Kapitel III.
Am Abend des 18. März wurde es am Alexanderdamm lebendig. Pfeifend fuhr der Wind in die Schneeflocken, peitschte sie hoch und trieb sie wirbelnd vor sich her. Aus diesem Schneegestöber erklang Gesang, trotziger, kampfbereiter Gesang. Ein langer, schwarzer Zug von Menschen zog den Alexanderdamm herauf. Über ihren Häuptern flatterten blutrote Fahnen. Immer kräftiger schwoll der Gesang an. Heulend fuhr der Wind dazwischen und wirbelte Schneeflocken gegen die Menschen. Aber unbeirrt marschierte die dunkle Masse.
Vor den Volkssälen am Alexanderdamm staute es sich. Stoßweise wurden die Anmarschierenden in den riesigen Versammlungssaal eingelassen. Immer neue Züge trafen ein. Der Gesang der einen Gruppe klang in den der anderen über.
An den Straßenecken standen zwei Lastautos mit Polizei. Zitternd vor Kälte sahen sich die Beamten den imposanten Aufmarsch an. Einige schüttelten die Köpfe, als ob sie diese Menschen unbegreiflich fänden.
Im Saal wogten indes schon Menschenmassen durcheinander. Oben auf der Galerie, über dem Rednerpodium, saß eine Arbeiter-Musik-Kapelle und spielte Märsche. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" stand auf einem riesigen roten Transparent zwischen Galerie und Rednerpodium und rundherum leuchteten auf rotem Tuch revolutionäre Parolen in den Saal. Der Riesenraum war fast schon gefüllt, aber immer neue Scharen strömten herein.
Dutzende rote Fahnen hingen von der Galerie. Gruppenweise wurden Kampflieder gesungen und diskutiert. Broschüren und Zeitschriften wurden laut angeboten. Es war ein lebhafter Betrieb, ein Hin und Her, ein Rufen und Winken, ein Singen und Lärmen. Auch Fritz und Else saßen unter den Jungen in der ersten Reihe, direkt an der Brüstung. Noch nie hatte Else ähnliches erlebt, noch nie soviel Menschen beisammen gesehen, noch nie eine derartige Begeisterung gespürt, wie sie hier durch die Menschen ging. Fritz hatte vollauf zu tun, alle ihre Fragen zu beantworten,
„Ja, die Pariser Kommune war die erste große Erhebung des modernen Proletariats!"
„Und jedes Jahr ist eine Gedenkfeier?"
„Ja!"
„In allen Ländern?"
„Ja!"
Else dachte eine Weile nach. „Sie kämpften doch damals um die Demokratie, nicht wahr?"
„Nein, nicht um die Demokratie ging es, sondern um die Herrschaft der Arbeiterklasse. Engels, einer der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, nannte die Kommune ein Vorbild für die kommende Klassenherrschaft des Proletariats!"
Unten im Saal entstand eine Unruhe Die Menschen erhoben sich. Ein Literaturverkäufer lief in Zuchthauskleidung umher und verkaufte Broschüren der „Roten Hilfe" für eine Amnestie der proletarischen ,politischen' Gefangenen.
„Fritz, dort das Transparent: ,Hinweg mit dem § 218!'' steht drauf. Was ist das für ein Paragraph?"
Nun musste Fritz auflachen. Das ist 6er Paragraph, der Trudel Merker und Frau Hintz der Polizei und dem Gericht auslieferte!"
Else schwieg.
„Was hat sie überhaupt noch gesagt?" blieb Fritz bei dem Thema.
„Sie sagt, sie ist überrumpelt worden. Aber keiner konnte sie zwingen zu sagen, dass wir ihr geholfen und von der ganzen Sache gewusst hätten Das Geld habe ich ihr ahnungslos gegeben, nachdem ich es mir von dir geliehen habe!"
„Fehlt nur noch, dass ich noch sage, dass ich es von Olfers habe. Die hat sich benommen, wie ein dummes Gör!"
„Ich kann mir denken, dass solche Kriminalbeamte hundsgemein sind!" versuchte Else sie zu entschuldigen.
„Hundsgemein oder nicht hundsgemein, sie hat die Hintz dem Staatsanwalt ausgeliefert!" brauste nun Fritz wütend auf.
„Sie nicht — ihre Dummheit und Angst!" antwortete Else leise.
„Sie brauchte der Kriminalpolizei überhaupt nichts auszusagen!"
„Dann wäre sie aber vielleicht verhaftet worden!"
„So-oo?" rief Fritz ironisch und doch wütend „Und um dieser eventuellen Verhaftung zu entgehen, bringt sie die andere ins Zuchthaus! So, so!" —
„Ruhe! Ruhe!" riefen einige Umstehende.
Die Kundgebung wurde eröffnet. Fritz war käsig im Gesicht vor Wut. Else saß ratlos neben ihm und starrte gedankenlos in die brodelnde Menschenmasse. Die Arbeiter-Schalmeienkapelle setzte ein. Alle erhoben sich und sangen. Else war ganz schwindlig, sie hatte für einen Moment das Gefühl, in einer Kirche zu sein Schwer und wuchtig brauste aus tausend und aber tausend Kehlen der Gesang. Von den Worten verstand Else nicht viel, aber die Melodie hatte in ihrer Getragenheit Kraft und Siegesbewusstsein... .
„Da ist Genosse Horn!" flüsterte Fritz.
Else nickte. Auf dem Rednerpodium stand ein großer, schlanker Mensch mit dunklen Haaren und hellem Gesicht. Fritz hatte ihr schon manches von ihm erzählt. Er war der Chefredakteur der kommunistischen Arbeiterzeitung und Leiter verschiedener Bildungskurse. Als Sohn vermögender Eltern ging er von der Universität, zum Entsetzen seiner Angehörigen, zum kämpfenden Proletariat über und arbeitete in der monistischen, dann in der kommunistischen Jugend und trat später in die Redaktion einer kommunistischen Tageszeitung ein. Else wusste, dass Fritz ihn sehr schätzte.
Er sprach jetzt von unserer Zeit als die der geschichtlichen Epoche des Zusammenbruchs des kapitalistischen Weltsystems und der proletarischen Revolutionen... „Wir stehen mitten drin in diesem geschichtlichen Ringen. Ein Sechstel der Welt hat das Proletariat bereits erobert. Die kapitalistische Welt liegt in Agonie. Die Pariser Kommune 1871 war der Auftakt, der Beginn des grandiosen Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen der ausbeutenden und ausgebeuteten Klasse!"
Sein Organ war metallen und sympathisch, es zwang den Hörer zur Aufmerksamkeit. Auch Else lauschte ganz verloren seiner Rede. Freilich verstand sie vieles nicht und kämpfte oft mit der Versuchung, Fritz anzustoßen und zu fragen. Der aber lag mit verschränkten Armen breit über der Galeriebrüstung und sah wie hypnotisiert aufs Podium. Seine Freundin schien für ihn jetzt nicht zu existieren.
Else vernahm, wie die Kommune ausbrach, und mit welcher reinen und leidenschaftlichen Begeisterung die Arbeiter Paris verteidigten. Klar stand vor ihr, wie dann angesichts dieser Gefahr für die bürgerliche Weltordnung durch das aufständische Pariser Proletariat die Feinde von gestern, die reaktionären Militärs Preußens und Frankreichs, Sieger und Besiegte, sich gegen das revolutionäre Paris verbündeten und gemeinsam den Aufstand der Arbeiter in Blut erstickten. Als Horn die bestialischen Grausamkeiten der Versailler Gegenrevolution, unter Führung des Generals Gallifet, nach Niederschlagung des Aufstandes der Arbeiter schilderte, wurden wiederholt Rufe des Abscheus und der Entrüstung laut. Die Arbeiter zogen selbst geschichtliche Parallelen und riefen „Noske!", wenn von Gallifet die Rede war.
Dann kam der Redner auf die Haltung August Bebeis und des alten Liebknecht zur Pariser Kommune zu sprechen. Von brausendem Beifall unterbrochen, las er aus einer Rede Bebeis vor, in der er die Kommune verteidigte. Erneuter Beifall brach aus, als er Marx und Engels über diesen heldenhaften Aufstand zitierte.
Lange noch zitterte die Erregung in der Versammlung nach, als Horn begann, die geschichtliche Periode von der Kommune bis zum August 1914 darzulegen. Auch auf der Galerie war die Unruhe noch nicht abgeebbt.
Fritz wandte sich plötzlich an Else. „Sieh, dort sitzt Olfers!"
Else suchte und konnte ihn nicht entdecken.
„Dort!"
Jetzt sah sie ihn. Er saß ruhig zurückgelehnt unter den vielen Menschen im Saal. Horn redete mit erhöhter Stimmenkraft, um die Unruhe im Saal zu bannen. —
„Wann sie den Pohl wohl wieder rauslassen?" flüsterte Fritz ganz unvermittelt.
„Ja!" Else vergegenwärtigte sich das Gesicht des Schauermannes, der am Morgen nach dem nächtlichen Zusammenstoß mit den Nazis verhaftet worden war. —
„Hallo, Fritz!" rief einer aus den hinteren Reihen.
Außer Fritz und Else drehten sich noch andere um.
„Ruhe! — Ruhe!" riefen einige wütend.
Fritz sah Walter Heuberger und winkte, verlegen über die Ruhestörung, mit der Hand.
„Der ist jetzt immer dabei!" flüsterte Else.
„Ich dachte schon, er wäre durch die Verhaftung Pohls abgeschreckt!" flüsterte Fritz zurück.
Ein Händeklatschen im Saal und auf der Galerie schreckte sie
auf.
Fritz horchte jetzt wieder auf den Redner. Dieser sprach von dem sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. Wenn Fritz aber auch unverwandt auf den Redner sah, jetzt hörte er nichts von dem, was er sprach, sondern dachte an den verhafteten Schauermann und an Walter Heuberger. Beide waren für die Sache der revolutionären Arbeiter gewonnen und es schienen nicht die schlechtesten zu werden. Dann musste er an Kafka denken. Ob man den nicht auch noch gewinnen könnte? Haben wir eigentlich wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Fritz hatte in diesem Augenblick beinahe Gewissensbisse. Dann grübelte er darüber nach, wie man weiter vorstoßen könnte. Auf besondere Art, mit neuen, noch nicht dagewesenen Methoden müsste es sein. Wieder schreckten ihn einige Zurufe aus der Versammlung auf. Horn war jetzt hochrot vor Anstrengung und innerer Erregung. Mit größter Stimmenkraft und lebhaften Armbewegungen kam er zum Schluss seiner Rede. Er zog die Linie: Pariser Kommune — Kommune Sowjetunion und forderte auf: „Vorwärts! Weiter! — Keinen Stillstand! Das vor uns liegende Ziel heißt: Kommune Sowjetdeutschland!"
Mit tosendem Beifall fiel ihm die Versammlung in die Rede. „Dann weiter zur Weltkommune. Das heißt: Herrschaft der Arbeiter in allen Ländern und Festigung dieses Sieges und des Aufbaus de»Sozialismus im Weltmaßstabe!"
In dem anhaltenden tosenden Beifall der tausende Anwesenden intonierte die Schalmeienkapelle die ,Internationale". Sofort endete das Händeklatschen und die Versammelten erhoben sich wie ein Mann von den Sitzen. Kraftvoll, drohend und zukunftsgewiss, dröhnte der Massengesang durch den Riesensaal.
Nun kam eine kleine Pause. Hinterher sollte eine Arbeiter-Theatertruppe spielen. Fritz rief: „Komm!" und drängte sich durch die Reihen der hinter ihnen Sitzenden und Stehenden. Else war es absolut nicht recht. Sie hätte gerne noch die Truppe spielen sehen.
„Ich halte das hier nicht mehr aus!" flüsterte Fritz ihr wie zur Entschuldigung zu.
Draußen war es wie in einer eisigen Winternacht. Außer einigen Genossen vom Ordnerdienst, die vor dem Eingang der Volkssäle standen, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Als aber Fritz und Else durch den Schnee den Alexanderdamm hinunterstampften, sahen sie in der ersten Querstraße ein Überfallauto stehen. Die Polizisten trampelten vor Kälte in dem Schnee und hauchten sich in die zusammengeballten Fäuste. Die Uniformen wirkten im Schnee und in der Einsamkeit merkwürdig kriegerisch.
„Noch nicht bald zu Ende?" schrie einer zu Fritz hinüber.
Fritz schüttelte mit dem Kopf und machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte er sagen, sie sollen doch abfahren.------
„Warum hattest Du es so eilig?" fragte Else.
„Ich mag nach einem derartigen Thema das Spiel, das folgen sollte, nicht sehen!"
Else schwieg.
„Dir ist es doch auch recht, nicht wahr?"
„Ich wäre gerne geblieben!" gestand sie ehrlich.
Schweigend arbeiteten sie sich durch den Schnee weiter. Der schneidende Wind fuhr ihnen ins Gesicht. Vornübergebeugt und eng aneinandergepresst, kämpften sie gegen das Gestöber an.
Während sie so durch einige Straßen und Nebenstraßen kreuz und quer gingen, dachte Fritz an Pohl und Kafka, an die Pariser Kommune und die kommende Kleinarbeit. Else war mit ihren Gedanken bei Trudel Merker. Und jeder so seinen eigenen Gedanken nachgehend, kamen sie in die Rosenhofstraße. Fritz verabschiedete sich flüchtig und lief weiter. Else sah ihm nach. Sie hatte, während sie die steilen Stufen im dunklen Treppenaufgang hinaufschritt, das quälende Gefühl, ihn irgendwie verletzt zu haben. Sie wusste aber nicht wodurch.
In der Küche fand sie einen Brief auf dem Tisch. „An die Genossin Langfeld" stand darauf. Sie riss ihn erstaunt auf.
Werte Genossin! Morgen abend muss eine wichtige Zusammenkunft aller Mitglieder der Redaktion der Häuserblock-Zeitung sein. Mitglieder der Stadtteilleitung und des Mietervereins werden ebenfalls anwesend sein. Die Sitzung findet in meiner Wohnung statt. Ich rechne bestimmt mit Deinem Erscheinen. Mit Parteigruß: Olfers.
Else wurde heiß im Gesicht vor Freude. Sie war jetzt eine richtige Genossin, die man zu einer Sitzung einlud. Sie las die Einladung noch einmal und es war ihr, als wäre es ein Anerkennungsschreiben. Sie war stolz darauf. Ob Fritz auch solchen Brief bekommen hat, dachte sie noch.
Eines Morgens war bei der Brothändlerin Kuhlmann große Aufregung unter den Frauen. Das war ein Geschnatter und Geschimpfe. In der Erregung sprach eine gegen die andere. Der Anlass war eine achtprozentige Mietserhöhung, die die Hausbesitzer verfügt hätten.
„Unerhört finde ich das!" kreischte die pummelige Frau Fritt und sah mit ihren stechenden Augen beifallshungrig umher. „Unerhört, denn nach dem Gesetz sind doch nur fünf Prozent berechtigt! Und das ist schon ein Skandal!"
„Wieso fünf Prozent?" fragte die dürre Frau Kummerfeld.
„Na, die sind doch im Reichstag angenommen worden!" erklärte wichtig die Fritt.
„Unglaublich!" fing nun auch die Mechanikerfrau wieder an. „Alles wird verteuert und erhöht, und der Mittelstand verarmt immer mehr!"
„Nicht nur der Mittelstand, auch der Arbeiterstand, Frau Kollmar!" warf die Kummerfeld ein. „Die Löhne werden immer mehr abgebaut, und die Ausgaben für die täglichen Bedürfnisse steigen dauernd!"
„Wissen Sie!" wandte sich jetzt die rundliche, kleine Fritt an die Frau des Wohlfahrtspflegers und rückte ganz nahe an sie heran: „Die Sozialdemokratie hat im Reichstag dieser Mieterhöhung zugestimmt!"
Die hagere Frau Kummerfeld zuckte zusammen, als hätte sie einen Hieb ins Gesicht bekommen. Die um sie herumstehenden Frauen sahen sie erwartungsvoll an; es würgte ihr ein Wort in der Kehle, aber sie bekam es nicht heraus, und wortlos verließ sie den Laden. —
„Diese Hungerleider von Wohlfahrtspfleger sollen nur nicht so angeben!" unterbrach die Fritt das Schweigen. „Die sollen sich nur nicht so arbeiterfreundlich aufblasen. Mein Mann sagt immer: Es gibt keine Schweinerei, in der die Sozialdemokraten nicht ihre schmutzigen Pfoten haben!"
„Und das will eine Arbeiterpartei sein!" wusste die Mechanikerfrau zu sagen, die mit ihrem Mann Mitglied der Deutschen Volkspartei war..
„Vor dem Krieg war doch alles viel reeller!" seufzte die Brothändlerin.
„Ja, vor dem Krieg!" riefen die Frauen durcheinander.
„Da war noch Anstand und gegenseitige Achtung unter den Menschen!" Pathetisch deklamierte das die Frau des Tischlers Höhlein, der Sozialdemokrat war.
„Und geordnete Verhältnisse!"
„Jeder hatte sein gutes Auskommen!"
„Und Zucht und Ordnung herrschte!"
Die Weiber sprachen alle durcheinander, als Else in den Laden trat.
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen!"
Bevor Else angeben konnte, was sie kaufen wollte, fragte die Fritt die Brothändlerin: „Haben Sie eigentlich auch so'n Wisch von Hauszeitung erhalten?"
Frau Kuhlmann wurde doch etwas verlegen. Sie merkte die Zielrichtung dieser höhnischen Frage sehr wohl.
„Was haben mein Mann und ich gelacht!" kreischte die Fritt ungestört weiter. „Auf was für Ideen diese Kommunisten kommen!"
Else stand ruhig am Ladentisch. „Ein halbes Feinbrot und sechs Rundstücke bitte!"
„Haben Sie gelesen, was über uns Frauen drinstand?" wandte sich die Tritt nun an die Mechanikerfrau.
„Wir lesen derartigen Dreck nicht!"
„Hätten Sie müssen! Hätten Sie müssen!" lachte die rundliche Person: „Sie hätten sich totgelacht! So'n Quatsch!"
Der Else zuckten die Lippen, aber sie beherrschte sich und tat völlig unbeteiligt.
„Die Kommunisten sollten lieber etwas gegen die Mietserhöhung unternehmen!" rief die Höhlein. „Mein Mann sagt: Die können reden und kritisieren, aber praktisch nichts ändern!"
„Alles nur Phrasen!" bestätigte die Fritt. „Nur Großmäuligkeit! Selbst sind sie zur geringsten praktischen Arbeit unfähig!"
„Wenn man sie aber hört!" warf ironisch die Mechanikerfrau ein, „dann sollte man meinen, sie würden die ganze Welt überrennen!"
Die Frauen lachten und schielten Else von der Seite an. Diese nahm ihr Brot und verließ mit einem freundlichen „Guten Morgen!" den Laden.
Die Weiber schwiegen. Sie waren sprachlos vor Wut. „Die hält sich scheinbar schon für zu stolz, um sich mit uns zu unterhalten!" knirschte die Fritt.
„Worauf soll sie denn stolz sein?" fragte erstaunt die Tischlerfrau.
„Weiß der Teufel!"
„Die soll sich nur in acht nehmen, dass es ihr nicht so wie der Merker geht!"
Die Mechanikerfrau hatte ein neues Stichwort gegeben. Else war vergessen, Trudel Merker kam auf die Tagesordnung.
„Ja!" heuchelte die Fritt Entrüstung, „das ist der Dank solcher leichtsinnigen Dinger. Erst hilft so eine Frau, und dann wird sie verpetzt!"
„Was? Die Merker hat die Frau verraten?" Die Hohlem tat ganz entsetzt.
„Natürlich! Sie hat den Kriminalbeamten alles haarklein erzählt, und die haben dann sofort die Hintz, das ist die Frau, verhaftet!" „Die arme Frau!" lispelte die Mechanikerfrau. „Die hat einige Jährchen Zuchthaus weg!" „Meinen Sie?" „Sicher! So etwas wird heute schwer bestraft!"
„Und was wird mit der Merker geschehen?" fragte die Brothändlerin.
„Na, die wird pro forma verurteilt, aber begnadigt, weil sie gleich alles verpetzt hat!" antwortete die Fritt und setzte bei den letzten Worten eine verächtliche Grimasse auf.
„Dies Luder!" zischte die Höhlein.
„Das wird noch weitere Kreise ziehen!" Die Fritt kam sich ungeheuer wichtig vor.
Der Brothändlerin aber war diese ekelhafte Heuchelei nun doch zu stark, und als die Fritt sie herausfordernd ansah, als ob sie auf ihre Bestätigung wartete, sagte sie nur: „Ja, ja!" und sah auf die
Straße.
Abends war die Sitzung der Redaktion der Häuserblockzeitung bei Olfers. Auch Fritz war anwesend. Außerdem noch ein Vertreter des Mietervereins und ein Mitglied der Stadtteilleitung der kommunistischen Parteiorganisation. Der einzige Tagesordnungspunkt war die Mietserhöhung am 1. April. Olfers schlug vor, zusammen mit dem Mieterverein eine Protestbewegung zu organisieren und eine öffentliche Mieterversammlung einzuberufen. Aus diesem Grunde müsse auch die Häuserblockzeitung bereits vor dem 1. April noch einmal erscheinen und die Protestbewegung entfachen hellen.
Nach eingehender Diskussion wurden Olfers Vorschläge angenommen. Ein Referent des Mietervereins und Olfers wurden als Redner festgelegt und das Lokal von Petersen als Versammlungsort bestimmt. Mit kleinen Handzetteln sollten die Einwohner der ersten Hälfte der Rosenhofstraße zu dieser Protestversammlung aufgerufen werden. Die sofort fertig zu stellende Häuserblockzeitung sollte ebenfalls auf die Versammlung eingestellt werden. Fiel die Aktion gut aus, sollte eine Versammlung für die übrige Hälfte der Straße folgen.
Fritz und Else sahen sich an. Sie wussten, dies alles bedeutete sehr viel Mehrarbeit. Auch die sonst so redselige Genossin Schenk war während der ganzen Sitzung auffallend schweigsam. Die Kleinarbeit überstieg manchmal bei den wenigen Parteiarbeitern fast das Menschenmögliche.
Else musste an das Gespräch der Frauen bei der Brothändlerin denken und nickte Fritz ermunternd zu. In zwei Tagen sollte die Häuserblockzeitung fertig sein und verteilt werden, denn am Tag darauf war schon die Protestversammlung.
Fritz und Else Hefen schon eine Stunde vor Beginn der öffentlichen Mieterversammlung vor dem Versammlungslokal auf und ab. Harte Arbeit hatte es, um alles vorzubereiten, während der letzten Tage gekostet. Flugzettel waren entworfen, hergestellt und verteilt worden; die Häuserblockzeitung wurde geschrieben, in fünfhundert Exemplaren abgezogen und dann noch treppauf treppab in die Wohnungen getragen. Und alles war die Arbeit von vier Leuten; denn Olfers selbst konnte man nicht zu jeder Kleinarbeit heranziehen. Er schrieb Artikel für die Häuserblockzeitung, Korrespondenzen für die kommunistische Tageszeitung, bereitete sich als Redner auf die Versammlung vor, hatte also schon sein tüchtiges Bündel Arbeit.
Sie sahen, wie die ersten Versammlungsbesucher in das Lokal gingen. Ein Arbeiterehepaar und zwei Arbeiter — der eine, mit der Pfeife im Munde, war der Tischler Höhlein —, blieben diskutierend vor der Wirtschaft stehen.
Fritz und Else gingen noch ein Stück in die Rosenhofstraße zurück. Sie sahen eine ganze Anzahl Arbeiter, die fraglos zur Versammlung wollten.
„Vielleicht wird es doch ganz gut besucht!" meinte Fritz.
„Du, da kommt Pohl!"
„Wahrhaftig!"
Der junge Schauermann kam heran und begrüßte die beiden.
„Guten Tag, Karl!"
„Guten Tag!" schluckte Pohl. „Ich war bei Dir im Hause. Da sagte man mir, dass ihr hier Versammlung habt!"
„Wieso haben sie Dich plötzlich laufen lassen?" fragte ihn Else.
Der Schauermann lachte und reckte sich.
„Warum haben sie Dich überhaupt festgenommen? So wollen wir erstmal fragen!" meinte Fritz.
„Wie war es denn, so gefangen? Hast Du hungern müssen?" bestürmte ihn Else.
„Oha!" lachte Pohl. „Man alles der Reihe nach!"
Sie beschlossen, einmal um den Häuserblock herumzugehen.
„Aber was ist denn das eigentlich für eine Versammlung heute?" fragte der Schauermann, anstatt auf all die Fragen zu antworten.
Fritz erzählte ihm nun von der von ihnen organisierten Protestversammlung der proletarischen Mieter, gegen die für den 1. des kommenden Monats beabsichtigte achtprozentige Mietserhöhung.
„Und was ist der Zweck der Versammlung?"
„Das hängt von dem Besuch, der Stimmung der Mieter und der Stärke unseres Einflusses ab!" antwortete Fritz. „Vielleicht Mieterstreik!"
„Oha! So was war ja noch nicht da!"
Sie schlenderten die Straßen entlang. Als sie an dem Platz des nächtlichen Zusammenstoßes mit den Nazis vorbeikamen, bemerkte Pohl trocken: „Der Schlachtplatz!"
„Es läuft aber schon tüchtig!" rief Else, als sie wieder in die Marienstraße einbogen. Gruppenweise kamen Arbeiter von der Rosenhofstraße her und gingen zu Petersen. Vor dem Lokal stand Olfers und winkte. Fritz lief zu ihm.
„Wir fangen gleich an! Der Besuch ist ausgezeichnet. Der vom Mieterverein schwimmt in Wonne!"
„Wer spricht zuerst, Du oder der vom Mieterverein?"
„Brinkmann vom Mieterverein erst! Ich habe ihn schon gehörig aufgepulvert!"
„Was meinst Du, werden wir tun?"
„Das kann man jetzt schlecht sagen. Wir müssen aus der Situation heraus handeln!"
„Mieterstreik?"
„Vielleicht!"------------
Das Versammlungslokal war gedrängt voll. Einige rückten schon mit ihren Stühlen zusammen und hoben Tische aus der Mitte des Saales über die vielen Kopfe hinweg zum Kellner, der sie in einem kleinen Klubraum nebenan aufstapelte. Das war ein Gerede und Gerufe, ein Kommen und Gehen unter den Versammelten. Nachbarn begrüßten sich, Arbeitskollegen trafen sich und sprachen miteinander. Bier wurde von Kellnern herumgetragen. Bestellungen durch den Saal gerufen, und der Tabaksqualm der vielen Pfeifenraucher färbte die Luft blau.
Ein älterer, dürrer Arbeiter und ein Vorstandsmitglied des Mietervereins nahmen am Vorstandstisch Platz. Auch Olfers zwängte sich durch die Reihen der Versammlungsbesucher nach vorn.
„Wer ist der Alte am Vorstandstisch?" fragte Else. Mit Fritz und Pohl stand sie hinten im Saale.
„Der Genosse Köhler von der Stadtteilleitung.“
„Und der andere?"
„Der Vertreter des Mietervereins!" „Auch ein Genosse?"
„Nee, — ich glaube Sozialdemokrat!"
„Nanu!" mischte sich jetzt Pohl ein. „Wenn der nun Quatsch verzapft und bremst?"
„Das müssen wir eben abwarten!" erwiderte Fritz. „Oft aber; ist es so, dass diese einfachen Arbeitermitglieder der Sozialdemokratie in solchen Spezialfragen ausgesprochen radikal denken und mit uns gemeinsam gehen. Erst hinterher werden sie meistens von ihren Parteiinstanzen gegen uns aufgeputscht. Vorher müssen wir sie tüchtig bearbeiten und versuchen, sie zu uns herüberzuziehen!"
Der alte Genosse Köhler erhob sich, läutete, bat um Ruhe und eröffnete die Protestversammlung der Mieter der Rosenhofstraße aus den Häusern von Nr. 1 bis 80. Dann wies er kurz auf die Veranlassung dieser Versammlung hin. Er sprach fließend und scheinbar ohne Mühe, aber leise, man möchte sagen, kränklich. Und weil dies wohl instinktiv jeder so empfand, herrschte absolute Ruhe. Dann erteilte er dem Vertreter des Mietervereins das Wort.
Das war ein riesenhaft großer Mensch mit vollkommen kahlem Kopf. Gleich am Anfang seiner Ausführungen wandte er sich mit donnernder Stimme gegen die geplante Mietserhöhung und forderte die Versammelten zu den schärfsten Abwehrmaßnahmen auf. Alsdann ging er, weit ausholend, auf die Arbeit und die Bedeutung des Mietervereins ein.
Fritz nahm Else beiseite und flüsterte ihr zu, sie solle hier, am Eingang, bleiben und ihn rufen, wenn etwas besonderes vorfalle, er wolle sich mit Pohl draußen unterhalten.------------
„Wie lautet denn die Anklage?11 fragte Fritz den Schauermann, als sie aus dem Versammlungslokal hinausgingen,
„Auf Körperverletzung!"
„Da steckt doch nur der Kafka dahinter!"
„Natürlich! — Den Lump kauf ich mir noch!"
„Das ist dann ja wieder Körperverletzung", warnte ihn Fritz lachend. „Wie war's denn im U.-G.?"
„Na, wie soll's gewesen sein! Man kommt sich vor wie'n Idiot! Einmal am Tag wird die Zellentür geöffnet, dann geht's nämlich zum Zwanzig-Minuten-Zirkusrundlauf. Fünf Schritte Abstand, Hände auf dem Rücken, immer im Kreis herum. Das nennen sie Freistunde. Überall stehen Wachtmeister und betrachten dich wie ein Wundertier. Die ganze übrige Zeit sitzt du in deinem Loch und keiner kümmert sich um dich!"
„Aber wenn ihr Essen bekamt?"
„Ja, dann wurde eine Klappe an der Tür aufgerissen und einem der Fraß zugelangt. Wie bei 'ner Fütterung wilder Tiere im Zoo."
„Und was hast Du die ganzen Tage gemacht?" fragte Fritz weiter.
„Dreimal ,Die Liebe der Sennerin' und zwei- oder dreimal oder viermal, ich weiß es nicht mehr, die ,Märchen von Musäus' gelesen und dann... !"
„Du willst mich wohl zum Besten haben!"
„Aber nein, Fritz! Jeder Gefangene bekommt in der Woche ein Buch und das waren die beiden, die ich bekam!"
„Musstet ihr nicht arbeiten?"
„Das ist im U.-G. kein Muss, aber wer wollte, konnte Tüten kleben. Mensch, wenn ich das getan hätte, säße ich noch dort. Gefangene sind billige Ausbeutungsobjekte!"
„Pst! — Pst!" Else winkte an der Tür. „Olfers spricht jetzt!"
Olfers sprach etwas singend im Tonfall, zu weich und wie es Fritz schien, schüchtern. Es war auch, als ob er jedes Wort erst prüfte und abwog, ehe er es brauchte. Er war alles andere, als ein routinierter Redner und doch wirkte er irgendwie fesselnd auf die Zuhörer. Seine etwas gequälte Rede besaß eine seltsame Wärme, die auf jeden, der ihm zuhörte, überströmte. Unwillkürlich musste man das Empfinden haben: Das ist ein grundehrlicher Mensch!
Er legte in groben Umrissen die ganze ungeheuer schwierige Wirtschaftslage dar, zeigte ein Bild von den Ursachen der Wirtschaftskrise des internationalen Kapitals auf und bewies, wie in der heutigen Klassenherrschaft des Kapitals alle vorhandenen Schwierigkeiten und Lasten auf alle nur erdenkliche Art und Weise auf die arbeitenden Massen abgewälzt werden. „Eine dieser ungeheuerlichen Lasten sind die Mieten mit allen ihren Extraaufschlägen", erklärte er. „Der Reichstag hat vor einigen Monaten eine Erhöhung aller Mieten um fünf Prozent beschlossen und man darf nicht verschweigen, dass die Sozialdemokratie diesem Antrag der bürgerlichen Parteien zugestimmt hat!"
„Pfui! Pfui!" riefen einige Arbeiter.
„Bitte keine Parteipolitik!" kreischte eine Stimme.
„Wer war das?"
„Jammeracker!" rief Pohl erstaunt. „Der ist auch hier!"
„Wer ist Jammeracker?" wandte sich nun Fritz flüsternd an Else.
„So nennen sie bei uns im Hof den Wohlfahrtspfleger Kummerfeld!"
Fritz verbiss ein Auflachen.
„Man muss bei der Erörterung dieser Fragen auch auf die Haltung der einzelnen Parteien eingehen!" fuhr Olfers fort, „und darf nicht aus parteipolitischen Rücksichten Schandtaten der Sozialdemokratie verschweigen wollen!"
„Sehr richtig!" wurde ihm zugerufen.
„Diesen Reichstagsbeschluss benutzten nun unsere Hausbesitzer sofort, um noch weitere drei Prozent aufzuschlagen. Wie sie sagen, sollen dafür im Laufe der nächsten Jahre unsere Mietskasernen überholt und gestrichen werden!"
Gelächter brach aus. „Im Laufe der nächsten Jahre!" wiederholte einer ironisch.
„Wir können beurteilen, was diese Versprechungen wert sind! fuhr Olfers fort. „Wir haben ja darin gewisse Erfahrungen. Es sind schon Hauszinssteuern auf die Miete aufgeschlagen. Neubauten sollen damit finanziert werden, heißt es so schön!'
„Reichswehr und Polizei werden davon finanziert!" rief einer.
„Und die Ministerpensionen!" ein anderer.
„Sehr richtig!" bestätigte Olfers, „und von dem, was übrig bleibt, Neubauten, in die nur gutverdienende Bourgeois einziehen können; denn phantastisch hoch sind die Mieten und wir Arbeiter, wir in unseren Höhlen und Löchern, wir müssen diese Bourgeois-Neubauwohnungen finanzieren!"
„In Sowjetrussland ist noch größere Wohnungsnot! rief jemand und der Wohlfahrtspfleger rief dazu: „Sehr richtig!"
„Gewiss besteht eine Wohnungsnot in der Sowjetunion!" antwortete Olfers, „aber der Haus- und Grundbesitz ist dort sozialisiert und die Mietszahlungen sind sozialistisch geregelt!"
„Soo? Wie denn!" rief der Zwischenruf er ironisch.
„Lass Dir's doch erklären!" wandte sich Olfers ruhig an ihn. „Der Staat ist in der Sowjetunion Hausbesitzer und die Miete wird vom Staat, je nach Größe der Wohnung, dem Verdienst des Mieters entsprechend, festgelegt. Derjenige, welcher gut verdient, muss also mehr Miete für dieselbe Wohnung bezahlen, als der, welcher schlechter verdient, und Erwerbslose sind von der Miete fast ganz befreit!"
Es herrschte größte Ruhe und Aufmerksamkeit im Saal. Als sich leiner laut schnauzte, sahen sich etliche um.
„In der Sowjetunion ist also die Miete sozial geregelt und die Neubauten dort, die das schreckliche Erbe des Zarismus überwinden sollen, werden grundsätzlich für die Arbeiter geschaffen, denn auch dafür gelten natürlich dieselben Mietzahlungsprinzipien. Bei uns in Deutschland herrscht eigentlich keine Wohnungsnot, d. h., für die Bourgeoisie. Wer genügend Geld hat, kann die schönste Wohnung mieten. In den Neubauten stehen die Wohnungen oft monatelang leer, nicht, weil sich die Arbeiter in ihren elenden Mietskasernen so wohl fühlen, sondern weil sie einfach die Mieten für eine Neubauwohnung nicht aufbringen können. So sieht die ,soziale Wohnungspflege' bei uns in Deutschland aus!" — „So ist es! Sehr richtig!" wurde aus der Versammlung gerufen. — „Olfers ist ein Prachtkerl!" flüsterte Fritz begeistert zu Else. „Und jetzt will man sogar die Mieten für unsere Elendslöcher noch hinaufschrauben. Die Löhne werden abgebaut, Millionen werden rücksichtslos auf die Straße geworfen, die
Lebensmittel steigen Im Preis und das allgemeine Existenzniveau sinkt erschreckend und zu alledem nun noch diese durch nichts zu rechtfertigende Mietserhöhung. Und wie sehen die Wohnungen durchweg aus? Seit Jahr und Tag ist nichts renoviert worden. Bei den meisten brennt es im Ofen schlecht, bei anderen ist die Wasserleitung nicht intakt, von den Häuserwänden fällt den spielenden Kindern der Mörtel auf den Kopf. Tausende solcher und ähnlicher Missstände sind vorhanden. Wir sind hier versammelt, um uns gemeinsam zur Wehr zu setzen- Wir müssen einen Weg finden, diese neue Mietserhöhung zu verhindern!"
Olfers wollte schon abtreten, da riefen ihm einige zu: „Wie? Wie?!" Er stockte und rief: „Wenn ich einen Vorschlag machen sollte, so heißt er; Mieterstreik! Wir zahlen alle solange überhaupt keine Miete mehr, bis von der Erhöhung Abstand genommen wird!"
Einige klatschten Beifall, die meisten aber sahen erstaunt auf Olfers, denn an dergleichen Dinge hatten sie nicht zu denken gewagt. In der nun allgemeinen Unruhe im Saal meldete sich Kummerfeld durch eifriges Handaufheben zum Wort
Als er dann das Wort erteilt bekam, bemühte er sich, ruhig zu sprechen, aber die innere Erregung zitterte durch seine Rede. Mit einem Selbstbewusstsein, das man diesem kleinen, mickrig aussehenden Alten nie zugetraut hätte, sprach er von seinem Platz aus: „Ich begreife nicht, wie ernsthafte Menschen diese Ausführungen beklatschen und an einen Mieterstreik denken können. Gewiss sind diese neuen Erhöhungen fast untragbar... !"
„Fast, sagt er!" rief einer dazwischen.
„Aber zu glauben", fuhr der Alte unbekümmert fort, „dass hier mit einem Streik etwas erreicht werden kann, ist Irrsinn. Und dann — Streik! Was heißt das? Gar keine Miete mehr zahlen, weil man keine achtprozentige Erhöhung zahlen will? Wer will denn, wenn dieser Streik Monate dauert, die ganze Miete nachzahlen?" Er blickte herausfordernd um sich. Keiner erwiderte etwas.
Fritz ballte vor Wut die Hände.
„Wir werden eben unseren Kampf organisieren!" rief er in den Saal.
„Ach Junge!" wandte sich der Alte höhnend an Fritz. „Du hast ja überhaupt noch nie Miete gezahlt!"
Einige lachten. Einer beklatschte diesen Hieb sogar. Fritz rief erregt: „Unerhört!" und wollte dem Alten erwidern, aber Else und Pohl hielten ihn davon ab.
„Ich schlage folgendes vor!" fuhr Kummerfeld fort. „Wir übertragen die weitere Erledigung dieser Angelegenheit dem Mieterverein. Der wird schon sein Möglichstes tun. Wir protestieren gegen die vom Reichstag beschlossene fünfprozentige Mietserhöhung und weigern uns resolut, noch darüber hinaus Mehrzahlungen zu leisten, das heißt, so lange nicht wirklich mit der Renovierung unserer Häuser und Wohnungen begonnen wird!"
Ein großer Teil der Anwesenden klatschte Beifall.
„Ich verlange, dass jeder sich den Beschlüssen dieser Versammlung fügt!" rief der Alte noch, „und acht durch unbesonnene Einzelaktionen den Kampf aller gefährdet!"
Das war eine Dummheit, wie sich Kummerfeld später sagen musste, denn Olfers trat sofort vor und fragte: „Dasselbe gilt doch auch für Dich, Kollege Kummerfeld?"
„Selbstverständlich!" erklärte der in verblendetem Überlegenheitsgefühl und damit war auch er den Beschlüssen der Versammlung unterworfen.
Dann sprach ein kleiner, buckliger Arbeiter. Fritz kannte ihn, er war Bote bei einem Drogisten. „Streik ist ein origineller Einfall! Hähä! Hähä!" rief er und verzog sein kretinhaftes Gesicht zu einer Grimasse. „Streik? Was heißt das? Wenn Arbeiter streiken, verlassen sie die Fabriken! Sollen wir mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel unsere Wohnungen verlassen?"
Eine Frau kreischte auf vor Lachen. Der Bucklige sah sich triumphierend um und setzte sich.
Eine derbe Arbeitererscheinung, wie sie von Bildern der achtziger und neunziger Jahre bekannt sind, trat nach vorne Eine große, knochige- Gestalt mit übernatürlich breiten Schultern, auf denen der Kopf seltsam klein wirkte. Ein mächtiger Schnauzbart hing struppig um den Mund.
„Ich glaube, wir sind nicht hergekommen, um Witze zu reißen oder anzuhören. Mein Vorredner hat sich scheinbar im Lokal geirrt, wir haben keinen Clown engagiert, wir sind hier, um uns gegen eine ungerechte Mehrbelastung zu wehren!" Er sprach fest und bestimmt. „Die Fragen sind bitterernst! Die Not wird immer größer. Wir wissen bald nicht mehr ein noch aus. Die Frage heißt: Können wir uns gegen die beabsichtigte Mietserhöhung wehren, — oder sind wir bereits so recht- und kraftlos, dass wir alles wehrlos über uns ergehen lassen müssen, Können wir uns zur Wehr setzen, dann heißt die Frage: Wie? Und diese Frage zu beantworten, sind wir gekommen Können wir uns aber nicht zur Wehr setzen, dann können wir ja wieder nach Hause gehen und in unseren Drecklöchern schweigend verrecken. Wer aber hier Possen reißen will, den setzen wir vor die Tür!"
Keiner rührte sich, als der Redner wieder an seinen Platz ging. Aber jeder fühlte, dass dieser recht hatte In dem allgemeinen Schweigen ergriff Olfers wieder das Wort. Seine Ruhe und die Milde seines Organs wirkten erneut auf die Zuhörer. „Wir werden hier von einigen Kollegen als unmündige Kinder hingestellt", begann er, „die unüberlegt etwas in die Welt schreien und dabei doch nicht wissen, was sie wollen. Der Kollege Kummerfeld hat sich eigentlich ohne Veranlassung ereifert, denn zu einer Darlegung, wie wir uns solchen Streik organisiert denken, sind wir ja noch gar nicht gekommen!"
„Was heißt denn eigentlich wir?" rief Kummerfeld.
„Wir, das sind alle die, die sich gegen die skandalöse Mietserhöhung wehren wollen. Ich halte diese Frage für recht komisch. Aber der Kollege Kummerfeld soll sich erklären lassen, wie ein solcher Mieterstreik zu organisieren ist. Wir wenden uns gegen jede Mietserhöhung und verlangen trotzdem kategorisch Renovierung unserer Behausungen. Der Streik ist unser Machtmittel Nicht etwa der Streik so aufgefasst, dass wir vorerst keine achtprozentige Erhöhung zahlen, denn das hieße dasselbe etwa, wie bei einem wirtschaftlichen Streik, Bucht die Betriebe zu vorlassen, sondern jeden Tag 10 Minuten früher nach Hause gehen. Wir können auf den Hausbesitzer nur einen fühlbaren Druck ausüben, wenn wir keinen Pfennig Miete zahlen. Dieser Streik wird keine Monate dauern, aber wenn, soll uns das recht sein. Wir müssen uns zuverlässige Vertrauensleute wählen, bei denen wir unsere Mieten Jeden Monat deponieren. So kämen wir also nie in einen Mieterückstand, aber der Hauswirt bekäme auch keine Miete. Wir werden auf unseren Forderungen beharren und wir wollen einmal abwarten, ob die Hausbesitzer nicht in Nöte kommen und sich mit uns zu verständigen suchen. Der Mieterverein wird uns in diesem Kampfe tatkräftig unterstützen, denn auch er hat ein Interesse daran, einmal aktiv zu beweisen, dass er eine notwendige Kampforganisation der proletarischen Mieter ist!"
Der Vertreter vom Mieterverein nickte zustimmend und die Zuhörer tuschelten untereinander, dass es so möglich sei und dass man wohl tatsächlich nur so zu einem Erfolg kommen könnte.
Kummerfeld aber warnte noch einmal. Er zählte alle nur erdenklichen Schwierigkeiten eines solchen Kampfes auf und prophezeite, dass man nichts erreichen würde. Aber heftig wurde gegen Kummerfeld protestiert und ihm Miesmacherei vorgeworfen. Olfers klare Auffassungen und Vorschläge hatten gezündet und als der große, hünenhafte Arbeiter mit dem Seehundhart rief: „Alles andere hat keinen Zweck, lasst uns den Mieterstreik organisieren!" wurde ihm zustimmend zugerufen.
„Ich stelle den Antrag, den Streik als ein Mittel zur Durchdrückung unserer Forderungen zu verwerfen und dem Mieterverein das weitere zu überlassen!" rief hitzig der Tischler Höhlein, der neben Kummerfeld saß und fortgesetzt mit diesem tuschelte.
„Und ich beantrage die Ausrufung des Mieterstreiks!" rief der Seehundbärtige.
„Abstimmen! Abstimmen!" rief alles durcheinander.
Der alte Köhler läutete um Ruhe und erklärte, zur Abstimmung schreiten zu wollen. Im Nu war es in der lebhaften Versammlung erwartungsvoll ruhig.
„Ich lasse über den zweiten Antrag zuerst abstimmen! Nach diesem Resultat erübrigt sich der erste. Wer also für Mieterstreik ist, den bitte ich um das Handzeichen!"
Eine stattliche Anzahl Hände streckte sich in die Höhe.
„Das ist aber noch nicht die Mehrheit!" flüsterte Fritz Pohl zu.
„Ich bitte die Antragsteller nach vorne zu kommen und bei der Auszählung zu helfen!" forderte Köhler.
Der Tischler Höhlein und der Seehundbärtige drängten sich zum Vorstandstisch.
114 Stimmen wurden gezählt. Bei der gegnerischen Stimmenzahl sah man von vornherein, dass es weniger waren, denn ein großer Teil enthielt sich der Stimme. Unter atemloser Spannung verkündete Köhler das Abstimmungresultat. 114 Stimmen waren für den Mieterstreik — 87 dagegen Kummerfeld war vollkommen still geworden. Er sprach im Flüstertone eifrig auf den Tischler ein.
Dann wurden für je zwanzig Häusernummern, das waren immer gerade einige Vorderhäuser und zwei Terrassen, zwei Vertrauensleute der Streikenden gewählt. Die im ganzen gewählten acht Streikleiter waren dann sogleich die Streikleitung, die sich in besonderer Zusammenkunft ihren Vorsitzenden wählen sollte. Zahlreiche Namen wurden aus der Versammlung vorgeschlagen. Es waren hauptsächlich solche, die schon durch politische Arbeit als Funktionäre der Sozialdemokratie oder der Kommunistischen Partei bekannt waren. Die Einwohner von immer zwanzig Häusernummern bestimmten sich ihre beiden Vertreter. Alles ging auch gut; nur gleich zu Anfang hatte es zu einer Wahl kommen müssen, denn von Nummer 1—20 wurden drei Vorschläge gemacht. Kummerfeld schlug, Höhlein und Höhlein Kummerfeld vor. Außerdem aber war noch Olfers vorgeschlagen worden. Gewählt wurde von den zirka 60 Einwohnern dieses Teils der Rosenhofstraße Olfers und Kummerfeld. Höhlein fiel durch.
Hinterher wurden noch einige organisatorische Arbeiten durchgesprochen und Richtlinien gegeben, wie alle Mieter in den Streik einzureihen wären. Besonders die Arbeiterfrauen wurden ermahnt, unter den Nachbarn für Beteiligung am Streik zu werben. Dann wurde noch mitgeteilt, dass die Gesamtstreikleitung noch bestimmen würde, wer die Mieten einsammeln sollte. Auch sollte noch vor dem ersten eine Mieterversammlung für den unteren Teil der Rosenhofstraße einberufen werden, damit die ganze Straße in den Streik hineingezogen würde.-----------
Als Fritz, Else und Pohl am Schluss der Versammlung mit Olfers die Marienstraße hinunter gingen, fiel ihnen das schweigsame Benehmen Olfers auf.
„Du bist so merkwürdig bedrückt, Genosse Olfers!" wandte sich Fritz an ihn. „Du hast doch den Löwenanteil an dem Erfolg!"
„Ich weiß selber nicht, ich kann mich nicht so recht daran freuen!" erwiderte Olfers.
„Ooh!" rief Fritz, „das gibt endlich mal wieder Bewegung, Leben und allgemeines Interesse für politische Fragen und wird das Kraftbewusstsein der Arbeiter stärken!"
„Ja, das glaub ich auch!" meinte Pohl.
„Mensch, Olfers, Streik, Mieterstreik!" stieß Fritz ihn an.
„Und wir werden ihn gewinnen, wir müssen ihn gewinnen, was?"
Nun lachte auch Olfers und nickte.
Die acht gewählten Vertrauensleute der Mieter kamen verabredungsgemäß am nächsten Tage wieder bei Petersen im kleinen Klublokal zusammen.
„Ich halte einen Streik nach wie vor für irrsinnig!" erklärte Kummerfeld. „Und ich fürchte, wir erleben einen mächtigen Reinfall!"
„Man muss auch etwas wagen, Kummerfeld!" erwiderte lachend Olfers. „Aber warum hast Du Dich denn überhaupt zum Vertrauensmann des Streiks wählen lassen, wenn du den Streik selbst verurteilst?"
„Weil ich weiß, dass jede Niederlage die Kraft der Arbeiter schwächt. Um gröberen Unfug zu verhindern, darum schließe ich mich nicht aus!"
„Also ganz nach berühmten Vorbildern!" lächelte Olfers. „Was willst Du damit sagen?"
„Ich will damit sagen, dass das schon Eberts Taktik beim Munitionsarbeiterstreik im Kriege war. Als er ihn nicht mehr verhindern konnte, stellte er eich an die Spitze des Streikes und verriet ihn!"
„Ihr begreift alle nicht, dass die Situation im Januar 18 für eine Revolution noch nicht reif war und ein vorzeitiges Losschlagen die Niederlage besiegelt hätte!" erwiderte hitzig der Alte.
„Na-a!" meinte Olfers ironisch, „als die Situation nun reif war und er die Revolution nicht mehr verhindern konnte, stellte er sich auch wieder an die Spitze — um auch sie zu verraten!" „Verrat! Verrat! Verrat — Weiter wisst ihr uns nichts mitzuteilen, heh?" Der Alte zitterte vor Wut. Schließlich drehte er sich demonstrativ um und ließ Olfers stehen. —
In der Sitzung erlebte Kummerfeld eine neue Enttäuschung. Er wurde zum Vorsitzenden der Streikleitung vorgeschlagen. Olfers wusste, wenn er parteipolitisch gegen ihn polemisierte, dann wurde er gerade gewählt, denn die Mehrzahl der acht Vertrauensleute war sozialdemokratisch orientiert; so schlug er dann vor, um, wie er sagte, parteipolitische Reibungen zu vermeiden, den parteipolitisch nicht festgelegten Seehundbärtigen zum Vorsitzenden zu wählen. Kummerfeld wurde vor Ärger grün im Gesicht, aber er wagte doch nicht, für sich selber Reklame zu machen. Als dann jedoch der Parteilose gewählt wurde, war er ganz verschnupft und machte in seiner Wut einen neuen Fehler. Er lehnte es ab, die Mieten der Streiker betreuen zu wollen. Olfers wurde dann dazu bestimmt. Kummerfeld war nun ganz in den Hintergrund gedrängt. Während der ganzen Dauer der Sitzung sprach er kein Wort mehr, und seine Einstellung zu Olfers war so gereizt, dass er diesem auf Fragen keine Antwort gab und die Sitzung vorzeitig verließ. —
Olfers aber näherte sich dem Seehundbärtigen. Bis in die Nacht hinein liefen die beiden nach Schluss der Sitzung in den stillen Straßen herum. Der Seehundbärtige hieß Römpter, war zur See gefahren, kannte jeden Erdteil, die Sitten vieler Völker und war heute noch in jeder größeren Hafenstadt der Welt wie zu Hause, trotzdem er seit Jahren nicht mehr fuhr und als Kaiarbeiter im Hafen arbeitete. Über die politische Situation und die revolutionäre Aufgabe der Arbeiterklasse, über die Fragen der Organisierung des Mieterstreiks waren die Beiden schließlich auf Buenos-Aires und Frisko zu sprechen gekommen. Der Seehundbärtige geriet nahezu in träumerische Abwesenheit beim Erzählen seiner Erlebnisse. Olfers große Sehnsucht jedoch waren die Länder am Mittelmeer, und sofort erzählte der alte Seebär in seiner unbeholfenen und schwerfälligen, aber doch farbigen Seemannssprache vom Wein in Malaga und Alicante und den Frauen in Barcelona und Genua. „Nr. 9 war mein Stammlokal!" gestand er lachend. „Ein schmales, schwarzes, nettes Luder, das behauptete, Toskanerin zu sein, wusste auf den Tag, wann unser. Kasten zu erwarten war!"
„Und Neapel?" fragte Olfen.
„War für mich ein Enttäuschung, so oft wir da waren! Allerdings blieben wir dort nie lange genug, um es richtig kennen zu lernen. Doch Palermo ist ein Städtchen und Catania! Man muss schon weit nach Süden gehen, um Italien wirklich kennen zu lernen!" —
So hatte sich Olfers mit dem ehemaligen Seebären und jetzigen Kaiarbeiter Römpter angefreundet. Er wollte erst nur feststellen, wes Geistes Kind der war, den man zum Vorsitzenden der Streikleitung gewählt hatte, und nun lernte er einen grundehrlichen und interessanten Menschen kennen, der Verstand und Herz hinter einer rauen Kruste verbarg. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |