XXXI
»Wie viele sind es?«
»Fünfe!«
Glühend und öde waren Wald, Himmel, die fernen Berge.
»Nebeneinander? «
»Nebeneinander...«
Der Kubaner aus der Patrouille, mit schweißnassem Gesicht, sprach nicht zu Ende — das Pferd kämpfte verzweifelt mit den Fliegen, schüttelte den Kopf, der Reiter rutschte bis auf die Mähne, es versuchte, ihm die Zügel aus der Hand zu reißen.
Koshuch saß mit seinem Adjutanten und dem Kutscher im Korbwagen — die Gesichter waren brennendrot, wie nach einem Dampfbad. Ringsherum war es öde und leer.
»Weit von der Chaussee?«
Der Kubaner wies mit der Peitsche nach links:
»Zehn bis fünfzehn Kilometer hinter dem Gehölz.«
»Führt da ein Weg von der Chaussee hin?«
»Jawohl!«
»Keine Kosaken zu sehen?«
»Keine Spur. Unsere Patrouille ist an die zwanzig Kilometer vorausgeritten und hat keinen Kosaken gesehen. In den Siedlungen erzählen sie, dass die Kosaken dreißig Kilometer weiter an einem Flüsschen Schützengräben ausheben.«
Koshuchs Gesicht wurde plötzlich ruhig und wie immer gelb, als wenn es nicht kurz zuvor hochrot gewesen wäre.
»Die Spitze der Armee anhalten, sie soll den Weg, der von der Chaussee abführt, einschlagen, allen Tross, die Flüchtlinge und den ganzen Fuhrpark an ihnen vorbeiziehen lassen.«
Der Kubaner neigte sich über den Sattelknopf und sagte vorsichtig, leise, damit es nicht wie Insubordination klinge:
»Es ist ein großer Umweg..., die Leute halten sich kaum auf den Beinen..., es ist heiß..., sind ja halb verhungert...«
Die kleinen Augen Koshuchs richteten sich in die zitternde, glühende Ferne, wurden grau... Der dritte Tag... Die Gesichter sind eingefallen, die Augen brennen vor Hunger. Den dritten Tag schon haben sie nichts gegessen. Die Berge sind überwunden, aber man muss mit aller Kraft weitermarschieren, um aus dem öden Vorgebirge herauszukommen, die Siedlungen zu erreichen, Pferde und Menschen zu verpflegen. Und man muss eilen, um die Kosaken daran zu hindern, sich zu verschanzen. Man darf keine Minute verlieren, darf diese zehn, fünfzehn Kilometer Umweg nicht riskieren.
Er blickte in das junge, vor Hunger und Hitze dunkle Gesicht des Kubaners. Die Augen leuchteten stahlhart auf, und er sagte, die Worte durch die Zähne pressend:
»Die Armee soll von der Chaussee abbiegen und an ihnen vorbeiziehen.«
»Zu Befehl!«
Der Kubaner rückte seine runde, schweißnasse Fellmütze auf dem Kopf zurecht, versetzte seinem Pferd einen Hieb, dass es auf einmal munter wurde, und, als gäbe es keine unerträgliche Hitze, keine Bremsen und Fliegen, tänzelte, sich umwandte und die Chaussee lustig entlanggaloppierte. Aber die Chaussee war nur ein endloser Wirbel grauweißen Staubes, der sich über die Bäume erhob und hinten in den Bergen verschwand. Und in diesen wirbelnden Staubwolken zogen Tausende von hungrigen Menschen einher.
Koshuchs Korbwagen, dessen Holzteile man nicht berühren konnte — so heiß waren sie —, rollte weiter und mit ihm das unerträgliche Klirren. Hinter dem Sitz schaute ein Maschinengewehr hervor.
Der Kubaner sprengte durch die undurchsichtigen, wogenden, erstickenden Wolken. Nichts war zu erkennen, aber man hörte, wie die erschöpften, zersplitterten Reihen kraftlos dahintaumelten, die Hufschläge der Pferde, das Knarren der Fuhren. In den schwarzgebrannten Gesichtern leuchten trübe Tropfen Schweißes.
Man hört kein Gespräch, kein Lachen — alles ist erfüllt von schwerem Schweigen. Und in diesem heißen, übervollen Schweigen schleppende, taumelnde Schritte, Stampfen der Hufe, Knarren der Achsen.
Die Pferde wanken erschöpft mit kraftlos hängenden Ohren.
Die Köpfchen der Kinder in den Wagen taumeln von einer Seite zur anderen, matt schimmern die bleckenden Zähne.
»Tri-i-nken — tri-i-nken...«
Ein stickiger, weißlicher, alles bedeckender Nebel zieht über die Chaussee, und unsichtbar ziehen in ihm die Kolonnen dahin, die Reiter und die Wagen. Aber vielleicht ist es auch kein Nebel, vielleicht ist es grenzenlose Verzweiflung, ohne Hoffnung, ohne Gedanken — einzig und allein das Unvermeidliche. Das, was die Reihen mit eiserner Kraft zusammengehalten hatte, als sie in den schmalen Spalt zwischen Berg und Meer einbogen, was die ganze Zeit über schweigend mit ihnen dahinzog — nun drohte es zu ersterben. Hungrig»barfuss, erschöpft, kaum bekleidet waren sie, und die Sonne tat das übrige. Vorn aber erwarteten sie satte, starke Kosakenregimenter, Hasserfüllte Generale.
Der Kubaner ritt durch diese schweigenden, knarrenden Staubwolken, nur durch Anruf erkannte er die Truppenteile.
Von Zeit zu Zeit zerreißt der graue Dunst, und in der hellen Öffnung zittern dann die Umrisse von Hügeln, steht der starre Wald, wölbt sich ein blauer Himmel. Auf die entzündeten Gesichter der Soldaten brennt unbarmherzig die Sonne. Und wieder begleitet die ständige Hoffnungslosigkeit das langsame, unregelmäßige Stampfen der Schritte, das schleppende Schlagen der Hufe, die knarrende Musik der Fuhrwerke. An den Böschungen sitzen und liegen kraftlose, in Staub gehüllte Gestalten — ihre Köpfe sind zurückgeworfen, die Lippen verdorrt, Fliegen schwirren über ihnen.
Der Kubaner, Menschen und Pferde im Vorbeitraben anstoßend, erreichte die Spitze des Zuges, neigte sich über den Sattel und sagte dem Kommandeur einige Worte. Der zog finster die Stirn zusammen, warf einen Blick auf die trüb hervortretenden und wieder verschwindenden Soldatengestalten und kommandierte mit heiserer, fremder Stimme:
»Regiment, halt!«
Wie Watte sog der schwere Dunst seine Worte auf, aber es zeigte sich, dass seine Stimme dort, wo es nötig war, doch vernommen wurde — immer schwächer, immer entfernter klangen die Rufe:
»Bataillon, halt!... Kompanie, halt!...«
Und irgendwo ganz in der Ferne erlosch das kaum hörbare letzte »Ha-a-lt!«
Das Dröhnen der Schritte in der Spitzengruppe verstummte, von Reihe zu Reihe erstarb die Bewegung, und eine Sekunde lang trat in dem glühenden Dunst Schweigen ein, und die große Ruhe der letzten Erschöpfung, die unbewegliche Stille der drückenden Hitze. Dann füllte sie sich auf einmal mit Husten und Spucken — man spie den Staub aus den Lungen, fluchte, drehte sich Zigaretten aus trockenem Laub und Gräsern, und langsam legte der sich senkende Staub Menschen, Tiere, Wagen frei.
Man saß am Wegrande, im Chausseegraben, hielt die Gewehre zwischen den Knien. Regungslos lagen die Soldaten ausgestreckt auf dem Rücken.
Kraftlos, mit hängenden Köpfen standen die Pferde, sie wehrten nicht einmal mehr die Fliegen ab.
»Aufstehen! He, erhebt euch!«
Keiner rührte sich — ebenso regungslos war die Chaussee mit den Menschen, Pferden und Wagen. Es schien, als sei keine Kraft imstande, diese Menschen zum Aufstehen zu bewegen — sie waren wie von Glut erfüllte Steine.
»Zum Satan!... So steht doch auf!... Seid ihr denn taub!«
Wie zum Tode Verurteilte erhoben sie sich einzeln, zu zweit, und begannen, ohne auf das Kommando zu warten, zu gehen, wie es gerade kam, die bleischweren Gewehre auf den Schultern, mit den entzündeten Augen vor sich hin starrend.
Sie schritten verstreut auf der Chaussee, auf den Böschungen, in den Chausseegräben. Die Wagen begannen wieder zu knarren, und die unzählbaren Fliegenschwärme setzten sich in Bewegung.
Verdorrte, sonnengeschwärzte Gesichter, fiebrige Augen, statt der Mützen zum Schutz vor der schrecklichen Sonne Klettenblätter, Zweige, Strohbündel. Die nackten Füße sind schwarz und rissig. Manche, wie Neger mit schwarzen Leibern, sind fast nackt, nur die Hüften mit Lumpen bedeckt. Auf den mageren Körpern treten die Muskeln hervor. Die Horde trottet dahin mit hängenden Köpfen, die Gewehre auf den Schultern, mit zusammengekniffenen Augen und offenen, ausgetrockneten Mündern, zerzaust, abgerissen, gehetzt von Glut, Hunger und Verzweiflung. Wieder erheben sich dunstige Staubwolken. Von den Bergen kriecht die sich endlos windende Chaussee in die Steppe hinaus.
Plötzlich ertönt es unerwartet und verblüffend:
»Rechts schwenkt!«
Und jedes Mal, wenn sich ein neuer Truppenteil der Stelle nähert, ertönt dasselbe seltsame Kommando:
»Rechts schwenkt..., rechts..., rechts!...«
Anfangs erstaunt, dann immer lebhafter biegen die Soldaten in den Nebenweg ein, er ist hart, staubfrei. Man sieht, wie die Truppen eilig abbiegen, wie die Kavalleristen hinabreiten, wie der Train schwerfällig, wankend, knarrend hinabrollt. Fernen eröffnen sich, bewaldete Hügel, blaue Berge. Noch immer ist die Luft voll Sonnenglut. Die schwarzen Fliegenlegionen biegen ebenfalls ab. Die langsam sich senkenden Staubwolken und das stickige Schweigen bleiben auf der Chaussee zurück, und die Landstraße belebt sich mit Stimmen, Lachen und Rufen.
»Wohin geht's denn?«
»Vielleicht führen sie uns in den Wald, damit wir uns die Kehle etwas benetzen — allzu arg vertrocknet ist sie!«
»Schlaukopf! — Man hat dir im Walde ein Federbett zurechtgelegt — streck dich mal aus!«
»Und Pfannkuchen gebacken.«
»Mit Butter...«
»Mit saurem Rahm...«
»Mit Honig...«
»Und eine kühle, saftige Melone dazu...«
Der Lange, Hagere, im zerrissenen, durchgeschwitzten Frack, in zerfetzten, schmutzigen, spitzenbesetzten Höschen spie ärgerlich aus.
»Wollt ihr wohl still sein, Pack...«
Er zog sich wütend den Riemen enger, dass die Rippen vorstanden, und warf das bleischwere Gewehr auf die andere Schulter.
Das Gelächter verscheuchte die dichten Fliegenschwärme.
»Opanas, dreh deine Höschen 'rum — bist ja vorn splitternackt —, die Weiber im Dorf werden dir keinen Käsekuchen geben, werden sich schämen.« »Ho-ho-ho-ho... ha-ha-ha...« »Jungens, wir werden wohl ein Lager aufschlagen.« »Hier gibt's keine Siedlungen. Ich kenn' ja die Gegend.« »Schwatz nicht — hast du die Telegraphenpfosten nicht gesehen? Wo sollen sie denn hinführen, wenn nicht in eine
Siedlung?«
»He, Kavaliere, wollt ihr euer Brot umsonst essen —
spielt eins!«
Von dem Pferde, an dessen Sattel das Grammophon befestigt war, kam es mit heiserer Stimme:
»Wohin, wohin... seid ihr entschwunden,
ihr, meines Frühlings goldne Tage...«
schallte es in der Glut, inmitten schwarzer, schwebender Fliegenwolken; mit Schweiß und mehlweißem Staub bedeckt, schritten die Menschen jetzt munter aus; die Sonne blickte vollkommen gleichgültig auf sie nieder. Die bleiernen Füße bewegten sich mühsam vorwärts; irgendein hoher Tenor begann:
»Und die gute Wirtin wusste... «
Aber die Stimme brach ab — ein trockener Krampf erfasste die Kehle. Andere, ebenso heisere Stimmen fielen in das
Lied ein:
»Was der Moskowiter wollte... «
Die geschwärzten Gesichter hellten sich auf, und an allen Enden stimmten heisere, aber feste Stimmen in den Gesang ein.
»He, schaut mal: da ist unser Alter!«
Alle wandten im Vorbeigehen die Köpfe und sahen hin: ja, er war es, noch immer derselbe: stämmig, untersetzt, wie ein Pilz — mit seinem großen hängenden, schmutzigen Strohhut. Er steht da und betrachtet sie; das Hemd zerrissen und verschwitzt, man sieht die behaarte Brust, aus den Stiefeln schauen die rissigen Zehen hervor.
»Jungens, unser Alter sieht akkurat wie ein Bandit aus; wenn der einem im Walde begegnet, kriegt man ordentlich Angst.«
Lachend, mit liebevollen Augen sehen sie ihn an.
Und er lässt diesen unordentlichen, trägen, lärmenden Haufen an sich vorüberziehen und durchbohrt jedes Gesicht mit seinen stechenden, alles sehenden Äuglein, die stahlgrau aus dem unbeweglichen Gesicht funkeln.
Ja... eine Bande, eine richtige Räuberbande', denkt Koshuch — ,wenn uns die Kosaken jetzt in die Quere kommen, geht alles zum Teufel... Eine Bande!'
»Wohin, wohin . , .
seid ihr entschwunden... «
»Was ist denn das?« eilte es durch die Menge und verschlang den Gesang."
Eine Grabesstille, nur vom Dröhnen der Schritte unterbrochen, entstand, und alle Köpfe, alle Augen wandten sich der einen Richtung zu, dorthin, wo sich in langer Reihe die Telegraphenpfosten wie an einem Faden in die Ferne dahinzogen und immer kleiner wurden, bis sie in der zitternden Glut dünn wie Bleistifte wurden. An den nächststehenden Pfosten hingen regungslos vier nackte Menschen. Dichtes Fliegengeschmeiß umschwärmte sie. Die Köpfe waren geneigt, als Wenn sie mit dem jungen Kinn die Schlinge an sich drücken Wollten; sie grinsten mit gebleckten Zähnen; unter der Stirn gähnten die schwarzen Löcher der leeren Augenhöhlen. Aus den von Raubvögeln zerfetzten Bäuchen hingen schleimige grüne Gedärme heraus. Die Sonne glühte. Die von Rutenhieben gestriemte Haut war stellenweise geplatzt. Die Krähenschar stieg auf, setzte sich auf die Baumwipfel, schrie von dort herab.
Vier waren es, und am fünften — am fünften hing ein Mädchen mit herausgeschnittenen Brüsten, nackt und schwarz. »Regiment ha-a-lt!...«
An dem ersten Pfosten war ein weißer Papierfetzen angeheftet.
»Bataillon ha-a-lt!...« »Kompanie ha-a-lt!...« So ging es weiter durch die Reihen, ersterbend. Schweigen und süßlicher Verwesungsgeruch ging von diesen fünf Gestalten aus.
Koshuch nahm seinen zerrissenen Strohhut vom Kopf. Und alle, die Mützen hatten, entblößten ebenfalls die Köpfe. Und wer keine hatte, riss sich das über den Kopf gestülpte Strohgeflecht oder die Blätter und Zweige vom Kopf. Die Sonne brannte.
Und der Dunst war erstickend süßlich. »Genossen, gebt den Zettel her!« Der Adjutant riss das Papier vom ersten Telegraphenpfosten und reichte es ihm. Koshuch presste die Kinnladen zusammen, heiser, trocken klangen seine Worte:
»Genossen«, und er hob das Papier, das blendend weiß in der Sonne schimmerte, »der General sendet euch eine Nachricht. General Pokrowski schreibt: ,Dieselbe strenge Strafe, wie sie diese fünf Canaillen vom Maikoper Werk erlitten haben, haben alle jene zu gewärtigen, die mit den Bolschewiki in irgendwelcher Verbindung stehen.'«
Er presste die Kinnladen zusammen, schwieg eine Weile und fügte dann hinzu:
»Es sind eure Brüder und eure Schwestern.« Er schloss den Mund und unterdrückte jedes weitere Wort — denn es war nichts mehr darüber zu sagen.
Tausende von blitzenden Augen sahen ihn starr an. Ein einziges, übermenschlich großes Herz schlug ihm entgegen.
Aus den Augenhöhlen der Toten rannen schwarze Tropfen herab. Der Dunst wurde immer unerträglicher.
Die klingende Glut erlosch in der Stille — nur das Summen der Fliegenlegionen war noch zu hören. Die Tropfen rannen.
»Vorwärts! Marsch!«
Das Dröhnen der schweren Schritte zerbrach auf einmal die Stille, glitt gleichmäßig dahin, es war, als wenn ein einziger Mensch von unerhörtem Wuchs und lastender Schwere marschiere. Es war, als wenn ein einziges, übermenschlich großes Herz schlüge.
Sie gehen, und ohne es zu bemerken, beschleunigen sie die schwer ausgreifenden Schritte, die Reihen werden immer geordneter, geschlossener. Die Sonne brennt erbarmungslos.
Der rechte Flügelmann der Ersten Kompanie — der mit dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen — ließ das Gewehr fallen und brach zusammen. Das Gesicht wurde purpurn, die Sehnen am Halse schwollen an, und die blutroten Augen verdrehten sich. Die Sonne blickte mitleidlos herab.
Niemand hielt seinen Schritt an, alle marschierten weiter, marschierten noch fester, noch eiliger; die glänzenden Blicke sahen in die ferne, zitternde Glut.
»Sanitäter!«
Ein Sanitätswagen kam, man hob den Mann auf — die Sonnenglut hatte ihn umgebracht.
Man ging eine Weile — es brach noch einer zusammen, dann zwei auf einmal.
»Sanitätswagen!«
Ein Kommando ertönte:
»Bedeckt die Köpfe!«
Wer eine Mütze hatte, stülpte sie auf. Manche öffneten Sonnenschirme. Wer nichts hatte, riss trockenes Gras von der Wegböschung, wand es sich um den Kopf. Man riss sich die durchschwitzten, staubdurchtränkten Fetzen vom Leibe, zog sich die Hosen herunter, riss sie in Stücke, band sich nach Weiberart Tücher um den Kopf und schritt dröhnend, schwer ausholend, aus, das endlose Band der Chaussee in sich aufnehmend.
Koshuch will mit seinem Korbwagen die Vorhut einholen. Der Kutscher, der vor Hitze vorquellende Augen wie ein Krebs hat, schlägt auf die mageren Pferde ein. Die Pferde sind schaumbedeckt, aber sie können die Vorhut nicht einholen: immer schneller, immer unaufhaltsamer schreiten die
schweren Reihen.
»Was ist mit ihnen, die rennen ja wie der Wind.«
Wieder versetzte er den erschöpften Pferden schwere Hiebe.
,Recht so, Jungens, recht ist's', denkt Koshuch und richtet die stahlgrauen Augen in die Ferne, ,so legen wir siebzig Kilometer an einem Tage zurück.'
Er steigt aus dem Wagen und marschiert mit; er muss sich anstrengen, um nicht zurückzubleiben, und verschwindet in den endlosen, schnell ausschreitenden Reihen.
Die Telegraphenpfosten entschwinden einsam in der fernen Wüste. Die Spitze der Kolonne biegt rechts ab, und als sie die öde Chaussee erreicht, umhüllten sie wieder die stickigen Wolken. Es ist nichts mehr zu sehen. Man hört nur das schwere Dröhnen der Schritte, gleichmäßig, monoton erfüllt es die schwülen, wallenden Wolken, die schnell vorwärts rollen.
Andere Truppenteile, einer nach dem andern, nähern sich
den fünf Pfosten, bleiben stehen.
Jeden Laut erstickend, tritt Grabesstille ein. Der Kommandeur verliest das Papier des Generals. Tausende von brennenden Menschenaugen blicken, ohne zu zucken, in die Ferne, und ein Herz, übermenschlich groß, durchzittert mit seinen Schlägen die Stille.
Regungslos hängen die fünf. Unter den Schlingen löst sich das schwarze Fleisch, Knochen bleichen.
Auf den Spitzen der Telegraphenpfosten sitzen Krähen, schielen seitwärts mit glänzenden Knopfaugen nach den hängenden Gestalten. Der süßliche Dunst des verwesenden, in der Sonne schmorenden Fleisches steigert sich, Übelkeit erregend.
Da setzen sich die Reihen wieder in Bewegung — immer schneller werden die Schritte; ohne es zu bemerken, ohne Kommando ordnen sie sich, allmählich richten sie sich aus in schwere, enge Reihen. Und sie gehen mit entblößten Köpfen, vergessen sie zu bedecken, beachten nicht die in der Ferne verschwindenden Telegraphendrähte, nicht die kurzen scharfen Tinten der Mittagsschatten; die qualvoll verengten Pupillen blitzen hart der Ferne entgegen.
Und wieder ein Kommando:
»Bedeckt die Köpfe!«
Immer fester werden die Schritte, immer schwerer und gleichmäßiger die geschlossenen Reihen — sie ergießen sich über die Chaussee, in die Staubwolken, gleiten mit ihnen dahin.
Tausende, Zehntausende von Menschen marschieren. Und es gibt keine Kompanien, keine Bataillone, keine Regimenter mehr — es gibt nur ein geschlossenes Ganzes, namenlos, ungeheuer. Mit zahllosen Schritten schreitet es, mit zahllosen Augen blickt es, mit zahllosen Herzen schlägt nur ein einziges großes Herz.
Und wie ein Blick saugen sich aller Blicke in die glühende Ferne.
Lange, schräge Schatten legen sich über die Erde. Blaugrauer Nebel verhüllt die Berge. Die geschwächte, müde, gütig gewordene Sonne legt sich schwer auf den Himmelsrand. Wagen, Karren, Fuhren mit Kindern, mit Verwundeten schleppen sich mühsam dahin.
Man hält sie für einen Augenblick an und sagt: »Seht, das sind eure Brüder... Das sind die Taten der Generale.«
Dann ziehen sie weiter, man hört nur das Knarren der Räder. Die Kinder flüstern furchtsam:
»Mutter, werden die Toten des Nachts nicht zu uns kommen?«
Die Weiber bekreuzigen sich, schnäuzen sich in den Rocksaum, trocknen sich die Augen:
»Ihr armen Menschen!«
Kaum sichtbar schreiten die Greise neben ihren Wagen.
Dunkelheit senkt sich herab. Die Pfosten sieht man nicht mehr, und der Himmel lastet wie auf schwarzen ungeheuren Mauern. Der ganze Himmel funkelt, aber es wird dadurch nicht heller. Es ist, als ragten Berge ringsherum auf, aber es sind nur Hügel; die Berge sind längst in die schwarze Nacht untergetaucht — eine ungekannte, geheimnisvolle Ebene, in der alles zu erwarten ist, dehnt sich ringsherum aus.
Ein einsamer weiblicher Schrei durchdringt die Finsternis, dass sich die Sterne erschreckt zusammendrängen.
»Oh, oh, oh! Was sie gemacht haben, die verfluchten, niederträchtigen Ungeheuer... Seht, ihr guten Menschen... Seht sie doch an!«
Die Frau umfasst den einen Pfosten, drückt das zerzauste junge Haar an die erkalteten Beine und umarmt sie.
Kräftige Arme reißen sie mit Mühe von dem Pfosten und schleppen sie zum Wagen. Wie eine Schlange entwindet sie sich ihnen, stürzt wieder zu dem Pfosten, und wieder scheint es, dass selbst der funkelnde Himmel sich wie im Fieber hin und her wirft:
»Wo ist denn eure Mutter? Wo sind denn eure Schwestern? Habt ihr denn nicht leben wollen...? Wo sind eure klaren Augen, wo eure Kraft, wo sind eure zärtlichen Worte verklungen? Ach, ihr Armen, ihr Unglücklichen! Niemand ist da, der um euch weinen, sich um euch grämen..., niemand, der euch mit seinen Tränen benetzen würde!«
Man packt sie wieder, sie reißt sich gewaltsam los, und wieder klingt es durch die ängstlich bebende Nacht:
»Was haben sie angerichtet!... Den Sohn haben sie mir aufgefressen, meinen Stepan aufgefressen! So fresst doch uns alle auf einmal auf, mit Fleisch und Blut... Fresst uns alle auf, bis ihr an Menschenblut und Knochen erstickt...«
»Sie ist wahnsinnig geworden!«
Die Wagen bleiben nicht stehen, sie knarren weiter. Auch ihr Wagen ist weitergezogen. Andere kräftige Arme ergreifen die Frau, aber wieder reißt sie sich los, wieder ertönen nicht Schreie, sondern schneidende, unmenschliche Laute durch die unruhige Nacht.
Erst der Nachhut gelang es, die Frau zu überwältigen und sie an den letzten Wagen zu binden. Weiter zogen sie.
Menschenleer, öde wurde es am Wege, und ungestört breitete sich der süßliche Dunst in der Nacht aus.
XXXII
Dort, wo die Chaussee das Gebirge verlässt, warten gierig die Kosaken. Seitdem der Brand des Aufstandes sich über das ganze Kubangebiet ausbreitete, ziehen sich die bolschewistischen Kräfte allenthalben vor den Kosakenregimentern, vor den Offiziersabteilungen der Freiwilligenarmee zurück — nirgends können sie festen Fuß fassen, eine Basis finden, den wütenden Angriff der Generale zurückzuschlagen; eine Stadt nach der anderen, eine Siedlung nach der anderen werden preisgegeben.
Bereits bei Beginn des Aufstandes war ein Teil der bolschewistischen Truppen aus dem eisernen Ring der Aufständischen ausgebrochen und zog, ein ungeordneter mächtiger Menschenhaufen von zehntausenden Flüchtlingen mit Tausenden von Wagen, auf dem engen Gürtel zwischen Meer und Gebirge dahin. Er war nicht einzuholen — so schnell floh er, nun aber haben ihm die Kosakenregimenter den Weg verlegt und lauern ihm auf.
Den Kosaken war berichtet worden, dass die sich einem Strome gleich durch das Gebirge wälzende Menschenmasse zahllose geraubte Reichtümer — Gold, Edelsteine, Kleidung, Grammophone und eine ungeheure Menge von Waffen und Heeresgut mit sich führe, aber — weil sie es seit jeher so gewohnt sei — zerfetzt, barfuss, ohne Mützen marschiere. Und alle Kosaken, vom General bis zum letzten Fußsoldaten, warten nun ungeduldig auf alle die Reichtümer, alle die Kostbarkeiten, die ihnen von selbst in die Hände fallen werden.
General Denikin beauftragte den General Pokrowski mit der Formierung von Truppenteilen in Jekaterinodar, um die aus den Bergen kommenden Kolonnen zu umzingeln und keinen einzigen lebend entkommen zu lassen. Pokrowski formierte ein Korps, ausgezeichnet bewaffnet und mit allem Nötigen versorgt, und verlegte den Weg am Weißen Fluss, dessen Wasser vom stürmischen Gebirgslauf schäumend weiß ist. Eine Abteilung schickte er den Ankommenden entgegen.
Munter, die Fellmützen schief aufgesetzt, reiten die Kosaken auf. satten, feurigen Pferden, die die Köpfe schütteln und an den Zügeln zerren. Die silberbeschlagenen Waffen klirren, funkeln in der Sonne; schlanke, enggegürtete Gestalten mit weißbebänderten Fellmützen wippen in den Sätteln.
Lieder singend reiten sie durch die Siedlungen, die Kosakenmädchen bewirten sie mit Gekochtem und Gebratenem, während die Alten Fässer mit Wein herbeirollen.
»Bringt uns wenigstens einen einzigen Bolschewik mit, damit wir uns so einen Kerl mal ansehen.«
»Werden schon genug mitbringen, stellt Galgen bereit.«
Die Kosaken waren flott im Trinken und flott im Dreinschlagen.
In der Ferne zeigten sich mächtige Staubwolken.
»Aha, da sind sie ja!«
Da sind sie, die Zerlumpten, von der Sonne Geschwärzten, mit Stroh- und Grasgeflecht statt der Mützen.
Die Kosaken rückten die Fellmützen zurecht, zogen die aufblitzenden, klirrenden Säbel, neigten sich über die Sattelknöpfe, die Kosakenpferde stoben dahin, dass der Wind in den Ohren pfiff.
»He, jetzt werden wir sie niedersäbeln!«
»Hurra-a-a!«
In ein bis zwei Minuten geschah das ungeheuerlich Unerwartete: sie prallten zusammen, stießen aufeinander, und... die Kosaken stürzten von den Pferden, die Fellmützen zerhauen, die Nacken zersäbelt; zuweilen spießten die Bajonette Pferd und Reiter zugleich auf. Da rissen sie die Pferde zurück, wandten um und flogen — so tief über den Sattelknopf gebeugt, dass man sie kaum sehen konnte — ebenso schnell zurück, wie sie gekommen waren, der Wind sauste ihnen noch heftiger um die Ohren, und die pfeifenden Kugeln holten sie von den Pferden. Die verfluchten Barfüßigen drängten nach, verfolgten sie zwei, drei, fünf, zehn Kilometer weit — die einzige Rettung war, dass ihre Pferde zu abgequält waren.
Die Kosaken jagten durch die Siedlung, jene anderen brachen in die Gehöfte ein, rissen frische Pferde aus den Ställen, hieben nach links und rechts, wenn man sie ihnen nicht schnell genug gab, und — galoppierten weiter. Und viele weißbebänderte Kosakenmützen rollten über die Steppe, viele Kosaken in Tscherkessenmänteln, in silberbeschlagenes Leder gegürtet, lagen gleich schwarzen Punkten auf den Hügeln, den goldenen Feldern, im lichten Gehölz.
Die Flüchtenden hielten erst inne, als sie die in Schützengräben verschanzte erste Linie der Hauptarmee erreichten.
Und die aus den Bergen kommenden barfüßigen, halbnackten Scharen folgten, solange der Atem reichte, ihren Eskadronen. Die Geschütze begannen zu donnern, Maschinengewehre zu knattern.
Koshuch wollte seine Kräfte nicht bei helllichtem Tage in Aufstellung bringen; er kannte das große Übergewicht des Gegners, wollte ihm seine Schwäche nicht zeigen und wartete auf die Nacht. Als es aber dunkel wurde, geschah dasselbe wie am Tage: keine Menschen, sondern leibhaftige Teufel stürzten sich auf die Kosaken. Die Kosaken hieben und stachen auf sie ein, mähten sie reihenweise mit Maschinengewehren nieder, aber es wurden immer weniger und weniger Kosaken, immer schwächer brüllten, lange Feuerlohen speiend, ihre Geschütze, immer seltener wurde das Geknatter der Maschinengewehre, bald war Gewehrfeuer überhaupt nicht mehr zu hören — die Kosaken fielen in Massen.
Sie hielten nicht stand und ergriffen die Flucht. Aber auch die Nacht vermochte sie nicht zu retten. Wie niedergemäht fielen die Kosaken unter den Säbelhieben und Bajonettstößen. Da begannen ihre Reihen sich aufzulösen; sie ließen Geschütze und Maschinengewehre zurück, rannten in alle Himmelsrichtungen davon, zerstreuten sich in Wäldern und Schluchten — ratlos vor der unbegreiflichen satanischen Gewalt, die über sie hergefallen war.
Und als die Sonne die ersten langen Schatten der Steppenhügel auf die Ebene zeichnete, lagen ungezählte schnauzbärtige Kosaken regungslos auf der grenzenlosen Steppe. Weder Verwundete noch Gefangene — alle lagen regungslos.
Im Hinterland, im Lager der Flüchtlinge, loderten Feuer, es brodelte in den Töpfen, Pferde kauten Heu und Hafer. In der Ferne dröhnte die Kanonade, niemand beachtete sie — man war daran gewöhnt. Nur wenn sie verstummte und einzelne Reiter aus der Kampflinie kamen — bald eine Ordonnanz mit Befehlen oder ein Furagier oder ein Soldat, der insgeheim die Seinigen aufsuchen wollte —, stürzten von allen Seiten Frauen mit geschwärzten, verquälten Gesichtern auf sie zu, klammerten sich an die Steigbügel, an die Zügel:
»Lebt der Meinige?«
»Und meiner?«
»Lebt er, so sag's doch!«
Mit flehenden Augen, voller Entsetzen und Hoffnung.
Und der Reiter trabt dahin, leicht mit der Peitsche klatschend, wirft nach links oder nach rechts hin:
»Er lebt... Lebt... Verwundet... Verwundet... Tot... Wird bald hergebracht...«
Er reitet vorüber, und hinter ihm bekreuzigt man sich entweder glückselig erleichtert oder stößt klagende Laute aus, oder man bricht wortlos zusammen.
Verwundete werden gebracht — Mütter, Frauen, Schwestern , Bräute, Nachbarinnen übernehmen die Pflege. Tote kommen auf Wagen an, schluchzende Frauen werfen sich über sie, und weithin hört man das verzweifelte Klagen und Jammern.
Berittene holen schon den Popen.
»Wie das liebe Vieh werden sie beerdigt — ohne Kreuz und Weihrauch.«
Aber der Pope weigert sich, sagt, er habe Kopfweh.
Er soll trotzdem das heilige Gewand anlegen. Er steckt den Kopf in den schwarzen Priesterornat, legt die Stola um, zieht die langen Haarsträhnen unter dem Kragen hervor. Man lässt ihn Kreuz, Weihrauchlampe, Weihrauch mitnehmen.
Auch der Küster und der Messgehilfe werden herbeigeholt. Der Küster — ein mächtiger, versoffen aussehender Mann mit rotem Gesicht — ebenfalls in schwarzem, goldgesticktem Messgewand. Der Messgehilfe ist klein und dürr.
Alles ist bereit. Man treibt die drei vorwärts.
Im Lager des Trosses, in den Gärten, auf dem Kirchhof wartet schon eine zahllose Menge.
»Seht, seht, sie bringen den Popen herbei!«
Die Weiber bekreuzigen sich:
»Na, Gott sei Dank, wenigstens eine richtige Beerdigung.«
Und die Soldaten:
»Schaut — den Küster und den Messgehilfen haben sie auch herbeigeschafft!«
»Der Küster sieht stattlich aus. Akkurat wie ein Mastschwein!«
Die drei hasten eilig heran, der Schweiß fließt in Strömen von den Köpfen. Der Küster zündet behände die Weihrauchlampe an, die Toten liegen regungslos mit gekreuzten Armen.
»Gelobt sei Gott...«
Der Küster fällt mit schläfriger Bassstimme ein, der Messgehilfe sagt leise und näselnd, die Worte verschluckend:
»Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Allmächtiger...«
Bläulich zieht der Weihrauch dahin. Die Weiber halten sich den Mund zu und schluchzen. Die Soldaten haben strenge, schwarze abgemagerte Gesichter; die Stimme des Popen dringt nicht bis zu ihnen.
Der ohne Mütze auf einem schlanken Fuchs sitzende Kubaner trieb das Pferd mit einem leichten Druck in die Flanken ein paar Schritte vorwärts, neigte sich zu dem Popen und sagte mit flüsternder Stimme, die auf dem ganzen Friedhof zu hören war:
»Was krächzt du denn wie ein ungefütterter Rabe. Singe mit voller Stimme...«
Pope, Küster und Messgehilfe schielten ihn von der Seite an. Und sofort begann des Küsters Bassstimme zu schmettern, so dröhnend, dass die Krähen des ganzen Friedhofs aufstoben; der Pope fiel im Tenor ein, und des Küsters Gehilfe erhob sich augenrollend auf die Zehen und schlug einen solchen Fistelton an, dass es in den Ohren weh tat.
»Gott schenke seiner Seele Ruhe...«
Der Kubaner zog sein Pferd zurück und saß regungslos wie eine Statue mit finster gerunzelten Brauen im Sattel. Alle bekreuzigten und verneigten sich.
Als die Gräber zugeschaufelt waren, krachten drei Salven. Sich schnäuzend und die Augen trocknend, sagten die Weiber gerührt:
»Das war aber eine feine Totenmesse...«
XXXIII
Die Nacht verschluckte die ungeheure Steppe, ihre Hügel, die an ihrem Rande blauenden verfluchten Berge und die Siedlung auf der feindlichen Seite — kein Licht, kein Ton drang von dort herüber, es war, als wenn sie überhaupt nicht da wäre. Von der Tageskanonade erschreckt, schwiegen sogar die Hunde. Nur der Fluss brauste.
Den ganzen Tag dröhnten hinter dem jetzt unsichtbaren Fluss und den grauen Linien der Schützengräben der Kosaken die Geschütze. Sie feuerten, ohne zu sparen. Und zahllose Rauchwölkchen flammten weiß über der Steppe, über den Gärten, über den Schluchten auf. Von hier aus wurde das Feuer nur vereinzelt, müde und unwillig erwidert.
»Aha...«, sagten die Kosakenartilleristen schadenfroh, »sie können nicht mehr!« Sie brachten die Geschütze in Stellung, richteten sie, und wieder sausten die Geschosse.
Für sie stand fest: auf der Gegenseite ist man schwächer, man ist dort nicht mehr imstande, jeden Schuss zu beantworten. Vor Abendanbruch hatten die Barfüßigen einen Angriff gegen den Fluss begonnen, wurden aber so bewirtet, dass ihre Linien zerrissen und sie sich verkrochen, wo sie nur irgend konnten. Schade, dass es Nacht war, sonst hätte man es ihnen gehörig gegeben. Nun, es wird schon noch Morgen werden.
Der Fluss erfüllt die ganze Dunkelheit mit seinem Brausen. Koshuch ist zufrieden— stahlgrau funkeln die kleinen Augen. Ja, zufrieden: die Armee ist in seinen Händen wie ein gehorsames, elastisches Instrument. So hatte er am Abend die Linien vorgeschoben und Anweisung gegeben, nur flau vorzurücken und vorgeschobene Stellungen zu beziehen. Und jetzt, in der Nacht, als er in der samtenen Finsternis diese Stellung nachprüfte, fand er alle dicht am Fluss auf den ihnen zugewiesenen Plätzen; unter dem zehn Meter tiefen Abhang brauste das Wasser und erinnerte ihn mit seinem Brausen an jenen Fluss und an jene Nacht, als der Feldzug begonnen hatte.
Jeder der Soldaten kroch im Dunkeln vor, tastete sich bis zum Rande, prüfte selbst die Lage, maß den Hang aus. Und jeder wusste, um was es sich handelte, kannte genau seinen Platz. Er wartete nicht wie ein Hammel, wohin und wie ihn die Kommandeure vorwärtsschieben werden.
Im Gebirge hat es geregnet. Der Fluss, der am Tage mit wilder Wut dahinbrauste, rauscht jetzt gedämpfter. Die Soldaten kennen seine Tiefe — sie haben es schon fertig gebracht, sie auszumessen —, der Fluss ist jetzt anderthalb bis zwei Meter tief, man wird stellenweise schwimmen müssen, aber das macht nichts, man wird eben ein bisschen schwimmen. Als es noch hell war, suchten sich die Soldaten in den Löchern, Büschen und im hohen Rasen, unter fortwährend explodierenden Geschossen liegend, jenes Stück des feindlichen Schützengrabens aus, auf das sie losschlagen würden.
Links waren zwei Brücken: eine aus Holz und eine Eisenbahnbrücke — jetzt sah man sie nicht. Die Kosaken richteten eine Batterie gegen sie und stellten Maschinengewehre auf, auch das war nicht zu sehen.
In der nächtlichen, vom Rauschen des Flusses erfüllten Dunkelheit stehen auf Koshuchs Befehl ein Kavallerie- und ein Infanterieregiment regungslos den Brücken gegenüber.
Langsam verstreicht die Nacht, ohne Sterne, ohne Geräusche, ohne Bewegung, nur der Lärm des unsichtbar strömenden Wassers füllt einförmig die öde Nacht.
Die Kosaken saßen in den Gräben, horchten auf das Rauschen des Wassers, ohne die Gewehre loszulassen, obwohl sie dachten, dass die Barfüßigen in der Nacht es nicht wagen würden, über den Fluss zu setzen, sie haben ja schon genug abgekriegt; die Kosaken warteten also. Langsam verstreicht die Nacht.
Die Soldaten lagen wie die Dachse am Rande des Abhanges, horchten ebenso wie die Kosaken auf das Brausen des Wassers und warteten. Und das, worauf sie warteten, was, wie es schien, niemals eintreten würde, trat dennoch ein: langsam, mühselig, kaum spürbar, wie eine Andeutung, breitete sich die Morgendämmerung aus.
Man sieht noch nichts, weder Farben, noch Linien, noch Umrisse, aber die Dunkelheit beginnt schon zu verblassen, wird durchsichtig. Ermattetes gespanntes Warten im Morgengrauen.
Etwas kaum Unfassbares huschte am linken Ufer entlang, einem elektrischen Funken oder einer unhörbaren Schwalbenschar gleich...
Von dem zehn Meter hohen Ufer rollten Soldaten wie aus einem Sack mitsamt Lehm, Sand und Steinschutt herab... Der Fluss rauscht.
Tausende von Körpern bewirkten Tausende von plätschernden Aufschlägen, leichte, vom Lärm des Flusses übertönte Aufschläge... Der Fluss rauscht... Monoton rauscht der Fluss.
Im grauen Dunst des Morgens tauchte auf einmal ein Wald von Bajonetten vor den verblüfften Kosaken auf — inmitten von Stöhnen, Brüllen, Ächzen und Fluchen ging die Arbeit los. Das waren keine Menschen mehr, nur noch wimmelnde, ineinander verstrickte, blutige Knäuel von Tieren. Die Kosaken legten Dutzende um und fielen selbst zu Hunderten. Schon wieder wälzte sich eine unbegreifliche satanische Kraft von irgendwoher auf sie zu. Waren das wirklich dieselben Bolschewiken, die sie durch das ganze Kubangebiet gehetzt haben? Nein, das ist etwas anderes. Nicht umsonst sind sie alle nackt, schwarz, in Lumpen.
Als es am rechten Ufer seiner ganzen Länge nach wild aufbrüllte, begannen die Artillerie und die Maschinengewehre der Roten über die Köpfe ihrer Kämpfer hinweg die Siedlung mit Eisen und Blei zu überschütten, während das Kavallerieregiment in wilder Jagd über die Brücken setzte; ihnen folgte im Gewaltmarsch die Infanterie. Die Batterie und die Maschinengewehre sind genommen — über die ganze Siedlung ergießen sich die Eskadronen. Man sieht, wie etwas Weißes aus einer Hütte springt und mit erstaunlicher Schnelligkeit auf einem ungesattelten Pferde im Dunst des Morgens verschwindet.
Hütten, Pappeln, die weiß schimmernde Kirche — alles tritt immer deutlicher hervor. Hinter den Gärten schimmert die Morgenröte.
Aus dem Hause des Popen wurden Menschen mit aschgrauen Gesichtern und goldenen Achselklappen herausgeführt—es war ein Teil des Generalstabes. Neben dem Pferdestall des Popen schlug man ihnen die Köpfe ab, und das Blut tränkte den Mist.
Der Lärm, das Schreien, die Schüsse, das Fluchen, das Stöhnen übertönten sogar das Brausen des Flusses.
Man fand das Haus des Kosakenhauptmanns der Siedlung. Durchsuchte es vom Keller bis zum Dachboden — er selbst war schon fort. Geflohen. Da fing man an zu schreien:
»Wenn der sich nicht selbst stellt, werden wir ihm die Kinder totschlagen!«
Er fand sich nicht ein.
Da schickten sie sich an, seine Kinder niederzusäbeln. Die Frau des Hauptmanns wälzte sich mit aufgelöstem Haar auf den Knien, klammerte sich an die Füße der Soldaten. Einer sagte vorwurfsvoll:
»Was schreist du denn wie abgestochen! Ich hatte auch ein Mädchen, akkurat wie deine, drei Jahre alt... Im Schotterhaufen haben wir sie vergraben — dort in den Bergen. Ich habe auch nicht geschrieen! Da, nimm deine Kinder!«
Neben einer Hütte, vor der ein Haufen Glasscherben auf dem Boden verstreut lagen, versammelte sich ein Häuflein Eisenbahner,
»Hier hat General Pokrowski genächtigt. Seid ein ganz klein wenig zu spät gekommen. Als er euch kommen hörte, zerschlug er das Fenster mitsamt dem Rahmen, sprang so, wie er war, im Hemd, ohne Unterhose, auf ein ungesatteltes Pferd und sprengte davon.«
Ein Kavallerist fragte finster:
»Warum denn ohne Hose? War er denn in der Badestube?«
»Er hat geschlafen.«
»Wie denn, geschlafen und ohne Hose? Das gibt's doch nicht!«
»Die Herren schlafen immer so — die Doktoren empfehlen es ihnen.«
»Diese verfluchten Hunde! Nicht einmal schlafen tun sie wie richtige Menschen!«
Er spie aus und entfernte sich.
Die Kosaken flohen. Siebenhundert von ihnen lagen in den Schützengräben und in der Steppe. Alles nur Tote. Und wieder ergriff die Fliehenden inmitten der Anspannung aller Kräfte ein fassungsloses Staunen vor dieser unbekannten satanischen Kraft.
Vor knapp zwei Tagen noch war diese Siedlung von den Hauptkräften der bolschewistischen Truppen besetzt, die Kosaken hatten sie dann unerwartet vertrieben, und jetzt sind sie selbst von anderen wieder hinausgejagt worden. Wo sie nur hergekommen sein mögen? Ist da nicht der Satan im Spiel?
Die über dem fernen Steppenrand aufsteigende Sonne schickte den Fliehenden blendende Strahlen entgegen.
Weithin bewegten sich die Flüchtlinge und ihr Wagenzug über die Steppe, über die Hügel, durch die Wälder.
Es ist noch immer derselbe blaue Rauch der Lagerfeuer; dieselben knochigen Kinderköpfchen können sich kaum auf den mageren, dünnen Hälsen halten. Wieder liegen auf weiß ausgebreitetem Zelttuch. Tote mit gekreuzten Armen; Weiber wälzen sich hysterisch daneben, raufen sich das Haar, es sind andere Frauen, nicht dieselben wie gestern.
Soldaten drängen sich um einige Reiter.
»Wohin wollt ihr?«
»Den Popen holen.«
»Koshuch hat befohlen, das Blasorchester zu holen, dasselbe, das wir den Kosaken abgenommen haben.«
»Was soll uns das Orchester? Ein Orchester hat doch nur Blechinstrumente, der Pope aber hat eine lebendige Kehle!«
»Zum Teufel, brauchen wir seine Kehle? Er brüllt ja, dass man die Krämpfe kriegt. Und ein Orchester ist eine militärische Ehrenbezeigung...«
»Das Orchester!... das Orchester!...«
»Einen Popen wollen wir haben! Einen Popen!«
Die Rufe »das Orchester« und »einen Popen wollen wir haben« vermengten sich mit den saftigsten Flüchen. Die Frauen kamen auf das Gerücht h in herbeigelaufen und schreien erbittert:
»Einen Popen, einen Popen!«
Und die jungen Soldaten schreien:
»Das Orchester, das Orchester!«
Das Orchester erwies sieh als das stärkere.
Die Reiter stiegen wieder von ihren Pferden.
»Na, uns soll's recht sein — lasst das Orchester kommen!«
In unendlichen Reihen ziehen Flüchtlinge und Soldaten dahin, und feierlich, Trauer und Kraftgefühl hineintragend, klingen die Messingstimmen des Blasorchesters, und messinggelb leuchtet die Sonne.
XXXIV
Die Kosaken waren geschlagen, aber Koshuch rührte sich nicht vom Fleck, obwohl man weitermarschieren musste, koste es, was es wolle. Patrouillen und Überläufer aus der einheimischen Bevölkerung berichteten alle dasselbe: die Kosaken konzentrieren ihre Kräfte wieder, reorganisieren sie. Unaufhörlich kommen neue Truppenteile aus Jekaterinodar an, mit Artillerie, Maschinengewehren und Munition; starke Offiziersformationen marschieren drohend heran; eine Kosakenhundertschaft nach der anderen stößt zu den Weißen. Immer dunkler wird es um Koshuch, immer gewaltiger die sich gegen ihn konzentrierende Kraft. Man muss weiter — um jeden Preis weiter! Noch kann man sich durchschlagen, noch sind die roten Hauptkräfte nicht weit... Koshuch aber rührt sich nicht.
Er hat nicht das Herz, weiterzumarschieren, solange die zurückgebliebenen Kolonnen noch nicht heran sind. Er weiß, dass sie kampfunfähig sind; wenn man sie ihrem eigenen Schicksal überlässt, werden sie von den Kosaken kurz und klein geschlagen, bis auf den letzten Mann niedergemetzelt werden. Dann wird der Ruhm, der Koshuchs Zukunft, die Zukunft dieses Retters von Zehntausenden von Menschen, verklären soll, durch die Vernichtung der zurückgebliebenen Kolonnen getrübt werden.
Und er schickte sich an, zu warten. Die Kosaken aber häuften immer mehr Streitkräfte an. Mit unwiderstehlicher Gewalt schloss sich der eiserne Ring, und wie um das zu bestätigen, begann die feindliche Artillerie, Himmel und Steppe erschütternd, die Menschen mit Strömen von Eisen zu überschütten. Aber Koshuch rührte sich nicht vom Fleck. Er gab nur den Befehl, das Feuer zu erwidern. Des Tages flammten über den beiden Linien unzählige weiße Knäuel in der Luft auf, die sich sofort wieder in zarten Hauch auflösten; des Nachts durchzitterten feurige Lohen die Finsternis, so oft, dass man das Rauschen des Flusses nicht hörte.
Ein Tag verging, eine Nacht verging. Die Geschütze dröhnen, werden heiß — und die Kolonnen sind noch immer nicht da. Der zweite Tag und die zweite Nacht vergingen, und noch immer ist die Kolonne nicht da. Es fehlt bereits an Munition. Koshuch befiehlt, Munition zu sparen. Das ermuntert die Kosaken: sie sehen, dass das Feuer nicht mehr wie früher erwidert wird, dass man nicht weiter vorgeht. Und sie beginnen den Angriff vorzubereiten.
Drei Tage schon hat Koshuch nicht mehr geschlafen. Sein Gesicht ist wie gegerbtes Leder. Er hat das Gefühl, als ob seine Beine bis an die Knie in die Erde versänken. Die vierte Nacht beginnt, erleuchtet vom unaufhörlichen Aufblitzen der Schüsse. Koshuch sagt:
»Ich lege mich auf eine Stunde hin, wenn's was gibt, weckt mich sofort.«
Er hatte kaum die Augen geschlossen, als man ihn schon wieder weckte:
»Genosse Koshuch! Genosse Koshuch! Es steht schlimm...« Koshuch springt auf — er begreift nicht, wo er sich befindet, was mit ihm los ist. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht, wischt sich den Schlaf aus den Augen, da fällt ihm auch schon die Stille auf: die Tag und Nacht dröhnenden Geschütze sind verstummt; nur Gewehrgeknatter erfüllt noch die Dunkelheit. Eine schlimme Geschichte — also ist das Handgemenge schon im Gange. Vielleicht ist auch schon die Front durchbrochen! Und er hörte, wie der Fluss braust.
Er hastet zum Stab — sieht, dass sich alle Gesichter verändert haben, fahlgrau sind sie.
Er reißt einem das Hörrohr aus der Hand — die georgischen Telefone kamen ihnen jetzt gut zustatten:
»Ich bin's — der Kommandierende.«
Es hört sich an, als wenn eine Maus aus dem Telefon piepst:
»Genosse Koshuch, schicken Sie uns Verstärkung. Ich kann mich nicht länger halten! Starke Stoßtruppen, Offiziersbataillone.«
Koshuch erwidert hart:
»Verstärkung werde ich nicht geben, habe keine, haltet aus bis zum letzten Mann.«
Aus dem Telefon:
»Ich kann nicht... Der ganze Angriff konzentriert sich gegen mich, wir halten nicht...«
»Sie müssen die Stellung halten, sage ich Ihnen. Wir haben keinen einzigen Mann in Reserve. Ich komme gleich selbst hin.«
Und Koshuch hört nicht mehr, wie der Fluss rauscht: er hört, wie vorn, rechts und links das Gewehrgeknatter ertönt.
Er gab Befehle... kam aber nicht dazu, zu Ende zu sprechen.
Er sah trotz der Dunkelheit sofort, dass die Kosaken eingebrochen waren; sie hauen wie wütend drein; eine Kavallerieabteilung fliegt durch die Bresche.
Koshuch stürzt weiter — da trifft er auf den Kommandeur, der eben telephonisch mit ihm gesprochen hatte.
»Genosse Koshuch...«
»Warum sind Sie hier?«
»Ich kann mich nicht mehr halten... Sie sind durchgebrochen...«
»Wie haben Sie sich unterstanden, Ihre Leute im Stich zu lassen?!«
»Genosse Koshuch, ich wollte Sie persönlich um Verstärkung bitten.«
»Verhaftet ihn!«
Ein wildes Gewühl, Schüsse, Säbelhiebe, ein unentwirrbarer Knäuel wälzt sich durch die Finsternis. Hinter den Wagen, hinter den schwarzen Umrissen der Dorfhäuser zucken Revolver- und Gewehrschüsse. Der Teufel selbst kann hier Freund und Feind nicht voneinander unterscheiden... Möglich sogar, dass seine Leute sich gegenseitig vernichten... Oder träumt er das alles nur?
Koshuch erkennt in der Dunkelheit die Gestalt des ihm entgegeneilenden Adjutanten. »Genosse Koshuch...«
Er hat eine erregte Stimme — jeder will ja noch ein wenig leben! Und plötzlich hört der Adjutant: »Nun... ist's das Ende?«
Eine unbekannte Stimme, eine Stimme, wie man sie noch nie von Koshuch gehört hat. Schüsse, Schreie, ein stöhnendes, ächzendes Gewühl — und bei dem Adjutanten regt sich irgendwo in der Tiefe, halb unbewusst, ein blitzschneller, ein wenig schadenfroher Gedanke:
,Aha! — Du bist also auch nur ein Mensch, wie wir alle...
willst also auch leben!'
Aber das dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Es ist stockfinster, man sieht nichts, aber man fühlt: Koshuchs Gesicht ist steinern, und die harte Stimme tönt durch die zusammengepressten Kinnladen:
»Sofort ein Maschinengewehr vom Stab an die Durchbruchstelle. Alle Leute aus dem Stab, aus dem Train sammeln, die Kosaken soweit wie möglich an die Wagen drängen. Eine Eskadron vom rechten Flügel heranholen...«
»Zu Befehl!«
Der Adjutant taucht in der Dunkelheit unter. Koshuch stürzt weiter. Rechts, links — aufblitzende Zungen der Gewehrschüsse; eine Stelle von etwa siebzig Meter Breite ist finster: hier sind die Kosaken eingebrochen. Aber die Soldaten sind nicht geflohen, sie sind nur zur Seite gedrängt worden. Sie lagen, wie es gerade kam, in gedeckten Stellungen und schossen. Trotz der Dunkelheit kann man sehen, wie weiter vorne Knäuel von Menschen von Stelle zu Stelle hüpfen — immer näher kommen sie... fallen nieder und schießen: Flammenzungen blitzen auf — die Soldaten schießen nach diesen Flammenzungen.
Man rollte das schwere Maschinengewehr des Stabes heran. Koshuch befahl, das Feuer einzustellen und nur nach Kommando zu schießen. Er setzte sich ans Maschinengewehr und fühlte sich auf einmal sicher und wohl. Rechts und links — blitzendes Geknatter. Sobald die Soldaten zu feuern aufhörten, stürzte die feindliche Schützenkette heran: Hurra-a-a!... Sie sind schon nahe, schon erkennt man die einzelnen Gestalten, die, das Gewehr in der Hand, gebückt laufen. Koshuch: »Schnellfeuer!«
Und er richtete sein Maschinengewehr: Trr-trr-trr...
Wie dunkle Kartenhäuschen brechen die schwarzen Gestalten zusammen. Die Sturmlinie stockt, schwankt eine Weile und... flutet panikartig in die Dunkelheit zurück. Wieder herrschte undurchdringliche Finsternis, die Schüsse fielen seltener, nach und nach wurde das Rauschen des Flusses hörbar. Auch im Rücken begannen die Schüsse zu verstummen — die Kosaken, ohne Unterstützung, zerstreuten sich allmählich, ließen ihre Pferde im Stich, versteckten sich unter die Wagen, in den Hütten und Gärten. An die zehn Mann wurden gefangen genommen. Säbel hieben auf die nach Schnaps riechenden Münder ein.
Als der Morgen graute, wurde der verhaftete Kommandeur zum Friedhof geführt. Man kehrte ohne ihn zurück.
Die Sonne stieg auf und erleuchtete die unbewegliche, gebrochene Kette der Gefallenen, die dalagen, als hätte sie eine Flusswelle herangespült und zurückgelassen. Stellenweise lagen sie in dichten Haufen — dort, wo in der Nacht Koshuch mit seinem Maschinengewehr gewesen war. Die Kosaken schickten einen Parlamentär: Koshuch erlaubte ihnen, die Toten aufzulesen — wenn sie liegen bleiben, gibt's Verwesungsgeruch und Krankheiten.
Nachdem die Leichen fortgeschafft waren, begannen wieder die Geschütze zu donnern. Wieder erschüttert ein unmenschliches Dröhnen Himmel und Steppe, qualvoll hallen die Schläge in Brust und Gehirn wider. Ein Regen von Metallsplittern geht nieder. Alles, was lebt, sitzt und geht, mit offenem Munde — das ist besser für die Ohren; die Toten warten regungslos, dass sie ins Hinterland fortgeschafft werden.
Die Patronentaschen leeren sich, die Munitionskästen ebenfalls. Aber Koshuch rührt sich nicht vom Fleck — von den zurückgebliebenen Kolonnen ist nichts zu hören. Er ruft die Kommandeure zu einer Beratung zusammen, er will nicht die Verantwortung allein tragen; wenn sie bleiben, gehen alle zugrunde; wenn sie sich durchschlagen und weitermarschieren — gehen die zurückgebliebenen Kolonnen zugrunde.
XXXV
Weit im Rücken, wo Wagen, Pferde, Greise, Kinder, Verwundete endlos über die Steppe dahinziehen, senkt sich die Abenddämmerung blau herab. Wie jeden Abend, so war es. auch diesmal: blaue Rauchsäulen stiegen von den Feuern auf.
Es macht nichts, dass man an die fünfzehn Kilometer weit weg ist, dass die Erde den ganzen Tag über von schwerern, fernem Dröhnen erschüttert wurde; man hatte sich daran gewöhnt, bemerkte es nicht mehr.
Es blaut die Dämmerung, es blaut der Rauch der Lagerfeuer, es blaut der ferne Wald. Und zwischen dem Wald und den Wagenreihen blaut die öde, geheimnisvolle Ebene der Felder.
Stimmen, Klirren, Tierschrei, Kinderweinen, Eimerrasseln — und die zahllosen rötlichen Lagerfeuer.
In diese Heimatlichkeit, in diesen friedlichen Wirrwarr flog, im Walde geboren, etwas Fernes, Fremdes hinein.
Anfangs war es nur ein gedehntes fernes A-a-a-al.... irgendwo weit aus der trüben Dämmerung kam es, aus dem trüben Schimmer des Waldes: A-a-a-a!...
Dann lösten sich schwärzliche Flecke vom Walde ab, einer nach dem andern... schwarze Schatten entfalteten sich, schlossen sich dann längs des Waldes zu einem schwarzen schwankenden Streifen und rollten, wachsend, dem Lager zu, und mit ihnen das ebenfalls anwachsende, Todesgrauen verbreitende Rrr-a-a-a-a!
Alle Köpfe, soviel es ihrer nur gab — Menschen- und Tierköpfe —, wandten sich einem trüben Waldstrich zu, von dem die schwankende Linie mit aufblitzenden Nadeln darüber dem Lager zurollte.
Aller Augen sahen dorthin. Rötlich schimmerten die Lagerfeuer.
Alle hörten es auf einmal: die ganze Erde füllte sich bis tief in ihren Schoß hinein mit schweren Hufschlägen, sogar der ferne Geschützdonner wurde übertönt.
A-a-a-a!...
Zwischen den Rädern, Deichseln, Feuern klangen Stimmen auf, voller Todesgewissheit:
»Die Kosaken!... Kosaken!... Kosa-a-ken!«
Die Pferde hörten zu kauen auf, spitzten die Ohren, Hunde verkrochen sich unter die Wagen.
Keiner versuchte zu fliehen, sich zu retten; alle blickten starr in die dunkle Dämmerung, woher die schwarze Lawine kam.
Dieses große, vom dumpfen Huftritt erfüllte Schweigen wurde auf einmal vom Schrei einer Mutter durchbrochen. Sie packte ihr Kind, das einzige ihr gebliebene Kind, presste es an die Brust, stürzte der heranrollenden Lawine entgegen. Durchdringend erklang ihr Schrei:
»Tod!... To-od!... Der To-od kommt!...«
Und wie eine Epidemie griff der Schrei um sich, erfasste Zehntausende von Kehlen:
»Der To-od!... Der To-od!...«
Alle, so viele es ihrer gab, packten, was ihnen unter die Hände geriet — einen Stock, ein Kummet, einen Rock, ein Reisigbündel, die Verwundeten ergriffen ihre Krücken —, und alle fuchtelten damit in einem Anfall von Verzweiflung in der Luft, stürzten sich dem Tode entgegen.
»To-od!... To-od!...«
Kinder klammerten sich an die Röcke der Mütter, rannten ihnen aus Leibeskräften nach und schreien mit ihren dünnen Stimmchen:
»To-od!... To-od!...«
Die galoppierenden Kosaken, die unerbittlich auffunkelnden Säbel fest umklammernd, sahen im Dämmer der sich herabsenkenden Nacht zahllose Reihen von Schützenketten vor sich, die sich gleich einem Ozean heranwälzten, mit zahllosen erhobenen Gewehren und schwarzwehenden Fahnen, begleitet von dem einen tierhaft herausgebrüllten endlosen Ruf:
»To-od!...«
Ganz unwillkürlich, ohne jedes Kommando, strafften sich die Zügel, mit aufgeworfenen Köpfen hoben sich die Pferde auf die Hinterbeine und blieben stehen. Die Kosaken verstummten, richteten sich in den Steigbügeln auf, blickten scharf auf die schwarz heranrollenden Reihen. Sie kannten den Brauch dieser Teufelsbrut — ohne einen einzigen Schuss dicht heranzukommen, um Brust an Brust sich in satanischer Wut mit dem Bajonett auf den Feind zu stürzen. So war es immer; seit sie von den Bergen gekommen sind, und bis auf die letzten Nachtangriffe, wo sie wie stumme Teufel plötzlich in den Schützengräben der Kosaken auftauchten — viele Kosaken sind in ihrer Heimatsteppe liegen geblieben.
Und hinter den Wagen, hinter den zahllosen Feuern, wo die Kosaken hilflose Haufen von unbewaffneten Greisen, Weibern und Kindern vermuteten, und von hier aus, vom Rücken her, einen panischen Schrecken gleich einem Brand in allen Truppenteilen des Feindes zu verbreiten wähnten — kamen immer neue Massen von Truppen herangestürmt, die dunkle Nacht mit dem furchtbar drohenden Gebrüll erfüllend:
»Tod!«
Und als die Kosaken sahen, dass der Zustrom von feindlichen Massen schier kein Ende nehme, rissen sie die Pferde herum, hieben auf sie ein und sprengten in wilder Karriere davon. Man hörte die Sträucher und die Bäume im Walde krachen.
Die vordersten Reihen der rennenden Frauen, Kinder, Verwundeten, Greise blieben endlich mit Todesschweiß auf dem Gesicht stehen. Schwarz gähnte vor ihnen der öde, menschenleere Wald. |
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