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Takidji Kobajaschi - Krabbenfischer (1929)
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Der Regen hörte nicht auf. Die Silhouette der Kamtschatkaküste wand und drehte sich in der Ferne wie der glatte, nasse Leib eines riesigen Aales. Vier Meilen von der Küste entfernt, also außerhalb der russischen Hoheitsgewässer, ging die „Hakkomaru" vor Anker. Die Netze wurden ausgeworfen, der Krabbenfang konnte beginnen. Schon um zwei Uhr früh, zu einer Zeit, in der in diesen Breiten die Dämmerung einsetzt, mussten die Krabbenfischer bereitstehen, die bis an die Hüfte reichenden Gummischäfter an den Beinen. Sie schliefen weiter, wo sie einen Platz fanden, und wenn es nur eine der halbzerbrochenen Kisten war, die überall herumlagen.
Die Studenten, die von einem Heuerbüro in Tokio als Saisonarbeiter angeworben worden waren, nahmen kein Blatt vor den Mund. „Die Kisten hier sollen wohl die Einzelquartiere sein, die man uns großzügig versprochen hat?" — „Drecklöcher sind das, aber keine Einzelquartiere." Ihre Gruppe war achtzehn Mann stark. Nach Abzug des Reisegeldes für die Autobusfahrt von Tokio
nach Hakodate, verschiedener Auslagen für Unterkunft und Arbeitskleidung sowie einer als „Werbenkosten" bezeichneten Gebühr des Heuerbüros waren ihnen von den sechzig Jen Heuer nur acht Jen geblieben. Sie saßen betrübt und niedergeschlagen unter den anderen Krabbenfischern. In den vier Tagen seit der Ausfahrt von Hakodate hatte es zu allen Mahlzeiten groben Reis in einer dünnen Brühe gegeben. Die einförmige Kost bekam den Studenten nicht, sie machten sich Sorgen um ihre Gesundheit.
Es begann damit, dass einer sein Bein befühlte und seinem Kojennachbarn erschrocken mitteilte, er habe Beriberi. Wie eine Seuche verbreitete sich die Angst vor dieser Krankheit. Auf einmal stellten alle fest, dass ihre Füße anschwollen. Einer sprang, als ihm sein Bein eingeschlafen war, von der Koje, trampelte wie wild auf dem Fußboden herum und stach sich mit dem Messer in das Knie, um festzustellen, ob es schon gefühllos sei. Ein anderer hatte keinen Stuhlgang. Er lag mit einem nassen Handtuch um den Kopf in seiner Koje. Als er sich endlich aufraffte und den Schiffsarzt um ein Abführmittel bat, musste er sich sagen lassen: „Solche Luxusdinge gibt es an Bord nicht." „Von einem Schiffsarzt kannst du nicht mehr erwarten", belehrte ihn einer der älteren Krabbenfischer.
Der aus dem Bergwerk bekräftigte die Worte seines Kameraden: „Die Betriebsärzte in den Gruben, in denen ich gearbeitet habe, haben selten was verschrieben."
Während sie herumstanden und sich unterhielten, trat plötzlich Asagawa unter sie. „Habt ihr endlich ausgeschlafen? Hört alle her! Wir haben eine Funkmeldung erhalten, dass die ,Tschidjimaru' gesunken ist. Wie viele von der Besatzung gerettet sind, wissen wir nicht." Er schob die Unterlippe vor und spuckte aus, um seiner Verachtung Ausdruck zu geben.
Der Student, der bereits aus der Erzählung des Stewards vom Untergang der „Tschidjimaru" wusste, war empört, als er hörte, wie dieser Teufel, der mehr als vierhundert Menschen kaltblütig ihrem Verderben überlassen hatte, jetzt höhnisch grinsend die Schiffskatastrophe bekanntgab. Über Bord müsste man ihn werfen, und selbst das wäre noch eine zu milde Strafe für ihn, dachte der Student und warf Asagawa, der achselzuckend das Mannschaftslogis verließ, einen grimmigen Blick nach. Der vermisste Saisonarbeiter war wieder zum Vorschein gekommen. Der Hunger hatte ihn aus seinem Versteck getrieben. Unter den Krabbenfischern fand sich einer, der ihn ergriff und vor Asagawa führte. Es war ein älterer Mann. Die anderen, vor allem die jüngeren, stellten sich sofort auf seine Seite und drohten, den Verräter zu verprügeln.
„Mir schmecken jedenfalls die Zigaretten, und ihr könnt von weitem auch mal daran riechen", erwiderte, von den Drohungen wenig beeindruckt, der ältere Krabbenfischer, zeigte auf seine beiden Schachteln und blies ihnen den Rauch ins Gesicht. Für den Saisonarbeiter hatte die Angelegenheit schlimme Folgen. Der Inspektor ließ ihm nur ein dünnes Hemd auf dem Leib, stieß ihn in einen der beiden Aborträume und verriegelte die Tür von außen. Alle mussten in dieser Zeit den anderen Abort benutzen, dabei gellten ihnen die Jammerschreie des Eingesperrten in den Ohren. Am nächsten Tag war die Stimme schwach und heiser und zeitweise nicht mehr zu hören. Gegen Abend fassten sich einige ein Herz und rüttelten an der Tür. Als sie keine Antwort erhielten, brachen sie die Tür auf. Sie fanden Mijagutschi, die eine Hand in den Sitz verkrampft, den Kopf tief über die Papierkiste gebeugt. Seine Lippen waren blau vor Kälte, wie mit Tinte gefärbt. Er sah aus wie eine Leiche. Am nächsten Morgen war es sehr kalt. Die Leute froren, sie vergruben die Hände tief in den Taschen und zogen den Kopf ein, als sie aus ihren Kojen krochen. Der Inspektor machte seinen üblichen Morgenrundgang durch die Logis der Krabbenfischer und Saisonarbeiter, um sie an die Arbeit zu treiben. Entschuldigungen wegen Erkältung oder anderer Krankheiten ließ er nicht gelten. Es war windstill. Die Leute, die im Freien arbeiteten, spürten die Kälte immer mehr. Der Chef der Saisonarbeiter jagte seine Leute wüst schimpfend vor sich her; die Arbeit sollte beginnen. Seine Hand umklammerte den Bambusstiel einer mehrschwänzigen Lederpeitsche. Mit ihr pflegte er die „Faulpelze" auszupeitschen. Das geschah an Ort und Stelle, wo sich gerade die Gelegenheit bot, den Bestraften anzubinden. Einer der Krabbenfischer, der es gut meinte mit den Studenten aus Tokio, hielt ihnen warnend Mijagutschis Schicksal vor Augen. „Ihr habt es ja selbst gesehen. Asagawa hat ihn eingesperrt. Beinahe hätte er es nicht überstanden. Heute Morgen muss er wieder zur Arbeit antreten, Asagawa wird ihm schon mit einigen Fußtritten Dampf machen." Der Sprecher sandte einen hasserfüllten Blick zu dem Antreiber. „Ihr könnt euch sträuben, soviel ihr wollt, am Ende müsst ihr euch doch fügen."
Asagawas Augen funkelten wild. Er hatte es vor allem auf die jugendlichen Arbeiter abgesehen, die in ihren regennassen Kleidern frierend herumstanden und am ganzen Körper zitterten. Zittern war auf diesem Schiff auch ohne Kälte ein Dauerzustand. Die Leute zitterten vor Asagawa, der Furcht und Schrecken verbreitete, wo immer er sich zeigte. Sie waren wie Kinder, die durch ständige Prügel völlig verängstigt sind. Und viele von ihnen waren wirklich noch halbe Kinder, wenn ihre Gesichter auch kaum noch etwas Kindliches an sich hatten. Ihre Blicke waren scheu, ihre Lippen fest aufeinander gepresst. Vielen sah man die Rachitis an. Die Kälte wurde unerträglich. Es zog die Leute in die Nähe des Kessels im Maschinenraum, aber sie wurden immer wieder hinausgejagt. Auf einmal waren die Krabbenschwärme da. Man glaubte zu spüren, wie es unter der grauen Wasseroberfläche wimmelte. Die Fangboote wurden zu Wasser gelassen. Wortlos, mit einem ängstlichen Blick auf Asagawa, stiegen die ersten Männer ein. Die älteren Krabbenfischer wussten Bescheid, was es mit dem Krabbenfang in den Booten auf sich hatte. Immer, wenn eines der Boote in der Luft schwebte und langsam hinabgefiert wurde, wandten sie sich ab, als könnten sie es nicht mit ansehen. Im Flüsterton oder im Selbstgespräch machten sie ihrem Grimm Luft. „Idioten ihr! Arbeitet die ganze Nacht hindurch, ohne euch Schlaf zu gönnen, und holt euch die schönste Lungenentzündung an den Hals, nur um ein paar Jen mehr zu verdienen als wir. Ihr müsst ja wissen, was ihr tut."
Dem Inspektor ging es nicht schnell genug, er stieß seinen Knüppel mit Wucht auf die Deckplanken, alle schraken zusammen.
Einer sagte: „Schlimmer als im Gefängnis geht es hier zu."
Ein anderer drohte: „Hier kannst du befehlen, Asagawa. Aber wenn wir wieder daheim sind, dann werden wir den anderen Menschen erzählen, was hier los ist. Sie werden es uns nicht glauben, weil sie sich so etwas gar nicht vorstellen können." Ununterbrochen drehten sich die mit dem Dampf aus den Schiffskesseln betriebenen Winden der Bootsdavits. Kommandos ertönten. Matrosen und Heizer rannten über das Deck und glitten aus, auch wenn sie noch so vorsichtig waren. Mitten unter ihnen stand der Inspektor, wie ein Hahn, der mit geschwollenem Kamm auf sein gefiedertes Volk blickt. Als die Tokioter Studenten in einer Pause an einer geschützten Stelle hinter Ballen und Kisten beisammenhockten, kroch der aus dem Bergwerk zu ihnen. Er hielt die steifgefrorenen Hände vor den Mund, um sie aufzutauen. „Was hier getrieben wird, ist reiner Mord." Er sprach damit allen aus dem Herzen. „Auf dem Krabbenfangschiff geht es nicht anders zu als im Bergwerk. Hier wie dort muss man dauernd sein Leben aufs Spiel setzen, wenn man nicht verhungern will. Im Bergwerk droht der Erstickungstod, hier erfriert oder ersäuft man." Kurz nach Mittag änderte der Himmel überraschend sein Aussehen. Eine Nebelschicht legte sich über das Meer, neue Luftschichten schoben sich heran. Auf
dem Wasser bildeten sich merkwürdige dreieckige Wellen, als höben sich die Zipfel ungezählter über das Wasser gebreiteter Decken. Windstöße fuhren über das Schiff, in den Masten begann es zu sausen. Die Planen über den Kisten wurden hochgerissen, knatterten in der Luft und fielen klatschend auf die Deckplanken.
„Die Hasen laufen! Die Hasen...!" schrie einer auf dem Steuerborddeck. Der Wind trug den Schrei über das ganze Schiff. Im ersten Augenblick fand kaum jemand einen Sinn darin, manche dachten, da sei einer verrückt geworden. Als aber andere den Ruf aufnahmen und dauernd wiederholten, fingen die Leute an zu begreifen, was gemeint war. Weiße Schaumkronen tauchten rings um das Schiff auf, so weit der Blick reichte. Es sah wirklich so aus, als liefen unzählige Hasen über ein Feld. Das waren die Vorboten des gefürchteten „Kamtschatkasturms". Eine Strömung kam auf, plötzlich lag das Schiff quer zur Fahrtrichtung, und Kamtschatka, eben noch steuerbord, tauchte jetzt backbord auf. Die an Deck arbeitenden Krabbenfischer und Matrosen wurden unruhig.
Über ihren Köpfen heulte plötzlich die Sirene. Alle sprangen hoch und starrten in die Luft. Sie standen unter dem Schornstein, der, schräg nach hinten geneigt, aussah wie ein riesiger Eimer. Sein runder Bauch vibrierte, während aus der in halber Höhe befestigten tellerförmigen Sirene der gellende Ton hervorquoll, der in dem Donnern der höhersteigenden Dünung ein klägliches Heulen wurde. Das Signal sollte die Fangboote warnen und auffordern, so schnell wie möglich zurückzukehren. An der Luke zum Maschinenraum drängten sich Krabbenfischer und Matrosen. Über ihre Gesichter huschte in unregelmäßigen Abständen, je nach den Schaukelbewegungen des Schiffes, der Lichtschein einer Lampe, er ließ sie aufleuchten und im nächsten Augenblick wieder im Dunkel verschwinden. „Was ist denn los?" Der aus dem Bergwerk schob sich zwischen die Leute.
Wütende Rufe erschollen. „Schlagt Asagawa tot, den Halunken!"
Es hatte sich herumgesprochen, dass Asagawa frühmorgens von einem zehn Seemeilen entfernt ankernden Schiff Sturmwarnung erhalten hatte. Er war, statt die Fangboote sofort zurückzurufen, mit einem Achselzucken darüber hinweggegangen. „Wer bei dem bisschen Seegang schon das Zittern bekommt, hätte nicht nach Kamtschatka fahren sollen", hatte er gesagt. Der Funker hatte es einem der Krabbenfischer erzählt.
„Bedeuten ihm denn Menschenleben nichts?" fragte der Krabbenfischer.
„In Asagawas Augen seid ihr doch keine Menschen", war alles, was der Funker erwiderte.
Dunkelrot vor Zorn, war der Krabbenfischer zu seinen Kameraden geeilt und hatte ihnen alles mitgeteilt. Nun machten sie ihrem Herzen Luft. Einer von ihnen, dessen Vater mit einem der Fangboote unterwegs war, trat aus dem Kreis und verschwand im Hintergrund. Die Sirene heulte noch immer. Ihr gellender Ton zerrte an den Nerven und drang ins Herz.
Als es dunkel wurde, erklangen Rufe von der Brücke. Einige, die gerade auf Deck waren, liefen, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Zwei Fangboote kehrten zurück. Sie waren durch ein Tau miteinander gekoppelt. Die Wogen verlegten ihnen den Weg zum Schiff. Die „Hakkomaru" und die beiden Boote schaukelten wie die Enden eines Wippbalkens auf und ab. Unablässig rollte die hohe Dünung und trieb ihr Spiel mit den Fangbooten. Sie kamen wohl einigemal zum Greifen nahe heran, aber es gelang nicht, sie festzumachen.
Den Männern auf dem Schiff stockte der Atem. Wieder flog ein Tau vom Mutterschiff zu den Booten hinüber, erreichte sie aber nicht, sondern klatschte auf das Wasser, dass es hoch aufspritzte. Wie eine große Seeschlange schwamm es eine Weile im Wasser, dann wurde es eingezogen. Mehrere Male wiederholte sich dieser Vorgang. Vom Schiff wurde gerufen, aber keiner in den Booten antwortete;
die Männer kämpften verbissen um ihr Leben. Ihre Gesichter waren unbeweglich, wie versteinert, ihre Blicke gingen ins Leere, als lauerte dort an einem fernen Punkt das Verderben. Das Bild der stumm kämpfenden Männer prägte sich den Krabbenfischern unauslöschlich ein.
Noch einmal wurde das Tau geworfen. Federnd wie eine Spirale, schnellte es hoch, sauste durch die Luft und wand sich diesmal einem Krabbenfischer im ersten Boot um den Hals. Der Stoß war so heftig, dass der Mann umgerissen wurde. Angstrufe ertönten, aber der Mann hielt das Tau fest in der Hand. Es wurde angezogen, hing tropfend in der Luft und straffte sich. Die Männer atmeten auf. Die Sirene ließ weiter ihren langgezogenen Klageruf ertönen. Der Sturm trug ihn weit über das Meer. Vor Einbruch der Nacht waren bis auf zwei alle Fangboote zurückgekehrt. Jedesmal, wenn einer der Krabbenfischer mit Mühe an Deck geklettert war, brach er vor Erschöpfung zusammen. Die Rückkehrer erzählten, dass eines der beiden überfälligen Fangboote voll Wasser gelaufen sei. Die Mannschaft habe jedoch, bevor es sank, auf ein zu Hilfe geeiltes Fangboot übersteigen können. Das zweite überfällige Boot blieb mit seiner Mannschaft verschollen.
Asagawa kam, um sich Bericht geben zu lassen, in das Mannschaftslogis. Als er wieder hinausging, sah man ihm an, dass er vor Wut kochte. Hasserfüllte Blicke folgten ihm, aber kein Wort kam über die Lippen der Männer.
Am nächsten Tag lichtete die „Hakkomaru" die Anker, um neue Krabbenschwärme ausfindig zu machen. Asagawa wollte dabei nach dem vermissten Fangboot suchen lassen; das Schicksal der fünf Krabbenfischer war ihm gleichgültig, aber den Verlust des Fangbootes konnte er nicht verwinden. Vom frühen Morgen an herrschte lebhaftes Treiben in den Maschinenräumen. Das Rasseln des hochgehenden Ankers weckte die Krabbenfischer, deren Logis dicht neben dem Ankerspill lag, sehr unsanft aus ihrem Schlaf. Sie schnellten wie Bohnen, die beim Rösten von der Pfanne springen, aus ihren Kojen. Von den Wänden und von der Decke lösten sich durch die Erschütterung rostzerfressene Eisenteile.
In Höhe des einundfünfzigsten Breitengrades warf die „Hakkomaru" von neuem Anker, die Suche nach dem vermissten Fangboot wurde fortgesetzt. Rings um das Schiff trieben Eisschollen, sie schoben sich allmählich zu einer festen Masse zusammen. So weit das Auge reichte — nichts als Eis. Zwischen den Schollen schien es zu kochen und zu brodeln, Wasserdampf quoll auf. Neue, kältere Luftschichten strömten heran, als triebe ein riesiger Ventilator sie über das Meer. Auf dem Schiff fing es an zu knistern, im Nu war das Deck mit Glatteis überzogen. Wo sich kein Eis bildete, setzte sich Reif an, vor allem an den Bordwänden. Die Männer hielten die Hände vor das Gesicht, wenn sie das Deck betraten. Das Schiff fuhr weiter, scharf schnitt sein Bug durch die weiße Masse. Hinter dem Heck lag eine dunkle Rinne, wie eine Straße, die durch eine weite, weiße Ebene führt.
Gegen neun Uhr wurde von der Brücke ein Boot gesichtet. Als der Ruf „Fangboot voraus" ertönte, erschien der Inspektor an Deck, sein Gesicht zeigte ein selbstgefälliges Grinsen. „Das scheint noch einmal gutgegangen zu sein. Vielleicht bekommen wir den Kahn wieder." Er befahl, die Barkasse zu Wasser zu lassen, er wollte das Boot selber in Augenschein nehmen. Es stellte sich jedoch heraus, dass es nicht das gesuchte Fangboot Nummer eins war, sondern ein Boot jüngerer Bauart. Es trug die Nummer sechsunddreißig. Wahrscheinlich gehörte es zu einem anderen Mutterschiff der Fangflotte. Es war an einer eisernen Boje verankert und offensichtlich zurückgelassen worden, um einen früheren Fangplatz zu kennzeichnen. Asagawas Finger krampften sich um den Bootsrand, als hätte er eine Beute in den Krallen. „Nicht schlecht, der Kahn", murmelte er und ließ ihn in Schlepp nehmen. Als das erbeutete Boot an den Davits über dem Deck hing und das Wasser von ihm abtropfte, funkelten
Asagawas Augen vor Freude über diesen fetten Fang. „Den Kahn können wir gut gebrauchen", sagte er selbstzufrieden. Dann sah er zu den Arbeitern, die mit Netzflicken beschäftigt waren. Mancher von ihnen dachte an die vermissten Fischer. „Den Schädel sollte man ihm einschlagen, dem Schweinehund, je eher, desto besser!" Solche und ähnliche Verwünschungen, halblaut gemurmelt, begleiteten Asagawa auf seinem Gang über das Deck. Die giftigen, verächtlichen Blicke, mit denen er die Arbeiter streifte, bewiesen, dass er es wohl bemerkt hatte. Mit barscher Stimme rief er nach dem Zimmermann. Der steckte seinen Kopf aus der Luke seiner Kajüte und fragte: „Was wollen Sie?" Asagawa ärgerte sich, dass er nach der falschen Seite gerufen hatte und sich nach dem Zimmermann umwenden musste. „Was du tun sollst, du Schafskopf? Ich werde dir gleich sagen, was du tun sollst. Die Nummer dieses Bootes sollst du ändern. Nimm deinen Hobel und komm!"
Der Zimmermann machte ein Gesicht, als hätte er
nicht verstanden.
„Kommst du bald, du Idiot?"
Der schmächtige Zimmermann trat von hinten an den breitschultrigen Inspektor heran; beinahe wäre er auf dem vereisten Deck ausgeglitten. Er trug, wie stets, sein Zimmermannsbeil im Gürtel und hielt einen Hobel in der Hand. Mit gleichgültigem
Gesicht hobelte er die Ziffer sechs ab, so dass nur noch die Drei stehenblieb. So wurde aus dem Fangboot Nummer sechsunddreißig das Fangboot Nummer drei.
Der Inspektor bog sich vor Lachen, dabei verzerrte sich die runde Öffnung mitten in der Maske seines Gesichtes zu einem unförmigen Loch. Die „Hakkomaru" kreuzte weiter nach Norden, aber das vermisste Fangboot blieb verschwunden. Um die Kursabweichung auszugleichen, die durch das Einholen des fremden Fangbootes verursacht worden war, beschrieb das Schiff einen großen Bogen. Der Himmel war inzwischen klar geworden, er strahlte so blank, als wären die Wolken alle weggewaschen. In der Ferne glänzte die Uferlinie Kamtschatkas wie eine verschneite Gebirgskette. Die Krabbenfischer machten sich mit dem Gedanken vertraut, dass sie ihre Kameraden nie wiedersehen würden. Sie nahmen das Gepäck der Vermissten von den Wandbrettern, um die Namen der Angehörigen, die Heimatadressen und mögliche letzte Wünsche festzustellen. Leicht fiel ihnen dieser Liebesdienst nicht. Ihnen kam es vor, als wühlte eine fremde, rohe Hand in ihren Wunden. Sie kramten Briefe und Päckchen hervor, Frauennamen waren daraufgekritzelt. Das nächste Postschiff sollte die Sendungen in die Heimat mitnehmen. In dem Gepäck eines der Vermissten fanden sie einen Brief, dessen Schriftzeichen von einer ungeübten Hand gemalt waren. Man sah ihnen deutlich an, dass der Schreiber hin und wieder abgesetzt und den Bleistift mit der Zunge angefeuchtet hatte. Mühsam wie Bohnenpflücken war es, diesen Brief zu entziffern. Sie reichten ihn herum, und mancher, der ihn las, wandte den Kopf ab, um sein Gesicht zu verbergen. Den Brief hatte eine Kinderhand geschrieben. Der Fischer, der den Brief als letzter las, schnäuzte sich laut die Nase und presste durch die Zähne: „Das geht alles auf Asagawas Konto. Wenn die armen Kerle umgekommen sind, dann wehe ihm!"' Der das sagte, war ein großer, breitschultriger Mann; er hatte lange Zeit im Innern Hokkaidos gelebt und bei verschiedenen Streiks eine Rolle gespielt.
„Einige Fäuste würden genügen, den Kerl über die Reling zu befördern", flüsterte ein anderer; er war noch jung und trug den Kopf immer tief zwischen den Schultern.
„Bei so einem Brief kriegt man Heimweh", sagte ein dritter versonnen.
Wieder ergriff der große, breitschultrige Krabbenfischer das Wort: „Wenn wir uns Asagawa nicht vom Hals schaffen, bringt er uns alle um die Ecke. Daran sollte jeder von uns denken." In der Nähe der Tür hockte ein Mann mit untergeschlagenen Beinen und kaute an den Fingernägeln.
Er blinzelte fortwährend und nickte zustimmend bei allem, was die anderen sagten. Schließlich stieß er halblaut hervor: „Wenn es soweit ist, überlasst mir den Kerl. Ich werde ihn ganz allein fertigmachen."
Da schwiegen die Krabbenfischer — Stille herrschte, wie vor einem Sturm.
Drei Tage später kehrte plötzlich das vermisste und bereits aufgegebene Fangboot zur „Hakkomaru" zurück, die inzwischen auf ihrem alten Fangplatz Anker geworfen hatte. Als die Heimkehrer nach der Meldung bei dem Kapitän im Jauchefass erschienen, wurden sie von allen Kameraden umringt, und sie mussten erzählen, wie es ihnen ergangen war.
Sie hatten bei dem schweren Sturm die Herrschaft über ihr Boot verloren und waren, den Naturgewalten hilflos preisgegeben, weit abgetrieben worden. Als Krabbenfischer waren sie gewohnt, dem Tod ins Auge zu sehen, und hatten sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Aber das Glück war ihnen noch einmal gewogen. Am anderen Morgen wurde ihr leckgeschlagenes Boot an den Strand von Kamtschatka geworfen. Russische Fischer kamen ihnen zu Hilfe und nahmen sie gastfreundlich auf. Beim Anblick des Familienlebens ihrer Gastgeber wurde den Schiffbrüchigen warm ums Herz. Ihre Gedanken gingen heim zu ihren eigenen Familien.
Die Russen waren einfache Menschen, die sie hilfreich umsorgten, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Die seltsam klingenden Laute ihrer Sprache und die ganz andere Farbe ihres Haars und ihrer Augen machten die Krabbenfischer zunächst etwas befangen. Bald aber spürten sie, dass es Menschen waren wie sie selbst. Aus dem ganzen Dorf strömten die Leute zusammen, als sich herumsprach, dass ein Boot gestrandet war — das Dorf war weit von den Fanggründen der Japaner entfernt.
Zwei Tage blieben die fünf Männer bei den Fischern. In dieser Zeit bekamen sie alles, was sie brauchten, um zu ihrem Mutterschiff zurückzukehren.
„Wir wollten überhaupt nicht wieder weg von dort", gestanden die Heimkehrer. „Wer möchte wohl in diese Hölle zurückkehren?" Sie erzählten auch, warum es ihnen dort so gut gefallen hatte, und wussten interessante Dinge zu berichten. „An dem Tag, an dem wir zum letzten Mal mit unsern Rettern um den Ofen hockten und uns unterhielten, kamen plötzlich fünf Russen herein. Sie brachten einen Chinesen mit. Einer der Russen, mit einem großen, von rötlichen Stoppeln bedeckten Kopf auf einem schmächtigen buckligen Körper, begann, mit lauter Stimme und lebhaft gestikulierend, eine Rede zu halten. Unser Fangbootführer gab ihm durch Zeichen zu verstehen, dass wir kein
Russisch können. Darauf sprach der Mann langsam,
Satz für Satz, und der Chinese übersetzte seine
Worte ins Japanische. Es war schlechtes Japanisch,
mit falscher Wortstellung, und hörte sich an wie
das Gestammel eines Betrunkenen.
,Ihr kein Geld. Verstehn?'
,Richtig, wir haben kein Geld.'
,Ihr arm. Verstehn?'
,Richtig, wir sind arm.'
,Ihr nicht Besitzerklasse. Verstehn?'
,Richtig, wir gehören nicht zur besitzenden Klasse.'
Der Russe lachte und ging mit großen Schritten im
Zimmer auf und ab, manchmal hielt er an und sah
uns scharf in die Augen. ,Reiche machen mit uns so.'
Er umfasste mit der Hand seine Kehle. ,Wie armer
Mann in Japan macht, keinen Zweck.' Missbilligend
schüttelte  er  den Kopf.  ,Reicher Mann,  ähää,
ähää.'
Diese Vorstellung gefiel uns, wir klatschten in die Hände.
Der Russe ging zum zweiten Akt über. ,Arbeitermann stolz, dann gut. In Russland Arbeitermann stolz, Russland gut. In Russland reicher Mann nicht machen kaputt armen Mann. Russland nicht Land zum Fürchten. Leute lügen, wenn so sagen.' Wir dachten an die Warnung des Inspektors vor den ,Roten'. Aber das war alles so einfach und so einleuchtend, dass es uns unwiderstehlich anzog. Daher sagten wir: ,Wir haben alles verstanden, was du uns erzählt hast. Du hast recht.' Jetzt fingen auch die anderen Russen an zu reden. Der chinesische Dolmetscher sah ihnen wie gebannt auf den Mund und übersetzte Wort für Wort. ,Nicht arbeiten und doch Geld verdienen macht kaputt armen Mann.' Die Russen umklammerten wieder mit den Händen ihre Kehle. ,Armer Mann, einer, zwei, drei, fünf, hundert, zehntausend, alle, alle zusammen, dann stark.' Die Russen fassten sich wie Kinder beim Spielen an den Händen und zeigten auf ihre Muskeln. ,Dann nicht besiegt werden.' — ,Nichtarbeitermann wegrennen, schadet nicht.' Die Russen liefen auseinander. ,Arbeitermann wegrennen, alle haben kein Brot.' Wir verstanden die Russen immer besser. ,Japan noch nicht gut. Arbeitermann so.' Die Russen ließen die Arme hängen und machten klägliche Mienen. ,In Japan Nichtarbeitermann so.' Sie stellten dar, wie jemand einen hilflosen Menschen zu Boden wirft und ihn niederhält.
,In Japan Nichtarbeitermann laufen weg, Arbeiter bleiben da, dann gut.' Die Russen fingen jetzt an, mit rhythmischen Schritten den Boden zu stampfen. ,In Japan alle Arbeiter sollen sich freuen! Hurrah! Hurrah! Wenn ihr auf euer Schiff zurückkehrt und Nichtarbeitermann machen ähää, ähää, dann ihr machen so.' Sie ballten die Fäuste, hakten einander unter und marschierten im Kreis. ,Wir verstehen, wir werden es so machen, wenn wir auf unser Schiff zurückkehren.' Einige von uns fassten die Russen an den Händen und reihten sich in ihren Kreis ein.
Unser Fangbootführer begann sich Gedanken über die ,Rote Gefahr' zu machen. Er merkte, dass es den Russen gelang, uns auf ihre Seite zu ziehen. Aber die Russen hatten ihre Rede bereits beendet. Wir schüttelten einander die Hände, und die Russen umarmten uns ungestüm, so dass manche von uns vor ihren bärtigen Gesichtern Angst bekamen." Die Zuhörer blickten immer wieder verstohlen zur Einstiegluke und trieben den Erzähler zur Eile, sie wollten sich nichts von dem entgehen lassen, was ihre Kameraden an der Küste Kamtschatkas erlebt hatten. Sie hingen an den Lippen des Erzählers und nahmen alles, was er berichtete, gierig in sich auf, wie Löschpapier die Tinte aufsaugt. Als der Fangbootführer die begeisterten Mienen der Krabbenfischer und Saisonarbeiter sah, wurde es ihm plötzlich zu viel, er schlug dem Erzähler von hinten auf die Schulter und bedeutete ihm, Schluss zu machen.

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