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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Wer im Unglück lebt, lebt den Tag doppelt

Da saß oben am äußersten Wiesenrand Anna Merkel und dicke Tränen rannen ihr über die Backen. Der Anfall der Kleinen war vorüber. Sie bekam ihn jetzt so häufig. Sobald nur etwas nicht ganz nach ihrem Willen ging, und die Mutter konnte schon längst nichts mehr recht machen. Das Kind lag jetzt mit dem Kopf auf dem Schoß der Mutter. Der Atem ging noch schwer, wie tiefe Seufzer, aber gleichmäßig. Der kleine Körper zitterte noch heftig. Der Krampf war vorüber. Anna stand vor Augen, wie sie damals, als Paul erschossen worden war und sie das Kind in den letzten Monaten trug, gegen alle sich gebäumt und gewütet hatte. Gegen Paul, dass er sich überhaupt eingelassen. Gegen die Kameraden, die für Paul nicht zur Hilfe gewesen waren, die nichts taten, den Gefallenen zu rächen. Gegen die Soldaten, die Paul verwundet hatten, gegen die Regierung und die bürgerliche Gesellschaft — und nicht zuletzt gegen sich selbst. Und als das Kind schon in der Wiege lag, konnte sie sich nicht überwinden. Sie hatte es so hasserfüllt angesehen, dass sie manchmal über sich selbst erschrocken war, und hatte es geschüttelt, das hilflose Wurm, wenn es nicht ruhig sein wollte, als wollte sie es in der Tat erwürgen. Und dann wuchs es dennoch allen zum Trotz heran. Ihre Wut fiel zusammen in nichts. Sie wurde immer stiller, und auf einmal war alle Kraft weg. Das war zu der Zeit, als sie den Merkel genommen hatte. Und es war doch gut gewesen, dass Merkel bei ihr geblieben war. Jetzt war er fort. Wird anderwärts sein Glück versuchen. Es schmerzte sie, aber nicht über alle Maßen. Sie wird sich allein durchschlagen. Vielleicht kommt er später wieder — er wird es anderswo nicht besser finden. Das tröstete sie schnell. Sie wird wieder in die Fabrik gehen. Vielleicht nimmt die alte Mutter die Kinder so lange.
Und die dicken Tränen kamen unaufhörlich. Sie hörte kaum auf die Worte, die der Fremde da sprach. Nur war es ihr, als sähe er sie dann besonders an. Und es war auch etwas in ihrer Brust, das davon zerging und sich auflöste, ein Knäuel, der sich entwirrte und in Tränen zerlief. Es war nicht dieser bohrende wühlende Schmerz, der verzweifelt — es war mehr eine stille milde Hoffnungslosigkeit. Wie kann es bei uns anders sein, wir armen Menschen, im Unglück — und sie dachte nicht mehr an den Halt, an den sich jemand in solchem Falle noch klammern kann. Ihr Leben ist wie das Wässerchen, das dahinfließt und keine Spur weiter lassen wird. Und die Steine die auf dem Wege liegen, werden darin einst nicht mehr sein. Mehr dachte sie nicht. Und der Blick des Redners lastete auf ihr und ließ sie wimmern. Wie sie eben noch wieder einmal in der Verwaltung gewesen war, vielleicht dass sich ein Aufschub ermöglichen ließe. Aber der neue Verwalter, der noch gar keinen Überblick hatte und dem die sich häufenden Neuanmeldungen über den Kopf wuchsen, hatte das barsch abgelehnt. Sie hatte doch noch keine Wohnung, und wo sollte sie denn hin — aber der ließ es nicht gelten. Das Haus war ja längst vergeben. Er wurde ungeduldig, er könne doch auch nicht dafür. Und dann hatte Anna sich an ein paar Nachbarsleute gewandt. Ob sie nicht Fürsprache einlegen wollten. Es war nicht das erste Mal, dass sie darum gebeten hatte. Es war ihr halt immer wieder so, als ob sie noch nicht alles versucht hätte. Vielleicht wird jemand etwas tun, ein Wunder - so fühlte sie. Aber die hatten nur die Achseln gezuckt. Vielleicht hatten sie sogar eine boshafte hämische Redewendung auf der Zunge. Denn um die Merkel kann sich jetzt niemand kümmern. Aber Anna hatte doch einen Trost gefunden. Sie verstand besser, was sie sagen wollten. Sie hörte es aus sich selbst heraus und die Leute waren ja auch nicht böse zu ihr. Wenn sie nur reden hätten können, frei und ungezwungen aus dem Herzen, würden sie vielleicht gesagt haben: Für uns beide ist es besser, du gehst. Wir können es nicht ändern. Du bist hier nicht glücklich gewesen. Geh an einen andern Platz. Du wirst dort glücklicher sein. Und vergiss uns. Wir wollen dir nicht weh tun. Aber du siehst doch, wie es hier geht. Wir finden uns selbst nicht zurecht. Geh wo anders. - Und wenn Anna geschrieen hätte: Hier gerade bin ich glücklich, lasst mich hier - so hätten sie es nicht gehört. Unmöglich verstanden. Und auch Anna begann zu zweifeln, und es war, als ob die Tränen stehen blieben und sich besannen und dann schneller rollten.


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