Kapitel V.
Kupferschmied Ehlers, der in einer der letzten Terrassen der Rosenhofstraße wohnte, hatte einen Untermieter, der in der ganzen Nachbarschaft bekannt war. Er hieß Otto Dietz, war noch keine dreißig Jahre alt, mittelgroß, sehnig, mit dunklen, lebhaften Augen und kastanienbraunen, welligen Haaren. Die Nachbarn waren stolz auf seine Bekanntschaft, die Mädels warfen ihm verliebte Blicke zu und kicherten und flüsterten hinter ihm her. Otto Dietz war aber nicht nur, was man einen hübschen, forschen Kerl nennt, er war ein
Tausendsassa. Niemand wusste so recht, welchen Beruf er hatte, aber er kannte und konnte schier alles und keiner zweifelte daran, dass Otto Dietz einen verantwortlichen Posten bekleidete und ein schönes Stück Geld verdiente. Er war stets elegant angezogen, zahlte pünktlich seine Miete und war scheinbar nie in Geldverlegenheiten. Proletariereltern stellten Otto Dietz ihren Söhnen als Vorbild hin. „Der ist etwas geworden, weil er was kann und was auf sich hält!" sagten sie. Aber die jungen Arbeiter standen diesem Vorbild skeptisch gegenüber, sie nannten ihn einen Gecken und Fatzke und mieden seinen Umgang. Die Frauen aber lobten den tüchtigen, eleganten und doch so bescheidenen Dietz, wenn das Gespräch auf ihn kam.
Ja, so ein Mieter!" sagten neidisch die Nachbarinnen. Und die Frau des Kupferschmiedes antwortete geschmeichelt: „Ein Prachtmensch! Was der in die Hände nimmt, vergoldet sich!"-------
Walter Heuberger lernte diesen Otto Dietz bei einem Alsterlauf der Arbeitersportvereine kennen. Er stand am Startplatz, als neben ihm davon gesprochen wurde, das der Sport keine Angelegenheit der Politik und des Klassenkampfes sein dürfe. Er mischte sich in die Debatte und verteidigte mit dem Elan eines jungorganisierten Kommunisten den Gedanken des revolutionären Arbeitersports. Otto Dietz widersprach und so lernten sie sich kennen. Trotz gegenteiliger Einstellungen fanden sie Gefallen aneinander. Aus der Begegnung und dem Streit wuchs eine Freundschaft zwischen den beiden Männern. Eine sehr seltsame Freundschaft, denn ihr Altersunterschied betrug fast zehn Jahre und sie waren auch sonst in Aussehen und Charakter grundverschieden. Heuberger war trotz seiner achtzehn Jahre ein breitschultriger Mensch mit derben, breitem Gesicht und grauen, nachdenklichen Augen. Dietz war schlank und geschmeidig, aus seinem ganzen Wesen spürte man deutlich die
Ü berlegenheit, die er dem Jungen gegenüber empfand.-------
Sie trafen sich öfter. Gewöhnlich gingen sie debattierend durch die Straßen oder tranken in einer Kneipe Bier.
Eines Tages lud Dietz seinen Freund zu einem vergnügten Abend ein. Der junge Heuberger warf sich in seinen Sonntagsstaat und zog mit Dietz los. Während sie durch die Arbeiterstraßen zum Stadtzentrum schritten, kam ihr Gespräch auf Berufe. Der Küferlehrling erzählte von seinem Beruf, zählte Weinarten auf, die sie gerade auf Lager hatten und erzählte auch, dass er selber kaum Wein trinke, worüber Dietz unbändig lachte. Plötzlich aber fragte der Junge: „Was hast Du eigentlich für einen Beruf?"
Otto Dietz war perplex. Er lachte krampfhaft weiter, um Zeit zur Antwort zu bekommen.
„Komische Frage! Wie meinst Du das?" fragte er dann ausweichend.
„Wo und was Du arbeitest?" wiederholte der Junge.
„Ich arbeite bei einer Speditionsfirma am Hafen!"
„Ihr scheint aber keine feste Arbeitszeit zu haben!" forschte Heuberger weiter.
„Wieso?"
„Man sieht Dich mal zu der, mal zu jener Zeit auf der Straße!"
Dietz lächelte nun wieder überlegen.
„Ich arbeite absolut selbständig und kann mir meine Arbeit nach meinen Wünschen einrichten!"
„Feine Sache, das!" meinte Heuberger. Und da Dietz schwieg, war die Unterhaltung darüber beendet. —
Dietz pfiff eine Melodie vor sich hin.
„Woher kennst Du eigentlich all' die Opern?" fragte nach einer Weile Heuberger wieder.
„Ich war vor einigen Jahren mal Statist am Stadttheater!"
„Was? — Du warst am Theater?"
„Als Statist! Ja!"
„Mensch, was hast Du da gemacht?" fragte Heuberger lebhaft,
„Die Bühne voll!"
Und nun lachten beide über die Antwort«
„Ich war Volk, Soldat, Räuber, Edelmann, Bettler, Italiener, Spanier, Neger, alles was Du Dir denken kannst. Es hat mir eine Zeitlang kolossalen Spaß gemacht. Aber man bekommt es satt!"
„Ach was!" stieß der Junge staunend hervor; „das muss doch mächtig interessant sein!"
„Das schon!"
„Und Du musst doch blendend verdient haben?"
„Verdient?" lachte Dietz: „Dafür gibt es nichts, als einige Groschen Entschädigung für Fahrgeld und ein paar Freikarten!"
„Ach was!" war alles, was Heuberger erwidern konnte. Für ihn war Theater mit Glanz und Reichtum identisch. Dietz lächelte über das kindliche Erstaunen seines Freundes und erzählte schmunzelnd von seinen Erlebnissen hinter den Kulissen, schilderte die Versenkung und die unterirdische Kantine, die unterm Zuschauerraum lag. Einige tolle Abenteuer mit Balletteleven erfand er und musste selbst über seine farbenreiche Phantasie lächeln. Außer Erdachtem, Aufgebauschtem, erzählte er dann aber auch seinen ,Abgang von der Bühne'1, wie er es nannte.
„Sie hieß Hildegard und war eine Puppe. Ich hatte sie schon immer heimlich mit brennenden Augen betrachtet. Es war eigentlich mehr Verlangen als Liebe. Sie hatte aber auch ein Aussehen und eine Art freundlich zu sein, die jedem Manne das Blut heiß werden ließ. Eine Annäherung war bald erreicht. Aber sie war ängstlich, eingeschüchtert, denn ihr Vater war als Beleuchter an der Bühne tätig, und jeder Bühnenarbeiter kannte ihn und seine Tochter. Ich freute mich immer auf Opern, wie ,Aida' ,Tannhäuser' und ,Rienzd'... " „Warum?" unterbrach ihn Heuberger. „Dann musste sie tanzen! Sie war doch im Ballett!" „Ach so-o!"
„Ich wartete dann immer hinter den Kulissen auf sie. Wenn sie ins Licht trat, konnte man durch die spinndünnen Kleider, die sie dann manchmal trug, ihren herrlichen Körper sehen. Die hatte Beine, Hüften und Brüste sage ich Dir. Dabei war sie noch keine siebzehn Jahre!"
Dietz lächelte vor sich hin.
„Und dann kam der fatalste Augenblick meines Lebens!"
„Wieso?" forschte Heuberger neugierig.
„Fabelhaft nett und scheußlich unangenehm!"
Dietz lachte.
„Na, nun erzähle schon oder schweig ganz!"
„Du Hitzkopf! Also ich machte mich an sie heran. Erst warf sie den Kopf in den Nacken und sah mich wütend an. Ich aber ließ nicht locker. Es ist nicht meine Art, locker zu lassen, wo ich fühle, dass ich erfolgreich sein werde. Und bald lachte sie auch schon, wenn sie in ihrer übermütigen, mädchenhaften Art den Kopf in den Nacken warf. — Es gibt im Theater so herrliche Schlupfwinkel. Nicht hinter den Kulissen, wie der Laie immer denkt; sondern unter der Bühne, in der so genannten Versenkung. Dort ist alles nur spärlich beleuchtet, und zwischen den Balken, Tauenden und dem Gerümpel sind vorzüglich geeignete Ecken und Winkel für Liebende-
Als ich also merkte, jetzt kannst du es riskieren, flüsterte ich ihr zu: „Nach dem 1. Akt in der Kantine!" — Wenn sie zur Kantine wollte, musste sie durch den Gang der Versenkung. Dort verkroch ich mich und lauerte ihr auf. — Furchtbar langsam geht die Zeit, wenn man so hockt und wartet. Ich erinnere mich noch, dass ein älterer Chorist mit einer Frau den Gang entlang ging. Er flüsterte etwas. Als sie bei mir vorbeikamen, natürlich ohne mich zu bemerken, lachten sie laut auf, und er schlug ihr mit der Hand auf den Hintern. Ich sah ihnen nach und wartete. Mir schien es eine Ewigkeit. Endlich kam sie. Lautlos trippelte sie mit schnellen Schritten durch den schmalen, dunklen Gang. Ich wollte sie nicht erschrecken und machte leise: Pst! Pst! Sie stutze. Hier! flüsterte ich und zog sie zu mir ins Dunkle."
„Du kannst gut erzählen!" lächelte Heuberger.
„Das Beste kommt noch!"
„Kann ich mir denken!"
„Erst sträubte sich das kleine Luder, wehrte sich, bat, winselte — dann wurde sie weicher und wärmer und beugte sich schließlich wie eine Feder mir hin. Ich hielt sie um die Hüfte und hatte Angst, sie würde in einen der vielen Schächte stürzen, die bis auf das Grundwasser gingen und hatte meine Mühe ihr flüsternd plausibel zu machen, dass wir ganz leise und vorsichtig sein müssten. Sie war schon ganz futsch und winselte und stöhnte, wie eine kleine Hündin. Dann war mir selbst alles schnurz."
„Muss schön gewesen sein!" lachte Heuberger.
„Das Schönste kommt noch!"
„Noch?" stieß der Junge ungläubig hervor.
„Als wir aus unserer Ecke in den Gang wollten, prallten wir beide zurück. Vor uns stand ein Feuerwehrmann. Einer von denen, die dort unten Wache haben.
„Ach sooo!" meinte er langgedehnt: „Die kleine Hilde!"
Da riss sie sich von meinem Arm los, schluchzte auf, hielt sich die Hände vor's Gesicht und lief davon. Mir schlug das Herz im Halse. „Und Ihr Name?" wandte sich der Uniformierte an mich. Ich sagte ihn. —"
„Na, — und dann?" flüsterte Heuberger und sah wie in Gedanken versunken vor sich hin.
„Dann kniff ich!" lachte Dietz hell heraus.
„Wie... wa-as?" stotterte Heuberger.
„Na, ich ging sofort in die Garderobe, log, dass mir plötzlich schlecht geworden sei. Stimmt übrigens!" setzte er grinsend hinzu. „Ein Ersatzstatist kletterte in meine Kledasche, und ich verschwand auf Nimmerwiedersehen!"
„Sie hatten aber doch Deine Adresse?" fiel Heuberger ein.
„Ich zog am nächsten Tag in ein anderes Logis und meldete mich zunächst nicht um. Meine Theaterlaufbahn war damit natürlich beendet." Otto Dietz grinste über das ganze Gesicht. —
Schweigend gingen sie weiter. Der junge Küferlehrling war wütend auf Dietz. Er fand dessen Verhalten schurkig. Und wie er alles so breit und selbstgefällig erzählte. Er hasste ihn plötzlich.
„Warum hast Du denn eigentlich die Kleine in Stich gelassen?'*
„Was heißt hier, ,in Stich' gelassen?"
„Ich dachte, Du liebtest sie?"
Otto Dietz lachte laut auf, dass sich einige Straßenpassanten erstaunt umsahen.
„Das war doch 'ne Hure! — Die am Theater sind alles Huren!"
„Wa-a-as?" Walter Heuberger blieb mitten auf der Straße stehen.
„Du hast doch geschildert, wie sie sich gesträubt hat und dass sie hinterher weinend davonlief?"
„Hör' mal!" packte ihn Dietz am Arm. „Mach' Dich nicht lächerlich. Du bist noch ein richtiges Gör! In deinem Alter will man noch jedes Mädel, das man mal küsst, heiraten. Das gibt sich aber. Du steckst in Dingen der Liebe noch voller Konfirmandenromantik. Ich hätte es Dir gar nicht erzählen sollen!"
Heuberger schämte sich jetzt fast. Er fühlte es wieder; der neben ihm ging, war ihm hoch überlegen. Er ärgerte sich, dass er überhaupt was gesagt hatte; er machte sich ihm gegenüber nur lächerlich, wenn er seine Handlungen kritisierte. Und Walter Heuberger schwieg.
Als sie jetzt in eine belebtere Straße einbogen, sahen sie in der Ferne eine goldgelb erleuchtete Weintraube. Dort war Kabarett und Tanz.
„Warst Du schon mal zum Pferderennen?"
„Nein!" Walter Heuberger fuhr ordentlich erschrocken zusammen.
„Wir werden mal hingehen!" „Warst Du schon da?"
Dietz lächelte wieder. „Und ob! Hab' schon manches Stück Geld dabei verdient!"
„Du wettest auch?"
„Mensch, was soll man beim Pferderennen, wenn man nicht setzt!"
Heuberger betrachtete verstohlen seinen Freund, als sehe er ihn heute abend zum ersten Male. Der war etwas größer als er selbst, hatte ein glattes, helles Gesicht und große, kohlrabenschwarze Augen. Unterm Hut kroch keck eine Haarlocke heraus. Er empfand
dabei wieder Hassgefühle gegen ihn. Er kam sich dem anderen gegenüber so klein und nichtig vor.
Nun standen sie vor dem Lokal „Zur Weintraube". Ein Livrierter öffnete ihnen eilfertig die Tür.
An der Garderobe flüsterte Otto Dietz seinem Freund zu:
„Sollte ich Anschluss finden, musst Du nachher allein nach Hause gehen!"
In Heuberger stieg wieder, mit einer heißen Blutwelle, das Gefühl hoch, das er sich bisher noch nicht erklären konnte. War es Hass, Ekel, Verachtung oder was war es? Ihm war unangenehm zumute und er wäre jetzt am liebsten umgekehrt und davon gelaufen, — aber er folgte ihm doch durch die große, schwere Glastür ins Lokal. Die tollen Rhythmen einer Jazzband klangen ihnen entgegen.
Frau Kuhlmann war krank. Sie hatte die Gesichtsrose und einen Kopf wie einen Kürbis. Ihre Krankheit wirkte sich sichtbar aufs Geschäft aus. Emil, ihr Mann, bediente und wenn die „Schludertaschen von Weibsstücken" kamen, wie er etliche Frauen nannte, dann fertigte er sie kurzangebunden, beinahe grob ab. Die Frauen kamen deshalb nun so wenig wie möglich und behandelten ihn von oben herab.
„Wie geht es Ihrer Frau?" fragte die kleine dicke Frau Fritt herrisch.
„Gut!" knurrte der Brothändler und säbelte ein Weißbrot mittendurch.
„Ohne die Frau im Geschäft hat der Mann doch viel Arbeit, nicht wahr?" fuhr die Fritt etwas versöhnlicher fort.
„Ja!" brummte Kuhlmann, aber er dachte bei sich: »Dies blöde Weib Ich hab' auch sonst alles allein machen müssen!"
„Also, gute Besserung für die Frau Gemahlin!"
Der Brothändler brummelte etwas in den Bart.
Aber als die dicke Frau eben aus der Tür war, kam sie mit der Mechanikerfrau schon wieder zurück.
„Ach, warten Sie doch eine Weile, Frau Fritt", schnatterte diese, „ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu erzählen!"
„Ein Gemengtes, bitte!" wandte sie sich dann an den Brothändler. Dieser packte ein Brot ein und warf es mit Wucht auf den Ladentisch.
Die beiden Frauen tuschelten und flüsterten unbekümmert weiter.
„Ach nein!" flüsterte die Kollmar, „es sind besonders Heubergers und Langfelds, die uns zu schaffen machen. Mein Mann möchte die Langfelds zu gern aus der Wohnung heraus haben!"
„Nun wohnt ja auch noch dieser Kommunist bei dem Mädel!"
„Ja, was sagen Sie bloß! Richtige polnische Wirtschaft! Aber die Menschen sind ja so frech. Nach dem Mieterstreik, wo die Hausbesitzer klein beigaben... "
„Das war grundfalsch!" lispelte die Dicke.
„Natürlich! So was ist nur Wasser auf die Mühlen dieser Krakehler. Denen schwillt jetzt der Kamm. Die glauben, sie können jetzt tun, was sie wollen!“
„Ihr Gemengtes!" Damit schob Kuhlmann ärgerlich das Brot Her Mechanikerfrau zu.
„Ja, danke!" Sie ließ sich in ihrer Unterhaltung nicht stören.
„Aber so ein Treiben brauchen Sie doch nicht zu dulden! Der alte Langfeld macht sich doch strafbar!" flüsterte nun wieder die Fritt.
„Sie glauben ja nicht, was wir damit für Scherereien hätten, wenn wir ihn anzeigen würden und das Ende vom Lied wäre: Er darf bei ihr wohnen, weil er eine von der Braut getrennte Schlafstatt hat, also im Nebenzimmer schläft. Diese Jungen tanzen doch heute der Behörde auf der Nase herum!"
Die Fritt schüttelte nur den Kopf.
„Wünschen Sie sonst noch was?" fragte Kuhlmann in krampfhafter Selbstbeherrschung.
„Nein, danke!" erwiderte die Mechanikerfrau und wandte sich, ohne den Brothändler anzusehen, wieder an die Fritt:
„Mein Mann trägt sich schon mit dem Gedanken herum, den Vizeposten abzugeben. Was für Undank mit diesem Posten verbunden ist, kann sich keiner vorstellen. Als sei man ein Bettler, so wird einem am Monatsersten die Miete hingeworfen. Und nach diesem verfluchten Streik muckt der dreckigste Prolet auf und verlangt plötzlich seine Wohnung gemalt und geweißt, den Ofen repariert, Fußbodenlack und eine neue Klosettbrille und was weiß ich!"
„Lass sie doch verlangen, was sie wollen!" kicherte die Fritt.
„Ja, das ist gut gesagt, aber die Kerle rücken nicht mit der Miete raus. Erst renovieren, dann zahlen wir Miete, erklären sie. Der Streik hat sie alle meschugge gemacht!"
Kuhlmann stand hinterm Ladentisch und zitterte vor Wut. Er selbst verstand kein Wort von der Unterhaltung; die innere Erregung hatte ihn für alles rundherum taub gemacht. Seine Zähne schlugen leise aufeinander und die Adern am Hals schwollen ihm an«
„Haben Sie die neueste Häuserblockzeitung erhalten?" fragte die Fritt. Aber die Mechanikerfrau sah zufällig den Brothändler mit den verzerrten Zügen und den geballten Fäusten hinter der Tonbank.
„Wir können uns ja draußen weiter unterhalten!" meinte sie nun schreckensbleich.
Die beiden Frauen gingen hinaus, aber die Kollmar sah sich an der Tür noch einmal ängstlich nach dem Brothändler um. —
Kuhlmann stand zitternd hinter dem Ladentisch. Plötzlich fiel ihm ein, dass die Vizenfrau ihm das Brot nicht bezahlt hatte und nun packte ihn Raserei. Er nahm das halbe Schwarzbrot, das Brotmesser, einige Pakete Pumpernickel und warf sie auf den Boden, stampfte und trampelte mit den Füßen und brüllte Flüche über Flüche aus sich heraus.
Aus dem hinteren Zimmer klang es wimmernd, halb ängstlich, halb ärgerlich: „Emil! — Emil! — Was ist denn bloß los?"
Kuhlmann aber sah und hörte nichts, sondern rannte wie ein gereizter Tiger, unflätige Worte ausstoßend, hinterm Ladentisch hin und her.
In der Pianofabrik Sternberg & Söhne, die der Rosenhof-Terrasse gegenüberlag, waren zirka fünfhundert Arbeiter beschäftigt. Die Fabrik hieß bei den Einwohnern der Rosenhofstraße die „Nazibude". Sie wurde so genannt, nicht etwa, weil die Nazis die Mehrheit der Belegschaft hinter sich hatten, sondern nur darum, weil in regelmäßigen Abständen der »Nationale Pianobauer', eine hetzerische Werkzeitung der Hakenkreuzler, erschien.
Diese, für viele Arbeiter der Rosenhofstraße unfassbare Tatsache, wurde von den mit den Nazis sympathisierenden Geschäftsleuten und Kleinbürgern geschickt ausgenutzt. In der Forcierung bestimmter Dinge unter den Massen der Bevölkerung sind bekanntlich die Nazis Meister.
In dieser „Nazibude" waren nun von der Direktion Lohnreduzierungen angekündigt worden. Es sollten 6 Prozent von den Löhnen für die gelernten und 4 Prozent von denen der ungelernten Arbeiter abgezogen werden. Unter der Belegschaft entstand sofort eine Abwehrbewegung und, trotzdem die reformistischen Gewerkschaftsinstanzen warnten und in neuen Verhandlungen und einem günstigen Schiedsspruch das Mittel zur Abwehr des Unternehmeranschlages auf die Löhne sahen, legten sämtliche Arbeiter der Pianofabrik an dem Tage, wo die Lohnreduzierung in Kraft treten sollte, die Arbeit nieder.
Die Einwohner der Rosenhofstraße waren sprachlos. Die „Nazibude" streikte. Die Geschäftsleute begannen zu flüstern, wenn das Gespräch auf den Streik kam« Einige unpolitische Arbeiter, die in den Fangarmen der Hakenkreuzler hingen, stolzierten erhobenen Hauptes dahin, als wollten sie jeden merken lassen: Seht, ihr nennt uns Unternehmersöldlinge, Gelbe und Verräter, aber wir kämpfen doch für die Lebensinteressen des Proletariats, selbst mit der Waffe des Streiks. Die Hakenkreuzler hatten sogar eine Sondernummer ihrer Werkzeitung herausgegeben, die „Der kämpfende nationale Pianobauer" hieß. Sie wurde nicht nur unter den streikenden Arbeitern, sondern auch in Massen unter den Geschäftsleuten der Rosenhofstraße verteilt. In der Zeitung hieß es, die Nazis seien für den Streik, weil die Lebensinteressen der Arbeiter unmittelbar bedroht seien. ,Kein Lohnabbau ohne gleichzeitigen Preisabbau', schrieben sie. Gleichzeitig appellierten sie aber an die Einsicht und Vernunft der Unternehmer und beteuerten, dass niemand so gut wisse wie sie, wie schwer heute der Konkurrenzkampf in der Pianoindustrie sei und dass sie gewillt seien, alles zur Hebung der deutschen Pianoindustrie zu tun. Bei alledem machten sie ein Geschrei, als wenn sie den Streik ausgelöst hätten und ihn nun führten.
Dem war aber nicht so. Die Hitlermannen hatten nur einen äußerst geringen Einfluss auf die Belegschaft. Die meisten Arbeiter waren langjährige Gewerkschafter, mit sozialdemokratischer und kommunistischer Gesinnung; lediglich eine Handvoll jüngerer Arbeiter, unter Führung eines Volontärs, bekannte sich zu den politischen Zielen der Hakenkreuzpartei und bildeten im Betrieb eine kleine Zelle. An Aktivität jedoch waren sie allen andern voran.
Am ersten Streiktage der Pianoarbeiter war von Fritz eine außergewöhnliche Sitzung in seiner Stube bei Langfeld arrangiert worden.
Als nämlich der alte Langfeld immer seltener Arbeit im Hafen bekam und auch Else, trotz aller Bemühungen, stellungslos blieb, war Fritz mit in die kleine Wohnung gezogen. Er verdiente noch und konnte deshalb am besten beitragen, den Haushalt aufrecht zu erhalten.
Außer dem Schauermann und Römpter kamen noch die beiden Mitglieder der Redaktion der Häuserblockzeitung, die Genossin Schenk und der Buchbinder Kernatzki, zwei Genossen aus dem Betrieb der streikenden Pianoarbeiter und ein Jugendgenosse. Das kleine Zimmer war gedrängt voll.
Ohne Umschweife begann Fritz vom Streik der Pianoarbeiter und dem Wühlen der Nazis zu berichten und kündigte an, dass die Genossen der Straßenzelle außer der Häuserblockzeitung nun auch noch mit den Genossen aus der Pianofabrik eine Betriebszeitung schaffen und umsetzen müssten.
„Ooooh!" stöhnte die Genossin Schenk.
„Hier hilft kein Stöhnen und kein Maulspitzen, Genossin Schenk", rief Fritz. „Hier muss gepfiffen werden!"
Und dann schilderte er, wie und was getan werden müsste. „Eine Betriebsversammlung und eine Betriebszeitung sind vorerst das Wichtigste. Dann müssen wir Parteifunktionäre die Hilfsaktion der Internationalen Arbeiterhilfe für die Streikenden organisieren und unterstützen und den Streik in unserer Häuserblockzeitung behandeln. Außerdem müssen wir das heuchlerische Gebaren der Nazis mit sachlichen Argumenten zerschlagen und der Flut der Hakenkreuzpropaganda einen Damm entgegensetzen. Unsere Arbeit muss so sein, dass wir entscheidenden Einfluss auf die Führung des Streiks bekommen!"
Nach Fritz sprach Römpter. Er fragte die beiden Streikenden; „Gab es in der Pianofabrik bisher eine Betriebszeitung?"
„Nein!"
„Dann würde ich es für richtiger halten, auch während des Streiks keine herauszubringen!"
„Das geht nicht!" rief Fritz. „Nur dadurch können wir zu den Arbeitern sprechen und Einfluss auf sie gewinnen!"
„Warum denn nicht?" erwiderte trocken der Seehundbärtige. »,Wir können ja eine Streikzeitung der RGO. herausbringen! Jetzt aber auf einmal eine Betriebszeitung, sieht nicht gut aus!"
„Einverstanden!" rief Fritz lachend. „Gute Idee sogar!"
„Wer soll denn diese Zeitung herstellen?" fragte die Genossin Schenk ahnungsvoll.
„Du — wir!" rief ihr der Buchbinder zu.
Und schon explodierte sie.
„Ausgeschlossen! Ganz ausgeschlossen! Mein Mann quakt mir schon so dauernd die Ohren voll!"
„Fühlt er sich vernachlässigt?" höhnte Kernatzki und schlug sich lachend auf die Schenkel. „Immer dasselbe Theater!" rief er dann noch. „Dabei macht sie hinterher immer mit!" setzte er, zu den andern gewandt, hinzu.
„Diesmal aber nicht, ausgeschlossen!" rief sie noch einmal. —
Dann sprach ein Genosse der streikenden Pianoarbeiter. Er war Lackierer und Mitglied der von der Belegschaft gewählten Streikleitung.
„Genossen!" begann er. „Die siebenköpfige Streikleitung, die in der Belegschaftsversammlung gewählt wurde, besteht aus zwei organisierten Sozialdemokraten, zwei organisierten Kommunisten, — mein Genosse dort und ich-zwei politisch parteilosen Arbeitern und einem Nazi. Der Obmann ist ein Parteiloser. Wir haben eine Zelle in der Fabrik, die aus elf Genossen besteht. Richtig gearbeitet aber hat keiner. Kaum, dass sie einmal in der Zeit, wo ich dort arbeitete, zusammentrat Eine politische Bearbeitung der Belegschaft muss im Augenblick außerordentlich günstig ausfallen, denn die Erregung unter den Kollegen ist groß. Stark bemerkbar macht sich schon die lebhafte Aktivität der Nazis, deren demagogischer Trick, den Streik zu unterstützen, großes Erstaunen unter den Kollegen hervorgerufen hat Viele sagen schon, das können doch keine Schutzgarden des Unternehmertums sein, wenn sie mit uns, Schulter an Schulter, das Unternehmertum bekämpfen!"
„Solche Zweifel dürften gar nicht erst aufkommen, wenn ihr richtig gearbeitet hättet!" rief die Genossin Schenk dazwischen.
„Ja, — ja!" antwortete der Angegriffene, aus dem Konzept gebracht. „Wir haben viel versäumt, das muss jetzt nachgeholt werden!"
Fritz machte den beiden Genossen aus der Pianofabrik ebenfalls Vorwürfe.
„Die ganzen Jahre habt Ihr nie Fühlung mit der Straßenzelle oder der Stadtteilleitung gesucht, sondern auf eigene Faust gewirtschaftet. Jetzt ist für uns alle die Arbeit doppelt schwer. Aber wir wollen nicht das bisher Versäumte lang und breit besprechen, sondern die Arbeiten, die uns nun bevorstehen. Ich hoffe, die beiden Genossen von Sternberg & Söhne werden uns tüchtig unterstützen!"
„Natürlich!" nickten die beiden.
Dann wurden die Arbeiten verteilt. Die beiden Streiker und Fritz erhielten den Auftrag, die Streikzeitung zu schreiben. Else, ein Jugendgenosse und der Buchbinder sollten sie im Stadtteilbüro abziehen und die Genossin Schenk die Verteilung organisieren.
„Du willst auch mitarbeiten?" stichelte der Buchbinder.
„Ja, ich will auch mitarbeiten!" erwiderte sie und zog eine Grimasse. „Was für 'ne Frage überhaupt, als ob ich ein altes, indifferentes Weib wäre!"
Kernatzki lachte, dass man seine gelben Zahnstummel sehen konnte. —
Nachdem alle fort waren, saß Fritz noch an seinem Tisch und malte auf einem Bogen Papier herum. Else hatte in der Küche aufzuräumen und der alte Langfeld saß am Küchenherd, rauchte seinen stinkenden, qualmenden Tabak und las in der Abendzeitung,
Als Else mit ihrer Arbeit fertig war und zu Fritz ins Zimmer ging, zeigte der ihr seinen Entwurf für den Kopf der Streikzeitung. In der linken Ecke stand ein geöffneter Flügel, aus dem Noten heraussprangen. Darüber schräg, in ganz fetter Schrift — „Der Misston" — und etwas kleiner — „in der Melodie der Wirtschaftsdemokratie." —
In dem Augenblick klopfte es heftig an die Haustür. Der alte
Langfeld hatte sich schon erhoben, um zu öffnen, aber Else huschte aus dem Zimmer.
„Bleib nur sitzen, Vater!1
Walter Heuberger stand draußen. Ist Fritz da?"
„Ja! Komm nur rein!" antwortete Else.
Fritz kam schon aus der Stube.
„Du, der Reichstag ist aufgelöst!" rief ihm Heuberger zu.
" Hallo!" rief Fritz. „Also doch!"
„Feine Sache, was!" lachte Heuberger. „Die Sozis werden Dresche kriegen!"
„Mensch, das heißt Arbeit für uns!" sagte Fritz.
„Die wird eben gemacht!" meinte Heuberger leichthin.
„Gerade Du bist in letzter Zeit bei der Parteiarbeit ziemlich unsichtbar!" erwiderte Fritz.
Der Junge wurde feuerrot, sagte aber nichts.
„Komm mit herein!" lud Fritz ihn ein. „Trink' eine Tasse Tee mit uns!"
Kuhlmann, der tausendmal seiner Frau alle Qualen der Menschheit an den Hals gewünscht hatte, war ganz still und weich geworden, als er sie mit geschwollenem Kopf Tag für Tag im Bett liegen sah.
„Musst Du denn wirklich fort?" hauchte sie, als er eitles Sonntags in seinem besten Anzug vor ihr stand und sich verabschieden wollte, und sah ihn kläglich mit ihren dickgeschwollenen, geröteten Augen an.
„Ich habe Dir doch schon einige Male erklärt, Henny!" erwiderte Kuhlmann, — er hatte seit ihren Jugendjahren diesen Namen nicht mehr gebraucht — „es geht um den großen Sängerpreis! Wir holen ihn uns bestimmt, aber es darf keiner fehlen! Es darf keiner!"
Die Brothändlerin seufzte.
„Ich habe Dir doch alles zurecht gemacht. Fleisch und Gemüse brauchen nur auf das Feuer gestellt zu werden. Kartoffeln sind geschält. Radio ist in Ordnung; brauchst Du nur einzuschalten. Alice kommt zu Mittag und wird Dir helfen. Sie hat es bestimmt versprochen!!"
Kuhlmann war übereifrig, die Kranke zu beruhigen»
„Hast Du was gesagt?" fragte er dann.
„Geh' nur!" seufzte seine Frau.
„Wie Du das sagst?" erwiderte er weinerlich.
„Geh1 doch!" wiederholte sie.
Da raffte er sich zusammen und ging. Hinter sich hörte er noch ein schreckliches Stöhnen. —
Als er auf der Straße war, verfolgte ihn dieses Stöhnen, peinigte ihn, ließ ihm keine Ruhe. Er musste immer daran denken, dass er rücksichtslos seine kranke Frau hilflos im Hause zurückgelassen hatte. Ihm wurde heiß und kalt. Von quälenden Gedanken verfolgt, trabte er dahin. Da wurde ihm auf die Schulter geklopft. Lachend stand ein Sangesbruder neben ihm und schüttelte ihm die Hand.
„Ein herrlicher Sonntag, was, Herr Kuhlmann?"
„Ja!"
„Petrus muss ein Sangesfreund sein!"
„Ja!"
Der andere erzählte unbekümmert drauflos. Kuhlmann hörte gar, nicht hin. Mit einem Male gab er sich jedoch einen Ruck. „Zum Henker mit diesen Rücksichten!" schrie er zum Erstaunen seines Begleiters plötzlich vor sich hin. „Soll sie der Teufel holen! Hat mich alle Tage gequält, geschunden und getriezt!"
„Wer?" fragte der Sangesbruder und riss den Mund auf.
„Meine Frau ist krank!" antwortete Kuhlmann.
Der andere brach in ein brüllendes Gelächter aus.
An den Landungsbrücken war ein Volksgewimmel von Sonntagsausflüglern. In Scharen strömten die Menschen aus den Hoch- und Straßenbahnen zu den Dampfern,
„Brücke drei!" sagte Kuhlmanns Nebenmann.
Kuhlmann sah sofort unter den Menschen, die dort standen, den widerlichen, großmäuligen Schlachtermeister. Er schien es wieder mächtig hild zu haben, er redete, gestikulierte und rannte hin und her.
Mit „Hallo!" und „Gut Lied!" wurden die beiden von den Sangesbrüdern begrüßt. Alle waren prächtig aufgelegt und redeten und lachten. Nur der Zollbeamte schimpfte. Einige Frauen hatten ihre Babys mitgebracht.
„Die Weiber sind zu unvernünftig!" zischte er. „Wir veranstalten doch keinen Fröbelgartenausflug!"
„Wo sollen aber die Frauen mit den Kindern hin?" fragte ein anderer.
„Was geht's mich an!" brummte der Zollbeamte. „Die haben Bälger, wie die Proleten!"
Kuhlmann nickte zustimmend. Er hatte keine. —
„Erika! Erika!" kreischte neben ihnen eine Frauenstimme auf«
Alles sah nach Erika.
Die schreiende Frau zerrte ein kleines Mädchen hinter sich her«
„Willst wohl ins Wasser fallen, dummes Gör!"
Dem Zollbeamten traten vor Wut die Augen heraus,
„Diese Bälger!" zischte er wieder.
Diesmal musste Kuhlmann lächeln. —
Lang gezogen heulte eine Dampfersirene.
„Uuu—i—i—hJ" machte ein junges Mädel und hielt sich die Öhren zu.
„Schon keine Nerven mehr, Fräulein," lächelte der Zollbeamte diese süßlich an.
„Schrecklich!" rief sie. „Das geht bis in die Fußspitzen!"
„Muss das schön sein!" lachte der Zollbeamte.
„Du!" stieß ihn Kuhlmann an. „Ich denk', Du kannst die Gören nicht leiden!
„Das ist doch kein Gör mehr!" zischte ihn der Sangesbruder giftig an.
„Nanu!" Kuhimann grinste.
„Die ist mindestens 16 Jahre!"
Kuhlmann grinste nun erst recht. —
„Meine Herrschaften!" ertönte der Bass des Schlachters. „In einigen Minuten begeben wir uns aufs Schiff. Die Mitglieder der Brudervereine sind bereits vollzählig dort. Ausgerechnet ,Sangeslust' ist wieder einmal nicht auf der Höhe!"
In diesem Augenblick hielt dicht vor ihm eine Autotaxe. Der kleine Josef, Tenor und Versicherungsreisender, sprang strahlend
„Gut Lied!" rief er zur Begrüßung und hob dabei einen Arm. Dann zahlte er dem Schofför.
„Großschnauz!" knurrte der Zollbeamte. „Unser Dirigent kommt zu Fuß, aber dieser Hungerleider per Auto!" —
„Na, gut bei Stimme, Zöllner?" trat Josef jetzt an den Zollbeamten heran.
„Von meiner Kehle wird die Preisverteilung wohl nicht abhängen!" kam die Antwort.
„Das sag nicht, Bruder. Ich wollte wir hätten von Deiner Stimme Wohlklang mehr!"
Mit einem listigen Seitenblick drängelte er sich zu anderen. „Wollte der Kerl mich foppen?" wandte sich der Zollbeamte an Kuhlmann.
„Ach wo!" antwortete der.
„Herrschaften, aufs Schiff!" kommandierte der Schlachter. Man setzte sich langsam in Bewegung. Die Kinder riefen und hängten sich den Müttern an die Röcke. Einige plärrten. Klapse wurden ausgeteilt. Alles war in Aufregung. Voran schritt der massige Schlachter. Neben ihm ging der Dirigent, der neben der fleischigen Fülle des Schlachtermeisters noch hagerer wirkte. Kuhlmann ging ziemlich zum Schluss mit den Frauen, denn die Frau Gerichtssekretär Möhlig ließ ihn nicht los und fragte ihn aufs genaueste nach den Krankheitssymptomen seiner Frau aus. —
Der Schraubendampfer ,Merkur' schien schon überfüllt zu sein, aber der ganze Verein ,Sangeslust' samt Anhang wurde noch mit Leichtigkeit verstaut.
Kuhlmann war es beim Betreten des Laufsteiges gelungen, der geschwätzigen Frau Gerichtssekretärin zu entwischen. Er wurde mit einigen anderen Sangesbrüdern nach Achterschiff gedrängt. Ein tolles Gedränge war hier. Dicht an dicht standen die Menschen zwischen den Bänken, die nach Möglichkeit für die Frauen reserviert wurden. Es war ein dauerndes Gerufe, Gerede und Gewinke. Kuhlmann stand vor einer riesigen, walkürenhaften Frau. Er wagte sich nicht zu bewegen, da er schon so mit seinen Beinen an ihrem Fettpolster stand. Dabei entströmte ihrem üppigen Busen ein Geruch, der ihn fast betäubte.
Er hörte, wie jemand einige Reihen weiter sagte: „Es geht doch nichts über eine Dampferfahrt! Diese frische Seeluft und dies lebhafte, lustige Volk an Bord!"
Kuhlmann versuchte herauszubekommen, ob es nur Ironie war oder ernsthaft gemeint sei. Es lachte keiner. Es lächelte nicht mal einer, einige der Umstehenden nickten sogar zustimmend.
„Idioten!" knirschte er dann und versuchte sein linkes Bein etwas vorzustrecken, um einen festeren Halt zu bekommen. —
Sie fuhren. Auf den spritzenden Wogen schaukelte eine kleine Barkasse neben ihnen her. Einige Dampfer pfiffen sich mittels Sirenen Signale zu.
„Oooh! Mutti, die großen Schiffe!"
„Das ist eine Werft, Mäus'chen!"
„Was ist das für ein großes Haus?"
„Wohin fährt der Dampfer?"
„Kann das kleine Boot nicht untergeh'n?"
„Wann sind wir da, Mutti?"
Kuhlmann warf giftige Blicke um sich. Aber das Geschnatter hörte nicht auf. Nun versuchte er, weiter an die Reeling zu kommen. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. Einige Male bekam er wütende Ellbogenstöße in die Rippen. Schließlich aber hatte er sich etwas Bewegungsfreiheit erkämpft und konnte sich am Schiffsbordgeländer festhalten.
Neben ihm standen mehrere Sänger befreundeter Vereine, die heute unter sich den Sängerwettstreit austragen wollten. Kuhlmann trat etwas näher an sie heran, denn er dachte, sie würden von den kommenden Wettgesängen reden. Aber er hatte sich geirrt. Es ging um die Politik.
„Schlechte Situation!" sagte ein beleibter Mann mit einem goldenen Kneifer. „Denkbar ungünstigste Situation!" wiederholte er noch einmal. „Die Regierung muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein!"
„Hindenburg benimmt sich wie ein altes Weib!" meinte ein anderer. Er hatte einen pomadisierten Scheitel und einen Stutzer unter der Nase. „Wenn man bedenkt, dass wir ihn zum Präsidenten machten!" setzte er stöhnend hinzu.
„Es ist doch die Sozialdemokratie, die den Parteien der Ruhe und Ordnung abermals einen Dolchstoß versetzt hat!" mischte sich noch ein anderer in das Gespräch. „Ihr Parteiprestige ist ihnen mehr wert, als Ruhe und Ordnung im Staate!"
„Trotzdem hilft ihnen dieser Verrat am Bürgertum nicht!" rief der Beleibte. „Die Futterkrippe wird ihnen weggerückt. Die rosaroten Bonzen werden ein blaues Wunder erleben!"
„Das werden sie!" lachte höhnisch einer. „Diese schmutzigen Korruptionisten, diese Ministersüchtigen, werden eine kalte Dusche erhalten. Das Volk hat die Betrügereien satt. Es macht nicht mehr mit.'"
„Nein, es macht nicht mehr mit!" echote es.
„Meine Herren", begann der Dicke wieder und setzte seinen Kneifer zurecht. „Denken Sie aber auch daran, dass in den alten bürgerlichen Parteien Glaube und Treue in Fäulnis geraten sind. Es ist ein Jammer, aber der Ekel sitzt einem im Halse, wenn man daran denkt, wie bewährte bürgerliche Politiker korrumpiert sind und schamlos uns kleine Geschäftsleute, die wir die Seele der Wirtschaft und des Handels sind, mit immer neuen Steuern und Abgaben zugrunde richten. Man verliert den Glauben an alle. Wir werden ja alle Proletarier!"
Ein zustimmendes Gemurmel war die Antwort. „Aber diese Judenwirtschaft in Berlin wird Schiffbruch erleiden, Die deutsche Jugend lässt sich nicht weiter missbrauchen. Und wir Alten, meine Herren, haben die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, unsere Jugend tatkräftig zu unterstützen. Nur ein kräftiger, zielbewusster, nietzscheanischer Idealismus reitet unser Land und unser Volk. Die Gefahren sind ja größer, als die meisten ahnen!"
„Der Bolschewismus... !" begann einer. Aber alle sahen in diesem Augenblick zum Ufer. Blankenese, den früheren Seenmanns-und jetzigen Villenort passierten sie gerade. Am hügeligen Ufer standen Häuser und Villen zusammengedrängt neben- und übereinander und das Ganze sah farbig aus, als wäre alles aus einer riesigen Spielzeugschachtel aufgebaut.
„Unsere Heimat ist so schön!" deklamierte der Dicke. „Deutschland ist nach dem Weltkriege nicht untergegangen. Deutschland wird auch jetzt nicht untergehen!"
„Deutschland kann nicht untergehn!" rief pathetisch der pomadisierte Scheitel. „Deutschland ist trotz aller Schicksalsschläge ein viel zu gesundes Land!"
„Der Bolschewismus... "
„Was wollen Sie eigentlich mit ihrem Bolschewismus?" wurde der Sprecher, ein kleines, schmächtiges Kerlchen, angefaucht. Kuhlmann dachte bei sich, das muss ein Frisör sein.
„Lassen Sie mich doch aussprechen!" erwiderte der kleine Mann mit den hervorstehenden Backenknochen und den gekräuselten Haaren und tänzelte dabei quecksilbrig hin und her-
„Der Bolschewismus wird ungeheuer an Stimmenzahl gewinnen!" „Das weiß jedes Kind!" bemerkte einer gereizt. „Haben Sie sonst nichts zu sagen?" entgegnete der Fettleibige. „Das riesige Erwerbslosenheer und die wirtschaftliche Not der Arbeiterschaft wird den Bolschewiken zugute kommen!"
„Was Sie nicht sagen!" höhnte der Gescheitelte und drehte sich mit einer Grimasse um.
„Meine Kundschaft ist ein untragbares Stimmungsbarometer!"
„Aha!" machte Kuhlmann und dachte: Also tatsächlich Frisör.
„Sie haben gewiss recht!" nahm der Dicke mit dem Kneifer das
Gespräch wieder auf. „Die Gefahr des Bolschewismus ist groß. Man
muss neue Mittel und Wege finden, ihn auszurotten!"
„Mit der Demokratie?" fragte höhnisch der Gescheitelte. „Ich sagte bereits: Neue Methoden!"
„Hört! Hört!" sagte nun selbstbewusst der junge Gent. „Wir kommen uns näher, meine Herren!" —
Kuhlmann langweilte die Unterhaltung. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. In Träumereien versunken, hörte er die Melodie: „Seht wie die Wolken am Himmel schon ziehen, wie alles strahlet im goldenen Schimmer" pfeifen. Das war ja der Zigeunerchorgesang aus .Troubadour', mit dem sie den großen Sängerpreis ersingen wollten. Kuhlmann verrenkte sich schier den Hals nach dem Pfeifer. Es war der Zollbeamte, der ein Stückchen weg an der Reeling stand und über das Wasser sah. Kuhlmann drängte sich durch die Menge zu ihm hin, —
In Lühe, im Altenlande, war über die Landungsbrücke ein riesiges, girlandengeschmücktes Transparent gespannt. ,Willkommen, ihr Sangesbrüder', stand darauf. Männer im Sonntagsstaat, Frauen in bunten Gewändern, standen erwartungsvoll am Deich. Vorsichtig manövrierte der Dampfer an die Brücke heran. Eine Musikkapelle stand auf dem Deich und spielte einen Marsch. Winken, Tücherschwenken, Rufe an Land und an Bord. Alles kam wieder in Bewegung. —
Der Schlachtermeister hatte das Vereinsbanner entrollt und hochgehoben. „Hier ,Sangeslust'!" brüllte er.
Kuhlmann und der Zollbeamte drängten sich durch die aufgeregten Menschen zu ihrem Vereinsbanner.-----------
Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne hatte geschienen, wie an Sommertagen, Nun, am Abend, rieselte jedoch unaufhörlich ein feiner Regen, und ein scharfer, kalter Nordwind strich über das Wasser.
Das Schwesterschiff des Schraubendampfers ,Merkur' der ,Saturn', brachte die Sänger und andere Ausflügler wieder nach Hamburg. Welch ein Unterschied zwischen Hinfahrt und Rückfahrt. Unter dem riesigen Persenningdach kauerten in der Dunkelheit eng aneinandergedrängt die Menschen. Alles fror und jeder schwieg. Ein kleines Kind, das nicht einschlafen konnte, wimmerte kläglich. Die Glücklichen, die noch eine Ecke in der Schiffskantine erwischt hatten, wurden beneidet.
Kuhlmann irrte ruhelos an Bord des Schiffes umher. Er hatte einige Male versucht, sich in die Kantine hineinzuzwängen, aber es war aussichtslos. Immer wenn er an der Kantine vorbei kam, sah er in den lärmenden, in dichten Tabaksqualm gehüllten Raum. Kuhlmann wusste, an der Theke saß eine Schar Sänger von ,Sangeslust'. Sie hatten diesmal den besten Platz erwischt. Der Schlachter führte natürlich das Wort. Es wurde getrunken noch und noch. Sie tranken aus Wut, denn sie waren im Sängerwettstreit elendig durchgefallen. Die ,Lore am Tore' hatte den Zigeunergesang aus »Troubadour' glatt geschlagen. Der Jammer musste in Bier ertrunken werden. Kuhlmann selbst war durch diesen Fehlschlag derartig geknickt, dass er allen Ernstes die Absicht hatte, der ganzen Singerei Valet zu sagen. Dann aber tröstete er sich mit seinen Vereinsbrüdern, die behaupteten, dass das ganze Schiedsgericht aus Trotteln bestanden habe, die mit ihrem vorsintflutlichen Musikverstand einen Kunstgesang zu bewerten, nicht imstande seien. Einige behaupteten sogar, das Ganze sei eine infame, abgekartete Schiebung gewesen
Als Kuhlmann wieder an der Kantinentreppe vorüberkam, hörte er aus dem allgemeinen Lärm den Gesang: ,Wenn sich der Geist auf Andachtsschwingen zum Himmel hebt!' — Der donnernde Ba3 des Schlachters überdröhnte alle. Dieses Lied von Kalliwoda war einmal Kuhlmanns Lieblingslied. Darum blieb er stehen und lauschte. Manchmal wurde der Gesang von lautem Lachen übertönt. Kuhlmann wusste nicht, ob dieses Lachen den Sängern oder dem Lied galt. Er war wütend. Er mochte das Lied auf einmal nicht mehr. Wieder wanderte er an Deck umher,
Links und rechts auf der Wasserstraße blinkten grüne und rote Lichter auf. Schräg vor ihnen fuhr ein anderer Dampfer. Ganz in der Ferne wurde ein heller Schein am Himmel sichtbar. Dort lag Hamburg. Kuhlmann hatte jetzt nur einen Wunsch: in Hamburg, in der Rosenhofstraße, in seiner Wohnung zu sein. Zitternd vor Kälte blieb er schließlich mittschiffs bei der Maschine stehen, denn aus den Luken des Maschinenraums strömte Wärme. Aus der gegenüberliegenden Kantine hörte er die versoffene Stimme des Schlachtermeisters:
„Das deutsche Lied aus deutschem Herzen, quillt stark und frei,
Beschwingt die Freuden, heilt die Schmerzen, schafft Jugend neu,
Was nur die Deutschen mag drängen,
Es wird zum Lied. Es wird zum Lied.
Drum dröhne fort, mit ewigen Klängen,
Du deutsches Lied, du-u deu-eutsch-es Li-i-ied."
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