Kapitel II.
Jeden Donnerstag hatte der Brothändler Kuhlmann Gesangsabend. Er war aktives Mitglied des Männergesangvereins „Sangeslust 1922" Darum machte er an den Donnerstagabenden pünktlich um sieben Uhr Feierabend, wusch sich gründlich, dehnte und reckte sich und probierte, wenn er allein in der Küche war, seine Kehle mit „ah — aah — aaah" die Tonleiter hinauf, wobei er den Kopf der Höhe der Tonlage entsprechend nach oben schraubte. An diesen Donnerstagabenden war Kuhlmann glücklich. Die grausamen Morgengänge mit Rundstücken, die schweren Kohlenlasten, die seine Kräfte oft überstiegen, das giftige Gezänk seiner Ehehälfte und der ewige Klatsch der Weiber im Laden, alles lag an den Donnerstagabenden weit hinter ihm. Wenn er seinen frischgestärkten Kragen mit den Korvettenkapitänecken und dem schmucken Schwarz-Weiß-Binder anlegte und sich dabei wohlgefällig im Spiegel betrachtete, versuchte seine Gattin immer noch, ihm seinen Wochengenuss zu verekeln. Mit der Präzision eines Uhrwerkes begann sie jeden Donnerstagabend über all' die Vergnügungen zu zetern, die er sich erlaube, und über den Egoismus der Männer zu lamentieren. Sie schrie dann in die Welt, was eigentlich die bedauernswerten Frauen vom Leben hätten. Ausgerechnet an Donnerstagabenden ging sie nämlich nie ins Kino oder Variete, die sie an den übrigen Tagen gerne und oft besuchte, nur, um mit einigem Recht jammern zu können. Wirkungslos aber prallte an diesen Abenden das gallige Gekeife an Kuhlmann ab. Er hörte es einfach nicht. Vor längerer Zeit hatte er ihr einmal gesagt, dass die Gesangsabende keine Vergnügungsabende, sondern Abende zur „Pflege der Kunst des Gesanges" seien. Das hatte einmal der Dirigent bei einer Ansprache gesagt, und Kuhlmann hatte sich diesen erhabenen Ausspruch gemerkt. So zuckte er also höchstens mit den Achseln, wenn ihm seine Frau Vergnügungsegoismus vorwarf und dachte bei sich: Was wissen die Weiber von der edlen Kunst des Gesanges?
Das Klublokal des Männergesangvereins „Sangeslust" war Hornauer's Gesellschaftshaus. Es lag ziemlich am Ende der Rosenhofstraße, wo bald darauf die Schrebergärten kamen und die Straße ins Freie lief. Kuhlmann hatte bis Hornauer's Gesellschaftshaus eine gute Dreiviertelstunde zu laufen, und der Weg war für ihn eine körperliche und seelische Erholung, besonders, wenn die Abende so herrlich waren, wie der heutige. Es war erst Anfang März, aber die Luft war klar und mild, und der Himmel wimmelte von Sternen. Tief holte Kuhlmann Atem. Die Lunge, die werktags Kohlenstaub1 schlucken musste, pumpte sich mit frischer Abendluft voll, und die Schultern, die die Last der Kohlensäcke zu schleppen hatten, hoben sich bei jedem Schritt frei und leicht. Kuhlmann war restlos glücklich. Als er einen Arbeiter traf, der müde, in schmutziger Arbeitskleidung von Spätschicht oder Überstunden kam, sah er schmunzelnd an sich hinunter, auf seinen sauberen Anzug und seine blanken Stiefel und zupfte zufrieden die Manschetten seines schneeweißen Hemdes einen halben Zentimeter aus dem Rockärmel heraus.
Ein leichter, kühler Wind wehte von der häuserfreien Seite« wo die Laubenkolonien waren, die Straße herauf. Kuhlmann, der gedankenlos dahinschritt, schreckte plötzlich auf. In dem Treppenflur, an dem er gerade vorüberging, tollten einige halbwüchsige Jungen und Mädel. Die Mädel kreischten hell auf. Kuhlmann ging etwas schneller. Als er in der Ferne das Gesellschaftshaus erblickte, summte er unwillkürlich die Melodie: „Wer hat dich, du schöner, Wald . . du schöner Wald!" — die sie das letzte Mal eingeübt hatten — „aufgebaut so hoch da droben... so hoch da droben?" Er machte sich einen besonderen Spaß daraus, die zweite Stimme auch hinterher zu singen. Als er sich dabei ertappte, dass er zur Melodie mit der Hand den Takt angab, sah er sich verlegen nach allen Seiten um. Er erblickte aber keinen, der ihn beobachtet haben konnte.
Inzwischen war er bei der vollmondartigen, gelben Lampe angelangt, die das Wahrzeichen des Hornauer Gesellschaftshauses war. —
Mit Hallo wurde Kuhlmann von etlichen Sangesbrüdern, die schon beim Wirt an der Theke standen, empfangen. In wohldurchdachter Absicht kam er immer erst kurz vor Beginn der Übungen, dann brauchte er nicht soviel mitzutrinken. Er kam doch schließlich des Gesanges, nicht des Bieres wegen.
„Ich wette, Kuhlmann bestellt einen Fingerhut!" flüsterte der dicke Schlachtermeister aus der Marienstraße.
„Na, Kuhlmann, heute gut bei Stimme?" Mit dieser Frage trat Ernst Abel, ein Zollbeamter, an ihn heran. Er sang, wie Kuhlmann, Tenor.
Kuhlmann lächelte geschmeichelt.
„Musst wohl noch ein bisschen Kohlenstaub wegspülen!" meinte der Schlachtermeister.
Kuhlmann nickte lachend und reichte den Umstehenden mit ihrem Sängergruß „Gut Lied!" die Hand.
„Herr Wirt, ein kleines Helles!" rief er dann.
Sofort setzte ein brüllendes Gelächter ein. Besonders der Schlachtermeister lachte, dass ihm der fleischige Kopf krebsrot anlief.
Kuhlmann sah erstaunt nach allen Seiten. Er merkte, dass das Lachen ihm galt, aber er wusste nicht, warum.
„Kuhlmann, nehme keinen ganzen Schluck, dann ist es nämlich gleich alle!" rief ihm der Zigarrenhändler Bretthorst zu, den er wegen seiner spitzen Nase und seiner fortgesetzten Sticheleien sowieso nicht ausstehen konnte, und der wiederum ihn gefressen hatte, weil er keine Zigarren rauchte und seinen Tabak nicht bei ihm kaufte.
„Meine Herren!" antwortete Kuhlmann mit Würde, „ich bin zum Singen, nicht zum Trinken gekommen!" Damit nahm er von seinem kleinen Glas Bier einen Schluck und wischte sich umständlich mit einem zierlichen Taschentuch den Schaum von den Barthaaren. Man achtete nicht weiter auf Kuhlmann. Seine Verteidigungsmethoden waren zu allgemein, da ließ man ihn lieber in Ruhe. Der Zollbeamte war ins Klubzimmer gegangen.
„Herr Wirt, geben Sie mir bitte zwei Frikadellen und ein Brötchen!" Als er das bestellt hatte und der Wirt es ihm zurecht machte, wunderte er sich selbst über diesen Einfall. Er war absolut nicht hungrig, nur etwas verlegen.
Der klobige Schlachter warf ihm einen spöttischen Blick zu. Dann hörte er etwas wie: „Kriegt wohl zu Hause nicht satt zu fressen!" Kuhlmann wurde nun noch verlegener und bestellte noch ein helles Bier. Während er aß und trank, ärgerte er sich zum ersten Male an einem Donnerstagabend. —
„Meine Herren, wir beginnen!" rief der Vorsitzende aus dem Übungszimmer. Der Schlachtermeister trank sein halbvolles großes Glas Bier in einem Zug aus und blickte hinterher überlegen und mitleidsvoll zugleich auf den kleinen Brothändler. Dann probte er seine Kehle mit tiefen „aa — aaa — aoo!" Er war als der kraftvollste Bass der Stolz des Vereins und man sah, dass er es wusste.
Der Vereinsdirigent war ein langer, schmaler Mensch mit einer kreisrunden Glatze und langen, grauen Künstlerhaaren an den Seiten. Er hantierte in den Notenblättern herum. Unter Gemurmel und Gekicher gruppierten sich die Sänger ihrer Stimmstufe entsprechend. Kuhlmann stand am äußersten Rande neben dem Zollbeamten.
„Meine Herren!" Der lange Dirigent hatte eine dünne Fistelstimme. »Einleitend singen wir unser neueinstudiertes Lied: ,Wer hat dich, du schöner Wald!' — Bitte!" Er schlug die Töne auf dem Klavier an. „Aa! — Aaaa! — Aaaaa!"
Jede der drei Stimmgruppen summte leise mit.
„Bitte!" Der Dirigent klopfte mit dem Taktstock, hob ihn, los. Aus dreißig Männerkehlen wurde die Frage des Liedes hinausgeschmettert. Für Kuhlmann war die äußere Welt versunken. Wie fasziniert hingen seine Augen am Taktstock. Mit einer Inbrunst sondergleichen schmetterte er: Lebe wohl! Lebe wohl, du schöner Wald!" in den Raum. Unangenehm war nur, dass er auch beim Gesang an den Schlachtermeister erinnert wurde, der mit seiner tollen Kehle den gesamten Bass überdröhnte.
Bei der vierten Strophe gebärdete sich der Dirigent wie besessen. Er warf seinen Kopf, hob beide Arme und dirigierte mit dem ganzen Körper.
Ein Mordskerl, dachte Kuhlmann beim Singen. „Meine Herren!" rief hüstelnd der Dirigent mit seiner hohen Stimme: „Die letzte Strophe muss kraftvoller anschwellen. Jeder muss das Letzte hergeben. Lesen Sie doch einmal aufmerksam die Worte dieses herrlichen Gedichts von Eichendorff:
„Was wir still gelobt im Wald, Wollens draußen ehrlich halten, Ewig bleiben treu die Alten: Deutsch' Panier, das rauschend wallt, Lebe wohl, Schirm dich Gott, du schöner Wald."
Die Sänger räusperten sich erschüttert.
„Das muss in gewaltigem, sich steigerndem Zusammenklang kraftvoll abschließen. Sonst aber ausgezeichnet, meine Herren!" schmunzelte der Dirigent. In dieser Form haben wir beim Sommersangesfest ein Wort mitzureden, oder vielmehr, einen Ton mitzusingen!" verbesserte er sich lächelnd.
Ein beifälliges, stolzes Gemurmel ging durch die Sängerschar.
„Und jetzt, meine Herren, eine Überraschung!"
Mäuschenstill war es im Saal.
„Ich schlage Ihnen als Neueinstudierung den Zigeunerchorgesang aus der Oper ,Troubadour' vor!"
„Ooooh!" murmelten die Sänger.
„Fabelhafte Oper!" sagte der Schlachtermeister zu seinem Nebenmann. „Von Wagner!"
„Sie wissen!" fuhr der Dirigent fort, „ich liebe das deutsche Volkslied über alles, aber zu dem Sängerwettstreit können wir ruhig mit etwas ganz Besonderem hervortreten. Wir können es gesanglich getrost riskieren, und im übrigen ist der Chorgesang aus dieser italienischen Oper von Verdi prachtvoll!"
„Natürlich Verdi!" korrigierte sich der Schlachter. „Ich hatte mich versprochen!"
Kuhlmann war ganz heiß vor Eifer. Jetzt wollten sie also sogar aus Opern singen.
„Glänzender Vorschlag, was?" stieß ihn der Zollbeamte an.
Aber Kuhlmann war ganz abwesend. Der Dirigent hatte sich ans Klavier gesetzt und spielte die Melodie vor. Jeder war begeistert. Die Sangesbrüder begannen von Verdi zu schwärmen, lachten und gratulierten sich gegenseitig, denn mit diesem Chorgesang glaubten sie schon beim kommenden Wettgesang den sicheren Sieg in der Tasche zu haben.
Der Dirigent lächelte befriedigt. Er wusste, wie man Sänger bei Laune hielt. Für ihn war alles in erster Linie Geschäft. Er dirigierte mehrere Gesangvereine. Das war sein Beruf. Aber wenn ihm der Verein für jeden Übungsabend 25 Mark zahlte, wollte er auch wissen, wofür.
Hingerissen sangen dann alle das hitzige ,Jägerlied', das mit den Worten begann:
Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier? Bleib', trotziger Jäger, in deinem Revier!'
Der Dirigent schüttelte nach der ersten Strophe den Kopf und zog die Stirne kraus.
„Die erste Stimme dringt nicht durch, meine Herren. Kräftiger, herausfordernder in den ersten Sätzen und schmelzender, wenn der Satz von dem zärtlichen Rehlein beginnt! Also bitte noch einmal!"
„Ein gründlicher Kerl!" murmelte der Zollbeamte anerkennend«
„Der muss ja ein Ohr haben!" staunte Kuhlmann.
Als dann noch einige der einstudierten Vereinslieder gesungen wurden, war die offizielle Übungsstunde beendet. Der Dirigent ging. Inoffiziell setzten die Sangesbrüder den Abend an der Theke fort, Es wurde getrunken und gesungen und gesungen und getrunken, Zwischendurch setzten sich auch einige zu Gruppen zusammen und besprachen das Neueste. Privatim waren auch politische Debatten erlaubt. Der Verein selbst aber war streng neutral; allerdings wurden nur Mitglieder oder Anhänger bürgerlicher Ordnungsparteien geduldet. Der Schuhmachermeister Tönning mit seinen sozialdemokratischen Anspielungen galt schon als Außenseiter. Kam es zu politischen Streitigkeiten, so hatte er todsicher den Anlass dazu gegeben«
„Ich verlange nur, meine Herren!" stritt sich tatsächlich der Schuhmachermeister wieder mit einigen Sangesbrüdern, „ich verlange nur, dass Sie die Sozialdemokratie als staatserhaltenden Faktor anerkennen!"
„Aus innerer Schwäche heraus bekennen sie sich notgedrungen zum bürgerlichen Staat!" erwiderte, Wort für Wort betonend, sein Antipode, der Kanzleischreiber Werner aus der Kollbergstraße. „Aus innerer Schwäche!"
„Und ich behaupte, Sie übertreiben aus Furcht vor der Stärke der Sozialdemokratie!" entgegnete hitzig der Schuhmacher.
„Mein Lieber!" lächelte der Kanzleischreiber, „das Bürgertum ist stark genug, um einen Otto Braun und Karl Severing ertragen zu können!"
„Sie können aber nicht ohne die Arbeiter regieren!"
„Sie meinen, ohne die sozialdemokratischen Führer!" entgegnete hohnvoll der Kanzleischreiber. „Unsere Geschäfte werden allerdings hin und wieder aus taktischen Gründen von Sozialdemokraten erledigt!"
„Und trotzdem bekämpfen Sie die Sozialdemokratie?" fragte der Schuhmachermeister.
„Die Partei, Herr Tönning, die Partei! Unter den Führern der Sozialdemokratie gibt es fraglos vernünftige, brauchbare Politiker, aber ihr Anhang! Bedenken Sie, in nicht zehn Jahren sind 4 1/2 Millionen sozialdemokratischer Anhänger Kommunisten geworden, und ich sage Ihnen, jeder sozialdemokratische Arbeiter kann morgen schon Kommunist sein!"
„Durch die Politik der bürgerlichen Parteien!" schrie der Schuhmacher erregt. „Das ist es ja gerade!"
„Eure ganze Politik ist Quatsch!" mischte sich jetzt der Schlachtermeister ein. „Hungrige und Satte hat es immer gegeben und wird es immer geben, wie es Faule und Fleißige, Starke und Schwache immer gab und geben wird!"
Einige nickten zustimmend.
„Uns rupft der Staat, wo und wie er nur kann, und den Erwerbslosen, die sich eins ins Fäustchen lachen und auf jede Arbeit husten, denen wird's in den Rachen geworfen. Vor dem Krieg hat es auch keine Erwerbslosenunterstützung gegeben. Wenn die nicht mehr gezahlt würde, dann wäre die Erwerbslosigkeit längst vorbei, dann würde sich jeder Arbeiter verdammt schnell nach Arbeit umsehen und jede sich bietende Gelegenheit anpacken!"
„So ist es! Sehr richtig!" riefen die Ladeninhaber und selbstständigen Handwerker dem Schlachtermeister zu.
„Heute braucht man nicht mehr arbeiten, um zu leben, heute ernährt das Arbeitsamt oder die Wohlfahrt jeden, der die Arbeit scheut!" rief der Zollbeamte.
„Wenn Ihr Wille maßgebend wäre, dann hätten wir morgen Revolution!" erklärte der Schuhmacher.
Allseitiges Gelächter antwortete ihm.
„Wozu haben wir Polizei und Militär? Und schließlich sind wir selbst auch noch da. Ich habe schon 1918 und 1919 in der Einwohnerwehr die Knarre getragen. Wenn es sein muss, trage ich sie morgen wieder!" rief der dicke Schlachter.
„Bravo!" rief sein Trinkkumpan an der Theke.
„Die Zeit der Herrschaft des Pöbels kommt nicht wieder, die ist endgültig vorbei."
„Aber wir leben doch alle von diesem Pöbel!" schrie jetzt der Schuhmacher,
„Ich verkaufe meine Ware nur an rechtschaffene Leute, die auch unter den Arbeitern Gott sei Dank noch zahlreich vertreten sind!" antwortete stolz der Schlachtermeister.
„Und wenn diese rechtschaffenen Leute nun Sozialdemokraten oder gar Kommunisten sind?"
„Es gibt unter rechtschaffenen Leuten weder Sozialdemokraten noch Kommunisten!" erklärte kategorisch der Schlachter. „Sie sind ein richtiger Hetzer, Tönning!" setzte er dann noch hinzu.
„Bewahre", rief der entsetzt. „Ich will Staat und Ordnung nur mit feineren Mitteln geschützt wissen!"
„Sangesbrüder, ein Lied!" rief es von der Theke.
Sie sammelten sich langsam.
„Lützows wilde, verwegene Jagd" wurde vorgeschlagen.
Der Schlachtermeister gab das Zeichen und dirigierte, sang aber selbst kräftig mit.
Mit einem tiefen Schluck wurde hinterher die Kehle für die Anstrengung belohnt. Allmählich kamen die Sänger und Trinker mehr und mehr in Geschmack, Immer noch ein neues Lied wurde angestimmt, und immer noch ein neues Glas Bier geschwungen. Der Schlachtermeister war in beiden Dingen tonangebend. Das war nun die Zeit, zu der Kuhlmann verschwand. Unauffällig beglich er seine Zeche und schlüpfte heimlich davon. —
Draußen war es kühl. Der volle Mond stand kalt über der Stadt. Kuhlmann fror und schlug seinen Rockkragen hoch. Während er die Rosenhofstraße wieder zurückschritt, seufzte er. Der Donnerstag war vorbei und eine neue, lange Woche mit Rundstückaustragen und Kohlensäckeschleppen stand vor ihm. Aber nicht daran denken, nur nicht daran denken, sagte er in Gedanken zu sich selbst.
Den Kopf zwischen den Schultern eingezogen und etwas vornübergebeugt, stampfte er dahin. Das gelbliche Licht der Laternen ergoss sich schwach über die Straße. Kuhlmann dachte an die Oper ,Troubadour' und versuchte die Melodie, die der Dirigent vorgespielt hatte, nachzusummen. Aber er bekam sie nicht zusammen. Wenn er den Text nur wüsste. Überhaupt die Oper einmal hören. Ach ja, das möchte er. Heimlich, allein, dachte Kuhlmann. Er schritt schneller aus und wälzte Pläne in seinem Kopf, — aber er verwarf sie alle wieder.
Wie ein Schatten schlich er an den Häusern entlang, Er dachte wieder an den kommenden Tag. Eine Woche ist elend lang, murmelte er und dachte an Rundstücke und Steinkohlen.
Vollzählig war an einem Dienstag die kleine Redaktion der Häuserblockzeitung bei Olfers versammelt. In einem behaglichen Zimmer saßen die Genossin Schenk und der Buchbinder Kernatzki an einem runden Tisch. Fritz und Else stöberten im Zimmer herum. Else kam es vor, als sei sie bei wohlhabenden Bürgersleuten. Die Möbel waren stabil und gut erhalten, und fast über den ganzen Boden des Zimmers breitete sich ein braunbunter Teppich aus. Die Vorhänge und das herrliche Tischtuch und die Nähmaschine am Fenster, alles bestaunte sie. Fritz betrachtete unterdessen den Dreiröhren-Radioapparat und das Doppelregal mit den Büchern. Auf vieles, ihm bekanntes, stieß er: Lenin, ,Staat und Revolution'; Mehring, ,Geschichte der Sozialdemokratie'; »Die Frau und der Sozialismus', von Bebel; »Auf dem Wege zum Oktober', von Stalin. An der Seite stand das große Buch von Krapotkin, ,Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt'. Auf dem zweiten Regal standen unter anderem: ,Der grüne Heinrich', von Gottfried Keller, und auch den ,Jimmi Higgins' von Upton Sinclair, entdeckte er.
Wie gut der Olfers wohnt, dachten Fritz und Else fast gleichzeitig und lächelten sich an.
Die Genossin Schenk redete unterdessen heftig auf den Buchbinder ein. Dieser hatte behauptet, die Partei versage bei der sich jetzt dauernd steigernden Erwerbslosigkeit. Große Erwerbslosenkundgebungen müssten veranstaltet und mehr noch als bisher durch die Presse unsere Parteiforderungen zur Hebung und vollständigen Beseitigung der Erwerbslosigkeit publiziert werden. Die Genossin Schenk gab ihm durchaus recht, behauptete aber, die Partei täte alles, was in ihren Kräften stände. „Wir sind die Partei, Genosse Kernatzki, Du und ich!" rief sie „und wenn wir nicht hundertprozentig aktiv sind, kann es die Partei auch nicht sein!"
„... ..Und darum müssen wir alle Kräfte anspannen, um unser
geliebtes Vaterland in diesen Tagen der allgemeinen Not . , . ." „Stell bloß den reaktionären Quasselkasten ab!" rief die Zappelige.
„Deutschlands Not und wir Landwirte!" lachte Fritz und stellte den Lautsprecher wieder ab.
„Ein entsetzlicher Dreck, dies Rundfunkprogramm!" Der Buchbinder wollte das Gespräch gerne auf ein anderes Gleis schieben. Er kam aber vom Regen in die Traufe.
„Dreck nicht, mein Lieber!" belehrte ihn die Genossin Schenk. „Das ist planmäßige Beeinflussung der Massen. Das Radio ist ein Sprachrohr der herrschenden Klasse und stündlich werden damit Millionen Menschen bearbeitet und verdummt!"
„Ja!" sagte der Buchbinder kleinlaut. Zu seinem Glück trat Olfers ein. Er kaute noch an seinem letzten Bissen Abendbrot und setzte sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln zu den Beiden.
„Und doch ist so ein Ding ein wertvolles Gerät, Genossin Schenk. Wir revolutionären Arbeiter werden zwar restlos ausgeschaltet und skrupellos verleumdet, aber man kann vieles, was man hört, mit Gewinn aufnehmen. Man muss allerdings verstehen, das meiste im Gehirn umzuarbeiten!"
Fritz und Else rückten ebenfalls an den Tisch heran.
„Ich will mir demnächst einen Vierröhrigen kaufen, damit ich Moskau bekommen kann!"
„Oh, dann komme ich aber auch mal und höre mit!" rief Fritz,
„Natürlich!" lachte Olfers.
„Auch möchte ich mir von Deinen Büchern eins ausleihen!"
„Welches denn, Fritz?"
„,Marx und Lassale unter Hochverratsanklage!1 Das sind doch gewiss ihre Verteidigungsreden?"
Ja! Nimm es nachher nur mit! — Aber wie wäre es, wenn wir mit unserer Gründungssitzung beginnen würden?"
„Natürlich, man los!" antwortete der Buchbinder.
„Wer hat also Vorschläge für die Ausgestaltung unserer Häuserblockzeitung? Ich denke doch, dass sich jeder einmal die Sache überlegt hat!"
Niemand antwortete.
„Was meinst Du, Genossin Schenk?"
„Man müsste einen Aufsatz über „die Frauen und der Kommunismus" drin haben!"
„Und?" fragte Olfers weiter.
„Ü ber die Erwerbslosigkeit!"
„Ich will mir mal alles notieren!" Er holte sich Papier und Schreibzeug „Wie aber meint Ihr, soll sie eigentlich heißen?"
„Wie wäre: Terrassen-Zeitung?" schlug der Buchbinder vor.
„Sie soll aber nicht nur für die Terrassenbewohner sein!"
„Einfach: Rosenhofstraße — Häuserblockzeitung der kommunistischen Straßenzelle!"
„Aber sie wird nicht nur in der Rosenhofstraße, sondern auch in der Kollberg-, Marien- und Querstraße verteilt. Weil wir eine starke Straßenzelle sind, müssen wir diese Straßen mit übernehmen!" erklärte Olfers. „Ich schlage vor, wir nennen sie: ,Die Mietskaserne'!"
„Klar!" rief Fritz. „Und in den Kopf zeichnen wir die Dächet einer Unmenge Mietskasernen!"
„Das ist eine gute Idee!" gab Kernatzki zu. Auch die Zappelige nickte.
„Also, den Namen hätten wir. Die Mietskaserne, Häuserblockzeitung der KPD. Nun käme der Inhalt!"
„Die Else muss etwas über Pfandhäuser schreiben!" rief Fritz.
„Nicht übel!" meinte Olfers, „auch da kann man das Elend beobachten!"
Ich schreibe einige Zeilen über das Heimarbeiterdasein!" schlug Kernatzki vor. „Ich habe es mir schon überlegt!"
Olfers notierte. „Und die Genossin Schenk schreibt über die Hausfrauen!"
„Ich kann nicht schreiben, Offers!"
„Du redest aber wie ein Buch!"
„Aber ich kann keine Artikel schreiben!"
„Du wirst es versuchen müssen! Was ist das für eine Redaktion, die nicht schreiben kann!"
„Ich habe es Euch gleich gesagt! Warum habt Ihr mich gewählt!"
So stritten sich die beiden noch eine Weile hin und her Olfers ließ nicht locker. Das Ergebnis war, dass die Zappelige es mal ,versuchen' wollte.
„Ich schreibe einige Zeilen über unsere Nazidiskussion vor der Terrasse!"
„Richtig! Das ist wichtig, Fritz!"
So bekam jeder seine Arbeit. Eingehend wurde alles durchgesprochen und verschiedene wichtige Punkte in den Aufsätzen bestimmt. Am Sonnabend sollten sämtliche Beiträge bei Olfers abgeliefert sein. Für Sonntagmorgen erboten sich Fritz, Else und der Buchbinder freiwillig, die Manuskripte mit Hilfe einer Stenotypistin vom Stadtteilbüro auf Wachs zu schreiben und abzuziehen. Die Genossin Schenk konnte nicht, da sie mit der Frauengruppe auf Landagitation fahren wollte.
Nachdem die Frage der Häuserblockzeitung besprochen war, schlug Olfers vor, noch zehn Minuten durch den „Aether zu jagen". Fritz war begeistert. Die Genossin Schenk betrachtete misstrauisch und abfällig den kleinen schwarzen Kasten und den quadratischen Lautsprecher darüber.
„Huihuihui-i-i-i!" pfiff es und schnarrte und summte. Schwach war Musik zu hören. Sie wurde stärker und plötzlich verschwand sie wieder.
„Rom! Die Musik ist aus der Oper ,Toska'!" sagte Olfers nach einer Weile.
„Was der nicht alles weiß!" staunte Fritz den Alten an.
„Huihuihui—i—i—i!" Stimmen wurden hörbar.
„Huihuihui!" kam es wieder näher. Lauter. Jetzt klang voll und rein eine Melodie durchs Zimmer.
„England!" rief Fritz.
„Nein, Kopenhagen!"
„Huihuihui—i—i—i!" Eine kleine Drehung an der Skala. Gesang! Olfers sah zur Skala. „Königswusterhausen!"
„Wie interessant!" rief Else ehrlich entzückt,
„Was hat denn unser Ortssender?" fragte Fritz.
„Militärkonzert!"
„Natürlich!" warf die Zappelige ein. „Kriegspropaganda auf Umwegen!"
„Darum lassen wir es ruhen!" lachte Olfers.
„Hol' doch noch mal Rom ran!" bettelte Fritz.
„Huihuihui—i—i—i!" begann es, „Küiküiküi—üi—üi!"
„Jetzt!" rief Fritz.
Gesang wurde vernehmbar. Lauter. Nun klangen klar und deutlich Gesang und Orchester aus dem Lautsprecher. Phantastisch, zu denken, dass es durch die Luft über die Alpen au«? Rom kam.
„Wenn man nun auch Mussolini so herholen könnte!'
Was würdest Du mit ihm anfangen, Genossin Schenk?" fragte Olfers belustigt.
„Oh!" rief die ganz ernsthaft. „Ich wüsste schon!
Der italienische Opernsänger hatte seine Arie beendet. Die Musik verebbte leise. —
„Es ist der Klassenfeind, der durch diese Kästen täglich Millionen Menschen einlullt und betrügt!" rief die Genossin Schenk.
„Es kommt die Zeit, wo wir damit zu den Millionen sprechen werden1" antwortete Fritz
„Das ist gewiss!" bekräftigte Olfers. —
An der Haustür nahm Olfers Else etwas beiseite. „Wie steht es mit der kleinen Merker?"
„Gut!" antwortete etwas verlegen das Mädel. —
„Was wollte Olfers?" fragte Frit2 unten in der Terrasse.
„Er fragte, wie es der Trudel geht!"
„Ein famoser Genosse, dieser Olfers!" sprach wie in Gedanken Fritz. —
„Wo steckt eigentlich seine Frau?" fragte Else plötzlich.
„Für die Menschen unsichtbar!" antwortete Fritz. „Sie hat Lupus. Die ganze Nase soll schon weggefressen sein. Sie wagt sich nicht mehr unter Menschen!"
Sie schwiegen. Im Terrasseneingang war es stockdunkel. Else schmiegte sich an ihren Fritz.
„Eine bedauernswerte Frau!" murmelte er noch.
„Die Ärmste!" flüsterte Else.
Noch nach Tagen wurde in der Terrasse über die Abkanzelung der beiden Nazis durch den Schauermann Karl Pohl und den Jungkommunisten Fritz Burmester gesprochen. Besonders den kleinen Burmester behandelten die Arbeiter direkt respektvoll. Da er seiner Else wegen viel durch die Terrasse ging, war er bald jedem so gut bekannt, als wohne er selbst da, und es gab keinen, der ihn nicht mochte, ausgenommen die Mechanikerfrau, „Großschnauziger Rotzjung'!" nannte sie ihn bei der Brothändlerin. Und diese nickte pflichteifrig. „Nächtlicher Herumtreiber!" fügte sie dann noch gewöhnlich hinzu, denn sie hatte ihn einige Male nach 12 Uhr aus der Terrasse kommen sehen.
„Frau Kuhlmann! Frau Kuhlmann!" jammerte sie heuchlerisch. „Ich verstehe das Mädel, die Else, nicht. Sie rackert von früh bis spät, faul ist sie nicht, das kann man ihr nicht nachsagen, aber dieser Umgang! Diese Menschen, mit denen sie verkehrt! Das Mädel muss behext sein. Dieser kleine Großschnauz, was ist schon an ihm? Nee, — ich kann solche Menschen, die soviel reden, nun einmal nicht ausstehn!"
Der Brothändler, der im Nebenraum frühstückte, bekam einen Hustenanfall. Er keuchte. Die Mechanikerfrau verzog empfindlich das Gesicht.
„Emil!" schrie die Brothändlerin, „beherrsche Dich doch!"
Emil kämpfte mit dem Hustenreiz.
„Da kommt Frau Heuberger!" lenkte die Kollmar ab.
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen, Frau Heuberger!"
„Ach, was hat man doch für'n Ärger!" Die große, plumpe Frau wackelte mit dem Kopf.
„Ärgern ist ungesund!" lachten die Frauen.
„Ein halbes Schwarzbrot, Frau Kuhlmann! — Und alles wegen dieser Kommunisten!"
„Was haben Sie denn für'n Ärger, Frau Heuberger?" fragte die Kollmar.
„Ach, mein Walter ist nach dieser Unterredung vor der Terrasse vollkommen durchgedreht. Er geht in Versammlungen, liest kommunistische Zeitungen und sogar solche Bücher. Schreckliche Bücher. Der Junge ist wie verändert!"
„Was sagt denn Ihr Mann dazu?" fragte die Brothändlerin.
„Ach der, — der... !" erwiderte wütend die Heuberger. „Lass ihn, lass ihn!, sagte der, und damit ist für den die Sache erledigt!"
„Dabei wäre doch die Aussprache, die schon mehr eine Schimpferei war, um ein Haar blutig ausgelaufen!"
„Wieso, Frau Kollmar?" fragte die Heuberger ängstlich.
„Viel hat doch an einer Messerstecherei nicht gefehlt! Der Pohl soll doch schon immer eins bereitgehalten haben! Ein roher, jähzorniger Mensch! Zum Schluss drohte er dem Gemüsehändlersohn Kafka, der ja Nationalsozialist ist, wenn er noch einmal an der Terrasse vorbeikäme, würde er ihn totschlagen!"
„Nicht möglich?" rief die Brothändlerin.
„Die Gemüsehändlerin hat es mir selbst erzählt!"
„Aber mein Walter... !" jammerte die Heuberger. „Es ist weder durch gute noch durch böse Worte bei ihm was zu erreichen!"
„Der eigentlich Schuldige an diesen ganzen Hetzereien ist dieser Kleine, der Verkehr der Else Langfeld. Der macht die ganze Terrasse rebellisch!" —
„Guten Morgen!"
„Guten Morgen, Frau Fritt!"
Die kleine, fette Frau schob sich in den Laden. In demselben Augenblick steckte der Brothändler vorsichtig seinen Kopf aus dem Nebenraum. Wie von einem giftigen Insekt gestochen, zog er ihn wieder zurück.
„Wissen Sie, ich habe eine interessante Entdeckung gemacht!" flüsterte sofort die eben Angekommene.
„Na, Und?" riefen neugierig die Frauen.
„Es ist eine heikle Sache. Sie müssen mir versichern, kein Wort davon lautbar werden zu lassen!"
„Aber doch natürlich!" flüsterte die Vizenfrau, ganz Ohr.
„Kennen Sie eine Frau Hintz, da drüben in der Marienstraße 16?"
Der Hals der Heuberger wurde feuerrot. Da aber aller Augen am Munde der geheimnisvollen Sprecherin hingen, merkte es niemand.
„Eine Bekannte, die in demselben Haus wohnt, sagte mir neulich, es wäre offenes Geheimnis, dass diese ehrwürdige Dame eine Engelmacherin ist!"
„Oooh!" rief entsetzt die Brothändlerin.
„Und wissen Sie, wen ich mehrmals in das Haus schleichen sah?"
„Die Else Langfeld!" platzte mit weitaufgerissenen, rachgierigen Augen die Mechanikerfrau heraus.
Nein, die Merker!"
„Die?" rief die Klempnerfrau ungläubig und enttäuscht.
„Wer weiß, was die kleine Merker dort wollte!" meinte beherrscht gleichgültig die Heuberger.
Gehen Sie! So harmlos sind solche Besuche unter derart merkwürdigen Umständen nicht!" ereiferte sich die Fritt.
„Aber was für merkwürdige Umstände?" fragte erstaunt die Hackbarth.
„Sie haben es eben nicht gesehen! Ich denke mir mein Teil!"
„Aber Frau Fritt, was geht uns das an, was das Mädel da wollte!"
„Natürlich nichts, absolut nichts, Frau Heuberger. Aber man erzählt sich doch mal dergleichen!"
Als Frau Heuberger ging, schlurfte der Brothändler durch den Laden. Die Frauen schwiegen. Die Brothändlerin sah ihm strenge nach. —
„Frau Heuberger war sehr komisch, nicht wahr?" brach die Mechanikerfrau das Schweigen.
„Wer weiß! Sie hat vielleicht auch ein schmutziges Taschentuch in der Tasche!" erwiderte vielsagend die Fritt.-----------
„Da wird herumscharwenzelt, — jeden Sonntag mit einem neuen Kavalier, — stets um Mitternacht nach Hause — in den Treppenfluren stößt man immer wieder auf neue Kerle — da kann das ja nicht ausbleiben!"
„Ü berhaupt die Jugend heute!" ergänzte Frau Kollmar die Fritt. „Eine vorlaute und sittenlose Bagage. Ich bin direkt froh, dass ich nicht solche Bälger habe. Vielleicht läge ich sonst schon im Grabe!"
„Wissen Sie!" fiel die Mechanikerfrau wieder ein, „mein Junge bei der Reichswehr ist am besten aufgehoben! Er hat Essen und Trinken, bekommt nach seiner Dienstzeit einen ruhigen Staatsposten und hat eine Ausbildung für's Leben genossen!"
Die Brothändlerin nickte zustimmend. —
Vor der Terrasse traf die Fritt die Frau des Wohlfahrtspflegen Kummerfeld. Eiligst erzählte sie ihr die Neuigkeit von der Trudel Merker. Frau Kummerfeld erblasste.
Frau Fritt!" unterbrach sie die unermüdlich Schwadronierende. „Wenn Sie nicht das Mädel", und sie ergänzte mit gehobener Stimme, „und noch andere unglücklich machen wollen, dann schweigen Sie!" Darauf ließ sie die verdutzte kleine, fette Frau stehen und ging weiter.
„Hm!" machte diese und „So-so!" und trippelte stillvergnügt in die Terrasse.
Am späten Nachmittag, um die Feierabendstunde, war die Rosenhofstraße noch belebter, als am Tage. Die Arbeiter kamen dann aus den Fabriken. Hafenarbeiter mit ihrem breiten, schwerfälligen Gang, Werkzeug und Kaffeeflasche in einem Sackbeutel über der Schulter, Werft- und Fabrikarbeiter in ölglänzender Arbeitskluft, im Gesicht schweißig verschmiert, zogen durch die Straße. Arbeitermädel dazwischen, Lehrlinge, meistens zu mehreren, lärmten laut und waren ausgelassen froh, weil wieder ein Arbeitstag vorüber war.
Else wollte noch schnell für ihren Vater, der an diesem Tage im Hafen gearbeitet hatte, ein Stück Fleisch kaufen und lief die Treppen hinunter. Im Terrasseneingang traf sie Trudel. Lustig und lebendig, wie jeder sie kannte, kam sie auf Else zu.
„Guten Tag, Else!"
„Guten Tag!"
„Sag' mal, wie findest du meinen Hut?"
Else war sprachlos. „Gut!" bekam sie mühsam heraus.
„Nicht?" — Dabei ist er gar nicht neu, nur gereinigt und gefärbt! Zwei Mark hat das nur gekostet. Jeder findet ihn entzückend und wie neu!"
Else starrte Trudel entsetzt an.
„Trudel!"
„Du musst Dir den Film ,Madame Griselle' ansehen, Else. Zu nett!"
„Trudel!"
„Was hast Du?" fuhr die kleine Merker zusammen.
Else wurde wieder ganz ruhig, aber ihr Gesicht brannte noch wie Feuer. „Wie — geht es Dir — nach dem... ?"
„Ach!" wehrte die Gefragte ab. „Warum erinnerst Du mich an diese ekelhaften Stunden! Vorbei und erledigt! Gott sei Dank!"
„Dann ist's ja gut!" hauchte Else und ging.
Trudel sah ihr ganz bestürzt nach.
Gedankenlos taumelte Else die Rosenhofstraße hinunter, und bog in die Marienstraße ein, zur Großschlachterei Bernitt. Zahlreiche Frauen drängten sich mit ihren Körben an der Verkaufsbank. Rundherum hingen ausgeschlachtete Tierleiber, aus denen Blut auf den Boden tropfte. Der dicke Schlachter Bernitt, der tolle Bass aus dem Männergesangverein ,Sangeslust' stand mit aufgekrempelten Hemdsärmeln am Haublock und zerkleinerte Fleischstücke. Sein Arm war, wie sein Schlachterkittel, mit Blut und winzigen Fleischfetzen bespritzt. Else fühlte einen üblen Geschmack im Mund. Der Geruch der Schlachterei kratzte ihr im Halse. Sie strich sich über die Schläfe.
„Sie wünschen, Fräulein?" hörte sie dann den Schlachter. Bevor sie aber antworten konnte, hörte sie, wie man zu einer Frau sagte: „Für Ihre paar Groschea können wir nicht die ganze Schlachterei nach den Ihnen passenden Filetstücken umkehren!"
„Den Ärmsten drücken Sie auch noch den Dreck in die Hand!" schrie die Frau, die neben Else stand. „Den Reichen bringen Sie das Ausgesuchte ins Haus!"
„Schreien Sie nicht so, verstehen Siel" brüllte der Schlachter zurück.
„Uns Arme wollen Sie bei jeder Gelegenheit ausräubern!*'
„Halten Sie Ihr freches Mundwerk! Wollen Sie das Fleisch oder nicht?"
„Nein!"
Klatsch! — lag es auf dem Ladentisch.
„Hinaus!" keuchte der Schlachter, dem die Wut die Kehle zuzuschnüren schien.
„Halsabschneider!" schrie die Frau gellend durch den Laden.
Der Schlachter fuhr sich zitternd mit dem bloßen Unterarm über das Gesicht. Dabei blieben einige kleine Fleischfetzen an der Stirn und den Wangen kleben.
„Miststück!" murmelte er.
Die Frauen und auch die beiden Verkäufer sahen ihn an, sagten aber kein Wort.
„Was wollten Sie noch haben?" wandte er sich dann wieder an Else.
Sie wusste nicht, was sie eigentlich gesagt hatte, sie sah nur, dass er dasselbe Stück Fleisch, das er eben voller Wut auf den Ladentisch geschleudert hatte, nahm, wog und einwickelte. Mit einem Bon zusammen legte er es vor ihr hin. Else starrte auf das kleine eingewickelte Fleisch. Sie ließ es liegen und ging.
„He, Fräulein!" grölte der Schlachter hinterher.
„Sie haben Ihre Ware vergessen!" tippte eine Frau sie an den Arm.
Ohne sich noch einmal umzublicken, ging Else an der Kasse vorbei aus dem Schlachterladen.
Als sie nach Hause kam, saß der alte Langfeld in der Küche und brummte. Beim Braten des Fleisches, das sie in einem anderen Schlachterladen gekauft hatte, dachte sie erst wieder an Trudel Merker. Wie die das alles von sich abschütteln konnte? „Erinnere mich doch nicht daran", hatte sie gesagt. Was es für Menschen gibt?! Die ganzen Qualen hatte sie buchstäblich miterlebt. Nach der Sturm- und Regennacht, die sie nie vergessen würde, hatte sie sich in die Verzweiflung, in die Not und das Elend der Trudel hineingedacht und mit darunter gelitten. ,Erinnere mich doch nicht daran', hatte die nun eben zu ihr gesagt und ihr von dem wie neu gefärbten Hut vorgeschwärmt.
Der alte Langfeld lieferte der Else, bis auf die Groschen, seinen Tagesschichtlohn ab und erwähnte dabei, dass er morgen wieder Arbeit habe. Und Else lief, nachdem sie das Essen zurecht gemacht hatte, hinunter, um noch einige Kleinigkeiten für den kommenden Tag einzukaufen. —
Beim Krämer Rohwohlt in der Rosenhofstraße, neben der Pianofabrik, bediente Anni, die Tochter des Krämers. Else und sie kannten sich aus der Schulzeit. Wenn Anni Rowohlt auch eine höhere Schule besucht hatte, so waren sie doch früher an den Nachmittagen auf der Straße Spielkameradinnen gewesen.
„Else!" sagte sie nun, während sie Zucker und Reis abwog, „Eure Terrasse ist eine richtige Schluderfabrik!"
„Wieso?"
„Was die Weiber da nicht alles aufstöbern und breittreten! Die eine erzählt, dass sie von der andern weiß, dass die andere wieder... usw."
„Was denn?"
„Nun bist Du auch schon neugierig!" lachte die Krämertochter.
„Brauchst mir nichts zu erzählen!" lächelte jetzt auch Else.
„Ich hab' nur so gedankenlos, gefragt!"
„Ich finde es aber gemein, so hinter dem Rücken über ein Mädel Gemeinheiten zu verbreiten!"
„Ohne Klatsch und Tratsch fühlen sich einige Weiber nicht wohl!"
„Dabei ist es bestimmt Verleumdung! Die kleine Trudel ist doch immer so lustig und unbefangen!"
„Was?" — Else merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.
„Was?"
Die Krämertochter sah sie ganz erstaunt an. „Die Trude! Merker!" sagte sie, als wolle sie damit sagen, „nicht Du, Else."
„Was klatschen sie von der?"
„Hast Du denn noch nichts davon gehört?"
„Was denn?" stieß Else grob hervor.
„Sie soll — ein Kind abgetrieben haben!"
Else starrte sie an. „Das ist ja alles Unsinn!"
„Ja, das sag' ich ja eben!"
„Wer hat das gesagt, Anni?"
„Wie Du aufgeregt bist?"
„Wer hat das gesagt, frage ich Dich?"
„Frau Kollmar!"
„Und woher will die es wissen?"
„Ich glaube von der Fritt!"
„Und woher will die es wissen?"
„Aber das weiß ich doch nicht!"
„Ist gut! Ist gut!" Else hätte laut losheulen können vor Wut.
„Sag nicht, dass Du es von mir weißt!" bettelte das Mädel hinter der Tonbank.
„Nein! Nein!" —
Als Erse in die Terrasse kam, wäre sie am liebsten zu Trudel Merker hinaufgestürzt, aber sie dachte an deren Worte: ,Erinnere mich doch nicht daran'.----------
Nun war der Weiberklatsch schon im Gange.
Die ,Mietskaserne' sollte an jedem ersten Montag im Monat erscheinen und verteilt werden. Die Kosten der Herstellung trug die Straßenzelle. Mit liebevoller Sorgfalt war an der ersten Nummer herumgepütschert worden. Fritz hatte nach zahlreichen missglückten Versuchen schließlich doch einen brauchbaren Zeitungskopf zustande bekommen Ein graues Meer zusammengedrängter Mietskasernengiebel und darüber, wie Himmelsschrift: Die Mietskaserne". Unter dem Kopf standen dann die Worte: Häuserblockzeitung der KPD. — Redaktion: Hummel! Hummel!
Die redaktionellen Beiträge mussten kunstvoll untergebracht werden, denn die ganze Zeitung war vorerst nur vier Schreibmaschinenseiten stark. Fritz hatte ein kurzes, kerniges Geleitwort geschrieben, das er über die ganze Seite setzte, dann aber wurden die Seiten halbiert und die einzelnen Artikel nebeneinander gestellt.
Unter dem Material, das Olfers Fritz gab, war auch ein Artikel über Arbeiterfrauen und Kommunismus! Fritz las ihn und fand ihn ausgezeichnet. „Ist der von der Zappeligen?" „Ja!" lachte Olfers, „und dann meckern die Frauensleute immer, sie können nicht schreiben!"
Der Buchbinder hatte ebenfalls seine versprochenen Zeilen geliefert.
„Ich habe viel an seiner Orthographie verbessert!" bemerkte Olfers so leichthin, als Fritz es durchsah. „Er hat noch die Schule von vor 1900 im Kopf!"
„Du denn nicht? ' fragte Fritz,
„Nein!" Olfers schlug dem jungen Kommunisten auf die Schulter, „ich habe mich bereits dem 20. Jahrhundert ganz angepasst!"
Fritz las nun seinen Aufsatz über die Nazidiskussion vor. Mit wenigen Worten schilderte er den Anlass des Zusammentreffens. Dann die Aussprache selbst. Was wollen und was sind die Nationalfaschisten? fragte er in dem Artikel und beantwortete die Frage mit dem Resultat der Aussprache. Er schloss mit den Worten: „Vernichtet die gelbe Mordpest! Vernichtet das gekaufte Söldnertum der Großindustriellen!"
Olfers nickte zustimmend.
Dann las Fritz noch eine kleine, etwas unbeholfen geschriebene Skizze, ,Im Pfandhaus', vor, in der erzählt wurde, wie die Proletarierfrauen ihre letzte Habe für einige Mark in Pfand geben, — wie Betten hingeschleppt werden, Kleider, Mäntel und Schuhe, oft die einzigen, die die Besitzer haben. Der rege Betrieb in den Pfandhäusern, schloss der Aufsatz, ist der Gradmesser für das wachsende Elend in der Arbeiterschaft.
„Den letzten Satz hat sie aber nicht geschrieben!" bemerkte Olfers. „Man müsste noch bemerken, dass die, die noch etwas ins Leihhaus zu tragen haben, noch nicht die Elendsten sind, denn
Tausende und aber Tausende haben nicht einmal mehr etwas, was sie hintragen könnten!"
„Das werde ich noch einfügen!" stimmte Fritz zu.
„Auch einige kleine Kästen darfst du nicht vergessen, wie: Lest die kommunistische Tageszeitung! Werft die bürgerliche Lügenpresse aus dem Haus! Werdet Mitkämpfer in den Reihen der KPD. usw.!"-----------
Fast den ganzen Sonntag hatten Else, Fritz und der Buchbinder zur Herstellung einiger hundert Zeitungen gebraucht.
„Wat son lüttes Ding for Arbeit mokt!" stöhnte der Buchbinder ein über das andere Mal.
„Lass man!" beruhigte ihn Fritz, „die nächsten flutschen besser."
Am anderen Tage alarmierte Fritz seine Jugendgenossen in der Abteilung zum Austragen der Zeitung. Einige suchten Ausflüchte und wollten sich von der Kleinarbeit drücken. Aber Fritz blieb hartnäckig, und jeden, den er antraf, schleppte er mit. An diesem Montag wurden fünfhundert ,Mietskasernen' in die Häuser getragen. Das aber hatte für kaum die Hälfte der Einwohner der Rosenhofstraße gereicht, und in den umliegenden Straßen hatte noch niemand eine Zeitung erhalten können.
„Wir ziehen noch einige hundert ab!" meinte Fritz. „Aber für eine Straßenzelle wird das zuviel!"
Dienstag war Abteilungsabend, darum wurde für den Mittwochabend die Fortsetzung der Verteilung der Häuserblockzeitung beschlossen.
Dienstag und Mittwochvormittag musste Else im Stadtteilbüro am Vervielfältigungsapparat arbeiten. Noch sechshundert ,Mietskasernen' wurden gebraucht.
„Gut, dass Du erwerbslos bist!" meinte Fritz.
Als der Schauermann Karl Pohl eines Abends spät nach Hause kam, entdeckte er an den Wänden der Terrasse zwei riesengroße Plakate. Er zündete ein Streichholz an. „Deutsche Männer und Frauen... !" las er, „... Gegen den Young-Versklavungspakt der internationalen Hochfinanz... !" — „Hitler ruft zur Massenversammlung in... . 1"
Pohl befühlte ein Plakat. Es war noch ganz feucht, konnte also erst vor kurzem angeklebt sein. Nachdem er vorsichtig eine Ecke gelockert hatte, konnte er es leicht von der Wand abziehen. Das andere ging ebenso leicht herunter. Draußen in der Rosenstraße war nichts Auffälliges zu sehen. Pohl lief zu Heuberger hinauf. Er sah dort noch Licht.
„Nein, Walter schläft schon!" Knallend schlug Frau Heuberger ihm die Tür vor der Nase zu.
Was nun?
Karl Pohl ging in strammem Schritt die Rosenhofstraße hinunter. Im zweiten Terrasseneingang sah er wieder ein Plakat. Runter damit! Wo mochten die Kerle nur sein? Die Klebekolonne der Nazis musste in allernächster Nähe sein.
„Fritz ist noch nicht zu Hause!" antwortete ihm ein junges Mädel ,als Pohl in seinem Logis nach ihm fragte. „Er hat heute Gruppen«! abend!"
„Wo kommt denn die Gruppe zusammen, Fräulein?"
„In der Kollbergstraße! Ich glaube, die Wirtschaft heißt .Glücksburg'!"
„Danke schön!" — Mit einer Behändigkeit, die man dieser Athletenfigur nicht zugetraut hätte, sauste Pohl die Treppen hinunter. Ob er die Gruppe noch antreffen würde? Wenn, das wäre köstlich, dann klebte morgen früh kein Naziplakat mehr.----------
„Hallo, Fritz!" — Mit vier jungen Arbeitern und der Else saß der noch im Gastzimmer der Wirtschaft.
Ganz außer Atem erzählte der Schauermann von dem Arbeiten der Nazis.
„Glänzend!" riefen alle, „machen wir!"
„Wir sehen zu, dass wir sie treffen, folgen ihnen dann und lassen kein Plakat kleben!"
„Geh Du nur nach Hause!" wandte sich Fritz an Else.
„Gibt's gar nicht, ich bin dabei!"
„Wir können sie vielleicht gut brauchen, Fritz!" rief ein anderer.-----------
Getrennt gingen sie in die Rosenhofstraße. Aufmerksam wurde die Straße von ihnen beobachtet. Nichts war zu bemerken. Kein Nazi war zu sehen. Karl Pohl schüttelte den Kopf. Er hatte schon wieder ein Plakat entdeckt und pellte es vorsichtig ab.
Dort an der Ecke stand nun aber einer der Jungkommunisten und schwenkte seine beiden Arme durch die Luft. Pohl, Fritz und Else liefen leise zu ihm. Auch die anderen kamen.
„Die Nazikolonne arbeitet in der Marienstraße!"
„Gehen wir vorsichtig nach!" meinte einer.
„Ruhig!" rief Fritz. „Vorsichtig, die Burschen arbeiten raffiniert und sind sicher gut geschützt! Wir wollen sie erst eine Zeitlang beobachten!"
Die Klebearbeit der Nazis war, wie Fritz richtig vermutete, streng militärisch organisiert. Drei Mann kamen aus einer Terrasse. In demselben Augenblick trat einer etwa 50 Meter hinter den Dreien aus einem Treppenhaus, sah sich nach allen Seiten um und ging dann mit den Klebern in gleicher Richtung die Straße hinunter.
„Und vorne auch!" zeigte der Schauermann. „Dort auf der anderen Seite!"
Dort war ebenfalls einer aus einem Treppenflur herausgetreten und ging voraus.
„Vorhut und Nachhut!" lachte Fritz. „Die sichern sich gut!"
„Ob wir noch etwas warten?"
„Natürlich! Else bleibt hier stehen und wir machen vorerst noch
einige Plakate in der Rosenhofstraße ausfindig!"----------
„Ob der Kafka dabei ist?" fragte der Schauermann Fritz. „Das möchte ich auch wissen!"
Alle sechs suchten nun die Wände der Terrassen und Häuser ab. Sie machten gründliche Arbeit.
Als Fritz verabredungsgemäß: „Üb' immer Treu und Redlichkeit!" die Straße entlang pfiff, kamen sie wieder an der Ecke Marienstraße zusammen.
„Sie sind in die Linienstraße eingebogen!" berichtete Else.
„Also die Marienstraße abputzen!" lachte Fritz. „Wir machen es genau wie die Nazis, Else geht immer fünfzig Meter voraus!"
Je drei nahmen nun eine Straßenfront Ein Naziplakat nach dem andern flog als Knäuel auf die Straße. Keins wurde übersehen. Hin und wieder trafen sie Pärchen in den Terrassen und Häusereingängen. Die lachten manchmal, wenn das heruntergerissen wurde, was andere vor einigen Minuten angeklebt hatten. Einer aber schlich sich aus einer Terrasse und lief an den Häusern entlang, der Rosenhofstraße zu. In ihrem Eifer halten die Jungkommunisten nichts gemerkt.
Die Nazis hatten viel Material verklebt. Wenn alles drangeblieben wäre, hätte es am Morgen Aufsehen erregt.
Else stand an der Ecke der Linienstraße und winkte. Von den Nazis war nichts zu sehen.
„Geh zur nächsten Straßenecke, wir kommen langsam nach!"
Else ging und suchte vergeblich nach den Nazis. Die Jungkommunisten säuberten unterdes die Linienstraße.-------
Als Else zufällig zu ihrem Fritz und den Genossen zurücksah, bemerkte sie, wie hinter deren Rücken vorsichtig einige Gestalten von Haus zu Haus heranschlichen. Die Genossen hatten noch nichts gemerkt Else winkte und winkte. Aber keiner sah es. Die Verfolger kamen immer näher. Als nun einmal auf beiden Seiten der Straße die Genossen zugleich aus den Terrassen kamen, schrie sie: „Nazis!"
In demselben Augenblick war auch schon ein Geheul auf der Straße. Die nachschleichenden Nazis stürmten auf die Jungkommunisten ein. Else hörte noch den Schauermann „Kafka!" brüllen. Dann aber lief sie wie von Sinnen die Linienstraße hinunter, in der weiter unten eine Polizeiwache war.
Bei dem Ruf „Nazis!" stürzten sowohl die Jungkomunisten, als auch die Nazis auf die Straße. Als ersten erblickte der Schauermann den Gemüsehändlersohn Kafka und brüllte begeistert dessen Namen. Kafka schreckte auf, sah den massiven Schauermann in der dunklen Straße auf sichzustürzen und war vollkommen verwirrt und vor Schreck wie gelähmt Mit einem wuchtigen Schlag räumte der Schauermann ein schmächtiges Kerlchen, das auf ihn zusprang, aus dem Weg und packte Kafka. Sekunden später wälzten sich einige Menschenknäuel auf der Straße.
„Das sind ja alles Schüler!" schrie der Tischlerlehrling Otto. „Die schlagen wir krumm und lahm!"
Die Nazis waren keine Schüler, sondern Angestellte und Söhne von Beamten und Mittelständlern und sportlich durchgebildet, aber gegen die arbeitsharten Fäuste der Jungproleten blieben sie im Nachteil. Der Schauermann warf den Kafka wie ein lebloses Bündel auf den Boden und packte sich einen neuen Gegner. Links und rechts teilte er furchtbare Hiebe aus. Der kleine Laufjunge Ewald war von einem ihm weit überlegenen Nazi blutig niedergeschlagen worden. Mit einem Schlag ins Genick warf Pohl den Nazi zu Boden.
Fritz schlug sich unverdrossen mit seinem Gegner herum. Er war körperlich nicht der Stärkste, aber Nachgeben gab es für ihn nicht
Da sah er, wie dicht hinter seinem Gegner ein Nazi, der auf der Erde lag, etwas blankes hervorzog und sich nach dem Schauermann umdrehte. Mit einem Satz sprang er an seinem Gegner vorbei, nahm einen harten Schlag gegen die Zähne hin und warf sich auf den am Boden liegenden Nazi. Im selben Augenblick fiel ein Schuss. Vier Nazis liefen davon. Fritz rang mit dem am Boden liegenden Nazi.
„Karl, — hier, — der hat geschossen!"
Dieser kam nun herbeigestürzt. Eine Serie Hiebe, und der Nazi sackte wie leblos weg. Fritz griff ihm in die Tasche und holte einen Revolver hervor.
„Polizei!" rief einer der Genossen.
„Die Linienstraße rauf zur Rosenhofstraße!" schrie Fritz.
Sie stoben davon. Alle sechs rannten sie in die Marienstraße hinein.
„Alle beisammen!" rief Pohl Fritz zu.
Dieser musste im Laufen lachen. Neben ihm lief der kleine Ewald* Das eine Auge war so blau geschlagen, dass man in der Dunkelheit den schwarzen Fleck sehen konnte. Der Ewald lachte zurück und rief: „Sie haben’s zurückbekommen!"
„Und saftig!" ergänzte lächelnd der Schauermann,
An der Ecke der Rosenhofstraße hielten sie. Polizisten waren nicht zu sehen.
„Nun geht jeder sofort nach Hause!" bestimmte Fritz. „Aber sofort!" betonte er noch einmal.
Sie gingen nun nach allen Richtungen mit vollkommen ruhigen Schritten ihren Weg weiter. Karl Pohl und Fritz gingen in die Rosenhof-Terrasse, setzten sich in den Hauseingang, wo Else wohnte und warteten auf sie; denn in der Wohnung war sie nicht.
„Wo ist das Mädel bloß hingelaufen!" murmelte Pohl und nahm Binder und Kragen, die ihm in Fetzen am Halse hingen, ab.
„Möcht' ich auch wissen!" antwortete Fritz, dessen Lippe aufgeschlagen war und heftig blutete. Er nahm sie in den Mund und bearbeitete sie mit der Zunge. Ihm schmerzten außerdem noch der Unterarm und die eine Schulterseite. Aber er sagte nichts.
Eine ganze Weile saßen sie schweigend beieinander.
„Kafka wird künftig einen großen Bogen um diese Terrasse machen!" knirschte Pohl vor sich hin.
„Ob der Student auch dabei war?"
Da kam Else in die Terrasse herein.
„Wo steckst Du bloß?" fuhr Fritz sie an.
Else antwortete nicht auf die Frage. „Zwei haben sie in die Wache geschleppt!" flüsterte sie. „Der Kafka ist einer davon!"
„Na, — und?" fragte Fritz.
„Die konnten nicht mehr auf den Beinen stehn!"
„Das haben wir auch gesehn!" lachte Pohl leise. „Die Hauptsache ist, es klebt kein Plakat mehr, und sie haben obendrein noch einen Denkzettel erhalten!"
Er verabschiedete sich nun von den Beiden. Es musste schon nach zwei Uhr sein. — — —
„Wo warst Du aber seit dem Zusammenstoß?" fragte Fritz noch einmal.
„Ich bin zur Polizei gelaufen!"
„Wa-as?" Fritz war ganz entsetzt. „Bist Du verrückt?"
„Die Nazis haben Euch doch überfallen!"
„Du weißt aber doch ganz genau, die Sache mag stehen wie sie will, immer nur wir Kommunisten, niemals die Nazis werden bestraft!"
„Die haben aber doch geschossen!" stammelte Else entschuldigend.
„Richtig!" Fritz erinnerte sich plötzlich daran. „Hier!" Er reichte ihr den Revolver, den er dem Nazi abgenommen hatte.
„Was soll ich damit.?"
„Nimm ihn mit zu Dir und verstecke ihn, falls sie mich erkannt haben sollten und bei mir Haussuchung veranstalten."
„Es wurde aber doch geschossen, Fritz!"
„Ja, hiermit!" antwortete Fritz und nahm die Patronenhülse heraus. „Sieh', eine Patrone fehlt!"
„Ist einer getroffen?"
„Nein!" —
„Aber Du blutest ja!"
„Nicht gefährlich! Nur an der Lippe etwas!"
„Das kann aber gefährlich werden. Komm mit zu uns rauf, dann sehe ich es mir richtig an!"
„Aber Dein Vater, Else!"
„Ach was, der schläft!" —
„Das war eine richtige Schlacht!" flüsterte Fritz leise, als sie die Treppen hinaufstiegen.
„Ja", flüsterte Else zurück, „und wir haben gesiegt!"
„Auf einer kleinen Bank im Park, da saßen wir beim Mondenschein, Es flüsterte der... ."
Hier brach der Gesang der Trudel Merker ab, denn es hatte geklopft.
„Wir möchten Fräulein Gertrud Merker sprechen!" Zwei Herren standen an der Tür. Trudel wusste keine Erklärung dafür, aber ihr War seltsam bedrückt zumute.
„Bitte, treten Sie ein! — — Ich bin Gertrud Merker!"
Der eine der Herren verbeugte sich leicht und sagte: „Kriminalpolizei!"
Trudel war es, als ob sie an allen Gliedern mit Nadelstichen bearbeitet würde. Sie beherrschte sich aber mühsam und fragte: „Wieso bitte?"
„Sie haben sich von einer Frau Hintz, Marienstraße 16, ein Kind abtreiben lassen!"
Trudel fühlte, wie sich alles vor ihren Augen zu drehen begann. Ruhig bleiben, rief es aber in ihr. Nur ruhig bleiben, nur den Kopf nicht verlieren. Dann gab sie sich einen Ruck: „Ich . . bitte Sie... das ist... nicht wahr!"
„Sie leugnen?"
„Ja! . . Ja!... Ja!"
„Ich will Ihnen folgendes sagen:" mischte sich der zweite Beamte mit wohlwollend freundlicher Stimme ein. „Wir haben Anordnung, Sie bei ungeklärter Sachlage zu verhaften; da wir aber soeben Frau Hintz verhaften mussten und eine Liste fanden, auf der auch Ihr Name stand, kommen wir nur, um von Ihnen zu erfahren, was die Frau Hintz von Ihnen dafür verlangt hat. Hat sie Ihre Notlage ausgenutzt?"
„Nein!" flüsterte Trudel und dachte damit Frau Hintz vor ungerechten Angriffen geschützt zu haben. Sie sah nicht, wie der sie ausfragende Beamte ein Auge zukniff und seinem Kollegen zublinkte.
„Was haben Sie denn zahlen müssen?"
Sag' nichts! Sag' nichts! rumorte wieder eine Stimme in ihr. Sie starrte den Kriminalbeamten an.
„Fünfzig Mark!" schrie sie dann plötzlich und fiel in Weinkrämpfe.
„Beruhigen Sie sich Fräulein!" trat der eine Beamte wieder an, sie heran. „Es passiert Ihnen nichts. Sie werden auch nicht verhaftet!"
Trudel weinte unaufhaltsam. Sie zitterte am ganzen Körper, „Nur noch Ihre Personalien! — Sie sind am 3. 6. 1910 geboren?"
Sie nickte.
„Wohnen Rosenhofstraße 3, Haus 3, bei den Eltern?"
„Wird mein Vater alles erfahren?" wimmerte Trudel.
„Ach was!" erklärte der Beamte, nur um sie zu beruhigen, „kein Mensch wird was erfahren!"
„So, nun unterschreiben Sie mal dieses! — — Hier!" —
Der Beamte hatte sein Notizbuch schon wieder eingesteckt und seinen Hut ergriffen, als sein Kollege fragte: „Wo hatten Sie denn eigentlich die 50 Mark her?"
Das war ein neuer Schlag für Trudel. Sie suchte und suchte und fand keinen Ausweg.
„Das Geld... !" Sag es nicht, sag es nicht! schrie es wieder in ihr. Was sollte sie sagen?
„Das Geld... habe ich mir geliehen!"
„So-o-o!" antwortete der Beamte, als wenn er es wohl vermutet, aber die Antwort doch nicht erwartet hätte.
„Von wem denn?"
„Muss ich das auch sagen?" fragte ihn Trudel unter Tränen.
„Sie müssen uns alles sagen!"
„Von dem Freund meiner Freundin!"
„So — von dem Freund ihrer Freundin!" wiederholte der Beamte und zog sein Notizbuch wieder hervor.
„Wie heißt der Freund Ihrer Freundin?"
„Fritz Burmestsr?"
„Und wohnt?"
„Rosenhofstraße 31."
„Der Freund ihrer Freundin wusste doch, wozu Sie das Geld brauchte?*'
„Nein!" schrie Trudel auf.
„Nicht?" fragte der Beamte erstaunt. „Aber doch ihre Freundin?"
„Keiner wusste davon! Keiner!"
..So!" sagte der Beamte nur noch. —
Als die Beiden gegangen waren, saß Trudel ratlos da. Unaufhaltsam rannen die Tränen über ihr Gesicht. Sie kam sich wie geprügelt vor. Wenn nun alle Leute davon erfuhren? Was würde Else sagen? Was würde das alles noch für Folgen haben? Abtreibung wird mit Gefängnis bestraft. Mit Gefängnis! Wenn sie nun ins Gefängnis käme? Verzweifelt und voll Angst rannte sie in der Wohnung herum. Was sollte sie nur tun? Die Eltern durften nichts erfahren. Nichts! Keiner durfte etwas merken. Keiner! Zur Else Langfeld! Ja, sie wollte rüber zur Else.-----------
„Machen wir erst Meldung, oder nehmen wir die Hintz gleich fest?" fragte der eine Beamte seinen Kollegen, als sie durch die Terrasse gingen.
„Wir nehmen sie lieber gleich fest!" entschied der andere. |
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