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Willi Bredel - Rosenhofstraße (1931)
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Kapitel IX.

„Red' was Du willst!" schrie ein junger Arbeiter Fritz an. „Wir lassen uns nicht wehrlos wie tolle Hunde über den Haufen schießen!
Fritz wollte etwas darauf erwidern, aber ein anderer Prolet mit einem auffallend starken Stiernacken kam ihm zuvor: „Mit Dir scheint tatsächlich etwas nicht zu stimmen!" Dann stand er plötzlich auf und ruderte mit den Armen in der Luft: „Du bist doch sonst nicht so! ---
Hätte Oskar Druve etwas bei sich gehabt, wer weiß, die Nazis hätten nicht so lange auf ihm herumtrampeln können, bis er krepierte! Notwehr ist das gute Recht eines jeden Menschen!"
„Fritz kann sabbeln, was er will!" schrie der erste wieder. Ich weiß. was ich zu tun habe. Ehe sie mich erwischen, müssen etliche dran'glauben!"
Fritz war vollkommen ruhig geblieben. Er ließ die Genossen ihre ganze Wut aus sich herausschreien. Es waren jetzt aber auch Tage schleichenden Bürgerkrieges. Spät am Abend nach der abgebrochenen Collosseum-Versammlung hatte eine Abteilung racheschnaubender Nazis vollkommen ahnungslose Arbeiterjungens und -mädels überfallen und blutig geschlagen. Einem siebzehnjährigen, schmächtigen Mädel hatten sie das Kleid über dem Kopf zusammengebunden und dann mit Gummiknüppeln und Stahlruten geschlagen, bis es bewusstlos zusammenbrach. Heute morgen hatten einige Nazis dem Gruppenführer der Antifaschistischen Arbeiterwehr, Oskar Druve, als er zur Arbeit gehen wollte, aufgelauert und ihn zusammengehauen. Mit drei schweren Messerstichen wurde er ins Krankenhaus geschafft. Bei diesen und all den anderen organisierten Überfällen war nie etwas von Polizei zu sehen. Selbst in den Polizeiberichten wurden sie, wenn sie nicht direkt mit dem Tode oder der Einlieferung des Opfers ins Krankenhaus endeten, nicht einmal erwähnt. Bei anderen Anlässen aber war die Polizei ungeheuer rührig. Hungermärsche verzweifelter Erwerbsloser wurden polizeilich aufgerieben. Ohne Tote und Verletzte ging das kaum mehr ab. Streiks wurden mit brutaler Gewalt liquidiert. Spontane Straßenansammlungen wurden mit rücksichtslosem Einsatz der Polizeigewalt auseinander geschlagen. Gegen alle revolutionären Bewegungen der Arbeiterschaft war die Polizei im Daueralarm. Die Seitengewehre aufgepflanzt, die Sturmriemen unterm Kinn, patrouillierten sie in den Arbeiterstraßen.
Solche Maßnahmen und die planmäßigen, ungehinderten Überfälle der Nazis hatten die Erregung der Arbeiter zum Sieden gebracht. Eine Versammlung aller aktiven Parteiarbeiter, Betriebs- und Gewerkschaftsfunktionäre des Stadtteils beriet über die Abwehrmaßnahmen, die ergriffen werden mussten. Die Arbeiter wollten sich nicht länger wehrlos dem faschistischen und polizeilichen Terror ausgeliefert wissen. „
„Die Nazis brüten Rache!" meinte bedächtig der Dreher Boldt, ohne seine kurze Pfeife aus dem Mund zu nehmen. „Die Collosseum-Blamage werden sie uns nie vergessen. Ich bin überzeugt, die Terrormaßnahmen werden sich noch steigern!"
„Natürlich, denen geschieht ja nichts!" rief der hitzige Feuerkopf wider dazwischen. „Die Polizei sieht sie nicht und wir verkriechen uns ins Mauseloch!"
„Aber Genossen", begann Fritz noch einmal „Ich glaube, wir haben uns noch nicht verstanden. Wir können als einzelne Zelle oder als einzelner Stadtteil doch nicht aus der Reihe springen, wir müssen gegen den gesamten Parteikader eingliedern und in einheitlicher Front gegen Faschismus vorstoßen. Es ist durchaus richtig: wir stehen nicht mehr vor dem Bürgerkrieg, wir stehen mittendrin. Es vergeht
kein Tag, an dem nicht Arbeiterblut fließt. Aber die Situation ist doch noch nicht so, dass wir einen Generalstreik und darüber hinaus einen Generalaufstand entfesseln können. Wohl aber kann ein einziger Fehler von uns den Faschismus triumphieren lassen. Alle Maßnahmen unserer Klassengegner zielen darauf ab, uns zu provozieren, uns zu voreiligen Handlungen hinzureißen. Da müssen wir nun beweisen, dass wir die Kinderkrankheiten unserer Bewegung überwunden haben und stark und klug genug sind, die Pläne unserer Gegner zu durchschauen und zu vereiteln. Wir dürfen jetzt um keinen Preis Dummheiten machen und schon gar nicht als winziger Teil unserer Riesenfront selbständig handeln und damit Verwirrung anrichten. Wir würden unermesslichen Schaden stiften!"
„Inzwischen können also ungestört die Nazis einen nach dem andern von uns abmurksen?" fragte ironisch der Hitzige.
„Wir werden uns natürlich wehren müssen!"
„Haha!" lachten etliche spöttisch.
„Natürlich!" rief Fritz, „es fragt sich eben wie. Wenn ein Nazi einen Arbeiter niederknallt und dann zufällig von der Polizei erwischt wird, tut ihm die Klassenjustiz immerhin noch nicht weh. Hat aber ein Arbeiter einen Revolver in der Tasche, ohne ihn gebraucht zu haben, wirft ihn dieselbe Justiz auf Monate ins Gefängnis!"
„Wen soll denn das abschrecken?"
„Das ist doch nichts Neues, das wissen wir längst!"
„Wir müssen aber andere Kampfmethoden gegen den Faschismus anwenden!" entgegnete Fritz.
„Mit bloßen Fäusten gegen Revolver, was?"
„Wir können dem faschistischen Individualterror nicht wieder Individualterror entgegensetzen!" rief Fritz erregt. „Wir haben eine stärkere Waffe und müssen sie gebrauchen: Den Massenterror!"
Keiner erwiderte darauf etwas.
„Wir müssen die proletarischen Massen unserer Straßen und unserer Stadt gegen den faschistischen Terror mobilisieren. Wir müssen Streiks, Massendemonstrationen, Massenkämpfe gegen den Faschismus entfachen. Nur mit aktivster Unterstützung der proletarischen Massen können wir den Faschismus schlagen!"
„Das kann uns doch aber nicht hindern, dass wir uns gegen einzelne faschistische Mordbuben wehren!" rief einer.
„Gewiss nicht!" antwortete Fritz. „Aber das ist nicht das Entscheidende. Wir dürfen uns dadurch nicht von den politisch wichtigeren Aufgaben abhalten lassen. Unsere wichtigste Aufgabe muss die Organisierung einer proletarischen Einheitsfront gegen den Faschismus sein. Es muss jetzt gelingen, alle Arbeiter, Angestellte und kleine Beamte, ob Kommunisten, Sozialdemokraten oder Parteilose zu einer einheitlichen Front zusammenzuschweißen. Wir müssen eine unüberwindliche antifaschistische Klassenfront errichten. Nur so werden wir den Faschismus schlagen können!"
„Und wo sich die Gelegenheit bietet, den Faschisten Denkzettel zu verabreichen!" bemerkte der Dreher Boldt trocken.
„Die Gefahr dabei aber ist bei vielen Genossen die, dass sie bei diesen Husarenstreichen, diesen kecken Einzelaktionen, die ungleich wichtigere und auch schwierigere Aufgabe der Schmiedung der proletarischen Einheitsfront von untenher vernachlässigen!" erwiderte Fritz. „Und das darf auf keinen Fall geschehen!"
„Gewiss nicht!" riefen einige nun schon wesentlich versöhnter. „
Dann wurde mit der praktischen Arbeit begonnen. Es wurde beschlossen, überall schnellstens Häuserblockversammlungen gegen den faschistischen Terror einzuberufen. Weiter hatte die Stadtteilleitung für die nächste Woche eine große Kundgebung angesetzt. Eine Anzahl oppositioneller Reichsbannerarbeiter wollten erscheinen und einer von ihnen über das Thema: „,Reichsbannerarbeiter und Arbeiterkampfbund gemeinsam gegen den Faschismus' „referieren. Ferner sollten die Zellen sämtlicher Betriebe im Stadtteil zusammengerufen werden, mit der Absicht der Zusammenfassung aller bestehenden Arbeiter- und Betriebswehren. Die Abteilung des Arbeiterkampfbundes des Stadtteils übernahm den Schutz der Straßen und aller künftig stattfindenden Veranstaltungen. Abends und nachts sollten ständig Arbeiterpatrouillen durch die Straßen ziehen.
Mitten in diese Beratungen, es war inzwischen elf Uhr geworden, stürzte ein junger Genosse ins Klublokal.
„Die Nazis kleben Racheplakate!" stieß er heraus.
„Was? „Racheplakate? „Wo?" schrie alles durcheinander und sprang von den Sitzen.
„Für übermorgen künden sie einen Rachezug durch die Rosenhofstraße an!"
Der Genosse nickte nur.
„Auf den Plakaten?" rief einer ungläubig.
„Himmelsakra, die Hunde sind frech!" murmelte Fritz.
Im Nu war der Genosse, der die Nachricht gebracht hatte, umringt.
„Wo sind sie?"
„Hast Du sie gesehen?"
„Wie viele waren es?"
Dann bildeten sich einzelne Gruppen. An Fortführung der Sitzung war nicht mehr zu denken.
Als Fritz mit seiner Gruppe das Lokal verlassen wollte, hielt ihn der Schauermann zurück.
„Komm mit zu Römpter! Eine wichtige Sache, die auch Dich interessieren wird!" flüsterte er ihm zu.
Um was handelt es sich denn?"
„Komm' nur mit!"
Der Schauermann, Fritz und Römpter saßen um eine flackernde Petroleumlampe. Während der Seehundbärtige den Docht regulierte, sagte er:
„Meine Frau habe ich ins Kino geschickt! Ich war' heut abend auch gekommen, habe aber bis neun Uhr arbeiten müssen!"
„Ich bin heute entlassen worden!" antwortete Fritz. „Eine glatte
Maßregelung! Wer heute nur erklärt er sei Kommunist, ist abbaureif!
„Verflucht, das trifft sich übel!" setzte sich Römpter wieder zu ihnen. „Gerade jetzt!"
„Ja, mach was dagegen!" „
„Weißt Du was von Else?" fragte der Seehundbärtige wieder. „Heute nachmittag, als ich anrief, war es noch nicht so weit!" Der Schauermann saß schweigend da. „Nun lass Karl man losschießen!" Der Schauermann überlegte noch etwas. „Es betrifft den Otto Dietz!" „Ach Gott!" entfuhr es dem enttäuschten Fritz. „Ach Gott?" Der Schauermann sah ihn verständnislos an. „Das ist Olfers Mörder!"
„Was?" fuhr Fritz hoch. „Ach, das ist ja Unsinn!" rief er dann. „Der wurde ja gar nicht ermordet!"
„Also, wenn Du willst, derjenige, der seine Verletzung verschuldete!" berichtigte sich der Schauermann. Fritz saß da und fand keine Worte. „Hast Du Beweise?" fragte Römpter, „Noch nicht alle!" erwiderte seelenruhig Pohl. „Du hast keine Beweise", fragte erstaunt Fritz, „und stellst derartige Behauptungen auf?"
„Doch! „Doch! „Lasst mich erzählen!"
Der Schauermann zog ein kleines, zusammengeknittertes Blättchen Papier hervor,
„Otto Dietz. der in einer Terrasse der Rosenhofstraße bei einem gewissen Ehlers wohnt, ist mit der kleinen Merker und Walter Heuberger aus unserer Terrasse befreundet. Durch Heuberger erfuhr ich, dass dieser Dietz eine Schwindelexistenz ist- Ihm erzählte er, dass er Angestellter bei der Firma Wetzlar und Söhne sei. Das war eine Unvorsichtigkeit dieses Dietz. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, dass einer mal nachforschen würde, ob das stimmt. Ich habe es getan und festgestellt, dass Dietz dort wohl gearbeitet hat, aber vor fünf Jahren. Wegen Unterschlagung ist er damals entlassen und zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Vor dieser Geschichte verkehrte er bei Rissmann in der Reimersreihe. Das ist ein Zuhälterlokal. Er selbst hatte auch mal ein Mädchen laufen. In letzter Zeit schlug er sich wild durchs Leben. Zimperlich ist er nicht. Er reist auf jeden Dreh. Besonders aber verkehrte er zuletzt in Buchmacherkreisen und ist durch Misserfolge beim Pferdewetten beim Buchmacher Josef Gröhler, aus der Markartstraße, den er aus seiner Zuhälterzeit kennt, hoch in Kreide."
„Das ist ja der reinste Wallace!" lachte Fritz auf. „Hört nur weiter!" entgegnete etwas unwillig der Schauermann* „Am Tage vor dem Einbruch bei Olfers hat Dietz dem Buchmacher auf das Bestimmteste eine größere Summe Geld versprochen. Hinterher aber kam er und vertröstete diesen Gröhler wieder, denn der Einbruch hatte ja nicht das Erwartete eingebracht. Dietz ist ein Mensch, der Geld schneidet, wo und wie er kann. Hemmungen oder Skrupel kennt er nicht. Er verrät seinen Komplizen der Polizei, wenn es ihm Geld bringt. Er spitzelt für 'die Nationalsozialisten, wie für die Sozialdemokraten, wenn er dabei etwas erbt. Heute macht er mit Mädchen Bekanntschaften, um sie raffiniert auszuplündern und morgen unternimmt er einen Einbruch, wenn er die Gelegenheit für günstig und die Ausbeute für wertvoll genug hält. Da er ein gewandtes und man kann sagen, sogar gewinnendes Auftreten hat und fuchsschlau ist, hält ihn keiner für den ausgekochten Gauner, der er ist. In letzter Zeit versuchte er, den Heuberger auszuhorchen. Mit welcher Absicht, habe ich noch nicht raus. Es ist aber Zeit, ihn zu entlarven, er kann uns sonst noch gefährlicher werden!"
Eine Weile schwiegen alle drei.
„Mensch, Karl, wo hast Du das alles her?" unterbrach schließlich Römpter das Schweigen.
Fritz sah wie abwesend an dem Schauermann vorbei.
„Das hat mir manchen Abend und manche schlaflose Nacht gekostet! Aber ich wollte es herausbekommen „und ich habe es herausbekommen!"
„Was Du uns erzählt hast, ist alles einwandfrei beweisbar?" fragte jetzt Fritz.
„Für was hältst Du mich?"
„Ich meine nur. Auf die Geschichte mit dem Buchmacher kommt es an und selbst das, finde ich, genügt eigentlich noch nicht!"
„Mein Verdacht besteht schon seit langem, aber ich komme Euch erst jetzt damit, nachdem ich mir unumstößliche Gewissheit verschafft habe."
Ruhig faltete der Schauermann den kleinen Papierstreifen wieder zusammen und steckte ihn ein. „Ich habe diese Unterredung nur gewünscht, einmal, um es Euch mitzuteilen, zum andern, um von Euch zu erfahren, was mit diesem Schurken geschehen soll!"
„Man muss ihn erst einwandfrei überführen!" wiederholte vorsichtig Römpter.
„Ich habe ihn überführt!" knurrte eigensinnig der Schauermann, „Was wollt Ihr noch wissen?"
„Er muss selbst bekennen, dass er den Einbruch verübt hat!" benarrte der Seehundbärtige.
„Aber das ist doch Unsinn! Der wird niemals gestehen!" lachte der Schauermann.
„Wir müssen ihn stellen und überführen!" unterstützte Fritz Römpter.
„Na, „und wenn wir ihn überführt haben, was dann?" „Übergeben wir ihn der Polizei!" antwortete Fritz. Der Schauermann lachte unbändig.
„So seht Ihr aus!" prustet er dann. „Erst wollen wir uns mal den Burschen vorknöpfen!"
„Was willst Du mit ihm anfangen?"
„Dem soll ein für allemal die Lust vergehen, streikende Arbeitet; zu bestehlen!"
Es ist natürlich Unsinn, wenn Du Dich durch solch einen Schuft unglücklich machst!" Fritz stand auf und stellte sich hinter den Stuhl.
„Du bist tatsächlich" in letzter Zeit merkwürdig vorsichtig!" meinte ironisch der Schauermann.
„So kommen wir nicht weiter!" lenkte Römpter ein. „Ich schlage vor, wir suchen morgen diesen Dietz auf. Sagen ihm auf den Kopf zu, was wir wissen. Das übrige wird sich finden!"
Fritz sprach kein Wort mehr. Der Schauermann nickte: „Einverstanden! Morgen!"-----------
Auf dem Rückweg sahen sie in der Terrasse die Arbeit der Nazis. An beiden Seiten der Mauer waren mit weißer Farbe große Hakenkreuze gemalt. Daneben hingen Plakate. Der Schauermann zündete ein Streichholz an. „„Rache" „stand groß da und in kleinerer Schrift darunter „„für den feigen Überfall der Moskauer
Mord... "
Der Schauermann zündete ein neues Streichholz an.
„... buben. Am Donnerstag werden unsere braunen Bataillone sich Genugtuung verschaffen. Nieder mit den Moskauer Mordbuben. Rache für unsere toten und verletzten Kameraden!"
„Frech!" sagte Fritz.
„Bluff!" meinte der Schauermann. „Die wollen schrecken!"
„Die werden aber kommen!"
„Desto besser", lachte übermütig der Schauermann. „Sie kommen also selbst, wenn ihnen das Fell juckt!"
Man brachte Else in einen Untersuchungsraum, der nur ganz schwach beleuchtet war.
„Stecken Sie das Thermometer in die Achselhöhle!"
Nachdem eine andere Schwester etwas später die Temperatur abgelesen hatte, sagte sie: „Kommen Sie mit!" und ging Else voran durch eine Tür, an der ,Zutritt verboten' stand.
Hier wurde Else zunächst in ein Badezimmer geschickt, wo sie Ton einer Pflegerin gewaschen wurde und einen Einlauf zur Darmentleerung bekam.
Dann untersuchte eine kurzangebundene Hebammenschwester sie
auf einer Bahre.
„Sie sagt, dass sie alle fünf Minuten Wehen hat", hatte die Pflegerin noch der Schwester mitgeteilt.
„So, steigen Sie runter und gehen Sie draußen herum. Wenn Sie ins Bett wollen, sagen Sie Bescheid!" „
Else hatte blau und weiß gestreiftes Anstaltszeug bekommen und ging mit einigen anderen Frauen im Vorraum langsam auf und ab.
Strahlenförmig gingen von diesem Vorraum einzelne Räume ab, die dadurch, dass sie keine Türen hatten, ein Ganzes bildeten: den Kreißsaal. Die Schmerzen waren jetzt schon so heftig, dass Else dabei leise stöhnte. Aus den anliegenden Räumen drangen die Schreie von Kreißenden und Gebärenden. Hin und wieder hörte man das Klatschen einer Hand auf einen nackten Körper und bald darauf das Schreien eines Neugeborenen. „
Else wurde ganz ihren Wehen überlassen. Sie lag jetzt in einem Zimmer mit hohen Milchglasfenstern und stundenlang kümmerte sich kein Mensch um sie. Wenn die Schwester einmal vorbeikam, fuhr sie Else nur an: „Nennen Sie das Wehen ausnutzen? Lassen Sie die Beine mal so, wie ich Ihnen gezeigt habe!" Dann ging sie weiter durch die anderen Räume. Es war eine furchtbare Nacht.
Um sieben Uhr morgens wechselten die Pflegerinnen und Schwestern. Else bekam Wasser, Seife und Handtuch und wusch sich
zwischen zwei Wehen Gesicht und Hände. Dann kamen wieder
stundenlang die Schmerzen, fast unerträglich, dass die Schreie ihr,
ohne das sie es verhindern konnte, aus dem Munde kamen.
So verging Stunde um Stunde. Während der ganzen Nacht und auch am Morgen hatte kaum jemand ein Wort zu ihr gesprochen. Nur einmal, bei der Ablösung, war eine Pflegerin gekommen, hatte ihr mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht gewischt und: „Na, Sie armes Wurm!" gesagt.-----------
In den Vormittagsstunden war eine rege Geschäftigkeit zu bemerken und bald darauf trat der Direktor der Anstalt mit seinen Assistenten und Studenten auch an Elses Bett. Ohne weitere Umstände, ohne auch nur zu fragen, fuhren sie ihr alle mit den Händen, an denen sie Gummihandschuhe hatten, in den Darm, um sich von der gegenwärtigen Situation des Geburtsvorganges zu überzeugen. Else erfuhr später auf der Station, dass man das nur bei den „Ledigen" so mache. Mit aufgerissenen Augen starrte sie hilfesuchend den Direktor an. Der kümmerte sich nicht weiter um sie. Else musste wieder schreien und aus Scham vor all den Männern zog sie die Leinendecke über das Gesicht. Sie hörte den Direktor etwas sagen, von „erster Schädellage" und „es wird eben gehen". Dann wurde die Oberschwester angesprochen. „Die Herztöne des Kindes müssen regelmäßiger notiert werden!"
Kaum war der Direktor mit seinem Anhang weitergegangen, da stürzte die Oberschwester an Eise's Bett: „Schreien Sie nicht so!'* schrie sie, „andere haben auch Schmerzen!" Else drehte ihr Gesicht wortlos nach der anderen Seite. Eine Pflegerin kam auf Befehl der; Oberschwester und zählte von Zeit zu Zeit die Herztöne des Ungeborenen. Zwischendurch lehnte sie mit einem Assistenten am Heizungskörper beim Fenster und beide erzählten sich Witze und schüttelten sich vor Lachen darüber, während Else schrie.
Durch eine spanische Wand von Else getrennt, lag den ganzen Nachmittag über eine Frau, die von den Pflegerinnen und Schwestern immer wieder auf ihr Lager zurückgedrängt werden musste. Gegen Abend hörte dann Else eine Schwester zu dieser Frau sagen: „Seien Sie doch mal vernünftig. Es ist ja schon soweit." Und Else, mit ihren kaum mehr auszuhaltenden Schmerzen, musste nun alle die Geräusche hören, mit denen das Kind hinter der spanischen Wand auf die Welt kam. Als es endlich da war, gab es trotz aller Klapse keinen Laut von sich. Eine ganze, seltsam bedrückende Zeit, bemühte man sich, das Kind zum Leben zu bringen, was schließlich auch nach
einem kalten Bade gelang.
In den ersten Abendstunden kam eine Hebammenschwester an Else's Bett vorbei.
„Schwester, wie lange dauert es noch mit mir?" fragte sie kläglich. „Ich kann nicht mehr!"
„Kann nicht mehr! So was gibt's nicht! Und das nennen Sie Wehen ausnutzen?!" schnauzte die wieder. „Legen Sie sich mal wieder auf die Seite. Und wenn Sie nicht bald soweit sind, können Sie noch lange liegen, „dann gehe ich erst zum Abendbrotessen!"
Else schwieg und gab sich alle erdenkliche Mühe.
Was sagten noch die Verwandten, dachte sie. „Vorbildliche Anstalt „bestes, fachtüchtiges Ärzte und Helferinnenpersonal. ---Keine Kuh, kein Pferd wird so sich selbst überlassen, wie eine Arbeiterfrau in einer staatlichen deutschen Klinik! Sie fühlte, dass sie längst hätte erlöst sein können, wenn man ihr besser geholfen hätte. „Else sah nach der Uhr. Jetzt lag sie neunzehn Stunden hier. „
Plötzlich waren zwei Personen bei ihr, die Instrumente niederlegten und Becken aufstellten. Und schon nach einigen heftigen Anstrengungen vermischte sich Elses Schrei mit dem ersten Schrei ihres Kindes. Automatisch setzten die Schmerzen aus. Sie fühlte sich unendlich freier. Als man die gewohnheitsmäßige Frage an sie stellte: „Was wünschen Sie sich?" antwortete sie lachend: „Einen Jungen!" Er wurde schnell gebadet und auf die Waage gelegt.
„4050 Gramm!" rief die Schwester und zeigte Else einen Moment das rot-violette, schreiende Geschöpf. Es wurde bepflastert, mit einer Nummer versehen, angezogen und in einen Drahtkorb gelegt, der in einem Nebenraum an der Wand aufgehängt wurde. „
„Na, nun haben Sie es ja auch geschafft", sagte die Pflegerin, die ihr heiße Sandsäcke auf den Leib legte. Dann bekam sie eine Injektion zur Erzeugung von Nachwehen und als man die Nachgeburt entfernt hatte, stand ein Arzt bei ihr und untersuchte sie.
„Dammriss II" stellte er fest. „Das ist doch eine bodenlose Nachlässigkeit!" wandte er sich an die Hebammenschwester, die neben ihm stand.
„Wer ist dabei gewesen?"
Die Schwester murmelte verlegen: „Ging' nicht anders. Zu stark gedrängt... ."
„Na, bereiten Sie vor. Das wäre nicht notwendig gewesen! Pflegerin Gertrud, bitten Sie Fräulein Dr. Müller, hierherzukommen!"
Kurz darauf wurde der nicht notwendig gewesene Dammriss genäht und der Arzt ging hinaus, mit der Bemerkung: „So, jetzt sind Sie wieder hübsch „bis zum nächstenmal!"
Die Schwester lachte frech.
Else biss sich in ihrer Hilflosigkeit auf die Lippen und die Tränen, die bisher trotz aller Schmerzen nicht gekommen waren, liefen ihr übers Gesicht.

Fritz musste sich im Turnsaal einer, zum Arbeitsamt eingerichteten, alten Volksschule an eine schier endlos lange Kette Menschen anschließen. Es waren junge und alte, verfrorene und verhungerte Gestalten, die in zerschlissenen Röcken und Hosen herumstanden. Vor Fritz stand ein jüngerer Arbeiter, der sich ebenfalls erwerbslos melden wollte und sauber und gut gekleidet war. Mit großen Augen sah er sich immer wieder, wie erschrocken, nach den verelendeten Menschen um. Er wurde Bald von einem etwas verwildert aussehenden jungen Burschen um eine Zigarette angekrampft. Er gab ihm eine. Der Beschenkte tippte zum Dank an seine zerrissene Mütze. Nun kamen mehrere und wollten Zigaretten. Fritz1 Vordermann aber schüttelte nur mit dem Kopf. Als die Zigarette bis auf das Goldmundstück aufgeraucht war, wurde der Stummel auf ein abgebranntes Streichholz gespießt und wanderte nun so noch von Mund zu Mund.
In und vor dem Schulgebäude und auch auf dem Schulhof wimmelte es schon jetzt in den frühen Morgenstunden von tausenden, arbeitssuchenden Männern und Frauen. Immer neue Menschenscharen strömten heran. Auf der Straße vor der Schule standen starke Sipoposten, die den An- und Abgang der Menschenströme regelten und überwachten. „„„
Ungefähr drei Stunden stand Fritz in der Menschenschlange und als er dann schließlich seine Papiere zurückbekam, musste er noch durch sechs Abteilungen hindurch warten, bis er schließlich nach Erledigung aller Formalitäten seine Stempelkarte erhielt.
Vom Arbeitsamt hetzte er zur Finkenau, um Else zu besuchen. Mit Römpter und Pohl hatte er sich für siebzehn Uhr verabredet, Sie wollten dann gemeinsam Otto Dietz stellen. „
Pünktlich um siebzehn Uhr standen der Seehundbärtige und der Schauermann vor dem Terrasseneingang. Fritz war nicht zu sehen. „
„Ob man nicht mit Ehlers sprechen sollte, damit wir, wenn der Dietz nicht zu Hause sein sollte, das Zimmer durchsuchen können?" fragte Pohl.
„Sind wir dazu berechtigt?"
„Was heißt hier berechtigt?" erwiderte der Schauermann auf den Einwand. „Der Ehlers wird schon mit sich reden lassen und uns vielleicht noch mal dankbar sein."
„Der Dietz wird schon nichts Mulmiges auf seinem Zimmer haben!"
„Jeder Gauner ist irgend einmal leichtsinnig und unvorsichtig!1* Pohl sah auf die Uhr. Es war bereits eine Viertelstunde über Siebzehn«
„Und wenn er alles abstreitet, was dann?"
Der Schauermann zuckte mit der Schulter.
„Aber was willst Du dann anfangen?" beharrte Römpter.
„Warten!" antwortete Pohl. „Dann warten wir", wiederholte er, „und schaffen den letzten Fetzen Beweis herbei!"
Die rundliche Frau Fritt trippelte heran. Als sie den Schauermann und den Seebären vor der Terrasse stehen sah, beschleunigte sie ihre Schritte. Knapp vor dem Treppenaufgang sah sie sich erst wieder nach den Beiden mit einer verächtlichen Gebärde um.
„Fritz lässt uns sitzen!' Römpter sah auf die Uhr. „Das ist doch sonst nicht seine Art!"
„Wer weiß, was ihn zurückhält? Aber wir können doch schließlich auch allein gehen!" Der Schauermann konnte seine Ungeduld kaum noch verbergen.
Sie warteten noch eine Weile und gingen dann langsam die Rosenhofstraße hinunter. „
„Nein, Herr Dietz ist nicht zu Hause!" rief auf Römpters Frage eine Frau durch die Türspalte.
„Wann kommt er zurück?"
Die Frau musterte die beiden Männer. Die Tür war überkettet und nur wenig geöffnet. „Der kommt wohl überhaupt nicht mehr zurück! Der ist weg!"
„Was?" drängte sich der Schauermann an die Tür. „Frau Ehlers, wir kommen von der Partei. Wir haben ihren Einlogierer im Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben!"
„Wer sind Sie?" fragte die Frau.
„Funktionäre der Kommunistischen Partei!"
Die Frau schloss die Tür, nahm die Kette ab und öffnete,
„Mein Mann ist nicht da, aber kommen Sie nur herein!"
Frau Ehlers hatte einen struppigen, kurzgeschorenen Bubenkopf Eine große Warze über dem linken Auge entstellte das ganze Gesicht. Die beiden Männer gingen über einen dunklen Flur in die Küche. Zwei kleine Kinder hockten hier spielend am Boden.
„Wir hätten das nie von Dietz gedacht!" fing die Frau an. „Mein Mann und ich auch, wir haben ihn immer für einen anständigen Menschen gehalten!"
„Was hätten Sie nie gedacht?' fragte Pohl.
„Dass er ein Betrüger ist!" Die Frau räumte einige Sachen vom Tisch. „Vor einigen Tagen borgte er sich noch von meinem Manne zwanzig Mark. Er wollte sie in spätestens drei Tagen zurückzahlen. Nun ist er ausgerissen. Als ich gestern nachmittag vom Einkaufen zurückkam, war er mit Sack und Pack verschwunden. Sogar unseren Radioapparat, den wir uns auf Abzahlung angeschafft haben, hat er
mitgenommen!"
„Haben Sie es der Polizei schon gemeldet?" fragte Römpter.
„Das schon, aber mein Mann sagt, das sei unnütz!"
„Warum waren Sie denn so leichtgläubig gegen diesen Menschen?"
„Sie hätten ihn kennen sollen!" erwiderte die Frau auf Pohls Frage. „Keiner hätte dem so etwas zugetraut. Er lebte wie ein Sohn bei uns.-------Hat er Sie denn auch bestohlen?"
„Sie erinnern sich wohl noch an den Einbruch bei dem Schneider
Olfers?"
„Ja, natürlich, beim Mieterstreik!"
„Richtig! Wir haben diesen Dietz stark im Verdacht!"
„O Gott! „„Warten Sie mal. Wann war noch der Mieter« Streik?"
„Im April!"
„Das mag hinkommen", flüsterte die Frau. „Nun seid ruhig!'* {wandte sie sich an die Kinder. „Geht in die Stube und spielt da!
„-------Im April? „Dietz kam ja öfter nachts nicht nach Hause.
Gewöhnlich war er, wenn er dann morgens kam, sehr lustig und auch spendabel. Er brachte immer Kuchen oder Süßigkeiten für die Kleinen mit. Mein Mann und ich haben uns auch nie etwas dabei gedacht. Dietz war ein lebenslustiger, junger Mensch. An einem
Morgen aber kam er auffallend nüchtern und hielt fluchende Zwiegespräche mit sich und lief in seinem Zimmer auf und ab. Uns fiel das sofort auf und mein Mann sagte noch: Dem ist heut' Nacht etwas verquer gegangen! „Ich kann aber nicht mehr sagen, ob dies jene Nacht war. Fast möchte ich es glauben!"
„Das wird wohl damit zusammenhängen!" meinte Pohl. „Hat er denn gar nichts zurückgelassen?" fragte Römpter, „Einige Bürsten und leere Flaschen!" „Können wir das Zimmer, in dem er wohnte, sehen?" Es war ein kleiner, länglicher Raum, in dem ein Bett, eine Kommode, ein Tisch und zwei Stühle standen.
„Er hat ja überhaupt nicht viel gehabt!" erklärte die Frau« „Sehen Sie die Flaschen dort und die alten Bürsten!"
Der Schauermann trat an die Kommode. Hinter dem Waschgeschirr lagen leere Haarwasserflaschen und Glasdosen, sowie eine fast borstenlose Zahnbürste und zwei alte Kleiderbürsten. Pohl und Römpter verließen enttäuscht das Zimmer, „Mein Mann sagt, man darf heute keinem Menschen mehr trauen, Sie glauben ja gar nicht, was der für große Stücke auf den Dietz gehalten hat!"
„Der wird uns nicht entwischen!" antwortete Pohl.
„Ach, der ist doch sicher längst über alle Berge!" „
„Der Vogel ist ausgeflogen!" rief lachend Pohl, als sie Fritz bei Langfelds antrafen.
„Nicht mehr da?"
„Nee, und seine Wirtsleute noch angepumpt und bestohlen!"
„Dann wird er's auch gewesen sein!"
„Zweifeltest Du noch immer?"
„Aber warum hast Du Dich so verspätet und uns warten lassen?" fragte Römpter.
„Es ging beim besten Willen nicht. Fast den ganzen Tag lag ich auf dem Arbeitsamt... !"
„Toller Betrieb, was?"
„Nicht zu beschreiben. Und dann ließ mich Else nicht weg!"
„Hallo! „Was ist es geworden?" brüllte der Schauermann dazwischen.
„Ein Junge!"
„Gratuliere!"
Römpter schmunzelte Fritz an.
„Etwas scheint aber nicht zu stimmen!" fuhr Fritz fort. „Doch aus der Heulerei und den Andeutungen wird man ja nicht schlau. Du weißt ja, wie die Weiber sind? Wenn sie draußen ist, will sie mir alles erzählen!"
„Wird ihr wohl etwas hart angekommen sein!" meinte Römpter.
„Aber was wird nun aus der Sache Dietz?"
„Ob der etwas gemerkt oder gar erfahren hat?"
„Der ist mit dem sechsten Sinn aller Gauner begabt. Der wittert Gefahren aus der Luft!"
„Aul jeden Fall werden wir die Polizei benachrichtigen!" erklärte Römpter.
„Richtig!" stimmte Fritz bei.
„Mal sehen, wer ihn eher erwischt, die Polizei oder ich!" lachte Pohl.

An diesem Abend war eine Sitzung der Leitungen des Antifaschistischen Kampfbundes und der Arbeiterwehren des Stadtteils, zu der man auch eine Anzahl oppositionelle Reichsbannerarbeiter geladen hatte. Die Zusammenkunft war von den Reichsbannerarbeitern, obwohl die Gauführung das ihren Mitgliedern streng verboten hatte, angeregt worden. Der angedrohte Rachezug der Nazis, die sich anhäufenden Überfälle auf Arbeiter jeder Parteirichtung, hatten die proletarischen Elemente im Reichsbanner zu der Erkenntnis gebracht, dass sie nur mit den übrigen revolutionären Arbeitern gemeinsam, Schulter an Schulter, die faschistischen Mordbuben zurückschlagen könnten. Jetzt, in der Stunde der Gefahr, war die einheitliche Front aller Arbeiter da, und sollte befestigt werden und nicht mehr den Zufällen überlassen bleiben.
Zirka vierzig Funktionäre aller Organisationen waren beisammen, Reichsbannerarbeiter und SAJ.-Mitglieder saßen neben revolutionären Kampfbündlern und Jungkommunisten. Von unten her wuchs die einheitliche Klassenfront und staunend erkannte jeder einzelne, dass sie eigentlich nur wenig trenne, dass sie aber ungemein viel verbinde.
Die Genossen der Straßenzelle Qu waren fast restlos vertreten. Nur der Schauermann fehlte; der saß in seiner Kammer und grübelte über Möglichkeiten nach, um an Dietz heranzukommen.
Es kam ihm ein Einfall und er ging zu Heuberger; aber der in der Versammlung. In dem gegenüberliegenden Haus, bei Merkers, fragte er dann, ob Trudel da wäre. Sie kam an die Tür. Pohl bat sie um eine sofortige Aussprache unter vier Augen. Die kleine Merker war sehr erstaunt und versprach ihm, in wenigen Minuten zu kommen.
Pohl wartete vor der Terrasse. Sicher wird sich Dietz noch mit der Merker treffen, sagte er sich. Vielleicht kann ich durch sie seinen Aufenthalt erfahren. Bald darauf kam sie. „Was hast Du?"
„Eine dumme Geschichte, Trudel!" antwortete der Schauermann. „Verkehrst Du noch mit Otto Dietz?" „Also, höre mal... !"
„Natürlich, ich weiß, Deine persönlichen Angelegenheiten gehn mich nichts an!" unterbrach Pohl sie sofort. „Aber ich will Dich nur auf etwas Unangenehmes vorbereiten!" „Soo?" meinte sie etwas schnippisch. „Dietz wird von der Polizei gesucht, sieh' Dich vor!"
„Von der Polizei gesucht?" wiederholte sie leise. „Aber was geht das mich an?" setzte sie dann hinzu.
„Nun, Du kannst, wie gesagt, Unannehmlichkeiten haben!"
„Ich kümmere mich nicht um das, was er treibt und habe mit der Polizei nichts zu tun!"
„Hör mal!" Der Schauermann rückte dicht an sie heran. „Er ist aus seiner Wohnung ausgerückt, hat seine Wirtsleute bestohlen und sich vorher noch von ihnen Geld geliehen. Da ist es wirklich besser, Du rückst von ihm ab, Du kannst ungeahnt leicht in seine Sachen verwickelt werden. Alles, was Du tust, kann als Vorschubleistung oder gar Unterstützung seiner Verbrechen angesehen werden. Und dann... denk an Deine Bewährungsfrist!"
Trudel Merker stand neben ihm und antwortete nichts. Unschlüssig überlegte sie.
„Wart' einen Augenblick!" sagte sie dann und ging in die Terrasse zurück.
Pohl stand wie auf Kohlen. Sie traf sich noch mit ihm, das war sicher. Er musste erfahren, wo... Aber wenn sie den Dietz nun warnt? Wenn er nun zu plump und ungeschickt vorgegangen war?
--- Pohl atmete förmlich auf, als er sie wieder kommen sah.
Sie hatte einen Brief in der Hand. Wortlos reichte sie ihm den.
Pohl las:

Trudel, Geliebte!
Ich bin aus der Rosenhofstraße fort. Eine dumme Geschichte, aber ich habe nichts Unehrenhaftes begangen. Ehrenwort! Ich bitte Dich nun um eins. Verschaff Dir auf einige Tage leihweise fünfzig Mark und komme damit morgen, Donnerstag, zu unserem Rendezvousplatz „Zu den drei Eichen". Meine ganze Hoffnung setz' ich auf Dich.
Komm bestimmt. Dein Ottel.

„So hab' ich es mir gedacht!" lachte der Schauermann. „Da wärst Du fünfzig Mark ärmer geworden und Dein Freund wär auf Nimmerwiedersehn verschwunden!"
„Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben!" erklärte das Mädel. „Mit dem Kerl ist wirklich nichts los, Trudel!" „Er ist sicher ungeheuer leichtsinnig, aber kein schlechter Mensch!"
„Sind es die ,Drei Eichen' am Grenzhaus?" fragte Pohl, das Werturteil des Mädels überhörend.
Die nickte nur,
. „Also, kümmere Dich um nichts!" redete Pohl noch einmal auf
sie ein. „Der Kerl ist nach alledem, was ich weiß, skrupellos. Der
liefert Dich kaltschnäuzig der Polizei aus, wenn er es für richtig hält.
Und wenn Du ihm Geld gibst, bist Du es entweder los, oder, was
noch schlimmer wäre, ganz in seinen Händen!"
In den Nachmittagsstunden des Donnerstags war eine wachsende Unruhe unter den Einwohnern der Rosenhofstraße und der umliegenden Straßen zu beobachten, und je mehr es auf den Abend ging, desto unruhiger und besorgter wurden die Geschäftsleute. Einige schlossen schon um fünf Uhr ihre Geschäfte. Andere räumten ihre Schaufenster aus und ließen die Jalousien herunter. In der vergangenen Nacht war das große Schaufenster der Schlachterei Bernitt in der Marienstraße vollständig zertrümmert worden. Die Täter hatten den ganzen Ausbauer leer geplündert. Wie unter den Einwohnern der Rosenhofstraße erzählt wurde, hatte der grobe Schlachter Bernitt tags zuvor einige erwerbslose Arbeiter als arbeitsscheues Gesindel beschimpft und aus seinem Laden gewiesen. Jeder nahm nun an, dass sie die Täter waren. Jetzt war das Schaufenster mit Holzbrettern benagelt.
Die Polizei lag in erhöhter Alarmbereitschaft. Eine starke Radfahrerpatrouille radelte wiederholt durch den Stadtteil und die Polizeistreifen waren von zwei auf vier Mann verstärkt.
Auf den Straßen bildeten sich überall Gruppen diskutierender Arbeiter. Täglich war von Zusammenstößen zwischen Nazis und Arbeitern in der Stadt und im Reiche zu lesen. Reichsbannerarbeiter wie Kommunisten wurden aus dem Hinterhalt überfallen, blutig geschlagen oder mit Serien Revolverschüssen zusammengeschossen. Täglich floss Arbeiterblut; aber dies vergossene Blut kittete die Arbeiter zur geschlossenen Abwehrfront zusammen. Im Augenblick der Gefahr pfiff der Arbeiter, der die Reichsadlerkokarde der Republik an der Mütze trug, auf das einlullende Geschwätz seiner Führer und stellte sich zu den kommunistischen Arbeitern in die einheitliche Klassen- und Abwehrfront gegen die faschistischen Mordtaten.
Der angekündigte Rachezug der Nazis hatte auch die Arbeiter der Rosenhofstraße zu einem einheitlichen Block zusammengeschweißt.
Eine halbe Stunde vor zwanzig Uhr stand der Schauermann bereits an der Wartehalle der Endstation der Straßenbahn am Grenzhaus und beobachtete den Eingang des Gesellschaftshauses „Zu den drei Eichen". Es war ein wunderschöner Herbstabend. Am westlichen Himmel waren noch lange Streifen tiefdunklen Abendrots, obwohl schon im Osten eine sternenklare, blaue Nacht heraufzog. Um das Rondell der Haltestelle standen knorrige, alte Eichen im Herbstschmuck.
Eine Straßenbahn kam aus der Stadt. Die Fahrgäste stiegen aus und Führer und Schaffner gingen in die Wärmehalle für das Bahnpersonal, die neben dem Warteraum für das Publikum stand. Von irgendwoher hörte man leise Radiomusik.
Pohl beobachtete aufmerksam die Umgebung. Es war jetzt fast zwanzig Uhr, aber kein Wartender war zu sehen.
Drüben war ein Fußballsportplatz, dahinter kam Baugelände Einige halbfertige Häuser waren zu erkennen. Langsam verdunkelt und verschwand nun auch das letzte Rot am Himmel und wie eine riesige hellgelbe Ampel stand der Mond über der Stadt. Jetzt sah der Schauermann einen hochgeschossenen Menschen unruhig an der Ecke stehen. Pohl steckte seine Hände in die Rocktaschen und schritt hinüber. Der andere sah ihn und musterte ihn
auffällig.
„Sind Sie Otto Dietz?" Mit dieser Frage trat der Schauermann heran, Er hatte ihn aber schon längst erkannt.
„Wieso? „Was wünschen Sie?" antwortete verwirrt und ausweichend Dietz.
„Ich komme im Auftrage von Fräulein Merker!" Der Schauermann zog den Brief von Dietz aus der Tasche. „Sie sind doch Otto Dietz?" wiederholte er.
„Jawohl!" antwortete dieser nun, verlegen hüstelnd. „Sie wollen mir wohl etwas überreichen?"
„Das auch, „aber auch etwas fragen!"
„Wäre es Ihnen recht, wenn wir ein Stück weitergehen, um von der zugigen Ecke hier fortzukommen?"
„Bitte schön!" lächelte Dietz bereitwillig.
Sie schritten über die Straße an dem Drahtgitter des Sportplatzes entlang. Der Schauermann schlenderte ruhig und beherrscht neben diesem Schurken, als wären sie alte, gute Bekannte. Doch nahm er vorsichtshalber seine Fäuste nicht aus der Tasche; sie hätten schließlich von selbst zuschlagen können. Auch vermied er es, seinen Nebenmann anzusehen.
„Also, was wünschen Sie?" fragte schließlich ungeduldig Dietz»
„Ich persönlich gar nichts!" lächelte Pohl. „Nur meine Kusine Trudel!"
„Und?"
„Sie haben wohl einige Dummheiten gemacht?"
„Wieso? „Was heißt das?" Dietz riss nervös an den Knöpfen seines Jacketts.
„Na!" lachte Pohl auf. „Mich soll's nichts angehen, ich bin auch kein Musterknabe. Aber die Trudel erzählte mir's!"
„Was hat sie Ihnen erzählt?" knurrte Dietz ärgerlich.
„Sie heult zuhause wie ein Schlosshund und jammert darüber, dass Sie nun verschwinden müssen!"
„Ich verschwinden?" Pohls Nebenmann war ehrlich erstaunt. „Dafür hab' ich doch hundert Mark bei mir!" bemerkte gelassen Pohl wieder.
Dietz starrte ihn ungläubig an.
„Oder sollte sich meine Kusine geirrt haben?"
„Nein, nein, ich bat sie sogar um das Geld. Ich brauche es wirklich dringend!"
„Na, also!" meinte Pohl.
Sie gingen langsam die Chaussee entlang. Der Sportplatz lag längst hinter ihnen. Links und rechts an der Chaussee standen fertige und halbfertige Neubauten. Es war inzwischen nachtdunkel geworden. Sie schritten ein ganzes Stück schweigend nebeneinander her.
Pohl merkte, wie sein Nebenmann sich vor Ungeduld nicht mehr halten konnte. Warte nur, dachte er bei sich, Dich erwisch' ich. Deine Hiebe kriegst Du doch. Und er grübelte, wie er ihm eine Falle legen könne.
„Mit dem Gelde soll ich fliehen, sagen Sie?" begann Dietz wieder. „Ja! „Sie haben aber auch ein Hundepech gehabt!" Der Schauermann lachte in seiner kurzen, abgerissenen Art.
„Ich verstehe Sie immer noch nicht!"
Jetzt oder nie, sagte sich Pohl „Ich meine Ihren Einbruch bei dem Schneider Olfers!" antwortete er dann laut und sah zum ersten Male Dietz voll ins Gesicht.
Der blieb vor Schreck und Erstaunen sekundenlang auf einem Fleck stehen.
„Wa„as „sagten „Sie?"
Nun blieb Pohl stehen. „Dann stimmt das wohl gar nicht, was meine Kusine meint. Sie schickt mich doch mit dem Geld, damit Sie nicht von der Polizei erwischt werden!"
Der Schauermann vermied absichtlich eine nochmalige Erwähnung des Einbruchs.
Dietz war verwirrt. „Lassen Sie uns umkehren!" sagte er. Sie gingen zurück.
Pohl beobachtete jede Bewegung, jedes mühsam unterdrückte Zeichen des anderen. Der sah ihn mehrere Male heimlich argwöhnisch von der Seite an.
„Ich bin Ihnen und Ihrer Kusine außerordentlich dankbar", begann er dann leise. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass es schon so steht!"
Der Schauermann schwieg und horchte.
„Glauben Sie mir, ich bereue das aufrichtig. Das Ende habe ich nicht gewollt!" fuhr Dietz fort.
„Welches Ende?" fragte der Schauermann und versuchte, sich möglichst gleichgültig zu stellen, doch seine Stimme zitterte etwas.
Dietz schien es aber nicht zu bemerken. „Das mit dem Messer", flüsterte er kaum hörbar. „Von Blut habe ich meine Hände immer reingehalten!"
Pohl presste die Kiefer aufeinander. Er sah sich um. Kein Mensch war zu sehen. Drei Schritte seitlich von ihnen ging von der Chaussee ein schmaler Durchgang zu einem Bauplatz.
„Verfluchter Hund!" brüllte er dann auf. Und dann saß dem verblüfften Dietz ein furchtbarer Faustschlag mitten im Gesicht. Sekunden später wälzten sich Beide am Boden, Dietz bekam etwas Luft. Er wollte um Hilfe schreien, aber der Schrei erstickte in einem Röcheln, denn der Schauermann umklammerte mit seinen Armen schraubstockartig den Kopf seines Gegners und zerrte ihn von der Straße weg in das Baugerümpel.
Die Einwohner der Rosenhofstraße waren in fiebernder Unruhe. Die Geschäftsleute hatten restlos ihre Läden geschlossen und ihre Schaufenster verrammelt. Viele Fenster in den Vorderhäusern waren dicht verhängt. Vor den Häusern und Terrasseneingängen standen Ansammlungen von Arbeitern und Arbeiterfrauen. Die allgemeine Aufregung ging auf jeden Einzelnen über. Jedes Auto, das durch die Straße kam, wurde misstrauisch betrachtet, jeder Vorübergehende argwöhnisch beobachtet. Es gab unter den Anwesenden nur ein Gesprächsthema: Werden sie kommen? „- Werden sie nicht kommen? Die Meinungen waren verschieden.
Die Melodie des Roten Fliegerliedes pfeifend, marschierte ein Trupp Jungarbeiter durch die Straße. Das Singen revolutionärer Lieder war polizeilich verboten. Sie marschierten in die Marienstraße. Hier war vor dem Lokal von Petersen ein feldlagerartiges Durcheinander. Im Tanzsaal und auf der Kegelbahn lag eine Abteilung des Arbeiterkampfbundes und eine Erwerbslosenstaffel in Bereitschaft. Im Klublokal tagte die zentrale Kampfleitung der vereinigten antifaschistischen Organisationen. Fritz war Mitglied der zentralen Leitung. Er stellte Patrouillen zusammen, schickte Kuriere aus, organisierte den Schutz ganzer Häuserblocks und bereitete die nächtliche Demonstration der Arbeiter vor, die unternommen werden sollte, wenn die Nazis nicht kommen sollten. Das war ein buntes Gewimmel in der Marienstraße. Einige Trupps marschierten an und bezogen Ruhestellung, andere zogen ab. Und dazwischen rannten die Arbeiterjungens und -mädels und standen Gruppen politisierender Arbeiter. Ungefähr jede halbe Stunde kam eine lange Doppelreihe Rad fahrender Schupos vorbeigeradelt. Und einmal fuhr sogar ein Polizeiflitzer mit aufgestelltem Scheinwerfer vorbei.
Um neun Uhr gab die Kampfleitung für alle Mitglieder der ihr unterstellten Organisationen die Anordnung heraus, dass sie sich sämtlich in den Räumen des Lokals aufhalten sollten, um der Polizei keinen Anlass zum Eingreifen zu geben. Allen Arbeitern wurde empfohlen, sich von der Straße zurückzuziehen und in die Treppenhäuser oder Terrasseneingänge zu gehen.
„Sie kommen! Sie kommen!" riefen manchmal einige und die Menschen stoben auseinander. Die Terrassen standen nun gepfropft voll von Menschen. Aber von Nazis war nichts zu sehen.
Im großen Saal bei Petersen versammelten sich die registrierten Arbeiter. Fritz gab einen Situationsbericht. Er teilte unter Gelächter mit, dass von Nazis noch keine Nasenspitze gesichtet worden sei und dass es sich diese berufsmäßigen Arbeitermörder, angesichts der Wachsamkeit der Arbeiter wohl auch noch überlegen würden, zu kommen. Dann sprach er über die nächtliche Demonstration, die um dreiundzwanzigeinhalb Uhr stattfinden und sich kurz durch die Hauptstraßen des Stadtteils bewegen sollte.
Kamerad Kurt Löffler vom Arbeiterkampfbund gab noch einige organisatorische Maßnahmen bekannt. Der Wachdienst gehe bis vierundzwanzig Uhr. Danach werde zwar der Wachdienst weiter aufrecht erhalten, doch dazu genüge die Erwerbslosenstaffel. Anschließend gaben die einzelnen Gruppenführer bekannt, wo ihre Abteilungen um die Stunde der Demonstration antreten sollten. Jede Abteilung sollte von einer anderen Straße abmarschieren und alle sollten sich dann um Mitternacht zu einem Zug durch die Rosenhofstraße vereinigen.__„
Fritz übertrug einem Kameraden der Leitung seine Funktion und ging mit Römpter und einigen Jungarbeitern zu einem Orientierungsrundgang durch die Straßen. Überall drängten sich vor den Hauseingängen und Terrassen die Arbeiter, aber aus den Gesprächen ging hervor, dass keiner mehr recht an ein Kommen der Nazis glaubte.
Vor der Rosenhofterrasse trafen sie unter den übrigen Einwohnern auch den Schauermann. Er hatte mit dem Tischler Höhlein und dem Lackierer Fritt eine heftige Debatte. Fritz bemerkte sogar den graumelierten Wohlfahrtspfleger, der sich aber schweigend im Hintergrund verhielt.
„Mensch, Korl, wer hett di kleit?" rief Römpter, als er dem Schauermann ins Gesicht sah. Zahlreiche frisch gekratzte Risse und blutunterlaufene dunkle Flecken konnte man im Licht der Straßenlampen deutlich erkennen.
Der Schauermann begrüßte die Genossen, aber er erwiderte nichts auf Römpters Frage.
„Höhlein wärmt das alte Märchen auf, wir seien die Wegebner des Faschismus!" wandte er sich dann an Fritz.
„Na ja", lachte Fritz, „jeder sieht ja, wie wir dabei sind, ihnen den Weg zu ebnen und wie Höhlein und seine Partei sich ihnen mannhaft in den Weg stellt!"
Etliche lachten über diese bissige Ironie. Höhlein redete wütend auf einige ein, die ihn durch höhnische Bemerkungen gereizt hatten,
Römpter und Fritz nahmen den Schauermann beiseite.
„Was sind das für Kratzwunden, Karl?"
Der Schauermann lachte. „Ich habe Dietz der Polizei übergeben!"
„Hat er gestanden?" rief Fritz.
„Aber ja!"
„Der Schurke! „Wie hast Du das gemacht, Karl?"
„Ihn überrumpelt! Der Kerl ist ja dumm wie Schifferscheiße!"
„Und deine Stellen im Gesicht?" fragte Römpter.
„Er wollte nicht und wehrte sich. Dabei hat er gekratzt!"
„Und was hast Du gemacht?"
„Wieder gekratzt!" Der Schauermann lachte aus vollem Halse.
„Ist er denn heil zur Wache gekommen?"
„Als ich ihn ablieferte, lebte er noch!"
Fritz und Römpter sahen den Schauermann sprachlos an.
„Ich fühle mich jetzt ordentlich erleichtert!" schloss Pohl die Unterhaltung.
„Lasst uns man zu Bett gehen, Kinder!" rief der Malermeister. „Aus dem Nazispuk wird nichts!"
Lachend wurde ihm Recht gegeben.
„Es war aber doch wie ein schöner, aufregender und spannender Film!" höhnte des Tischlers Frau.
In diesem Augenblick rasten zwei Polizeiflitzer in die Rosenhofstraße und bogen in die Marienstraße ein. Hinter ihnen radelte ein langer Schweif Polizeiradfahrer. Vor dem Lokal von Petersen hielten sie. Die Polizisten sprangen von den Wagen und besetzten das Lokal. Polizeioffiziere schrieen Befehle. Nach beiden Seiten wurde die Straße, abgeriegelt. Sämtliche Insassen des Lokals mussten auf die Straße kommen und sich in zwei Gliedern aufstellen. Nun kamen langsam und schwerfällig zwei große leere Polizeilastwagen angerattert. Alle anwesenden Mitglieder des Arbeiterkampfbundes und der Erwerbslosenstaffel wurden für verhaftet erklärt und mussten die leeren Lastwagen besteigen. Die Aktion der Polizei klappte wie am Schnürchen. Wenige Minuten später fuhren bereits unter Gejohle und Geschrei der Arbeiter die vier Lastautos, von den Rad fahrenden Polizisten flankiert, durch die Marienstraße wieder ab.
Unter den Einwohnern der Rosenhofstraße entstand ungeheure Erregung. Alles lief durcheinander. Einige fluchten in ohnmächtiger Wut auf die Polizei.
„Das sind die Wegbereiter der Faschisten!" schrie Fritz dem Tischler Höhlein ins Gesicht.
Der trat kalkweiß an den Wohlfährtspfleger heran und beide flüsterten.
„Die Polizei Deines Parteigenossen Polizeipräsidenten Höhlein!" höhnte der Schauermann. „Dein Parteigenosse ist es, der uns wehrlos macht!"
„Das ist doch Unsinn!" rief der Tischler zurück. „Wie man Kinder mit dem schwarzen Mann schreckt, so lasst Ihr Euch mit Faschisten schrecken!"
„Du wirst der Erste sein, der seine Haut in Sicherheit bringen wird!" bemerkte der Schauermann. „Du bist wegen persönlicher Courage nicht gerade berühmt!"
„Wir schlagen uns nicht mit Knüppeln und kämpfen nicht mit Dolchen und Revolvern, sondern mit den Waffen des Geistes!" rief der Tischler erregt zurück.
„Dann bist Du Ärmster ziemlich wehrlos!"
Der Tischler schwieg.
Eine Patrouille des Arbeiterkampfbundes, die von ihrem Rundgang durch den Stadtteil zurückkam, marschierte im Gleichschritt durch die Rosenhofstraße. Mit Zurufen wurden sie von den Arbeitern begrüßt. Einige junge Arbeiter liefen hinter ihnen her, um sie von der Polizeiaktion in Kenntnis zu setzen. Auch Fritz, Pohl, Römpter und die Jungkommunisten, die bei ihnen waren, wollten zu ihnen. Der Wachdienst musste neu organisiert werden. Sie waren auf halbem Wege, da krachten in der Marienstraße Schüsse. Die Genossen wollten nun über die Straße in die Marienstraße laufen, als einige junge Burschen, die durch gleiche Mützen auffielen, aus einer Seitenstraße stürzten.
„In die Häuser!" schrie der eine, ein hagerer Kerl.
Die Arbeiter zögerten. Pohl rief etwas.
Da zogen von den Mützenleuten, die aus der Marienstraße strömten, einige ihre Revolver, Und wieder krachten Schüsse. Mit Geschrei stürzten nun alle von der Straße in die Häuser und Terrassen.
Fritz, Pohl, Römpter und die Jungkommunisten rannten in der ersten Erregung mit in die Rosenhof-Terrasse hinein. Hier drängten sich vor dem Eingang der Wohnung des Wohlfahrtspflegers die Einwohner. Keiner wusste eigentlich, was los war und alle schrieen durcheinander.
„Wir müssen wieder auf die Straße!" schrie Pohl den Genossen zu. „Wer weiß, was da passiert!"
Geschlossen rannten sie wieder durch die Terrasse. Da stand plötzlich wieder der Hagere breitbeinig vorm Eingang. Seine langen, dünnen Beine in den Wickelgamaschen wirkten gespenstisch. Ruhig hob er seinen Revolver und schoss.
Alle fluteten schreiend wieder zurück.
Eine Kugel, die von der Häuserwand abgeprallt sein musste, traf die Frau des Tischlers Höhlein ins Schulterbein. Mit einem grässlichen Aufschrei fiel sie mit dem Gesicht auf die Steine. Der Tischler und einige anderen Männer hoben die Frau auf und trugen sie ins Haus.
„Das ist ja Krieg!" jammerte schreckensbleich Kummerfeld.
„Ach, merken Sie das nun auch?" höhnte der Schauermann, der mit einigen Jungkommunisten an den Handgriffen der Kuhlmann'schen Kohlenkarre, die hier angekettet stand, riss.
„Da siehst Du, was Du angerichtet hast!" schrie einer der Jungkommunisten Fritz an. „Sie treiben uns wie Freiwild in die Häuser, weil wir uns nicht wehren können!"
„Recht hat er!" schrie der Schauermann und riss mit allen Kräften den einen Handgriff ab.
„Los in die Wohnungen!" schrie er dann. „Alles runter holen, was sich zum Schlagen eignet!"
Einige rannten die Treppen hoch. Auch Fritz lief zu sich in die Wohnung. In seinem Zimmer riss er eine Schublade der alten Kommode auf und warf die Wäsche heraus. Er nahm den Revolver, den sie im Frühjahr dem einen Faschisten der Klebekolonne abgenommen hatten und stürzte damit wieder hinunter.
In der Terrasse standen schon angriffsbereit die Arbeiter. Eisenstangen, Feuerhaken, sogar eine langstielige Axt war herbeigeschafft worden. Pohl, der einen langen Handgriff der Kohlenkarre überm Kopf schwang, sprang als erster aus der Terrasse. Neben ihm lief Römpter, einen Spaten in den Händen.
Einige Nazis stellten sich den Anstürmenden in den Weg. Fritz schoss zweimal hintereinander. Einer der Bemützten stürzte zu Boden. Einige andere liefen zurück. Der Hagere sprang heran und schrie seinen Leuten etwas zu. Fritz zielte. Mitten im Schreien warf der Hagere die Arme hoch und fiel hintenüber. Über ihn hinweg rannten mit Geschrei die Arbeiter und schlugen blindlings auf alles ein, was sich ihnen in den Weg stellte.
Nun stürmte ein Teil der sich zu hunderten in der Rosenhofstraße stauenden Nazis in wilder Hast zurück. Im selben Augenblick kamen aus den Häusern und Terrassen wie auf Kommando die Arbeiter herausgestürzt. Mit Latten, Treppengeländerstützen und dicken Knüppeln schlugen sie auf die Nazis ein. Ein furchtbares Handgemenge entspann sich. Vereinzelt krachten Schüsse. Fritz warf seinen leergeschossenen Revolver fort und nahm einen mit Blei gefüllten Gummiknüppel auf, der auf der Straße lag. Vor sich sah er einige Nazis vor dem spatenbewaffneten Seehundbärtigen wegrennen. Die Nazis wurden eingekesselt. Diesem allseitigen Ansturm waren sie nicht gewachsen und im Handgemenge zogen sie durchweg den Kürzeren. In mildem Rennen jagte die Mehrzahl von ihnen die Rosenhofstraße hinunter. Ein Teil aber wollte durch die Marienstraße entkommen. Doch hier waren die durch die Schüsse im Lokal von Petersen in Schach gehaltenen Arbeiterkampfbündler auf die Straße gestürzt und versperrten den Nazis den Rückweg.
Vierzig Nazis mochten es sein, die in dieser Umklammerung unbarmherzig von den Arbeitern zusammengeschlagen wurden. Schreien, Stöhnen, Gebrüll gellte durch die Straße und überall lagen blutüberströmt die Mützenträger.
Mit einem Male dröhnte eine Salve Schüsse in das Gebrüll Die Arbeiter horchten auf.
„Straße frei! „Es wird scharf geschossen!" schrie eine Stimme.
Die Marienstraße herauf, auf die Rosenhofstraße zu, kam über die ganze Breite der Straße eine ausgeschwärmte, schussbereite Polizeikette.
Der Menschenknäuel löste sich und alle, die noch laufen konnten, rannten wieder in die Häuser und Terrassen. Auch Fritz lief an den Häusern entlang. Im Laufen warf er seinen Bleigefüllten Gummiknüppel von sich.
„Fritz! Fritz!" rief ihn einer an.
Er drehte sich um.
An einen Laternenpfahl gelehnt, lag Pohl am Boden. Fritz lief zu ihm hin.
„Fritz, hilf mir ins Treppenhaus!"
„Unsinn!" rief Fritz und hielt einen Jungkommunisten, der an ihnen vorbeirannte, an.
Beide stützten den vor Schmerz und Blutverlust bleichen Schauermann und brachten ihn, dem der Schweiß auf der Stirn stand, in die Rosenhof-Terrasse. In der Parterrewohnung des Wohlfahrtspflegers betteten sie ihn auf das Sofa. Das Blut strömte dem Schauermann an den Beinen entlang. Friz riss ihm die Hosen herunter. Pohl hatte mehrere Stiche in den Oberschenkel bekommen und einer davon hatte die Schlagader getroffen. Mit einem schmalen Leibriemen schnürte Fritz das Bein ab und verband notdürftig die Wunden.
Der Schauermann lächelte. Ich wäre sonst verblutet. Ich wusste es."
„Aber wir brauchen einen Arzt!" rief Fritz.
Keiner rührte sich.
„Wer sich auf die Straße wagt, wird entweder erschossen oder verhaftet!" sagte einer.
„Ich gehe!" antwortete der Wohlfahrtspfleger, der auch im Zimmer stand und ging hinaus.
„Wo ist Römpter?" fragte der Schauermann.
Fritz zuckte mit der Schulter.
„Der lief zum Schluss mit seinem Spaten die Rosenhofstraße entlang!" antwortete der Jungkommunist, der den Schauermann mit hergeschleppt hatte.
„Das war ein Tag!" murmelte Pohl.
In der Nacht noch wurde durch Rundfunk bekannt gegeben, dass der Belagerungszustand über die Stadt verhängt sei.
Am anderen Morgen meldete die Presse, dass die Polizei, in Anbetracht der ungeheuren Erregung der proletarischen Bevölkerung der Rosenhofstraße, mit neuen Zusammenstößen und Unruhen rechne.

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