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Die Bootswinde quietschte. Ein Fangboot wurde zu Wasser gelassen. Da die Ausladung der Davits zu gering war, musste das Boot beim Fieren nach außen gestemmt werden, damit es nicht an der Bordwand hängenblieb. Diese Arbeit war lebensgefährlich, denn auf alten Schiffen wie der „Hakkomaru" schlenkerten die Davits hin und her wie die Kniegelenke eines Beriberikranken. Manchmal spulte sich auch nur eine der beiden Taljen ab, so dass das Boot fast senkrecht in der Luft hing wie ein Hering im Rauch. Bei diesem Manöver war es schon oft zu Unfällen gekommen. Auch an diesem Morgen schrie plötzlich einer: „Vorsicht! Vorsicht!" Aber das Unglück war bereits geschehen. Einer der Krabbenfischer hatte einen Schlag gegen den Kopf erhalten, dass er auf der Stelle zusammenbrach. Als seine Kameraden ihn vorsichtig in die Arztkajüte trugen, fluchten sie laut auf Asagawa. Sie beschlossen, den Arzt um ein Attest für den Verunglückten zu bitten, denn sie wussten, dass Asagawa versuchen würde, sich der Verantwortung zu entziehen.
Die Krabbenfischer schienen dem Schiffsarzt leid zu tun. „Die Verletzungen durch Schläge und sonstige schlechte Behandlung sind auf diesem Schiff häufiger als Arbeitsunfälle", hatte er einmal gesagt. „Ich führe darüber genau Tagebuch." Als sie nun in dem Glauben, er habe Verständnis für sie, das Attest forderten, ging er nicht darauf ein. „Ein Attest gebe ich nicht."
„Dann geben Sie uns wenigstens schriftlich, wie der Befund lautet!"
Der Schiffsarzt wurde nervös. „Nach den Bestimmungen, die auf diesem Schiff gelten, darf ich keine Atteste ausstellen. Es ist nun einmal so festgesetzt. Es könnten sich für die Firma Schwierigkeiten daraus ergeben."
Unter den Krabbenfischern, die den Verunglückten hergebracht hatten, befand sich auch der Stotterer. Er hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, brachte sie aber nicht heraus.
„Neulich ließ sich einer von mir untersuchen, der von Asagawa geohrfeigt worden war und dadurch das Gehör verloren hatte. Wollte ich in all diesen Fällen Atteste schreiben, so wäre kein Ende abzusehen. Es genügt, wenn ich eine Liste führe." Als die Krabbenfischer die Kajüte verließen, wussten sie, dass der Arzt nicht auf ihrer Seite stand. Wider Erwarten blieb der Verunglückte am Leben. Man hörte ihn stöhnen, wenn er tagsüber aufstand und in den dunklen Winkeln umher humpelte. Bald besserte sich sein Befinden, die Krabbenfischer brauchten sich keine Sorge mehr um ihn zu machen. Stattdessen starb der an Beriberi erkrankte und seit langem bettlägerige Krabbenfischer. Er war erst siebenundzwanzig Jahre alt, ein Büro in Tokio hatte ihn angeheuert. Der Inspektor gestattete eine Totenwache nur unter der Bedingung, dass die Arbeit nicht leide.
Ein fürchterlicher Geruch verbreitete sich, als man dem Toten die Kleider auszog. Den Leuten, die sich um ihn bemühten, verschlug es den Atem. Dicke, weißgraue Läuse krochen auf dem Körper umher, der, von schuppigem Dreck bedeckt, aussah wie ein gestürzter morscher Kiefernstamm. Auf der Brust schimmerten die weißen Rippen durch die Haut. Da er sich in der letzten Zeit nicht mehr hatte bewegen können, hatte er alles unter sich gelassen. Die Bettdecke war durchtränkt, Hose und Hemd waren dunkelbraun und zerfielen, wie von Säure zerfressen, wenn man sie anfasste. Der Unterleib war schmutzverkrustet. „Ich will nicht in Kamtschatka sterben!" sollen seine letzten Worte gewesen sein; aber da niemand bei ihm gewesen war, als er starb, wussten sie es nicht genau.
Keiner von ihnen wollte in Kamtschatka sterben. Die Tränen kamen ihnen, wenn sie an den Tod dieses Kameraden dachten.
„Nehmt reichlich", sagte der Koch, als die Leute bei ihm heißes Wasser holten, um den Toten zu waschen. „Es tut mir leid, dass er so im Schmutz verkommen musste."
Als der Inspektor sie mit dem Kübel traf, herrschte er sie an: „Wohin wollt ihr damit?" „Den Toten waschen."
„Das ist Luxus!" Der Inspektor wollte noch mehr sagen, beherrschte sich aber und ging weiter. „Fort war er, und ich habe verpasst, ihm das kochende Wasser ins Gesicht zu schütten", erzählte einer der Wasserholer, als er, zitternd vor Wut, den anderen von dieser Begegnung berichtete. Sie beschlossen einmütig, nachts gemeinsam Totenwache zu halten, wenn sie auch am nächsten Tag vor Müdigkeit nicht so flott würden arbeiten können. Alle Vorbereitungen waren getroffen, Räucherwerk stand bereit, und die Wachskerzen brannten. Die Männer setzten sich rings um den toten Kameraden, entschlossen, die ganze Nacht bei ihm zu wachen. Der Inspektor ließ sich nicht blicken, nur der Kapitän und der Arzt kamen für eine Stunde zu ihnen.
Einer der Männer wusste ein paar Sätze aus dem Totengebet auswendig. Er betete sie vor, ohne Zusammenhang, so, wie sie ihm einfielen. Die anderen fanden nichts dabei. „Es kommt von Herzen", sagten sie und schnäuzten sich die Nasen, anfangs nur einige, schließlich alle. Das war das Totengebet der Krabbenfischer. Dann verbrannten sie, jeder für sich, das Räucherwerk. Die Sitzordnung lockerte sich, mehrere Gruppen bildeten sich, eine lebhafte Unterhaltung begann.
„Der Kamerad ist tot. Wir leben ja noch, aber machen wir uns nichts vor, wir stehen alle mit einem Bein im Grab."
Als der Kapitän und der Schiffsarzt gegangen waren, trat der Stotterer an den Tisch mit den Wachskerzen und dem brennenden Räucherwerk. „Ein Gebet kriegt ihr von mir nicht zu hören", begann er. „Ich kann nicht beten. Mit Gebeten können wir Jamadas Seele auch nicht trösten. Ich will euch sagen, wie ich über Jamadas Tod denke. Er wollte nicht sterben, heißt es. Richtiger müsste es heißen: Jamada wehrte sich dagegen, gemordet zu werden. Das ist die Wahrheit: Man hat ihn gemordet." Es war still geworden, alle hörten dem Stotterer aufmerksam zu.
„Wer aber hat ihn gemordet? Ich brauche es nicht zu sagen, ihr wisst es. Nein, mit Gebeten können wir Jamadas Seele nicht trösten. Rache müssen wir nehmen an seinem Mörder, dann wird seine Seele Ruhe finden. Wir müssen hier an seiner Bahre schwören, dass wir ihn rächen werden." Ein Matrose antwortete als erster: „Ja, das müssen wir tun!"
Zarte, weißgraue Rauchfäden schwebten in der nach Krabbenfleisch und menschlichen Ausdünstungen stinkenden Luft des Jauchefasses, Weihrauchduft breitete sich aus wie in einem Tempel. Um neun Uhr kamen die Saisonarbeiter. Müde und abgespannt, setzten sie sich, wo sie Platz fanden, und schliefen sofort ein. Manche fielen um wie Säcke voll Steine. Auch einige Krabbenfischer übermannte der Schlaf.
Draußen wurde das Meer wieder unruhig. Das Schiff hob und senkte sich in der rollenden Dünung. Die Flammen der Wachskerzen zitterten und drohten zu verlöschen, flackerten aber im nächsten Augenblick wieder hell. Plötzlich bewegte sich das Tuch auf dem Gesicht des Toten, glitt zur Seite und fiel herunter. Ein kalter Schauer überlief die Krabbenfischer. Draußen dröhnten die Wogen.
Am nächsten Morgen begann wie immer um acht Uhr die Arbeit. Zwei Krabbenfischer und zwei Matrosen, die der Inspektor bestimmt hatte, kehrten in das Jauchefass zurück. Noch einmal, wie am Vorabend, sprach der Vorbeter die Gebete. Dann legten sie den Toten in einen Leinensack. Die vier Kranken, die sich im Jauchefass aufhielten, weil sie nicht arbeiten konnten, halfen ihnen dabei. Einen neuen Sack hatten sie nicht nehmen dürfen, obwohl genug neue Säcke da waren; das sei Luxus, er würde ja sofort ins Meer geworfen, hatte der Inspektor gesagt. Räucherwerk konnten sie nicht mehr abbrennen, da alles verbraucht war.
„Das tut uns leid, so hat er gewiss nicht sterben wollen", sagten die Männer und bemühten sich, dem Toten die Arme zurechtzulegen, die steif und hart waren wie bei einer Mumie. „Lass die Tränen nicht auf sein Gesicht tropfen!" — „Man müsste versuchen, ihn mit nach Hakodate zu nehmen." — „Wenn er wüsste, dass wir ihn in das tückische Meer von Kamtschatka werfen." — „Nein, hier in Kamtschatka möchte ich nicht mein Grab finden! Im September wird es hier bereits Winter, dann kommt kein Schiff mehr vorbei, weil das Meer zufriert. Nein, hier möchte ich nicht hinunter!" — „Nicht einmal einen neuen Sack hat man für ihn übrig, und von vierhundert Kameraden dürfen ihm nur vier das Geleit geben." — „Ja, unsereinem wird sogar das Sterben nicht gegönnt." Die Mannschaft hatte um einen halben Tag Urlaub für die Bestattung gebeten. Der Inspektor hatte abgelehnt. „Der Fang von gestern muss verarbeitet werden. Das allgemeine Interesse darf nicht unter Privatinteressen leiden."
Die ganze Angelegenheit dauerte ihm viel zu lange, ungehalten rief er von der Luke her: „Seid ihr da unten bald fertig?"
„Ja, es ist soweit."
„Dann schafft ihn endlich rauf!"
„Der Kapitän hat versprochen, ein Trauergedicht zu lesen."
„Der Kapitän will ein Gedicht vorlesen?" Der Inspektor lachte höhnisch. „Quatsch! Solche Zeitvergeudung fehlte mir gerade noch." Auf dem Deck türmten sich Berge von Krabben. Ein dauerndes Knistern und Knarren war in der Luft von den Tausenden Krabbenbeinen, die über die Deckplanken scheuerten. Wie ein Fangnetz voller Lachse und Heringe trugen sie den Sack mit dem Toten an das Heck des Schiffes und luden ihn auf die Barkasse. „Fertig! Los!"
Schraubenwasser schäumte auf, die Barkasse fuhr davon.
„Lebe wohl!"
„Seid behutsam mit ihm!"
„Wir werden es ihm leicht machen."
Die Barkasse war schon weit weg, aber noch immer
standen die Männer an der Reling und sahen ihr
nach. „Mir war, als hörte ich seine Stimme: Ich will
nicht!", sagte einer von ihnen.
Als die Krabbenfischer nach ihrer Rückkehr vom Fang erfuhren, wie pietätlos der Inspektor sich verhalten hatte, waren sie empört. Jeder schauderte bei dem Gedanken, dass es auch ihm so gehen könnte, dass auch er in die Tiefe des Meeres von Kamtschatka hinuntermüsste. Wortlos stiegen sie hinunter ins Jauchefass und zogen die triefend nassen Kleider aus.
Wir wissen, was wir zu tun haben! war ihr gemeinsamer Gedanke. |
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