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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Die Heimat der Armen

Zur gleichen Zeit ereigneten sich in der Stadt die Vorfälle, deren nächstfolgenden Wirkungen nach das Schicksal von Arbeitsfriede entschieden werden sollte. Alles war so überraschend, aber das Überraschende ist zumeist das Gute. Schon seit einigen Tagen spielten sich täglich vor dem städtischen Obdachlosenasyl stürmische Auftritte ab, namentlich in den Abendstunden, wenn das Asyl wegen Überfüllung geschlossen worden war, und viele Hunderte, die vergebens anklopften, wieder umkehren mussten. Viele schickten sich aber auch an, draußen auf der Straße, vor den geschlossenen Türen ihr Lager aufzuschlagen. Denn für diese fiel am Morgen noch eine warme Suppe mit ab. Die hielt für manchen den Tag über vor. Die Polizei musste dann mehrmals in der Nacht einschreiten und die Straße säubern. Die Bewohner der umliegenden Straßen und Häuser hatten sich so daran gewöhnt, dass diese Vorfälle, die häufig nicht ohne kleine Schießereien abgingen, kaum mehr ihre Aufmerksamkeit erregten. Niemand sah deswegen auch nur zum Fenster hinaus. Es war eben etwas Alltägliches.
An diesem Tage war ein größerer Trupp Schachtarbeiter, eine besonders zusammengestellte ausgesuchte Kolonne aus dem Westen, durch die Stadt durchgekommen, um mit noch anderen Kolonnen zusammen, die hier zusammentreffen sollten, weiter rauf nach Norden zu fahren, wo umfangreiche Neuschürfungen vorgenommen werden sollten. Die Arbeit war schwer, besonders wegen der damit verbundenen Strapazen, sie schliefen in Zelten oder halbverfallenen Bretterbuden und die Verpflegung war schlecht, da sie fortwährend von einem Ort zum andern wechselten, der Unternehmer selbst die Verpflegung nicht in die Hand nehmen wollte, und die Gegenden, zu denen sie kamen, durch Schleichhändler vollkommen ausgeplündert waren. Der Lohn ging nur für das Allernotwendigste bis auf den letzten Pfennig drauf, obwohl er an sich zahlenmäßig nicht zu gering war. Es waren Arbeitslose aus den Industriezentren, Leute ohne Familie und oft ohne feste Wohnung, die diese Arbeit angenommen hatten. So dachte der Kontrakt, denn die meisten verschwiegen, dass sie daheim Frau und Kinder noch beim menschenfreundlichen Kollegen, der zufällig besser dran war, untergebracht hatten — bis sich die Verhältnisse geändert und Wohnung und Arbeit an Ort gebracht hätten. Für diesen Trupp war schon vorher Quartier belegt worden, sodass sie ohne Schwierigkeit hineingekommen waren. Die ganze Nacht hindurch hatten sie den Lärm gehört. Die Schlafsäle waren gestopft voll und die Aufseher trieben — die zerlumpten und heruntergekommenen Menschen waren so entkräftet und verhungert, so verzweifelt und stumpf — die Wärter verstanden es doch, noch die letzten Bettelpfennige aus ihnen herauszupressen. Da gab es noch, wenn man überhaupt davon sprechen kann, geringe Bequemlichkeiten, die sie sich kauften, und wer gar nichts hatte, dem konnte es blühen, dass er zuguterletzt doch noch herausgeworfen wurde, wenn hintenrum noch zahlungskräftige Bekannte kamen. Die Stimmung in solchen Sälen ist von einer den Gesunden tief niederdrückenden Hoffnungslosigkeit. Sie pressen sich alle so aneinander, als müssten sie sich gemeinsam gegen die rohe Außenwelt schützen. Aus dem Flüstern der Hunderte, die mit einem vielmals gebrochenen, deswegen aber nicht weniger lebendigen Interesse nach den Wanderungen des Tages sich nähern und Erfahrungen austauschen, wird ein gleichmäßiges Summen, das durch Mark und Bein geht, das Blut vergiftet und in wilder Wut in die Stirn treibt und das dich mit einem Gefühl der Nutzlosigkeit und Ohnmacht umgibt, das dich auf der einen Seite aus- und unterhöhlt, auf der andern aber in dir Erbitterung anschwellen lässt, die nicht explodieren kann, ein eiserner Ring legt sich um dich, der wie Feuer an die Eingeweide brennt.
So lagen die Arbeiter und grübelten und ballten die Fäuste, die Brust presste sich zusammen, und sie konnten keinen Schlaf finden. Bald werden sie auch so sein, wie diese Unglücklichen, die sich nicht mehr wehren können, ausgemergelt und verbraucht, verdammt. Und als am Morgen nach der Suppe das große Ausräumen war, wie da die Leute, die noch zu entkräftet waren, sich richtig auf die Beine zu stellen, angepackt und mit einem Stoß auf die Straße geworfen wurden, da konnten die andern nicht mehr an sich halten. Der eine riss so einen Aufseher von seinem Opfer weg, dass dieser mit einem lauten Krach an die Wand schlug. Der pfiff zwar sofort, und von allen Seiten stürzten welche zu. Diesmal hatten sie aber andere Leute vor sich. Die Kolonne war gut sechzig Mann stark und sie waren alle wie ein Mann auf den Beinen, als ob sie sich verabredet hätten. Als das Personal nun sah, dass der Kampf sehr ungleich sein würde, verlegten sie sich aufs Schimpfen, mit solchen Landstreichern und Gesindel, denn was seien sie denn anders, würde man schon fertig werden und so. Es war schon soweit, dass der Trupp auf dem Hof stand und abrücken wollte, es fehlten noch ein paar Mann, da rief einer davon noch von drinnen im Saal. Über den waren jetzt die Wärter hergefallen und bearbeiteten ihn, dass er über und über blutete. Nun ging alles nochmals rein. Die Pförtner, die sich widersetzen wollten, wurden niedergeschlagen und die Kämpfenden hatten nicht genügend Zeit auseinander zugehen, da fielen schon die ersten Hiebe. Mit Schemeln und Eisenstangen, die sie von den Pritschen rissen, hieben sie aufeinander los. Bis die Polizei erschien. Aber die zwei Wachtmeister machten bald, dass sie davonkamen, nachdem dem einen, als er das Maul auftun wollte, der Helm über die Nase weg eingetrieben worden war. Der Lärm pflanzte sich über das ganze Straßenviertel fort. Ein dicker Knäuel Menschen ballte sich vor dem Eingang zum Asyl. Die Bettler, die Zerlumpten, die Tagediebe und Strauchritter, die Blinden, Lahmen und Krüppel, alle standen sie noch davor, fiebernd und doch zu schwach an Mut, sich mitten hineinzustürzen zwischen die Kämpfenden. Aber das Leben auf der Straße ging seinen gewöhnlichen Gang. Das kam schließlich mehr oder weniger alle Tage vor, die Leute, die ihrem Geschäft nachgingen, hasteten daran vorbei.
Bis schließlich eine Hundertschaft Militär erschien und den Straßenzug absperrte. Und im Laufschritt kam eine Abteilung auf das Asyl zu und drang ein. Eine andere machte ein Maschinengewehr schussfertig, an der nächsten Straßenkreuzung. Da wurde es drinnen ruhig. Es dauerte eine ganze Weile. An den Absperrungsposten begannen sich jetzt Leute zu sammeln. Dann kam ein Trupp Militär heraus, die in ihrer Mitte etwa zehn Arbeiter gefangen abführten. Sie marschierten nach dem nächsten Polizeibüro. Dann wälzte sich in nur geringem Abstand die Masse der übrigen hinterher. Den Kern bildeten die Kollegen aus der Kolonne. Sie schoben die andern vor sich her und drängten sie beiseite. Geh, Alter, sagte einer zu einem Blinden, dessen Schild über die Brust hin und her schaukelte und der wohl die Richtung verloren hatte, mach Platz, sonst verschwinden die da nach vorn — und er wollte ihn auf die Seite ziehen. Der Blinde aber blieb hartnäckig stehen und wollte nicht weichen. Nehmt mich nur mit, stammelte er, ich will’s denen schon erzählen, wie sie’s treiben da drinnen. Und sie fassten ihn rechts und links unterm Arm, er marschierte mit. Und hinter ihm her kam all das Volk, das in Elend war, und obwohl sie eher still waren und keiner laut rief oder schrie, war doch ein Brausen in der Straße von dem dumpfen Gemurmel, dass die Leute oben an die Fenster liefen. Es lag so eine ganz andere Stimmung in der Luft.
Die Festgenommenen wurden in das Revier geführt. Das Tor wurde geschlossen. Es war ein ziemlich breites und hohes Tor, eine Torwand, wie man sie bei Gefängnissen häufig findet. An der einen Seite war das Maschinengewehr wieder in Stellung gebracht. Auf der Straße selbst, auf dem Steig vor dem Haus blieb ein Doppelposten. Die Fenster des zur ebenen Erde gelegenen Büros wurden geöffnet und Soldaten schauten heraus. Mit drohenden Mienen und bereit, von der Waffe Gebrauch zu machen.
Es sollte ein Protokoll aufgenommen werden. Wärter waren auch mit drinnen. Kamen auch noch neue nachträglich hinzu. Von den andern draußen wurde niemand mehr eingelassen. Nun lasst nur, sagten die andern, vorläufig wollen wir doch erst mal abwarten, was es drinnen gibt.
Die Soldaten hatten einfach die ersten besten rausgegriffen und mitgehen heißen. Gewiss, wollten die das, denn sie waren ja im Recht. Das ging alles sehr schnell. Da sie ihnen gleich die Gewehrläufe vor die Nase gehalten hatten, wäre ja Widerstand unnütz gewesen, und Warnung auch. Das wird sich schnell klären.
Aber die draußen standen schon einige Stunden. Es rührte sich nichts. Und die Menge schwoll an.


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