Steppe bis zu den Windmühlen auf dem Hügel erfasst — auch dort ein unaufhörliches tausendstimmiges Branden.
Nur gegen den schäumenden, brausenden, kalten Bergfluss, der hinter dem Dorfe ungestüm dahinströmt, kommen die stickigen Staubwolken nicht auf. Fern hinter dem Fluss versperren blauende Bergmassen den halben Himmel.
Verwundert schweben die rostroten Steppenräuber, die Geier, in der glitzernden heißen Luft; lauschend wenden sie ihre krummen Schnäbel nach allen Seiten und können nicht recht klug werden — so etwas hat es hier noch nie gegeben.
Sollte das gar ein Jahrmarkt sein? Aber warum sieht man dann nirgends Zelte, Händler und aufgetürmte Waren?
Oder ist es etwa ein Lager von Auswanderern? Was sollen dann aber die Geschütze hier, die Munitionswagen, die vielen Karren und Gewehre?
Also eine Armee. Aber warum hört man überall Kinderweinen? Warum hängen Windeln zum Trocknen an den Gewehren, warum baumeln Korbwiegen an den Geschützrohren, woher kommen diese vielen Mütter, die ihre Säuglinge stillen, und die Kühe, die Seite an Seite mit den Artilleriepferden ihr Heu kauen? Und die vielen braungebrannten Weiber und Mädchen, die ihre Kochkessel mit Hirse und Speck über die rauchenden Feuer aus getrocknetem Kuhmist hängen?
Alles ist verworren, staubig, ungeordnet, in Schreien, Lärmen und unglaubliches Durcheinander verstrickt.
Im Dorfe gibt es nur Kosakenfrauen, alte Weiber und Kinder. Die Kosaken sind verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Die Frauen gucken aus den kleinen Fenstern ihrer Hütten auf das Sodom und Gomorra hinaus, das sich über die in Staubwolken gehüllten Straßen und Gassen ergießt:
»Verfluchtes Pack!«

 

II

Aus Kuhgebrüll, durchdringendem Hahnenkrähen und Menschenstimmen tauchen bald verwitterte, heisere, bald kräftig klingende Steppenstimmen auf:
»Genossen, zum Meeting!...«
»Zur Versammlung!...«
»Heda, los, Jungens!...«
»Zur Gemeindeversammlung!«
»Nach den Windmühlen!«
Zugleich mit der langsam sinkenden Sonne fällt auch der heiße Staub nieder, und die Pyramidenpappeln werden in ihrer ganzen riesigen Höhe sichtbar.
So weit das Auge reicht, weiten sich Gärten, blinken
weiße Hütten, und in allen Straßen und Gassen wimmelt es von Wagen, Karren, Pferden, Kühen — in allen Gärten und hinter den Gärten bis zu den Windmühlen auf dem Hügel, die ihre langen Fangarme nach allen Seiten spreizen.
Um sie herum aber, immer weiter und breiter, ergießt sich das Menschenmeer unter stetig wachsendem Tosen, mit den zahllosen Flecken bronzefarbener Gesichter. Graubärtige Greise, Weiber mit abgehärmten Gesichtern, Mädchen mit lustigen Augen; kleine Kinder schießen zwischen den Beinen der Erwachsenen hin und her; hastig atmende Hunde mit lang heraushängenden, zuckenden Zungen — all das verliert sich in der alles überschwemmenden Masse der Soldaten. Zottig kriegerische Fellmützen, abgegriffene Schirmmützen, Gebirgshüte aus Filz mit hängenden Rändern. Zerfetztes Feldgrau, verschossene Kattunhemden, Tscherkessenröcke. Manche sind nackt bis zum Gürtel, und auf ihren muskulösen, bronzenen Oberkörpern schlingen sich kreuzweise die Patronengurte der Maschinengewehre. Ungeordnet, wie es gerade kommt, ragen über den Köpfen die dunkelgestählten Bajonette nach allen Richtungen. Die altersgeschwärzten Windmühlen sehen staunend zu: so etwas haben sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen!
Auf dem Hügel vor den Windmühlen versammelten sich die Regimentsführer, Bataillonskommandeure, Kompanieführer, Stabschefs. Wer sind denn eigentlich diese Regimentsund Kompanieführer, diese Bataillonskommandeure, diese Stabschefs? Es sind Soldaten der alten zaristischen Armee darunter, die sich bis zum Offizier heraufgedient haben, Friseure, Böttcher, Schreiner, Matrosen, Fischer aus Kosakendörfern und -Siedlungen. Jeder ist Befehlshaber einer kleinen roten Abteilung, die er in seiner Straße, in seinem Dorf oder in seiner Siedlung organisiert hat. Aber es gibt auch Offiziere der alten Armee darunter, die sich der Revolution angeschlossen haben.
Der Regimentskommandeur Worobjow, baumlang, mit einem riesigen Schnauzbart, bestieg den unter seiner Last knarrenden Drehbalken der Mühle, und seine Stimme dröhnte in die Menge hinein:
»Genossen!«
Wie ist sie winzig, diese Stimme über diesem Meer von Tausenden und aber Tausenden erzenen Gesichtern, die ihre zahllosen Augenpaare auf ihn richten. Um ihn herum drängt sich der ganze übrige Kommandobestand.
»Genossen!«
»Geh zum Teufel!...«
»Scher dich!...«
»Hol dich der Teufel!...«
»Halt 's Maul!...«
»Hast du etwa keine goldenen Achselstücke getragen?«
»Er hat sie ja längst abgeschnitten...«
»Was kläffst du...«
»Schlagt ihn nieder, in Dreiteufelsnamen!«
Das unübersehbare Menschenmeer brandete mit einem Wald von Armen auf. Wie soll man feststellen, was dieser oder jener geschrieen hat!
Bei der Mühle steht eine Gestalt, untersetzt, klobig, wie aus Blei gegossen, mit verkrampften viereckigen Kinnladen. Unter den niedrigen Brauen funkeln wie zwei stechende Schusterahlen kleine, graue Augen, die nichts unbeachtet lassen. Der Mann wirft einen kurzen Schatten, dessen Kopf von den Umstehenden zertreten wird.
Der Mann auf dem Balken, mit dem großen Schnauzbart, schreit dröhnend und angestrengt:
»So lasst mich doch ausreden!... Genossen, wir müssen uns doch über die Lage klar werden... «
»Geh zum Teufel!«
Lärmen und Schimpfen überfluteten seine einsame Stimme.
Inmitten des Meeres von Armen, aus dem Gewühl der Stimmen erhob sich ein langer, von Sonnenhitze, Arbeit und Kummer verdorrter Weiberarm, und eine gequälte Weiberstimme kreischte in die Luft:
»Wir wollen nichts hören, fang nur gar nicht erst an, du Aaskerl!... Jesus Maria! Eine Kuh hatt' ich und zwei Paar Ochsen, eine Hütte und einen Samowar — wo ist das alles geblieben?«
Und wieder wallte es wie toll über die Menge — jeder schrie, keiner hörte.
»Ich hätt' jetzt Brot genug, wenn ich meine Ernte eingebracht hätte...«
»Sie haben uns eingeredet, wir müssten nach Rostow...«
»Warum sind keine Jacken verteilt worden? Und keine Fußlappen und keine Stiefel?«
Vom Balken schreit die einsame Stimme:
»Warum habt ihr euch denn alle aufgemacht, wenn...«
Da brauste die Menge auf:
»Wegen euch doch! Ihr Schweinehunde habt uns beschwätzt, habt uns das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Wir waren ja alle daheim, hatten unsere Wirtschaft — jetzt treiben wir uns wie verdammte Seelen in der Steppe herum.«
»An der Nase habt ihr uns herumgeführt«, tönte es auch aus vielen Soldatenkehlen, und die dunklen Bajonette wogten.
»Ja, wohin denn nun?«
»Nach Jekaterinodar.«
»Da sind ja die Weißen!«
»Nirgends können wir hin...«
Der mit den harten Kinnladen steht noch immer da und blickt stechend aus seinen grauen, wie Schusterahlen spitzen Äuglein.
Und da geht es rollend und unwiderruflich über die Menge hin.:
»Ver—ra—ten haben sie uns!«
Diese Stimme drang überallhin, und wer sie zwischen all den Wagen und Wiegen, Pferden und Kühen, Wachtfeuern und Munitionskarren nicht gehört hat, der hat die Worte gewiss erraten. Ein Krampf lief über die Menge hin, ihr Atem stockte. Hochauf flatterte eine hysterische Weiberstimme, aber es war kein Weib, das da schrie, sondern ein kleiner Soldat mit einem Vogelgesicht, nackt bis zum Gürtel, in gewaltigen, viel zu großen Stiefeln:
»Man geht mit unsereinem um wie mit krepiertem Vieh!«
Aus der Menschenmenge drängt sich einer, der sie um einen ganzen Kopf überragt, schweigend zu den Windmühlen hin, arbeitet mit aller Gewalt mit den Ellbogen: ein sehr schönes Gesicht, mit kaum sprossendem schwarzem Schnurrbärtchen, mit einem Matrosenmützchen, dessen zwei Bänder über dem gebräunten Nacken flattern, auf dem Kopf. Er drängt sich durch, die Augen unverwandt auf das Häufchen der Befehlshaber geheftet — seine Fäuste umklammern das unheilvoll blinkende Gewehr:
»Na... Schluss jetzt!...«
Der Mann mit den harten Kinnladen presste sie noch mehr zusammen. Sein erbitterter Blick überflog das stürmische Menschenmeer bis an dessen Rand: dunkle, brüllende Mäuler, dunkelrote Gesichter und unter den Brauen funkensprühende, böse, stechende Augen.
Der mit der Matrosenmütze und den flatternden Bändern war nicht mehr weit; er hielt sein Gewehr noch immer umklammert, den Blick unverwandt vorwärtsgerichtet, als fürchte er, sein Ziel aus den Augen zu verlieren; und immer weiter stieß er sich durch die ihn einengende Menge, die lärmend und schreiend auf und ab wogte.
Der Mann mit den ehernen Kinnladen empfindet es besonders bitter: er hat ja Schulter an Schulter mit allen diesen Leuten als Maschinengewehrschütze an der türkischen Front gekämpft. Meere von Blut... Tausendfachen Tod über dem Haupte... Die letzten Monate hatten sie zusammen gegen die Weißen gekämpft, gegen die Kosaken, gegen die Generale — bei Jejsk, Temrjuk, Taman, in den kubanischen Kosakensiedlungen.
Er öffnete die Kinnladen und sagte mit seiner ehernen Stimme, die trotz Lärmen und Schreien in die Menge drang:
»Mich kennt ihr, Genossen, wir haben unser Blut zusammen vergossen. Ihr selbst habt mich zum Kommandeur gewählt. Aber wenn wir jetzt so weitermachen, werden wir alle miteinander umkommen. Diese Kosakenbrut und die Weißen dringen von allen Seiten auf uns ein. Nicht eine einzige Stunde ist da zu verlieren.«
Er sprach in ukrainischer Mundart, und das nahm für ihn ein.
»Und du, hast du nicht auch Achselstücke getragen?!« schrie durchdringend der kleine, bis zum Gürtel nackte Soldat.
»Hab' ich sie drum gebeten, um die Achselstücke? Ihr wißt's ja selber, hab' an der Front gekämpft, da hat die Obrigkeit sie mir angehängt. Bin ich nicht einer wie ihr? Hab' ich nicht ebenso wie ihr Armut und Arbeit auf meinem Buckel geschleppt... hab' ich nicht mit euch gepflügt und gesät?...«
»Alles, was recht ist«, schwirrte es jetzt durch den dichten Lärm, »er ist einer von den Unsrigen!«
Der Schlanke in der Matrosenuniform hat sich endlich aus der Menge gelöst: in zwei Sätzen stand er neben ihm und holte, immer noch schweigend und unverwandten Blickes, aus voller Kraft mit dem Bajonett aus, wobei er einen Hintermann mit dem Kolben stieß. Der Mann mit den harten Kinnladen machte nicht den geringsten Versuch auszuweichen; nur etwas wie ein krampfhaftes Lächeln zuckte über seine pergamentgelb gewordenen Züge.
Von der Seite, den Kopf wie ein junger Stier nach vorne neigend, stieß der kleine, nackte Soldat den Matrosen mit der Achsel an den Ellbogen:
»Was machst du denn?«
Das weit ausholende Bajonett verlor dadurch die Richtung und fuhr, statt den Menschen mit den ehernen Kinnladen zu treffen, einem danebenstehenden jungen Bataillonskommandeur in den Leib. Dieser tat einen lauten Seufzer, als ströme er Dampf aus, und fiel auf den Rücken. Der schlanke Matrose suchte wütend die Spitze des Bajonetts aus der Wirbelsäule herauszuziehen.
Ein Kompanieführer mit bartlosem Mädchengesicht klammerte sich an einen Windmühlenflügel und kletterte hinauf. Der Flügel senkte sich knarrend, und er langte wieder auf der Erde an. Alle übrigen, außer dem mit den eckigen Kinnladen, griffen nach ihren Revolvern — in ihren bleichen, entstellten Gesichtern stand Qual.
Aus der Menschenmenge drängten sich noch ein paar Leute vor — die Augen verstört aufgerissen, Gewehre in den verkrampften Händen.
»Den Hunden einen Hundetod!«
»Haut sie nieder, dass sie keine Kinder mehr zeugen können!« '
Auf einmal verstummte alles. Alle Köpfe wandten sich und sahen in eine Richtung.
Ü ber die Steppe, im gestreckten Galopp, flach über der Erde, stürmte ein Rappe daher; der Reiter im rotgefleckten Hemde lag mit Brust und Kopf auf der Pferdemähne, beide Arme hingen an den Seiten des Pferdes herab. Näher, immer näher kam er... Man sah, dass das Pferd wie von Sinnen heranraste. Dicker Staub wirbelte hinter ihm drein. Die Flanken waren blank vor Schweiß, die Brust mit schneeweißen Schaumflocken bedeckt. Und der Reiter schwankte
im Takt des Galopps — hin und her —, immer in der gleichen Haltung, den Kopf an die Pferdemähne gedrückt.
In diesem Augenblick tauchte ein neuer schwarzer Punkt in der Ferne auf.
Durch die Menge lief es:
»Da kommt noch einer!...«
»Der hat's aber eilig...«
Der Rappe war indessen schnaubend herangestürmt, weiße Schaumflocken flogen zur Erde; unmittelbar vor der Menge blieb das Pferd jäh stehen und knickte in den Vorderbeinen zusammen. Der Reiter im rotgefleckten Hemde rollte wie ein Mehlsack über den Pferdekopf hinweg und klatschte dumpf mit weit ausgebreiteten Armen und unnatürlich verdrehtem Kopfe auf die Erde.
Die einen stürzten zu ihm hin, die anderen zu dem sich aufbäumenden Pferde, dessen schwarze Flanken klebrig-rot schimmerten.
»Das ist ja Ochrim!« riefen die Herbeieilenden und suchten den Erkaltenden behutsam in eine gerade Lage zu bringen. Auf Schulter und Brust klaffte eine Hiebwunde, und auf dem Rücken dunkelte ein schwarzer Fleck geronnenen Blutes.
Und wie ein aufflackerndes Lauffeuer lief es entsetzt durch die Menschenmenge, hinter den Windmühlen und zwischen den Fuhrwerken, die Straßen und Gassen entlang:
»Die Kosaken haben den Ochrim niedergesäbelt!...«
»Unsern Ochrim! Unsern Ochrim!«
»Welchen Ochrim?«
»Na, bist wohl nicht gescheit, kennst den Ochrim nicht mehr! Den von der Pawlowskaja, dessen Haus oben an der Schlucht steht.«
Jetzt kam auch der zweite herangesprengt. Sein Gesicht, das schweißdurchtränkte Hemd, die Hände, die Hosen, die nackten Füße — alles war mit Blut befleckt; war das eigenes oder fremdes Blut? Und die Augen traten ihm rund aus den Höhlen. Er sprang von dem wankenden Pferde und stürzte zu dem Liegenden, dessen Gesicht unaufhaltsam eine durchsichtige, gelbe, wächserne Blässe überzog — Fliegen krochen schon über die Augen.
»Ochrim!«
Dann hockte er schnell nieder und legte das Ohr an die blutüberströmte Brust. Aber schon im nächsten Augenblick erhob er sich wieder und stand mit gesenktem Kopf vor dem Liegenden:
»Mein Junge... mein Sohn!«
»Tot...« hallte gedämpft ein Stimmengewirr ringsum.
Noch eine Weile stand der Alte da, auf einmal schrie er mit seiner heiseren, ewig erkälteten Stimme, dass sie bis zu den entferntesten Hütten und Wagen drang:
»Die Kosakensiedlung Slawjanskaja hat sich erhoben, und Poltawskaja, Petrowskaja und Stiblijewskaja. Jetzt baut man auf jedem Kirchplatz einen Galgen — alle werden der Reihe nach aufgehängt, wer ihnen in die Hände gerät. In Stiblijewskaja sind die Weißen, die säbeln alle nieder, die hängen und erschießen, ihre Reiter jagen die Leute in den Kubanfluss hinein. Sie kennen keine Gnade für die Zugewanderten. Alte Männer, Frauen — keiner wird geschont. Sind alle Bolschewiki — sagen sie. Der alte Opanas, der Feldhüter, der seine Hütte gegenüber der Jawdocha Pereperetschiza hat...«
»Wir wissen!« dröhnte es dumpf aus der Menge.
»... er hat sie auf den Knien um sein Leben gebeten - sie haben ihn doch aufgehängt. Die aufständischen Weißen haben viele Waffen. Weiber und Kinder graben Tag und Nacht in den Gärten und Feldern und holen Gewehre, Maschinengewehre, Munitionskisten mit Geschossen und Patronen — ohne Ende! — alles von der türkischen Front hergeschleppt. Und Geschütze haben sie auch. Es geht wie ein Lauffeuer... das ganze Kubangebiet steht in Flammen. Und unseren Brüdern aus der Armee quälen sie die Seele aus dem Leibe. Sie hängen sie an den Bäumen auf. Einige Trupps schlagen sich einzeln durch, die einen nach Jekaterinodar, die anderen zum Meer, andere wieder nach Rostow, aber alle werden von den Weißen niedergesäbelt.«
Wieder stand er eine Weile über den Toten gebeugt mit
hängendem Kopf da.
Und in regungsloser Stille schauten aller Augen auf ihn.
Er schwankte plötzlich, griff mit den Händen ins Leere, tastete sich zum Pferde und stieg in den Sattel - das Pferd stand noch immer mit schweißbedeckten Flanken da, bei jedem Atemzug krampften sich die blutigen Nüstern zusammen.
»Wohin?... Bist du ganz von Sinnen?!... Pawlo!«
»Halt!... Wohin?! Zurück!...«
»Haltet ihn zurück!...«
Aber schon entfernte sich das Aufschlagen der Hufe in der Steppe. Er holte weit aus, gab dem Pferde einen Schlag, und das Tier streckte gehorsam den nassen Hals vor, legte die Ohren zurück und stob in Karriere davon. Die Schatten der Windmühlen jagten schräg und lang hinter ihnen drein.
»Der geht zugrunde — für nichts und wieder nichts.«
»Ja, aber er hat doch seine Familie dort! Und hier liegt nun sein Sohn tot da.«
Der mit den ehernen Kinnladen stieß langsam, schwerfällig heraus:
»Habt ihr's gesehen?«
Die Menge gab düster zur Antwort:
»Sind ja nicht blind.«
»Habt ihr's gehört?«
Finster kam es zurück:
»Wir haben's gehört.«
Aber der Mann mit den harten Kinnladen fuhr unerbittlich fort:
»Genossen, wir können jetzt nirgends mehr hin; vorn und hinten — überall ist der Tod. Die dort«, er wies mit dem Kopf nach den rötlichschimmernden Hütten der Siedlung und den riesigen Pappeln, die lange, schräge Schatten warfen, »die werden uns vielleicht noch heute niedermachen. Wir haben keinen einzigen Wachtposten aufgestellt, keine einzige Patrouille ausgeschickt, niemand ist da, der es anordnet. Wir müssen zurück. Aber wohin? Zuerst muss die Armee umgruppiert werden. Wählt euch selbst Befehlshaber aus, aber ein für allemal — dann sollen sie Macht haben über Tod und Leben. Eiserne Disziplin muss sein, dann sind wir gerettet. Dann schlagen wir uns zu den Hauptkräften durch, und dann kommt auch aus Russland Hilfe. Seid ihr einverstanden?«
»Einverstanden!« dröhnte die Steppe in einem Aufschrei; von allen Seiten kam die Antwort — aus dem Gedränge der Fuhrwerke, aus den Straßen und Gassen und Gärten bis zum Flusse hinab.
»So ist's recht. Wir wollen uns gleich an die Wahlen machen und dann sofort die Truppenteile neu formieren. Den Wagenzug der Flüchtlinge müssen wir von den Kampftruppen absondern. Die Kommandeure müssen auf die Abteilungen verteilt werden.«
»Einverstanden!« klang es wieder einmütig über die grenzenlose gelbe Steppe.
In den ersten Reihen stand ein Mann mit einem würdevollen Bart. Ohne sonderliche Anstrengungen übertönte seine tiefe, etwas heisere Stimme alle anderen:
»Wo sollen wir denn hin? Wo haben wir was zu suchen? Das ist ja der reine Verderb: alles haben wir im Stich gelassen, unser Vieh, unsere Wirtschaft!«
Es war, als wenn jemand einen Stein hineingeworfen hätte — die Menge begann zu schwanken, zu lärmen, man schrie ihm zu:
»Und wohin willst denn du? Zurück? Dass man uns alle niedermacht?...«
Der Bärtige antwortete:
»Warum denn uns niedermachen, wir kommen doch freiwillig und liefern unsere Waffen ab - es sind ja Menschen und keine wilden Tiere. Die aus Morkuschinskoje haben sich ergeben - 50 Mann waren es. Und als sie ihre Waffen und Patronen abgeliefert hatten, da haben ihnen die Kosaken kein Haar gekrümmt — und jetzt arbeiten sie ungestört.«
»Da hast du's! Das waren ja lauter Kulaken, die sich ergeben hatten.«
Ü ber die Köpfe flog es tosend und aufgeregt:
»Der riecht auch einem schwarzen Köter unter den Schwanz!«
»Uns wird man ohne viel Gerede hängen!...«
»Für wen sollen wir denn pflügen gehen?!« schreien die Weiber mit dünner Stimme. »Wieder für die Kosaken und die Offiziere?«
»Wieder ins Joch hinein?«
»Unter die Kosakenknute? Unter die Offiziere und Generale?!«
»Scher dich fort, du Hundeseele, solange deine Haut noch heil ist.«
»Schlagt ihn nieder! Von seinen eigenen Leuten wird man verraten und verkauft...«
Der Bärtige schrie hinein:
»Aber so hört doch, was kläfft ihr denn wie die Kettenhunde?«
»Da gibt's gar nichts zu hören. Bist ein sauberer Patron!«
Die erregten roten Gesichter wenden sich einander zu, die Augen funkeln wütend, Fäuste fuchteln über den Köpfen. Jemand wird geschlagen, einer wird mit Nackenstößen in die Siedlung davongejagt.
»Schweigt, Bürger!«
»Haltet doch ein! Bin ich ein Strohsack oder was?«
Der mit den ehernen Kinnladen rief in die Menge hinein:
»Genossen, lasst das jetzt, wir haben Wichtigeres zu tun. Wir wollen jetzt den Kommandierenden wählen, die anderen Befehlshaber wird dann der Kommandierende selbst ernennen. Wen wollt ihr wählen?«
Eine Sekunde herrschte regungslose Stille: Steppe, Siedlung und die zahllose Menge — alles erstarrte. Dann erhob sich ein Wald von schwieligen, knorrigen Armen und Händen, und über die ganze Steppe bis zum Horizont, und in der Siedlung, in den zahllosen Gärten, bis zum Fluss hinab klang der eine Name:
»Koshu—u—u—ch!«
Und lange noch rollte der Ton unter den blauenden Bergen:
»... u—u—u—uch!«
Koshuch presste die ehernen Kinnladen zusammen, salutierte, und man sah, wie seine Gesichtsmuskeln zuckten. Er trat zu den Toten, zog den schmutzigen Strohhut vom Kopf. Und wie unter einem Windstoß hoben sich alle Mützen, entblößten sich alle Köpfe, soviel es ihrer gab, und die Weiber schluchzten auf. Koshuch stand eine Weile mit gesenktem Kopf vor den Toten:
»Wir wollen unsere Genossen mit allen Ehrenbezeigungen beerdigen. Hebt sie auf.«
Man breitete zwei Militärmäntel aus. Zu dem toten Bataillonschef, auf dessen Brust sich ein breiter erstarrter Fleck rötete, trat der schlanke Matrose — die Bänder flatterten ihm über den gebräunten Nacken —, er neigte sich still und behutsam, als fürchte er, ihm weh zu tun, und hob ihn auf. Auch Ochrim legte man auf einen Mantel.
Die Menge machte Platz, dann schloss sie sich und floss, einem endlosen Strome gleich, mit entblößten Köpfen dahin. Und jeder Gestalt folgte ein langer schräger Schatten, der von den Nachfolgenden zertreten wurde.
Eine junge Stimme ertönte weich und gramvoll:
»Als O-opfer seid ihr gefa-allen im Kampf.« Andere Stimmen fielen ein, grob und ungeschlacht, nicht wie es Melodie und Lied verlangten - aber immer lauter und vielstimmiger floss der Rhythmus:
»In heiliger Li-iebe zum Vo-olke...«
Ungeschickt, schwerfällig klingt das Lied - aber woher taucht die zarte Trauer auf, die so seltsam harmoniert mit der weiten, öden, versonnenen Steppe, mit den altersgeschwärzten Windmühlen, mit den hohen, an den Wipfeln leicht vergoldeten Pappeln und mit den weißen Hütten, an denen die Prozession vorüberzieht, und mit den endlosen Gärten, an denen die Toten vorbeigetragen werden, als wenn hier die Heimat wäre, in der man geboren ist, in der man auch zu sterben hat.
Und dichte, blaue Abendschatten überzogen die Berge.
Die alte Gorpina, dieselbe, deren dürrer Arm sich drohend aus dem Wald von Händen emporgereckt hatte, wischt sich jetzt mit ihrem staubigen Rocksaum die roten, nassen Augen, die staubigen Runzeln und flüstert schluchzend und sich zahllose Male bekreuzigend:
»Heiliger Gott, heiliger großer Gott, Heiliger, Unsterblicher — erlöse uns... heiliger Gott, heiliger großer Gott...« und schnäuzt sich tiefbekümmert in denselben Rocksaum.
In geschlossenen Reihen marschieren die Soldaten mit festem Schritt, ernsten Gesichtern und finster zusammengezogenen Brauen, und rhythmisch wogen die Reihen ihrer dunklen Bajonette.
»... Ihr kämpftet und starbet um kommendes Recht...«
Der gegen Abend sich legende Staub hebt wieder seine trägen Knäuel, umwölkt wieder alles.
Und alles verschwindet in seinen Schleiern, man hört nur den dumpfen Takt der Schritte und das:
»Gelitten habt ihr im Kerkerverlies...«
Das gewaltige Getürm des Gebirges ragt dunkel in der nächtlichen Ruhe und verdeckt die ersten schüchternen Sterne.
Da sind schon die Grabkreuze. Die einen sind umgesunken, die anderen stehen schief. An verödetem Land, mit Gestrüpp überwuchert, vorbei. Eine Eule huscht leicht vorüber. Fledermäuse flattern lautlos dahin. Zuweilen blinkt Marmor auf, das Gold der Aufschriften sickert durch die Abenddämmerung — es sind Grabdenkmäler reicher Kosaken und Händler, Denkmäler eines fest gefügten Lebens, einer unerschütterlichen Ordnung —, Denkmäler, über denen jetzt das Lied erklingt:
»... doch kommt einst der Tag, und das Volk erwacht.«
Man grub zwei Gräber. Die Särge aus frischen, harzigen, duftenden Brettern wurden in aller Eile zusammengeschlagen. Man legte die Leichen hinein.
Koshuch stand mit bloßem Kopf auf der eben ausgehobenen frischen Erde:
»Genossen! Ich will sagen... umgekommen, zugrunde gegangen, sind unsere Kameraden. Ja... wir müssen sie in allen Ehren zu Grabe tragen... sie haben ihr Leben für uns gelassen... Ja, ich will sagen... Warum sind sie gefallen?... Genossen! Ich will sagen, Sowjetrussland ist nicht zugrunde gegangen, und es wird bis ans Ende dieser Welt weiterleben. Genossen, wir sind hier, ich meine... im Druck, aber dort ist — Russland, Moskau. Russland wird siegen. Genossen, ich will sagen... in Russland herrscht die Arbeiter- und Bauernmacht... und das wird unser aller Rettung sein. Gegen uns sind die Kadetten, das heißt, ich will sagen, die Generale, Gutsbesitzer und alle möglichen Kapitalisten, mit einem Wort, ich will sagen... Schinder, Gesindel! Aber sie werden uns nicht kriegen, Gott verdamm mich, ja! Wir werden's ihnen zeigen! Genossen, nun ja, hm... ich will sagen, wir wollen unsere Kameraden beerdigen und an ihren Gräbern schwören, dass wir bis zum letzten Blutstropfen für die Sowjetmacht kämpfen werden...«
Man begann die Särge hinabzulassen. Die alte Gorpina hielt sich schluchzend den Mund zu — anfangs winselte sie leise wie ein junger Hund, dann heulte sie plötzlich laut auf; ihrem Beispiel folgte eine zweite, eine dritte. Der ganze Friedhof war von Weiberstimmen überflutet. Und jede bemühte sich, bis zum Grabe vorzudringen und eine Handvoll Erde hineinzuwerfen. Die Erde schlug dumpf auf.
Jemand flüsterte Koshuch ins Ohr:
»Wie viel Patronen soll man austeilen?«
»Stücker zwölf.«
»Ein bisschen dünn.«
»Na, du weißt ja, wir haben wenig Munition. Wir müssen jeden Schuss sparen.«
Eine dünne Salve rollte, eine zweite, eine dritte. Sekundenlang sprangen Gesichter, Kreuze und die schnell arbeitenden Schaufeln aus der Dunkelheit hervor.
Als es wieder still wurde, fühlten auf einmal alle: es ist Nacht, ringsum Ruhe, es riecht nach warmem Staub, das unaufhörliche Rauschen des Wassers wirkt einschläfernd oder ruft verschwommene Erinnerungen hervor — man weiß nicht recht, welche; und hinterm Fluss, am Rande der Welt, in lang sich hinziehenden, schweren, zackigen Massen — die dunklen Berge.

 

III

Die Fenster blicken dunkel in die Nacht, und in ihrer Regungslosigkeit ist etwas Unheilverkündendes.
Von dem Blechlämpchen ohne Zylinder, das auf einem Hocker steht, schwebt hastig und zitternd ein schwarzer Schleier zur Decke hinauf. Dicker Tabaksqualm. Auf dem Boden, gleich einem phantastischen Teppich mit zahllosen Zeichen, Linien, grünen und blauen Flecken und schwarzen Windungen, liegt eine ungeheure Karte vom Kaukasus ausgebreitet.
Barfuss, in Hemden ohne Gürtel kriechen die Befehlshaber behutsam auf allen vieren über die Karte. Die einen rauchen, bemüht, die Asche nicht auf die Karte fallen zu lassen; andere klettern unentwegt weiter auf ihr herum. Koshuch, mit zusammengepressten Kiefern, kauert daneben; unter dem vordringenden Schädel blickt er mit winzigen, hellen, stechenden Augen ins Leere, im Gesicht etwas Eigenes. Alles versinkt im blauen Tabakrauch.
Durch die Schwärze der Fenster dröhnt, keine Sekunde verstummend, das drohende Brausen des Flusses, das man am Tage überhört.
Vorsichtig, im Flüsterton sprechen sie miteinander, obwohl die Bauern aus diesem Hof und allen benachbarten ausquartiert sind.
»Wir werden hier alle zugrunde gehen; kein Befehl wird durchgeführt. Seht ihr denn nicht selbst?«
»Man kann mit den Soldaten nichts anfangen.«
»Dann werden sie eben elend draufgehen — die Kosaken werden alle kurz und klein hauen.«
»Wenn der Bauer nicht muss, rührt er weder Hand noch Fuß.«
»Was heißt — nicht muss, seht ihr denn nicht, dass ringsum alles in Flammen steht?«
»Dann geh nur hin und sag's ihnen!«
»Und ich sage, wir müssen Noworossijsk besetzen und dort warten.«
»Davon kann keine Rede sein«, sagte der Stabschef im reingewaschenen, gegürteten Hemd, mit einem glattrasierten Gesicht. »Ich habe eine Meldung vom Genossen Skornjak. In der Stadt geht alles drunter und drüber: dort sind die Deutschen, die Türken, die Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Kadetten und unser Revolutionskomitee. Da finden fortwährend Meetings statt, es wird ohne Ende geredet, man geht von einer Versammlung in die andere, tausend Rettungspläne werden ausgearbeitet - lauter leeres Stroh gedroschen. Die Armee in die Stadt führen heißt, sie ganz und gar zersetzen.«
Durch das immerwährende Brausen des Flusses klang deutlich ein vereinzelter Schuss. Er kam aus der Ferne, aber die kleinen, nachtschwarzen Fenster sagten sofort mit ihrer regungslosen Schwärze: »Jetzt... fängt es an...«
Innerlich gespannt, horchten alle auf die Geräusche, äußerlich aber fuhren sie, ohne die Zigaretten wegzulegen und hastig rauchend, mit den Fingern weiter über die schon ohnehin bis zum letzten Strich auswendig gelernte Karte.
Aber es half nichts, es blieb immer das gleiche: links versperrt die blaue Farbe des Meeres den Abzug; rechts und oben ist es ganz bunt von feindlichen Dörfern und Höfen; unten, im Süden, verlegt die braune Farbe der undurchdringlichen Gebirgszüge den Weg. Eine richtige Mausefalle...
Einem riesigen Zigeunerlager gleich stehen sie an diesem schwarzen, sich über die Karte schlängelnden Fluss, dessen Rauschen unausgesetzt durch die schwarzen kleinen Fenster dringt. Und in den überall auf der Karte vermerkten Schluchten, im Schilf, in den Wäldern, Steppen, Siedlungen und Höfen sammeln sich die Kosaken. Bis jetzt hat man die aufständischen Siedlungen und Höfe einzeln irgendwie zur Ruhe zwingen können, aber jetzt flammt das ganze ungeheure Kubangebiet im Aufstand. Die Sowjetmacht ist überall niedergeschlagen; ihre Vertreter in den einzelnen Siedlungen sind ermordet, wie Kreuze auf dem Friedhof stehen dicht die Galgen im ganzen Lande: überall hängt man die Bolschewiki, und diese gibt's vorwiegend unter den auswärtigen Siedlern, obwohl es auch Kosaken gibt, die Bolschewiki sind; die einen wie die andern baumeln jetzt an den Galgen. Wohin zurückgehen? Wo ist die Rettung?
»Es ist klar, wir müssen uns nach Tichorezkaja durchschlagen, von dort nach Swjatoi Krest, und von da durch die Frontlinie nach Sowjetrussland.«
»Bist aber klug! — Swjatoi Krest! Wie willst du denn durch das ganze aufständische Kubangebiet ohne Patronen und Geschosse hinkommen?«
»Und ich sage, wir müssen uns zur Hauptarmee durchschlagen...«
»Ja, wo ist sie denn, diese Hauptarmee? Hast du eine Extrapost von dort bekommen? Dann sag uns doch!«
»Und ich sage — wir müssen Noworossijsk besetzen und dort abwarten, bis aus Russland Hilfe kommt.« Jeder spricht, und jeder denkt sich dabei: ,Wenn man mir die Sache übertrüge, ich würde einen ausgezeichneten Plan ausarbeiten und alle retten.'
Wieder ertönt Unheil verkündend ein ferner Schuss durch den nächtlichen Lärm des Flusses. Nach einer Weile ein zweiter, dann noch einmal. Plötzlich hagelt es von Schüssen — dann verstummt wieder alles.
Alle wenden die Köpfe zu den regungslos schwarzen Fenstern.
Hinter der Wand, irgendwo ganz in der Nähe, vielleicht auf dem Dachboden, krähte ein Hahn.
»Genosse Prichodko«, sagte Koshuch, »gehen Sie hin, sehen Sie nach, was da los ist.«
Ein junger, untersetzter Kubankosak mit einem schönen, etwas pockennarbigen Gesicht, in einem enggegürteten Halbrock, ging hinaus, die nackten Füße vorsichtig setzend. »Und ich sage...«
»Entschuldigen Sie, Genosse, es ist vollkommen unmöglich«, unterbricht der Glattrasierte, aufgerichtet und in aller Ruhe auf die anderen herabblickend; er ist im Gegensatz zu den anderen, die lauter Soldaten, Böttcher, Tischler, Friseure sind und sich erst im Kriege hinaufgedient haben, ein alter Revolutionär mit militärischer Ausbildung. »Es ist ganz unmöglich, die Armee in diesem Zustande weiterzuführen, das hieße — sie einfach vernichten. Das ist keine Armee, das ist ein Haufe von Menschen, der andauernd Meetings veranstaltet. Man muss neu organisieren. Außerdem binden uns die Zehntausende von Flüchtlingswagen an Händen und Füßen. Man muss sie von der Truppe trennen — mögen sie ziehen, wohin sie wollen, oder nach Hause zurückkehren; die Armee muss vollständig frei und ungebunden sein. Schreiben Sie einen Befehl: ,Wir bleiben in der Siedlung zwei Tage zum Zweck der Reorganisation'...«
Er sprach, und die Worte verhüllten den eigentlichen Gang seiner Gedanken.
»Ich habe große Kenntnisse, theoretische und praktische, ich habe das Kriegswesen eingehend studiert — warum also er und nicht ich? Die Menge ist blind, sie bleibt immer nur eine Menge...«
»Was fällt Ihnen ein?« begann Koshuch mit einer Stimme wie rostiges Eisen. »Jeder Soldat hat Mutter, Vater, Braut, Familie da — er wird sie doch nicht verlassen! Wenn wir hier sitzen werden, wird man uns bis auf den letzten Mann abschlachten. Marschieren müssen wir, marschieren, marschieren! Die Armee kann unterwegs umformiert werden. Wir müssen so schnell wie möglich an der Stadt vorbei, ohne anzuhalten — längs der Meeresküste bis Tuapse, dort passieren wir auf der Chaussee den Bergrücken und vereinigen uns mit den Hauptkräften. Sie können noch nicht weit sein. Und hier umzingelt uns jeden Tag der Tod.«
Da begannen alle durcheinanderzureden, jeder hatte sein eigenes Projekt, das ihm selbst vorzüglich, den anderen aber nichts wert schien.
Koshuch erhob sich, seine harten Gesichtsmuskeln zuckten, die winzigen, stahlgrauen Augen stachen um sich. Er sagte:
»Morgen früh... bei Sonnenaufgang brechen wir auf!«
Und dachte: ,Die Schufte, sie werden den Befehl nicht ausführen!'
Alle schwiegen unzufrieden, und hinter diesem Schweiger stand:
»Für den Narren gilt kein Gesetz.«

 

IV

Als Prichodko hinaustrat, schwoll das Rauschen des Wassers plötzlich an und füllte die ganze Finsternis. Vor der Tür auf der dunklen Erde, stand schwarz und geduckt ein Maschinengewehr. Daneben zwei dunkle Gestalten mit dunklen Bajonetten.
Prichodko geht, aufmerksam in die Dunkelheit spähend. Der Himmel ist mit wannen Wolken bedeckt. An allen Ecken und Enden, nah und fern, bellen hartnäckig, unermüdlich und vielstimmig die Hunde. Zuweilen verstummen sie, horchen: der Fluss rauscht, und wieder geht's los — unentwegt, unerträglich.
Die weißgetünchten Kosakenhäuser schimmern kaum sichtbar durch das Dunkel. Auf der Straße türmen sich schwere« Haufen; wenn man näher hinsieht, sind es Fuhren; Schnarchlaute und pfeifender Atem dringt unter den Wagen hervor und von den Wagen — überall liegen Menschen. Mitten auf der Straße erhebt sich schwarz etwas Langes — es ist weder eine Pappel noch ein Glockenturm, schaust du näher hin, siehst du eine hochgestellte Deichsel. Monoton und geräuschvoll kauen die Pferde; die Kühe schnaufen.
Alexej schreitet behutsam über die Menschenleiber, die aufglimmende Zigarette leuchtet ihm für Sekunden. Friedlich und still ist es, aber man wartet, man weiß nicht worauf — auf einen fernen Schuss?...
»Wer da?«
»Gut Freund.«
»Wer da... wohin?«
Kaum fühlbar legten sich zwei Bajonette auf seinen Arm.
»Der Kompanieführer«, und fügt mit leisem Flüsterton hinzu: »Lafette.«
»Stimmt.«
»Die Losung?«
Der stachlige Schnurrbart kitzelt ihm das Ohr, er hört heiseres Flüstern:
»Koppel«, und schwerer Schnapsgeruch schlägt unter dem Schnurrbart hervor.
Er geht weiter, und wieder, kaum erkennbar, Fuhren, geräuschvoll kauende Pferde, schläfrige Atemzüge, das keine Sekunde lang aussetzende Lärmen des Wassers, hartnäckiges, unerträgliches Hundegebell. Er schreitet vorsichtig über Arme und Beine. Hier und da unter den Wagen leises Geflüster: Soldaten mit ihren Frauen; unter den Flechtzäunen verhaltenes Lachen, unterdrückte Aufschreie — Verliebte.
,Worauf die jetzt kommen, betrunken sind sie, die Canaillen. Haben gewiss den ganzen Schnaps der Kosaken ausgesoffen. Meinetwegen: trinkt soviel ihr wollt, aber vertrinkt nicht euren Verstand... Merkwürdig, dass die Kosaken uns bis jetzt in Ruhe gelassen haben?! Die dummen Kerle!'
Etwas schimmert weiß... ist's eine Lehmmauer oder ein weißes Gewand?
,Auch jetzt wäre es noch nicht zu spät; jeder von uns hat etwa ein Dutzend Patronen, auf ein Geschütz kommen vielleicht anderthalb Dutzend Granaten! Sie aber haben alles in Hülle und Fülle... '
Das Weiße bewegt sich.
»Bist du's, Anka?«
»Und du, was schleichst du da in der Nacht herum?«
Ein dunkles Pferd, wahrscheinlich ein Rappe, kaut das zwischen den Deichseln aufgehäufte Heu... Alexej begann sich eine Zigarette zu drehen. Auf den Wagen gestützt, rieb sich das Mädchen das Bein mit dem nackten Fuß. Unter dem Wagen schläft auf der ausgebreiteten Decke der Vater; lautes Schnarchen dringt herauf.
»Werden wir noch lange hier sitzen?«
»Bald geht's los«, seine Zigarette glimmte auf.
Von ihrem Schimmer beleuchtet, traten ein Stück seiner Nase, seine tabakbraunen Fingerspitzen, die Funken in den Augen des Mädchens, ihr kräftiger, aus dem weißen Hemd sich aufschwingender Hals mit der Münzenkette für einen Augenblick aus der Dunkelheit, um sofort wieder zu verschwinden. Man sieht wieder nur die dunklen Umrisse der Fuhren; Kühe schnaufen, Pferde kauen, der Fluss lärmt. Warum hört man keine Schüsse mehr?
,Man müsste sie einfach heiraten
Und wie es ihm immer in solchen Fällen war, glaubte er den wie ein Grashalm schlanken Hals eines nie gekannten Mädchens vor sich zu sehen... mit blauen Augen, durchsichtig zartem Kleid... Hat das Gymnasium beendet... Sogar nicht einmal eine Frau, eine Braut ist sie... ein Mädchen, das er nie gesehen, aber das irgendwo lebt.
»Wenn die Kosaken kommen, ersteche ich mich.«
Sie greift in den Busen und holt etwas schwach Blinkendes hervor.
»Scharf ist es... versuch mal.«
Huwitt, huwitt...
Eine seltsame, sich entfernende nächtliche Stimme, die zart ans Herz greift — aber es ist nicht die Stimme eines weinenden Kindes; wohl ein Uhu.
,Was steh' ich denn da herum, ich muss doch gehen... '
Die Beine sind wie angewachsen.
Er steht immer noch da, zieht tief den Rauch ein — und wieder treten aus der Dunkelheit ein Stückchen Nase, seine Finger, ein fester Mädchenhals mit einem Grübchen, die blitzende Kette, die junge, vom gestickten Hemd eingefasste Brust... Und wieder Finsternis, Brausen vom Fluss her, menschliche Atemzüge.
Sein Gesicht ist dicht neben ihren Augen. Ein Gefühl, wie Stiche unsichtbarer Nadeln, überläuft ihn. Er nimmt das Mädchen beim Arm.
»Anka...«
Er riecht nach Tabak, nach jungem, gesundem Körper.
»Anka, komm, gehen wir zu den Gärten, sitzen wir dort eine Weile...«
Sie stemmte sich mit beiden Händen gegen seine Brust und riss sich los, dass er wankend hinter sich jemand auf die Füße oder gar auf die Hände trat. Das Weiße huschte hastig in den aufknarrenden Wagen, ein neckisches Lachen perlte leise verklingend dahin, und die Großmutter Gorpina hob ihren Kopf vom Kissen, setzte sich aufrecht im Wagen und kratzte sich verzweifelt den Rücken.
»U—u, Nachtfalter... hat man denn gar keine Ruhe vor denen? Und wer steht denn da?«
»Ich, Großmutter.«
»Aha, Aljoscha. Du bist's? Hab' dich nicht erkannt. Was soll das werden, mein Junge? Ach, Unglück gibt es, mein Herz ahnt es, ein bitteres Unglück! Als wir aus dem Dorf fuhren, lief uns eine Katze über den Weg, dick war sie, trächtig, und nachher flitzte ein Hase ins Feld — Gott, du mein Gnädiger! Wie soll es denn werden? Was denken sich denn die Bolschewiki? Haus und Hof haben wir verlassen. Als ich mit dem Alten verheiratet wurde, sagte mir die Mutter: Da hast du den Samowar, hüte ihn wie deinen Augapfel, wenn du sterben wirst, werden ihn deine Kinder und Enkel bekommen. Wenn Anka heiratet, muss sie den Samowar haben. Und jetzt haben wir das ganze Hab und Gut verlassen. Was denken sich die Bolschewiki? Was wird die Sowjetmacht nun machen? Mag die Regierung kaputt gehen, wie mein Samowar kaputt gegangen ist! Nur auf drei Tage sollten wir das Dorf verlassen, und jetzt treiben wir uns schon eine ganze Woche umher... Was ist das schon für eine Sowjetmacht, die nichts für uns tun kann. Die Kosaken haben sich erhoben und streifen wie besessen durch die Steppen... Schad' ist's um, die Unsrigen... Den Ochrim und den anderen, so jung war der! O Jesus, Jesus!«
Großmutter Gorpina kratzte sich noch immer, und als sie verstummte, brachte der Fluss sich wieder in Erinnerung: erfüllte die ganze weite Nacht mit seinem Rauschen.
»Ach, Großmutter, jammere nicht, das hilft ja doch nichts.«
Und wieder glomm die Zigarette auf. Er dachte: sollte er bei der Kompanie bleiben oder beim Stab? Wo und wann wird er endlich die blauen Augen und den feinen Hals finden?
Aber Großmutter ist endgültig aufgewacht. Es ist auch schwer: ein langes Leben liegt wie ein Schatten hinter ihr. Zwei Söhne fielen an der türkischen Front; zwei stehen hier unter Gewehr. Der Alte schnarcht unterm Wagen, und diese Elster da liegt still zusammengekauert — schläft sie oder nicht —, bei ihr kann man's ja nie wissen. Ach, schwer ist es! Die Knochen spüren das lange Leben — das sechste Jahrzehnt ist bald zu Ende. Das Kreuz ist lahm von der Arbeit. Und für wen hat man gearbeitet? Für die Kosaken und für die Generale und Offiziere. Ihnen gehört das ganze Land, und die Zugewanderten leben wie Hunde... O weh! Man schuftete sich ab, tagaus, tagein, zur Erde starrend, wie ein Zugochs. Betete jeden Tag morgens und abends — zuerst für die Eltern, dann für den Zaren, dann für die Kinder und schließlich für alle rechtgläubigen Christen. Und der Zar? Der ist ja gar kein Zar, ein räudiger Hund ist er, haben ihn davongejagt. War das aber schrecklich, als sie erfuhr, dass man den Zaren abgesetzt hatte — die Knie zitterten ihr damals. Aber dann: na, so gehört sich's auch - dem Hund einen Hundetod. »Ein Kreuzunglück mit diesen Flöhen.«
Und die Alte kratzte sich erbost. Dann sah sie in die Dunkelheit hinaus - der Fluss rauschte - und sie bekreuzigte sich:
»Der Morgen ist bald da.«
Sie legte sich wieder, konnte aber nicht einschlafen. Wie ein Schatten steht das Leben neben dem Menschen, man wird ihn nie los: er steht da und schweigt, als sei er überhaupt nicht vorhanden, und ist doch da — man spürt seine schwere Last.
,Die Bolschewiki glauben nicht an Gott. Na, scheinen ihre Sache zu verstehen, tun das ihrige. Wie sie kamen, stürzten sie alles auf einmal um. Die Offiziere, die Gutsbesitzer, die rissen schnell aus. Nun, und die Kosaken, die sind natürlich wie die wilden Tiere geworden... Gebe Gott ihnen Gesundheit, den Bolschewiki, auch wenn sie an keinen Gott glauben. Sind ja doch Christenmenschen, keine Heiden... Wären sie früher dagewesen, so wäre es zum verfluchten Krieg nicht gekommen, dann wären meine beiden Söhne am Leben... Jetzt liegen sie nun in der Türkei... Wo sind diese Bolschewiki bloß hergekommen? Die Leute sagen, aus Moskau, andere meinen aus Deutschland — der deutsche Zar soll sie gemacht und nach Russland geschickt haben. Und kaum waren sie da, schrieen sie schon: Das Land, den ganzen Boden den Bauern, dass sie ihn für sich bebauen und nicht für die Kosaken. Gute Menschen sind es... aber warum haben sie meinen Samowar... schl... schlafen... Söhne... gute... Katze... '
Die Alte schlummert ein, lässt den Kopf sinken — der Morgen muss nahe sein.
Jeder hat sein eigenes Leben. Unter einem dicht an den Zaun herangeschobenen Wagen girrt es, als seien dort Turteltauben. Was hat eine Turteltaube nachts unter dem Wagen zu gurren? Aus einem Münddien tönt es u-aa u-aa. Und es ist jemand dabei, der es gern hört, eine liebevolle, junge Mutterstimme gurrt mit.
»Was hast du denn, mein Blümchen? Trink doch noch, mein Engelchen! Da, da, nimm! Willst wohl nicht mehr? Schau, wie er's versteht: einen Ruck mit dem Kopf und die Mutterbrust weggestoßen!«
Und sie lacht ein solch ansteckendes, glückliches Lachen, dass es ringsherum hell wird. Man sieht es nicht, aber sie hat gewiss schwarze Brauen und matte silberne Ringe in den kleinen Ohren.
»Ist mein Herzchen jetzt satt? Sieh einer an, wie böse er ist! Wie er Mamas Brust mit seinen Händchen drückt, und die Nägelchen fein wie Zigarettenpapier... Gib sie her, deine Händchen, jedes Fingerchen kriegt ein Küsschen: eins, zwei, drei. Oh, was er für Blasen macht! Ein großer Mann wird er werden. Und die alte Mutter wird keine Zähne mehr haben — da wird der Sohn zu ihr kommen und sagen: ,Na, Alte, setz dich, wir wollen Grütze essen...' Stepan, Stepan, schläfst noch immer? So wach doch endlich auf, unser Sohn bummelt...«
»Na — was... so lass doch!... stör nicht!... will schlafen!... «
»So wach doch auf, Stepan... der Sohn hat Lust zu bummeln... bist du aber schwerfällig! Da lege ich unsern Sohn zu dir... So ist's recht, so ist's recht, Söhnchen, pack ihn nur bei der Nase... dein Vater hat sich noch keinen Bart, auch keinen Schnurrbart angeschafft, so zieh du an seinen Lippen, zieh nur!...«
Und aus der Dunkelheit dringt anfangs eine schläfrige, dann aber ebenso fröhliche, lachende Stimme:
»Na, komm her, Söhnchen — es ist gut so, gib dich nicht mit Weibern ab... bald geht's in den Krieg, und nachher gehen wir zusammen aufs Feld... Ja, was ist denn das — du machst ja ein ganzes" Meer hierher...«
Und die Mutter lacht ein unfassbar glückliches, klingendes
Lachen.
Alexej Prichodko geht weiter, schreitet vorsichtig über Beine, Deichseln, Kummete, Säcke hinweg, ab und zu mit der glimmenden Zigarette den Weg erhellend.
Schon ist alles verstummt. Überall ist es finster. Und sogar unter dem Wagen am Zaun ist es jetzt still geworden. Die Hunde schweigen. Nur der Fluss braust, aber auch dieses Brausen ist gleichsam zahmer geworden, es scheint jetzt weit in die Ferne gerückt, und ein ungeheurer Schlaf deckt mit seinem gleichmäßigen Atem Zehntausende von Menschen.
Alexej geht und wartet nicht mehr auf die Schüsse; die Augen fallen ihm zu; kaum merklich beginnen die gezackten Bergkämme auf dem hell werdenden Himmelsgrunde sich abzuzeichnen.
,Sie greifen ja gerade im Morgendämmern an... '
Er ging zum Stab zurück, überbrachte seine Meldung, suchte dann in der Dunkelheit einen Wagen, stieg ein: der Wagen knarrte und wankte. Er wollte an etwas denken... was war es doch gleich?! — Die schweren Augenlider fielen zu, er sank in einen tiefen, süßen Schlaf.

 

V

Eisenklirren, Knarren, Rasseln, Schreien: Ta-ta-ta-ta...
»Wohin! Wohin! Halt!...«
Warum flammt der ganze Himmel: ist es Feuer oder die Morgenröte?
»Erste Kompanie — marsch, marsch!«
Schwarze Schwärme von Saatkrähen ziehen endlos, unter betäubendem Schreien, über den roten Himmel.
Im morgendlichen Grau werden Kummete umgeworfen, Krummholze geschwungen. Flüchtlinge, Trainsoldaten lassen Deichseln fallen, stoßen einander, fluchen wild...
... Bumm! Bumm!...
... Ein fieberhaftes Hasten, Anspannen; Achsen geraten in die Speichen, Pferde werden gepeitscht, krachend kommt man auseinander, Räder fliegen ab, man jagt über die Brücke, verstopft sie jeden Augenblick.
... Tra-ta-ta-ta... bumm!... bumm!...
Enten schwirren zur Steppe, zu den Futterplätzen. Weiber heulen verzweifelt...
... Tra-ta-ta-ta...
Artilleristen spannen in wilder Hast die Pferde vor.
Mit glotzenden Augen, in kurzer Jacke, ohne Hosen, mit behaarten Beinen springt ein kleiner Soldat vorüber, schleppt zwei Gewehre hinter sich drein und schreit:
»Wo ist unsre Kompanie?!... Wo ist unsre Kompanie?!... «
Und hinter ihm her läuft durchdringend schreiend ein Weib ohne Kopftuch:
»Wassil!... So hör doch! Wassil! Wassil!«
Tra-ta-traa-ta-ta!... Bumm! Bumm!
Schon geht es los: am Rande der Siedlung erheben sich über den Hütten, über den Bäumen hohe Rauchsäulen. Das Vieh brüllt.
Ist denn die Nacht schon zu Ende? War denn nicht eben erst noch Dunkelheit, und das schläfrige Atmen von Zehntausenden, und das ewige Brausen des Flusses? Und lag denn nicht die unsichtbare Schwärze der Gebirgszüge dort am Rande?
Doch jetzt sind sie nicht schwarz und nicht blau, sondern rosa. Und alles überbrüllend — das dumpfe Brausen des Flusses und das Dröhnen, Krachen und Knarren der endlosen Wagenreihen —, rollt es, kalt in das Herz dringend: rrr...
trra-ta-ta-ta...
Aber all das scheint winzig und bedeutungslos, wenn aus der berstenden Luft der erschütternde Donner bricht: pramm!! Koshuch sitzt vor der Hütte. Das Gesicht gelb und ruhig; es ist fast, als wenn jemand mit der Eisenbahn verreisen wollte, und alle hasten nun und eilen, und als ob nach Abgang des Zuges alles wieder still, ruhig wie gewöhnlich werden würde. Jeden Augenblick eilen oder sprengen auf schäumenden Pferden Menschen mit Meldungen zu ihm. Der Adjutant und die Ordonnanzen stehen neben ihm in Bereitschaft.
Die Sonne erhebt sich immer höher, immer unerträglicher knattert das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer. Alle Meldungen beantwortet er in gleicher Weise: »Spart die Patronen, hütet die Munition wie euern Augapfel, benutzt sie nur im Notfalle. So nah wie möglich heranlassen und dann zur Attacke! Aber lasst sie nicht in die Gärten hinein, achtet darauf, dass sie nicht in die Gärten hineinkommen! Nehmen Sie zwei Kompanien aus dem I.Regiment, vertreiben Sie sie von den Windmühlen, stellen Sie dort Maschinengewehre auf.«
Von allen Seiten kommt man mit beunruhigenden Meldungen. Aber ruhig und gelb wie früher, mit spielenden harten Gesichtsmuskeln sitzt er da, und jemand, der in ihm ist, spricht munter: »Recht so, Jungens, recht so!« Vielleicht werden die Kosaken in einer Stunde oder vielleicht auch in einer halben in die Siedlung einbrechen und alle niedersäbeln. Ja, er weiß es, aber er sieht auch, wie gehorsam und exakt eine Kompanie nach der anderen, ein Bataillon nach dem anderen die Befehle durchführt, wie glänzend sich jene Bataillone und Kompanien schlagen, die noch gestern zügellos Lieder brüllten, sich weder um die Befehlshaber noch um ihn selbst kümmerten und nur tranken und sich mit Weibern zu schaffen machten; er sieht, wie präzis seine Anordnungen von den Kommandeuren befolgt werden, von denselben, die ihn in der verflossenen Nacht alle so verächtlich behandelt haben.
Man brachte einen Soldaten, der von den Kosaken gefangen genommen und wieder freigelassen worden war. Nase, Ohren, Zunge waren ihm abgeschnitten, die Finger abgehauen, und auf seiner Brust stand mit seinem eigenen Blute geschrieben: »Mit euch allen, Hundsfötter, wird das gleiche] geschehen.«
,Recht so, Jungens, recht so... '
Die Kosaken greifen mit wilder Wut an.
Als aber Leute von rückwärts herangejagt kamen und ihm atemlos meldeten: »Unsere Leute schlagen sich an der Brücke«, da wurde er gelb wie eine Zitrone... »Trainsoldaten kämpfen mit Flüchtlingen...« Koshuch stürzte dorthin.
Vor der Brücke ein wildes Handgemenge: man zerschlug einander mit Äxten die Räder, hieb aufeinander ein, mit] Knüppeln, Peitschen; Gebrüll und Geschrei, Weiber kreischten in Todesangst, Kinder weinten... Auf der Brücke ein dichter Knäuel: Wagen hingen mit den Achsen in den Speichen anderer, schnaubende und sich bäumende Pferde verhechelten sich im Gesträng, eingepresste Menschen, verzweifelt brüllende Kinder... Tra-ta-ta... — kam es aus den Gärten ... Man konnte weder vorwärts noch rückwärts.
»Ha—alt! Halt!« brüllte Koshuch mit seiner heiseren, rasselnden Stimme, aber er hörte sein eigenes Wort nicht. Er schoss dem zunächst stehenden Pferd ins Ohr.
Man stürzte sich mit Knüppeln auf ihn.
»Ha, du Hundesohn! Du erschießt ein Tier! Schlagt ihn nieder!«
Koshuch mit seinem Adjutanten und zwei Soldaten zog sich zurück, wurde an den Fluss gedrängt — Knüppel schwirrten über seinem Kopfe.
»Ein Maschinengewehr!« krächzte Koshuch Der Adjutant schoss wie ein Aal zwischen den Wagen und den Leibern der Pferde durch. Im nächsten Augenblick rollte man ein Maschinengewehr heran, und seine Bedienungsmannschaft eilte herbei.
Die Bauern brüllten auf wie verwundete Stiere: »Schlagt sie tot, die Christusverräter!« - und begannen, den Soldaten die Gewehre mit Knüppeln aus den Händen zu
schlagen.
Die Soldaten wehrten sich mit Gewehrkolben - sie konnten doch nicht gegen ihre Väter, Mütter und Frauen schießen.
Koshuch sprang wie ein Raubtier zum Maschinengewehr, führte einen Patronengurt ein und: Ta-ta-ta... strich es fächerförmig über die Köpfe hinweg - das Wehen des Todes bewegte mit seinem Gesang das Haar. Die Bauern wichen zurück. Drüben aus den Gärten klang ebenfalls noch immer das alte: Ta-ta-ta...
Koshuch hörte auf zu schießen und begann aus Leibeskräften ellenlange Flüche auszustoßen. Das beruhigte sofort. Er befahl, jene Wagen von der Brücke ins Wasser zu stoßen, die nicht auseinander gebracht werden konnten. Die Bauern gehorchten. Die Brücke war frei gemacht. Ein Trupp Soldaten stellte sich mit dem Gewehr in der Hand davor auf, und der Adjutant begann, die Wagen der Reihe nach durchzulassen.
Die Wagen jagten in Dreierreihen, rumpelten über die Brücke; angebundene Kühe liefen hinterher und schüttelten verzweifelt die Hörner, aufgeregt grunzende Schweine jagten in Karriere an ihren Strippen zerrend, die Bohlen dröhnten, sprangen wie Klaviertasten, im ohrenbetäubenden Lärm versank das Brausen des Flusses.
Die Sonne steigt immer höher. Unerträgliches, geschmolzenes Funkeln spielt auf dem Wasser.
Hinter dem Fluss jagt ein breites Band sich in Staubwolken verlierender Bauernwagen dahin; die Dorfplätze, die Straßen, die Gassen, die ganze Kosakensiedlung leeren sich immer mehr.
In einem ungeheuren, von aufflammenden Schüssen bekränzten Bogen umfassen die Kosaken die Siedlung — die beiden Flügel des Bogens stützen sich auf den Fluss. Immer enger wird der Bogen, immer enger umfasst er die Siedlung, die Gärten und die Wagenkolonne, die unausgesetzt über die Brücke rollt. Hartnäckig schlagen sich die Soldaten, kämpfen um jeden Zollbreit Erde, kämpfen für ihre Kinder, Väter und Mütter, sie sparen jeden Schuss, schießen selten, aber jeder Schuss schafft Kosakenwaisen, Tränen und Leid in Kosakenfamilien.
Wütend drängen die Kosaken vor, näher, immer näher rücken ihre Schützenketten heran. Schon dringen sie in die Gärten ein, huschen hinter Bäumen, Zäunen und Sträuchern hervor. Ein Dutzend Schritte liegen noch zwischen den Schützenketten. Stille — die Soldaten sparen die Patronen, einer belauert den anderen. Sie heben die Nasen: wittern — aus den Reihen der Kosaken trägt es ihnen durchdringenden Schnapsgeruch entgegen. Neidisch blähen sie die Nüstern:
»Haben sich voll gepumpt, die Hunde... Ach, wenn man doch einen Schluck hätte!...«
Und plötzlich eine Stimme aus den Reihen der Kosaken, halb freudig erregt, halb tierhaft böse:
»Heiliger Vater! Was treibst du denn hier, Chwomka!!... Ach du, der Teufel soll dich holen, Herrgott!...«
Hinter einem Baum starrte mit seinen Kuhaugen ein junger milchgesichtiger Kosak herüber und trat schließlich, das Gewehrfeuer nicht beachtend, ganz hervor.
Auch aus der Reihe der Soldaten löste sich ein ebenso milchgesichtiger Chwomka:
»Na, und du, Wanjka?! Verrecken sollst du, Galgenstrick, elender!-...«
Beide aus demselben Kosakendorf, aus der gleichen Straße, die Hütten standen nebeneinander unter den mächtigen Palmweiden. Morgens, wenn man das Vieh austreibt, stehen die Mütter am Zaun und schwatzen miteinander. Ist es denn schon so lange her, dass die Bürschlein zusammen auf Stecken geritten sind, im schimmernden Kuban Krebse gefangen haben und endlos lange badeten? Ist sie wirklich schon so weit, die Zeit, als sie mit den Mädchen zusammen die heimatlichen ukrainischen Lieder sangen, gemeinsam zum Militärdienst einrückten und zusammen, im Feuerring der berstenden Granaten, auf Leben und Tod gegen die Türken kämpften?
Und jetzt?
Und jetzt schrie das Kosakenbürschlein:
»Was hast du denn hier zu schaffen, du krummer Stänkerer? Hast dich den verfluchten Bolschewiki verschrieben, Bandit, nacktbäuchiger!«
»Was?! Ich ein Bandit?! Und du, was bist du denn? Ein stinkender Kulak... Dein sauberer Alter hat dem Volke nicht wenig das Fell über die Ohren gezogen, den Lebendigen und den Toten... Und du bist dieselbe Spinne!«
»Was! Ich eine Spinne! Kriegst eine über den Schädel!« — brüllte der Kosak, warf das Gewehr weg und hieb zu. Prack!
Chwomkas Nase wurde zu einer unförmigen Birne. Aber auch Chwomka blieb ihm nichts schuldig und schlug. Prack!
»Da, du Hund!«
Ein Auge des Kosaken wurde blind.
Sie packten einander an der Gurgel — und nun begann eine wilde Schlägerei.
Wie brüllende Stiere,. geduckt, mit glotzenden Augen, stürzten die Kosaken auf den Gegner, zum Faustkampf. Eine Wolke von Fuselgeruch überflutete den Garten. Und als seien sie von diesem Beispiel angesteckt, stürzten sich die Soldaten mit bloßen Fäusten in den Kampf, keiner gebrauchte das Gewehr — als sei keines vorhanden.
Das war eine Schlägerei!... Faustschläge hagelten auf Mund und Nase, gegen die Kehlköpfe und Kinnladen, atemlos rangen sie, mit knirschenden Zähnen und heiserem Gekrächz, und alles wurde überbrüllt von unerträglichem, unerhörtem Fluchen.
Die Kosakenoffiziere, die Roten Kommandeure rannten mit Revolvern, heiser vom Schreien, zwischen den Kämpfenden umher, vergeblich bemüht, sie zu trennen, sie zu veranlassen, zu den Waffen zu greifen, dabei wagten sie selbst nicht zu schießen — ein unerhörtes Menschenknäuel wogte hin und her, ein Knäuel aus Feinden und Freunden, und unerträglicher Alkoholdunst schwebte über ihm.
»Ha, ihr Schufte...«, schreien die Soldaten, »habt euch den Wanst vollgesoffen, nun ist euch alles gleich!«
»Sollten wir etwa das heilige Getränk euch Schweinen zum Aufschleckern lassen?« schreien die Kosaken.
Und wieder stürzten sie sich aufeinander, umklammerten sich in erbitterten Umarmungen, drückten sich die Nasen ein und hieben ohne Ende mit den Fäusten drein, wohin und wie es gerade traf. Der wilde, erbitterte Hass duldete nichts zwischen sich und dem Feind — man wollte mit eigenen Händen würgen, pressen, brechen; man wollte unmittelbar unter dem Hieb seiner Faust das aufspritzende, glucksende Blut auf des Gegners Schnauze spüren, und alles überwallte ein grölendes, endloses unflätiges Fluchen und ein dichter, kaum das Atmen zulassender Schnapsdunst.
Eine Stunde, zwei Stunden dauerte das wilde Handgemenge, das unaufhörliche fluchende Brüllen. Niemand bemerkte, wie es dunkel wurde..
Zwei Soldaten hieben hartnäckig in der Dunkelheit lange aufeinander ein, ächzend, schnaubend — da reißen sie sich auf eine Sekunde los, sehen sich an:
»Bist du's, Opanas?! Was fällt dir ein, du Hundsfott,
drischst auf mich los, als wär' ich eine Garbe auf der Tenne!«
»Du Mikolka?!... Und ich dachte ein Kosak. Du dreckige Sau, hast mir ja die ganze Visage aufgerissen...«
Sich die blutigen Gesichter wischend, schimpfend, gehen sie langsam in ihre Schützenkette zurück, suchen in der Dunkelheit nach ihren Gewehren.
Und daneben verkrampfen sich zwei Kosaken zu einem Knäuel; bald saß der eine, bald der andere auf seinem Gegner, bis sie sich endlich erkannten:
»Du Hund, verfluchter, du reitest auf mir herum wie auf einem alten Gaul?«
»Garaska?! Warum hast du denn nicht geschrieen? Du hast nur immer gebrummt, wie ein Ochs — ich dachte, du seiest ein Roter.«
Und sich das Blut abwischend, gingen sie in der Richtung zum Kosakenlager. Das niederträchtige Fluchen hatte endlich aufgehört, man hörte jetzt wieder das Rauschen des Flusses und das endlose Trommeln der Pferdehufe und der Räder auf den losen Bohlen der Brücke — noch immer rollten die Wagen der Bauern, und die Ränder der schwarzen Wolken säumten sich, kaum merklich, purpurn wie von einem erlöschenden Feuer. Längs der Gärten lag die Schützenkette der Soldaten, ringsherum in der Steppe zog sich die der Kosaken hin. Man schwieg, damit beschäftigt, sich die geschlagenen Knochen zu pflegen. Noch immer trommelte es über die Brücke. Der Fluss rauschte. Kurz bevor es Morgen wurde, war die Siedlung geräumt. Die letzte Eskadron wirbelte über die Bohlen, die Brücke flammte auf, Salven, Maschinengewehrgeknatter verfolgten die Abziehenden.

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