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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Heimat, Land meiner Arbeit, meines Glücks!

Da standen nun die Häuser wie an einer Schnur aneinandergereiht. Sie boten meist gerade Raum für eine Familie, waren aber auch Doppelhäuser, zusammen und größere, in denen mehrere Familien wohnten. Auch ein schmuckes Verwaltungsgebäude war hingesetzt an einer Straßenkrümmung, die zu einem Platz erweitert war. Von dort aus liefen die Reihen der Häuser strahlenförmig auseinander. Jedes Haus hatte seinen kleinen Garten. Einige, wenn auch kümmerliche Obstbäume standen darin, Raum war genug für Gemüsebeete, eine Sommerlaube und ein kleines Stallgebäude. Die meisten hatten Kaninchen, einige auch eine Ziege. Einige hielten auch Hühner, für die sie vom Hof ein Stück abgetrennt hatten. Die Kolonie war nicht alllzuweit von der Stadt. Nach den ersten größeren Fabrikvororten lief ein guter Fußgänger kaum mehr als eine Stunde. Der größte Teil der Bewohner musste jedoch die Bahn benutzen, um in die Stadt zu kommen. Denn diese Vororte lagen für sich selbst noch weit draußen vor der Stadt. Wald lag dazwischen und Seen, schöne Landschaft, wie man sagt, in die sich überall die Industriekultur hineingefressen hatte. Der Wald stand mehr künstlich und starb schon seit Jahren ab. Um die Siedlung selbst war flaches Land. Im weiteren Umkreis zu beiden Seiten der Bahnstrecke waren noch mehr solche Siedlungen. Der Staat hatte sich ihrer nicht angenommen. Zum Teil von Bauunternehmern errichtet, die mithalfen, dem Großgrundbesitz, dem die Stadt zu eng auf den Hals gerückt war, ihre Grundstücke mit weniger ertragreichem Boden zu teuren Preisen unter die Leute zu bringen, zum Teil aber auch hervorgegangen aus der Bewegung unter der städtischen Arbeiterschaft nach Licht und Luft als Arbeiter-Baugenossenschaften. Immerhin hatte sich auch dieser die eigentliche Bauspekulation bemächtigt, die nötigen Vorschüsse gegeben, und den Bau selbst auf Kredit ausgeführt. Man schloss damit das Gelände auf, die Grundstücke, die nur in Pacht gegeben wurden, stiegen schnell im Wert. Es war für die Bauspekulanten eine nicht unvorteilhafte Kapitalsanlage. Die hundert bis zweihundert Familien boten immerhin eine beträchtliche Sicherheit als Ganzes für den Zins, bis die kommen würde, das so hochgeschraubte Gelände besser zu verwerten und der Genossenschaft dann die Gurgel zuzudrücken. Damit man noch überdies dann dabei etwas herausholen konnte, drängte man den Baugenossen tunlichst ihre Ersparnisse als Einlage ab. Kapital bleibt Kapital, auch wenn es sich in Arbeiterwohlfahrt betätigt, und unter einem kapitalistischen Staat ist der Arbeiter bei bestem Willen, wie auch immer die Organisation sein mag, nicht imstande, sich gegenüber dem Großkapital, das nicht nur den Grundbesitz, sondern den Staat selbst beherrscht, zu behaupten. Es duldet ihn mit seinen paar Pfennigen als Anteil eben nur so lange, wie es sein kapitalistisches Interesse erfordert. Man kann sich vorstellen, dass die Einsichtigen, die nachzudenken gelernt hatten, in so einer Siedlung letzten Endes doch saßen wie auf einem Pulverfasse. Licht und Luft allein macht den Menschen nicht glücklich. Trotzdem sie von den Kameraden, die noch inmitten der Steinmauern im Ungeziefer saßen in den düsteren stinkenden Hinterhäusern, wo die Luft klebrig und stickig war, in Räumen, die schwarz und feucht dazu geschaffen schienen, jeden Wunsch nach menschlichem Dasein von vornherein zu unterdrücken. Trotzdem sie mit Eifer bei der Gartenarbeit waren, bei der Kleintierzucht, die allerdings mehr den Kindern Vergnügen machten als von wirklichem Nutzen für den Haushalt waren, und boshafte Zungen behaupteten nicht mit Unrecht, was der Stadtbewohner an Kino, Schnaps und anderen Kulturdingen verbringt, also nicht nutzlos, sagt man, das gibt der Siedler den Hühnern zu fressen. Wie es auch sein mag, man freut sich, wenn einem was zuwächst, was man zudem erarbeitet hat, und man bekommt eine Ahnung, wie schön das Leben sein könnte, wenn es anders wär. Unter solchen äußerlichen Erwähnungen muss man das Leben der Siedler betrachten. Obwohl die Häuser kaum ein paar Jahre standen, wohnten da etwa nicht mehr die Leute, die als erste Gründer mit eingezogen waren. Viele waren schon zugrunde gegangen, hatten die Arbeit verloren und mussten überhaupt aus der Gegend weg, Familien hatten sich aus dem oder jenem Grunde aufgelöst und die Wohnung aufgegeben, wieder welche vermissten Kino und Schnaps-Gemütlichkeit, einige und nicht die wenigsten vertrugen sich nicht mit den Nachbarn und versuchten es wo anders. Die Bewohner wechselten schnell. So waren auch Merkels reingekommen.
Anna hatte sich vorgenommen auszuhalten. Ihr gefiel das Häuschen mit den drei Zimmern, in dem sie so bequem wohnten. Die Kinder gediehen, besonders dem Ältesten ging es merklich besser. Hans verdiente, dass sie davon leben konnten, umsomehr da Hans wenig für sich gebrauchte. Sie hatte das Nähen angefangen und brachte auch etwas zusammen. Es war sogar Aussicht, dass sie sich und die Kinder allein davon ernähren konnte. Eine Ziege stand im Stall, obwohl sie nicht recht vorwärts kam. Sie hatte keine Zeit, das Tier raus auf die Wiese zu führen. Den Nachbarkindern konnte Anna sie nicht anvertrauen. Es war sozusagen eine Gemeindewiese da, wo die Ziegen der Siedlung weideten. Die Kinder trieben allerhand Unsinn. Sie war noch zu fremd hier, und ihre Ziege würde man das entgelten lassen. Mit den Leuten kam Anna ja kaum zusammen. Hans hatte gar nicht nötig, sich mit ihnen zu streiten. Jeder ging doch seiner Wege. Sie bemerkte gar nicht, dass die Leute ihnen feindlich waren. Sie pflegte dann zu Hans zu sagen, das ist überall so, und in der Stadt, wo vier Parteien und noch mehr auf einem Flur wohnen, noch viel schlimmer. Um das, was sie alle anging, die Sachen und Nöte der Gemeinschaft bekümmerte sie sich gar nicht. Diejenigen, die da Streit aufbringen, sind immer dieselben, überall wird Hans solche treffen. Denen soll man am besten aus dem Wege gehen. Die Nachbarn sah man ja kaum. Außerdem lärmten auf der Wiese und oben am Berg immer die Kinder in großen Horden. Dort werden dann auch ihre Kinder mit spielen, später einmal, man sah doch, die Kinder vertrugen sich und mit den alten Leuten kommt es noch mit der Zeit. Oben am Berg, das war der Platz, von dem Anna am liebsten Ausschau hielt. Es war mehr ein Sandhügel, der mit ein paar Kiefern bestanden war. Aber dahinter flachte das Land ab, Heide und zwischendurch Ackerland. Man hatte den Eindruck, man sieht tief ins Land hinein. Waren die Äcker auch verwildert, die Heide kahl und ein Sandloch neben dem andern, im Hintergrund zog sich eine breite Landstraße, die längst verlassen von jedem Verkehr noch wie aus alten Zeiten erzählte, wo der reisende Handwerksbursche mit dem Ränzel auf dem Rücken nach der Stadt gewandert war und wieder zurück, aufs Land hinaus. Wie um das alles noch deutlicher zu machen, war ein Teil der Straße noch mit alten Kirschbäumen bestanden, so dass man sich immer wieder wunderte, dass die Besitzer nicht Angst hatten, die Kirschen würden gestohlen. Die meisten wussten eben nicht, dass die Bäume verwahrlost waren und kaum mehr trugen, und dass zwischen den Gemeinden, die heute längst Vorstädte waren, schon seit Jahren ein Streitverfahren schwebte, wem das Nutzrecht an dem Bäumen war. Für die Kinder aus der Siedlung, die mehr nach der Bahnstrecke zu sich hielten, war die Straße zu abgelegen. Es galt schon, obwohl nur wenige Minuten entfernt, mehr als Ausflug, und dahinter war auch weiter nichts als ringsum flaches Land und Heide. Ein größeres Bauerngehöft lag noch längs. Das Gutshaus, zu dem alle die Grundstücke einst gehört hatten und allmählich abgestoßen worden waren. Das Gut, wenn man davon noch sprechen konnte, war noch in Bewirtschaftung. Ein alter Hagestolz, sagte man, saß darauf mit einem alten Verwalter und einigem Gesinde. Aber niemand sah oder kannte die Leute. Sie hielten sich abseits und blieben ganz für sich. Es hieß, dass von auswärts Gutsarbeiter dort beschäftigt wurden. Die Äcker, so verwildert wie sie waren, konnten nur wenig Ertrag liefern. Der Alte hat sein Schäfchen im Trockenen, dachte man. Nie wäre jemandem eingefallen, dorthin zu gehen, um sich irgendwelche Produkte zu kaufen. Denn das stand fest, die hatten selber nichts. Aber es war schön, auf dem Berge zu stehen und in das Land hinaus zu sehen. Anna war nicht die einzige, die das herausgefunden hatte. Sie gingen alle mal gelegentlich durch den tiefen Sand die paar Schritte rauf und guckten. Außerdem gehörten die Kiefernstämme zur Genossenschaft.
Anna dachte manchmal, in den ersten Monaten, als der Jüngste noch ganz klein war und sie hinaufgegangen war, weil dort die Sonne so schön warm war und Kiefernduft in der Luft, das ist Heimat hier. Sie hatte das Gefühl, sie müsste sich dort festwurzeln, und alle ringsum mit ihr, denn sie gehörten doch zusammen, und sie sollten alles, Häuser und Gärten und Wiesen und Heide immer schöner machen, dass niemand mehr von ihr fortwolle. Dann würde eine alte Sehnsucht im Blut, die manchmal ganz lebendig wurde und stürmisch, wie sie sie früher nie gefühlt und gekannt, erfüllt werden. Aber die Männer sahen nicht danach aus, und bei den Frauen sah sie auch nicht viel davon. Und sie wusste, sie ist selbst nicht viel anders. Das war nicht das Glück. So konnte eine Heimat nicht aussehen. Die waren alle mürrisch und zänkisch und unzufrieden. Man musste denken, sie sind froh, seufzen zu können. Vielleicht hatten sie alle morgen keine Arbeit, dann saßen sie hier fest und konnten alles stehen und liegen lassen, was sie angefangen. Und wer soll den teuren Umzug bezahlen. Unter der Hand losschlagen konnte man hier draußen auch nichts. Und hier draußen gab es für Leute wie sie keine Arbeit. Das will alles so täglich hineingefressen sein. Da konnte kein Glück, geschweige denn etwas Ruhe, dass man sich mal umsehen konnte, wie man eigentlich lebt, ob man überhaupt lebt, aufkommen. Dann hieß es für Anna die Zähne zusammenbeißen, dass sie festblieb. Sonst wäre sie schon die ersten Monate weggelaufen. Das ist nicht so einfach mit der Heimat. Sie verstand die alten Menschen nicht und die Tiraden, die manchmal in den Büchern darüber standen. Aber jeder Strauch war ihr lieb und die Häuser und alles und auch die Menschen, wenn sie nur nicht so starr und unzugänglich sein würden.


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