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Willi Bredel - Rosenhofstraße (1931)
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Kapitel VII.

Als Pohl eines Abends spät durch den dunklen Terrassentorweg schritt, standen, an die Mauer gepresst, zwei Menschen. Im Vorbeigehen sah er nur, dass die weibliche Person die Trudel Merker war. Die große Männergestalt aber, die vor ihr stand, konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen.
Dass ein Mädel aus der Terrasse mit ihrem Liebhaber abends im Torweg stand, war schließlich nichts Außergewöhnliches. Was soll ein Arbeitermädel auch machen? Ein eigenes Zimmer hat es meistens nicht, sondern man schläft mit der ganzen Familie in einem Raum. Auch fehlen gewöhnlich die Mittel zum Besuch eines Cafes oder Restaurants.
Als Pohl die Treppe zu seiner elterlichen Wohnung hinaufstieg, dachte er nach, wer wohl der Mann gewesen sei, der vor der Merker stand. Er kannte ihn doch? Selbst wenn er nur die Kehrseite und auch die nur in der Dunkelheit gesehen hatte, vermeinte er doch Figur und Haltung zu kennen.
Er schob das für ihn bereitgestellte Abendbrot beiseite, zog sich langsam ein Kleidungsstück nach dem andern vom Leib und grübelte. — Er fand es selbst komisch, dass er so intensiv darüber nachdenken musste. Was ging ihn das schließlich an? Aber er wurde den Gedanken einfach nicht los.
Im Bett starrte er mit wachen Augen in die Finsternis. Das Gesicht des Versammlungsredners, den er gehört hatte, sah er vor sich. Worte, die er gesprochen hatte, fielen ihm ein. Eine junge Kommunistin, die in originell-humorvoller Art Antipfaffenbroschüren ausgerufen und verkauft hatte, sah er deutlich vor sich. Und dann kam ihm wieder das zusammengekauerte Paar im Terrassentorweg in den Kopf.
„Die Trudel Merker", flüsterte er, „die soll sich nur höllisch in acht nehmen! — — — Der andere? — Wer war dann nur der Andere?"
Schließlich nahm er sich vor, die kleine Merker morgen selbst zu fragen Damit warf er sich auf die Seite, dass es krachte. —
Doch noch im Halbschlummer grübelte er über den anderen nach. —
„Der Satan hole ihn!" knirschte jetzt ärgerlich der übermüdete Schauermann. Was geht's mich überhaupt an!"
Er kuschelte sich in die Kissen, zog sich die Decke bis über die Ohren und versuchte zu schlafen. Mit einem Male wusste er, wer der Andere war: Otto Dietz! — Natürlich! Diese Schultern, diese Haltung, — Otto Dietz war es.
„Hm! — Hm!" machte der Schauermann selbstzufrieden.

In der Sonnabendnacht vor der Wahl war jeder Genosse in der Rosenhofstraße auf dem Posten. Eine ganze Anzahl sympathisierende Arbeiter, die sich als Rote Wahlhelfer gemeldet hatten, wurden unter Leitung organisierter Kommunisten in kleine Kolonnen eingeteilt und bekamen ihre Arbeit zugewiesen. In den zurückliegenden Nächten waren fast immer die Piakate und Zettel, nachdem sie einen Tag an den Wänden geklebt hatten, abgerissen worden. In dieser Nacht vor der Wahl musste nun nicht nur geklebt, sondern die Plakate mit den Wahlaufrufen mussten vor den Zerstörungsabsichten der Gegner geschützt werden.
Ausgerechnet an diesem Sonnabend hatte Fritz Überstunden zu machen, denn das Schiff sollte am selben Abend noch auslaufen. Um neun Uhr abends kam er abgeschunden und übermüdet nach Hause- Um Mitternacht wollte er sich schon wieder mit Pohl und Heuberger treffen und die ganze Nacht auf der Straße bleiben. Er musste daran denken, dass die anderen jetzt gewiss schliefen und dass er so furchtbar marode von den verfluchten Eineinhalbzentnersäcken sei. Er nippte nur etwas von dem warmen Abendessen, das für ihn bereitgehalten worden war und warf sich dann mit voller Kleidung aufs Sofa.
„Weck mich etwas vor zwölf!" war das einzige, was Else von, ihm zu hören bekam. — — —
Diese Nacht sah unheilvoll aus. Es gab keinen Mond. Die Straßen lagen um Mitternacht, nachdem die Straßenlaternen automatisch erloschen waren, stockfinster da. Und kein Laut war zu hören. Die Stille war fast unheimlich, denn jeder wusste, dass überall Menschen herumschlichen, dass überall Plakate geklebt wurden, dass überall Ohren lauschten. Die Nächte vor den Wahlen waren noch stets blutig gewesen, und bei der gegenwärtig Zugespitzten politischen Situation musste man auf das Schlimmste gefasst sein.
Die vier: Fritz, Pohl, Heuberger und Erwin Müller waren beisammen. Den jungen Müller reizte lediglich die Gefahr. Wenngleich er vom Reichsbanner entschieden abgerückt war, zu den Kommunisten zählte er sich noch nicht. Aber er war mit den Freunden dabei, und es machte ihm höllischen Spaß.
Vorsichtig wurde gearbeitet. Erst wenn nach minutenlangem Beobachten alles ruhig blieb, wenn alle Geräusche abgelauscht und jeder Hauseingang, jede Terrasse mit den Augen abgetastet war, wurden blitzschnell einige Plakate an die Häuserwände geklebt und dann wieder der Schutz der Treppenhäuser aufgesucht.
Sie hatten nur einen kleinen Teil der Rosenhofstraße zu bekleben und zu bewachen. Für den gesamten Häuserblock der Straßenzelle Qu waren sieben Gruppen auf den Beinen,
Nun standen die Vier auf den Steinstufen eines Hauseingangs. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Die Straße lag wie ausgestorben vor ihnen.
„Mir kommt es nicht ganz geheuer vor!" flüsterte der Schauermann.
Ans einer anderen Straße ertönte ein schriller Pfiff.
» ,Nur einmal!" stellte der Schauermann fest. «Die Unsrigen sind es nicht!"
Sie horchten weiter in die Nacht.
„Pst! eine Sipopatrouille kommt!"
Leise schlichen sie die Treppen hinauf und hockten im dunklen Hausflur nieder. Sie konnten die gleichmäßigen, harten Schritte der Polizisten hören die immer näher kamen. Jetzt gingen sie — trapp — trapp - vorbei.
Vorsichtig schlichen sie die Stufen wieder hinunter, und Pohl schob seinen Kopf vor. Die Luft war wieder rein.. Die vier gingen nun einige Häuser weiter und klebten ein großes rotes Plakat über einen Hauseingang, Erwin Müller stand auf den Schultern des Schauermannes und klebte es hoch oben in ein Steinblockquadrat
„Dort kommen welche!" zischte Fritz plötzlich und zeigte die Rosenhofstraße hinauf.
Sie drückten sich in ein Treppenhaus.
„Das sind Reichsbannerleute! Seid ruhig, sie kommen hier vorbei!"
Ruhig!"
„Pst!"
Es war eine Kolonne von sechs uniformierten Reichsbannermitgliedern. Sie benahmen sich vollkommen ungezwungen, unterhielten sich und lachten. Als sie das große Plakat über dem Hauseingang sahen, stutzten sie. Einer von ihnen sagte etwas. Sie sahen sich nach allen Seiten um und blieben unschlüssig vor dem Haus stehen.
Pohl blinzelte neugierig an der Wand entlang.
Da bückte sich einer der Reichsbannerleute gegen die Wand und ein anderer versuchte an ihm hochzuklettern.
„Was soll denn das bedeuten!" rief da der Schauermann in die nächtliche Stille und trat aus dem Hausflur heraus.
Die Reichsbannerleute starrten ihn erschrocken an".
„Lasst das Ding nur hängen und macht, dass Ihr weiter kommt!"
„Hoho!" rief einer streitlustig.
In demselben Augenblick traten Fritz, Heuberger und Erwin Müller aus dem Dunkel hervor,
„Wir — wir haben es nur auf Nazis abgesehen!" meinte jetzt einer der Reichsbannerleute, „Die wollen alle marxistischen Plakate überkleben!"
„Ach so!" lachte der Schauermann. „Ihr wolltet Euch also nur unser Plakat mal besehen!"
Die Reichsbannerleute kamen langsam heran.
„Und wenn ihr Nazis findet, so gebt ihnen Dresche!"
„Aber bestimmt!" Damit gingen sie weiter.-------
Ihr Material hatten die Vier verklebt; jetzt begann die Nachtwache. Fritz war übermüde, aber er ließ sich nichts anmerken. Sie fanden ein als Schlupfwinkel vorzüglich geeignetes Treppenhaus, in welchem sogar die obere Haustür offen war. Hier hockten sie auf den Stufen hin. —
Der Schauermann glaubte, wieder Schritte gehört zu haben. Er schlich die Stufen hinunter und hielt nach beiden Seiten Ausschau. Es war aber nichts Verdächtiges zu sehen. —
„Bist Du eigentlich in letzter Zeit mit diesem Dietz zusammen gewesen, Walter?" wandte er sich dann an den jungen Heuberger.
„Vorgestern erst. Er wollte mich ins Hansa-Variete haben!"
„Und warum bist Du nicht mitgegangen?"
„Ich weiß nicht. Ich wollte nicht'"
„Der geht doch jetzt mit der Trudel Merker!"
„Hast das auch schon gemerkt?" lachte der Junge.
Also es stimmt, sagte sich Pohl und schwieg.
Es musste jetzt bald drei Uhr sein. Dazu war es verflucht kalt. Fritz saß in einer Ecke zusammengekauert und schien zu schlafen. In der Rosenhofstraße war alles totenstill.
„Du, Karl," flüsterte Heuberger, „wenn sie überhaupt kommen, dann erst in den Morgenstunden!"
„Kennst Du die Adresse der Firma, bei der Dietz arbeitet?"
„Was willst Du denn eigentlich damit?"
„Ich möchte es eben wissen!" „So genau weiß ich sie aber nicht!"
„So frag' ihn, wenn Du ihn triffst!"-----------
Schrill schrie eine Polizeipfeife durch die Nacht. Die Vier sprangen hoch.
„Achtung!" flüsterte Pohl.
Um die Ecke der Marienstraße rannten einige Menschen. Vier, — fünf liefen in entgegengesetzter Richtung, einer kam auf sie zugerannt«
„Das sind Unsrige!" flüsterte Pohl.
Vorsichtig streckte er den Kopf aus dem Treppenhaus. Die Anderen standen erregt hinter ihm.
„Verflucht, das ist Römpter!... . Pst!... . Hallo!"
Römpter hatte gehört. Kurz vor dem Treppenhaus sah er sich, hastig atmend, noch einmal um. Noch war nichts von Verfolgern zu sehen. Im nächsten Augenblick stürzte er ins Treppenhaus.
„Polizei!" keuchte der Seehundbärtige.
„Achtung!" reif leise der Schauermann. „Drei Sipos stehen an der Ecke. Sie sind sich scheinbar noch nicht schlüssig, was sie tun sollen!... Pst!... . Sie gehen in der anderen Richtung die Rosenhofstraße hinunter!"
„Und die anderen??" fragte Römpter.
„Von denen ist nichts mehr zu sehen." —
„Wir treten in der Marienstraße in ein Treppenhaus, in dem im Dunkeln bereits drei junge Kerle stehen!" erzählte Römpter.
„Na, von welcher Fakultät seid Ihr denn?' fragte sie. ,Was kümmerts Euch!' meinte der eine. ,Hoho!' sagen wir und besehen uns ihre Wahlplakate. Hitlerjungens. Wir nehmen ihnen nun in aller Ruhe und Friedlichkeit alles ab und zerreißen es. Da sieht der Schlachter Emil Wend, dass der eine ein Messer aus der Tasche zieht. Na, da war's passiert. Wir hatten dufte Jungens. Ob die drei nachher wählen können, möchte ich bezweifeln! Die brüllten, als sollten die Häuser umkippen, und als es uns an der Zeit schien, hauten wir ab!"
„Und es war wirklich Zeit!" lachte Pohl.----------
Es begann zu dämmern. Langsam kam der Morgen heran. In der Rosenhofstraße aber rührte und regte sich noch nichts. Einmal war ein Radfahrer langsam vorbeigefahren. Pohl tippte auf einen Nazi. Sie hüteten sich aber, ihr Versteck preiszugeben.
„Wie die Wahl wohl heute ausläuft?"
„Die Nacht war ja wirklich merkwürdig ruhig!"
„Besser so, als Mord und Totschlag!" erwiderte Römpter.
„Wir werden tüchtig gewinnen!"
„Die Nazis aber auch!"
„Und die Sozialdemokraten werden tüchtig verlieren!11
„Man kann wirklich neugierig sein!"----------
„Na, die Wahlen alleine machen es auch nicht!"
„Bestimmt nicht, wir werden nicht mit Wahlzetteln die Welt erobern können. Aber ein Stimmungsbarometer sind sie doch."
Jetzt war es schon fast hell. Ganz allmählich kam Leben in die Rosenhofstraße. Hinter einigen Fenstern flammte Licht auf. Zwei Männer gingen auf der anderen Seite.
„Das sind wirklich Frühaufsteher!"
„Der dort aber nicht!" lachte Pohl und zeigte auf Fritz, der in der Türecke lag und schlief. —
Leise stieg Fritz die Treppen hoch nach seiner Wohnung. Wenn aber trotz aller Vorsicht die alten Holztreppen knarrten, blieb er eine Weile auf einem Fleck stehen. Er wollte Else nicht im Schlaf stören und selber heimlich und schnell ins Bett kriechen. Vorsichtig tastend bugsierte er den Schlüssel ins Türschloss und mit angehaltenem Atem öffnete er die Tür.
„Was hast Du?" rief ihn Else ängstlich an, als er eben so besorgt lautlos die Tür wieder schließen wollte.
Er fuhr, wie ein ertappter Dieb, erschrocken herum. Sie stand an der Wohnzimmertür. Im Unterrock und mit einem Schal um den Schultern kam sie auf ihn zu. In diesem Augenblick fiel es ihm zum ersten Mal besonders auf, wie stark und unförmig sie geworden war.
„Was soll ich haben, nichts!" erwiderte er etwas missmutig, weil er sie also doch geweckt hatte.
„Doch, doch! Du kommst so komisch herein!1*
„Ich wollte Dich nicht stören!"
„Glaubst Du denn, dass ich schlafen konnte?"
Fritz wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
„Komm', ich habe eben starken Kaffee gekocht und dann marsch ins Bett. Du fällst ja fast um vor Müdigkeit!"
Fritz sagte nichts. Er schlürfte das heiße Getränk und packte sich dann sofort ins Bett.
„Um elf Uhr musst Du mich wecken!" Er schlief fast schon, als er das sagte.
Else zog sich noch eine alte dicke Wolljacke an, setzte sich in die Küche und schlief, den Kopf in den verkreuzten Armen, am
Küchentisch ein.-----------.

Früh am Morgen schon setzte die Wahlarbeit ein. Sprechchöre zogen von Terrasse zu Terrasse. Radfahrer fuhren mit rotgeschmückten Rädern durch die Straßen. In einem Trupp hatte jeder Fahrer einen großen Buchstaben an der Seite und zusammen ergab das den Aufruf: WÄHLT KOMMUNISTEN. Über die ganze Rosenhofstraße hingen rote Transparente mit der Aufschrift: Wählt Sozialdemokraten! Ähnliche Aufforderungen hingen aus den Fenstern und auf den Baikonen. Dazwischen aber leuchteten knallrote Fahnen und Aufforderungen zur Wahl der KPD. Auf einem Balkon stand sogar ein großer Panzerkreuzer mit dem Schriftsatz dazu: „Wer Kinderspeisung statt Panzerkreuzer will, muss Liste 1, Sozialdemokraten, wählen".
Kurz vor Mittag setzte dann der richtige Wahlbetrieb ein. Die Wähler standen vor den Wahllokalen Schlange. Lastautos mit den verschiedensten Parteianhängern fuhren durch die Straßen. Die Insassen sangen oder schrieen im Sprechchor Parolen. Einmal kam eine ganze Lastautokarawane mit uniformierten Reichsbannermitgliedern
durch die Rosenhofstraße. —
Etwas nach elf Uhr fand sich Fritz im Agitationslokal der Partei ein. Einige Genossen organisierten hier Propagandatrupps. Zwei Trupps hatten geliehene Sprechapparate. Die Platten mit Reden von Reichstagsabgeordneten wurden unter ihnen verteilt. Fritz sollte kontrollieren, ob vor jedem Wahllokal Standartenträger standen und ob sie pünktlich abgelöst wurden. Als er auf die Straße trat, fuhr gerade ein Lastauto mit Nazis vorbei. Zwei riesige Hakenkreuzfahnen flatterten vom Wagen. Junge, blasierte Bourgeoissöhne brüllten im Chor: „Nieder mit den Marxisten, wählt Nationalsozialisten!".
Die Antwort der Rosenhofstraße hieß: „Nazi verrecke!".-------—
Inzwischen setzte der Schlepperdienst ein. Arbeiter gingen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und forderten die Säumigen auf, noch zur Wahl zu gehen. Einige brachten alte, gebrechliche Proletarier am Arm ins Wahllokal. Die Werber der bürgerlichen Parteien fuhren zu gleichem Zweck mit gemieteten Autos umher.
Im kommunistischen Agitationslokal herrschte Hochbetrieb. Alle Kräfte waren angespannt.
Nun wurden die Genossen zur Wahlkontrolle während der Auszählung bestimmt und mit allen Genossen der Lessingplatz als Treffpunkt für den Abend verabredet. Ein verwundeter Genosse wurde hereingetragen. Er war bei einem Zusammenstoß in der Bartelsstraße angeschossen worden. Zwei Ärzte hatten sich schon geweigert, ihn zu behandeln. Nun riefen die Genossen bei einem jüngeren Arzt an, der mit der Partei sympathisierte, Er versprach, schnellstens zu kommen.
Als die Wahlfrist abgelaufen war, verschnauften sich die erschöpften Wahlarbeiter im Lokal. Fritz ließ auf Kosten der Zellenkasse heißen Kaffee hereinbringen. Der Verwundete lag noch immer unbehandelt in der Zimmerecke und stöhnte leise.
„Menschenskind, ich hab' ja gar nicht gewählt!" schrie entsetzt ein junger Bursche auf.
„Na, weißt Du!?" meinte einer. Andere lachten,
„Gott verdamm mich!" murmelte der, der vor lauter Wahlarbeit selbst das Wählen vergaß. —
Fritz ging zu kontrollieren, ob in jedem Wahllokal auch ein Genosse bei der Auszählung war. Vor dem Lokal traf er den Arzt.
„Liegt der Angeschossene da drinnen?"
„Ja!"
„Gefährlich?"
„Ich glaube Beckenschuss!" antwortete Fritz. Der Arzt ging rasch in die Wirtschaft, aus der ihm Tabakqualm und Lärm entgegenschlug.
In den Abendstunden wogten riesige Menschenmassen durch die Straßen. Alle öffentlichen Lokale im Innern der Stadt waren überfüllt und polizeilich gesperrt. Eine fiebernde Unruhe, eine gespannte Erwartung lag über den Hunderttausenden. Bald sollten die ersten Resultate kommen. —
Fritz inspizierte bald dieses, bald jenes Lokal. Trotzdem ihm die' Glieder vor Müdigkeit schwer am Körper hingen, fieberte er vor. Ungeduld. Etwas vor sieben Uhr wusste man die ersten Teilresultate und bald darauf lag auch das Endresultat für die Rosenhofstraße vor. Fritz und die Genossen gebärdeten sich wie toll, fassten sich an, hüpften wie Indianer herum, lachten und schrieen. Die KPD. war in den vier Lokalen der Rosenhofstraße die stärkste Partei. Die Rosenhofstraße hatte rot gewählt. Die Sozialdemokratie, bisher diel weitaus stärkste Partei, war auf den zweiten Platz gedrängt. Die Nazis hatten in der Rosenhofstraße auch gewonnen, aber | nicht erschütternd. Die kommunistische Stimmenzahl hatte sich, gemessen an der vorigen Reichstagswahl, verdreifacht,
Ü bermütig vom Siegesjubel zogen die Genossen gemeinsam zum Lessingplatz. Dort stauten sich bis in die umliegenden Straßen hinein die Menschenmassen. Vor dem Zeitungshaus der Generalanzeiger-Presse war ein Lichtbild-Projektionsapparat aufgestellt, der die Resultate auf eine provisorisch an der Hausfront befestigte Leinwand werfen sollte.
Vor der Großschlachterei Roderich war der Treffpunkt der Genossen. Man drängte sich durch die Menschenansammlung dorthin. Aus der einen Ecke des Platzes schrieen die Nazis: „Deutschland erwache!" und als Antwort darauf kam aus der Gegend der Großschlachterei der Ruf: Heil Moskau!". Die Sozialistische Arbeiterjugend und die Roten Falken standen mit ihren Wimpeln in der Mitte des Platzes und sangen: „Wann wir schreiten Seit' an Seit'!" Es war eine dauernde Unruhe auf dem Platz. Das Sturmband unterm Kinn standen mehrere Hundertschaften Sipo rund um den Platz.-------
... . „Ganz ohne Zweifel, Kommunisten und Sozialdemokraten werden katastrophal verlieren!" Ein hagerer Mensch mit einem Pincenez unterhielt sich mit einigen Männern.
„Na, na, na, bei der wirtschaftlichen Notlage, bei der Erwerbslosigkeit?" meinte zweifelnd ein anderer.
„Die Nationalsozialisten, mein Lieber!" erwiderte der Hagere.
„Die Nationalsozialisten fressen diese Parteien auf!"
„Ich weiß nicht recht!"
„Warten Sie nur ab!"-------
„Das ist ja schlimmer, als bei der Lotterie, man steht wie auf Kohlen!" stöhnte ein dicker Glatzköpfiger. Neben ihm lachten einige. Zwei junge Mädchen kicherten andauernd.
„Es gibt ein Unglück! Es gibt ein Unglück!"
„Was gibt es?" drehte sich ein junger Mensch mit einigen akademischen Schmarren am Kinn nach dem Dicken um, der sich vor Aufregung mit einem Tuch den speckigen Hals trocknete.
„Ein Unglück, mein Herr!" stöhnte der wieder.
„Warum?"
„Die Hakenkreuzler werden ungeheuer gewinnen!"
„Und das nennen Sie ein Unglück?" schnarrte der Junge.
„Sie nicht?"
Einige lachten wieder. Die Mädchen kicherten weiter. Der junge Akademiker zeigte gegen seinen Kopf und betrachtete verächtlich den jammernden Dicken.-------
Da erschienen die ersten Resultate auf der Leinwand und ein murmelndes „Aaaooh" ging durch die Menschenreihen. Es waren die Ergebnisse aus einigen unbedeutenden ländlichen Gebieten, aber sie wurden mit gieriger Aufmerksamkeit aufgenommen. Ein brüllendes: „Heil Hitler!" und „Deutschland erwache!" dröhnte über den Platz. Neue Resultate kamen. Die sozialdemokratischen Zahlen schrumpften zusammen, die nationalsozialistischen blähten sich auf. Und immer wieder donnerten Heilrufe über den Platz.
Die Genossen waren erst bestürzt. Nicht einmal das Resultat der Rosenhofstraße konnte sie aufmuntern. In ohnmächtiger Wut wurden die Ziffern der Nazis betrachtet, denen man zunächst einfach verständnislos gegenüberstand.
„Was sind das für Stimmen?" fragte der Schauermann.
„Alle die, die nicht wissen, was sie woll'n!" rief ein anderer.
„Mittelstand!" antwortete Fritz.
Dann kam das vorläufige Stadtresultat. Die Nazis folgten als drittstärkste Partei den Kommunisten auf dem Fuß. Die Sozialdemokratie hatte unheimlich verloren, war aber immer noch die stärkste Partei.
„Tatsächlich, verstehst Du das mit den Nazis?" fragte einer den Schauermann.
Der brummte etwas Unverständliches.
„Die Rosenhofstraße aber steht so!" brüstete sich Heuberger.
„Was müssen das in den anderen Straßenzellen bloß für Scheißkerle sein!" polterte der Schauermann heraus.
Dann aber gabs einen Umschwung in der Stimmung auf dem Platz. Resultate aus den Industriegebieten wurden bekannt gegeben. Ruhrstädte, Mitteldeutschland, Schlesien, Sachsen. An vielen Orten war die Kommunistische Partei die stärkste Partei geworden. Es klangen Rot-Front-Rufe über den Platz, jedes neue Resultat wurde mit „Heil Moskau" begrüßt.
Plötzlich verstummte alles und eine ungeheure Spannung lag über den Menschen. Gleich sollten die ersten Resultate aus Berlin bekannt gegeben werden. Keiner getraute sich, laut zu sprechen. Alle blickten wie hypnotisiert auf das Stück weiße Leinwand. Dann kamen die Teil-Resultate aus der Reichshauptstadt und zugleich setzte ein orkanartiges Jubelgebrüll ein, das überhaupt nicht mehr abzureißen schien. Die Kommunisten waren allen anderen Parteien an Stimmenzahl weit voraus. Johlen, Klatschen, Rot-Front-Rufe, Gesang, ein ungeheurer Jubel raste über den Platz. Einige Nazis schrieen immer wieder: „Nieder mit dem Marxismus!"
Plötzlich setzten einige Arbeiter mit dem Gesang der „Internationale" ein und dann brauste der Gesang aus tausenden Arbeiterkehlen über den Platz.-----------
Spät in der Nacht gingen Fritz und Pohl heim. „Was sagst Du nun zu dem Ergebnis?" fragte Fritz. „Ich finde, es bedeutet... na... " „Bürgerkrieg! Natürlich!" ergänzte Fritz. „Die Klassenfronten schälen sich klar heraus!"

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