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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Häuslicher Streit und seine guten Folgen

Merkel hatte in seinem Betriebe Krach gehabt. Die Galle war ihm übergelaufen. Dann fallen mit einem Schlage alle Rücksichten, vorher nie geahnte Gegensätze platzen mit aller Schärfe aufeinander, und die Kollegen im gleichen Arbeitsraum stehen sich fremder gegenüber, als hätten sie sich vorher nie gesehen. Der Grund war das Verhältnis zwischen Betriebsangestellten und Arbeiterschaft. Obwohl Merkel seiner ganzen Stellung und seiner Beschäftigung nach zu den Betriebsangestellten gezählt wurde, hatte er sich doch immer zu den Arbeitern gerechnet. Anlässlich einer Ausschusswahl fingen ein paar Kollegen an zu sticheln und darauf anzuspielen, dass Merkel sich schon seinen Posten in einer Arbeiterregierung ausgesucht habe.  Es bestand eigentlich keine direkte Missstimmung zwischen Arbeitern und kleinen Angestellten, doch blieben die letzteren immer in allen den ganzen Betrieb berührenden Fragen für sich und sie rümpften die Nase, wenn einer mit den Arbeitern auf vertraulichem Fuße stand, so wie in der Schule die Kinder auf den Streber aufpassen. Bei Merkel hatten sie es noch durchgehen lassen, weil sie ihn auch selbst mehr für einen Arbeiter hielten und ihn eigentlich nur duldeten. Merkel war das alles bisher ziemlich gleichgültig geblieben, bis sie ihn schließlich jetzt als einen der den Leuten zum Munde redet, ehrgeizig und eitel und weiß Gott noch alles hinstellen wollten. Schnell gab ein Wort das andre, und es hätte nicht viel gefehlt, dass sie sich in die Haare geraten wären, jetzt wüssten sie wenigstens, was der Merkel für Ansichten hatte, dachten die andern, und Merkel schwur sich, sobald als möglich den Kram hinzuwerfen, er könne nicht länger in dieser Gesellschaft sein. Es mag richtig sein, dass die beengte kleinbürgerliche Anschauungsweise, die so voller Autoritätsdusselei,  Neid, Übelwollen und Misstrauen unter manchen Schichten der Angestelltenschaft noch verbreiteter ist, wie unter den Arbeitern. Man findet sie aber auch dort, und alles Gerede von Kameradschaftlichkeit ist leerer Schwall, so lange die Leute nicht kameradschaftlich mit einander zu leben und handeln gelernt haben, und dazu braucht niemand erst die Staffage der großen sozialen Revolution, sondern kann das jede Stunde im Betrieb und zu Haus praktisch üben. Eiserner Zielwille und Selbsterziehung ist notwendig und Menschlichkeit. Merkel kam nicht grade in bester Stimmung heim, und fing gleich davon an, dass ihm die Arbeit jetzt dort gänzlich verleidet sei, dass er die Gegend überhaupt verlassen wolle, und dass es daher schließlich am besten sei, noch heute das Aufgeben der Wohnung drüben in der Verwaltung fertig zu machen, ehe die Genossenschaft erst neue Beschlüsse fasste, sonst könnte wer meinen, er wolle sich drücken. Dann wurde also der eingangs erwähnte Streit wieder fortgesetzt. Als auf das fortgesetzte Drängen, ob er denn schon etwas besseres habe, ob er denn überhaupt andere Arbeit habe, nur immer ein „wird sich finden" erfolgte, atmete Anna ordentlich erleichtert auf. So lange noch nichts entschieden war, hatte sie noch
Hoffnung, und sie kämpfte mit fanatischem Eifer für ihr Haus und ihre Kinder. Manche Einwände sah Hans auch ein, und er hörte es gar nicht ungern, sich überreden zu lassen, das ist manchmal ein wohliges Gefühl, wenn das, was man selbst sich nicht zu sagen getraut, einem der andere an den Kopf wirft, als zögere man noch. Oft war es schon so gegangen, wenn sie unter einander gestritten hatten, heute war es aber doch anders. Hans fürchtete sich einfach, offen herauszusprechen: Ich will fort, auf alle Fälle, ich halte es nicht mehr aus. Denn was konnte die Frau dafür, warum sollte sie darunter leiden — das war die einzige Frage, die er in seinem Kopfe herumwand; er fühlte ordentlich selbst, wie hart und verstockt er war. Es ist furchtbar, niemanden zu haben, mit dem man sich aussprechen kann, einen, der so ist wie du selbst, dem man ganz  frei gegenübersteht, ohne Misstrauen.  Der Kamerad. Alles musste berechnet werden, und alles war mit Schuld bedeckt. Zu der Frau wollte er nicht sprechen, wie ihm eigentlich ums Herz war. Ihm war nicht die Gnade geworden, die Frau als Kameraden zu empfinden. Irgend etwas war in ihm, das sich fortgesetzt vor ihr schämte. Das machte ihn manchmal doppelt böse, aber auch doppelt nachgiebig. Er wurde daran allmählich zu einem gutmütigen Menschen, der er ursprünglich sicherlich nicht war. Aber es behagte ihm und er sehnte sich manchmal, wenn auch uneingestanden, danach. Dann war er vergnügt, dass die Frau mit ihm machen konnte, was sie wollte. Und es machte ihm Spaß, und es war ihm warm ums Herz. Es war ein ewiges Hin und Her. Wer weiß, ob diesmal die Frau das Wetter noch abgewendet hätte, wenn nicht Besuch erschienen wäre. Das war an sich eine Seltenheit. Noch dazu zwei Leute, mit denen Hans so gut wie gar nicht zusammengekommen war. Sie drückten sich erst etwas verlegen herum, und Anna nahm sogleich die Gelegenheit wahr, davon zu sprechen, dass Hans fort wolle und wie unsinnig das in dieser Zeit sei. Das war den beiden andern ganz willkommen, darin mit einzustimmen und die Sache als wohl nicht so ernsthaft gemeint hinzustellen. Er wäre zwar nicht so recht warm geworden hier, aber das könne doch noch kein Grund sein, und überdies wäre doch bloß ein guter Wille von beiden Seiten nötig und das ließe sich schnell ändern. Hans war im Grunde genommen froh, etwas zu haben, woran er sich klammern konnte. Und die Sache wurde schließlich wieder vergessen. Die beiden aber wollten überhaupt nur mal hören, ob sich mit Hans würde zusammen arbeiten lassen. Denn sie hatten einen noch dumpfen Plan vor sich, hier im Ort Arbeit anzufangen, und soviel hatten sie schon raus, der Merkel verstand sich auf alles, vielleicht kann er einen guten Rat geben. Während sie am ersten Tage noch sehr allgemein um den Zweck herumredeten, wurden sie, als sie nach ein paar Tagen wieder wie zufällig vorsprachen, schon deutlicher, und schließlich kamen sie ein anderes Mal mit dem ganzen Plan raus, nachdem sie gesehen hatten, dass Merkel schon vorher großes Interesse dafür gezeigt und schon, ohne zu wissen was, gut geraten hatte. Sie wollten nämlich an der Station eine ehemals für leichte Reparaturen benutzte Werkstatt, die jetzt von  der  Bahnverwaltung unbenutzt stand, weil  auch die Werkstätten in den Vororten zu einer zentralen in der Stadt zusammengelegt waren - diese Bude wollten sie übernehmen, pachten, wenn es ging, und es war anzunehmen, dass es sehr billig zu bekommen war, und wollten dann sehen, noch mehr in der Genossenschaft dafür zu interessieren, sodass sie vielleicht einen eigenen Betrieb aufmachen könnten. Vorläufig wollten sie jeden Abend noch eine Stunde und Sonntags dort arbeiten. Sie dachten, da gibt es in den Kolonien genug Wirtschaftsgeräte auszubessern, vielleicht konnten sie auch Maschinen fürs Land weiter unten reparieren, vor allem aber sich selbst bessere Werkzeuge schaffen, um auch wirklich mit der gemeinsamen Arbeit was vorwärts zu bringen. Hans fasste die Sache sogleich anders an. Er schlug ihnen vor, und er setzte es auch durch, ein Rundschreiben in den drei Kolonien zu verbreiten und die Errichtung der Gemeinschaftswerkstatt vorzuschlagen. Dafür sollte jeder einen bestimmten Betrag als Anteil zeichnen, der in Raten eingezogen werden kann. Die arbeitenden Mitglieder wählen einen Ausschuss, der die Arbeitszeiten regelt,  die Arbeit verteilt und die Verwaltung der Werkstätte in den Händen hat. Zunächst wollten sie mit dem anfangen, was sie hatten. So klein es eben ging. Und allmählich erst die andern, einen nach dem andern hinzuziehen, wie man jeden in seinem Fach verwendete, und dann sich ausdehnen, dass für jeden eine Arbeit war. So dachten sie sich das. Merkel nahm die Sache eifrig in die Hand. Der Aufruf wurde sehr beifällig aufgenommen. Es fanden sich die ersten zehn Mann, die sofort anfangen wollten, zu arbeiten. Neue Pläne werden lebendig
Die Sache mit der Werkstatt wurde wirklich richtig angefasst, und ehe die Vorstände noch eigentlich Zeit gehabt hatten, sich damit zu befassen und die üblichen Bedenken laut werden zu lassen, stand schon alles fix und fertig. Die meisten brachten zudem ihr Handwerkzeug gleich selber mit. Es war Spaß zu sehen, wie gut die Arbeitenden sich hineinfanden, wie glatt die Arbeit von statten ging, und wie jeder eiferte, hinter dem andern nicht zurückzustehen. Die Werkstätte hatte es gar nicht nötig, jene Zeit zu überwinden, in der man spöttelt und kritisiert und sich mehr mit Gewalt von den Vorteilen einer Sache überzeugen lässt. Es brauchte niemand getrieben zu werden, und die wenigen, die schon die riesenhaften Erweiterungen im Kopf hatten, hielten diese zukunftsfrohen Phantasien wohlweislich für sich. Der Gang der Revolution hat den Arbeiter gewitzigt und in die Wirklichkeit gestellt. Dort wankt er nicht mehr.
Aber ein anderer Mann trat auf, der sich bisher gleichfalls scheu im Hintergrund gehalten hatte. Er war eigentlich auch erst durch die letzten Ereignisse mehr in den Kreis hineingezogen worden. Es ergibt sich eben dann leichter die Möglichkeit, mit den Nachbarn in ein Gespräch zu kommen, man spricht auf dem Wege zur Bahn zu einander und bald sieht man sich mit andern Augen an. Es war ein studierter Mann, der den Titel Doktor hatte, und der irgendwo in einem wissenschaftlichen Betriebe arbeitete. Dass er überhaupt in die Kolonie hineingekommen war, verdankte er dem Kaufmann, der ihn untergeschoben hatte. Er kannte den indessen nur beruflich von den Siedlungsbestrebungen her, so dass er völlig ohne Verkehr im Ort war. Er lebte mit Frau und zwei Kindern, die gleichfalls niemand kannte. Dieser Mann kam im Gespräch mit den andern über die Gefahr vertrieben zu werden auf den Gedanken, alle Wochen eine Zusammenkunft einzurichten, in der über literarische,  künstlerische und wissenschaftliche Fragen gesprochen werden könnte, so eine Art Bildungskursus, und er erklärte sich gern bereit, da mitzuhelfen. Die Leute nahmen den Vorschlag natürlich gern an, und jeder wollte auch dafür
sorgen, dass der andere kommt, aber es blieb alles so unsicher, und der Doktor wusste nicht recht, ob er jetzt einladen sollte, oder wen damit betrauen. Der Bewohnerausschuss stimmte ja zu, unternahm aber nichts — kurz, der Doktor war etwas betreten und verlegen und auch wohl ein bisschen ängstlich, so leicht lassen sich die Klassenunterschiede nicht verwischen. Bis einer mit dem Vorschlage herauskam, sie wollten sich erst untereinander klar werden, was sie da eigentlich lernen wollten, dann würden sie ihn dazu holen. Der Doktor war darüber sehr froh. Er hörte heraus, dass die Verbindungsmöglichkeit gefunden war, und er wuchs schneller in ihre Gemeinschaft hinein, als er anfangs selbst gedacht hatte. Er gestand sich ein, dass er bisher nur den dumpfen Wunsch gehabt hatte, im Volke zu leben und mit ihm verbunden zu sein, dass er sich aber gar keine praktische Mühe gegeben hatte, diesen Wunsch auch zu verwirklichen. Es waren tausend Kleinigkeiten dazwischen gekommen, und von dem und jenem hatte er sich abgestoßen und auch zurückgesetzt gefühlt. Weil er wohl doch nicht den Wunsch hatte, ganz offen zu sein. Im Innersten seines Wesens erkannte er die gleiche menschliche Linie mit den andern doch nicht an, aber ein anderes wiederum drängte ihn dazu und er kam weiter. Dass er diese ersten Hemmungen ernstlich bekämpfen und unterdrücken müsse, sah er ein, wenn er vor sich selbst nicht als erbärmlicher schwächlicher Lügner dastehen wolle. Nun aber gerade machte die andere Seite ihm Schwierigkeiten, und er begann jetzt endlich zu begreifen, dass diese Schwierigkeiten sein eigenes täppisches Verhalten waren. Wer wie eine Schnecke in seinem Haus sitzt, den beobachtet man bestenfalls nicht weiter. Oder man wartet, bis er von selber kommt und laufen gelernt hat.
Mit dem, was man wollte, kam man nun sehr schnell überein. Sie wollten hauptsächlich eine Arbeitsschule einrichten und dort technische Kenntnisse lernen. Man wollte dort begreifen lernen, was man täglich arbeitete, die Methoden vergleichen und die Mittel, diese Arbeit weniger schwerfällig und anstrengend zu machen. Der Kopf soll doch wenigstens frei bleiben, sagten manche. Wenn ich heim komme, brummt mir der Schädel derart, dass ich mich am liebsten gleich niederlege. Aber andere wollten auch über die Geschichte der wirtschaftlichen Verhältnisse selbst etwas wissen. Die Partei veranstaltete manchmal ähnliche Kurse, aber die kam nicht hier raus, und dann hatte der Doktor noch ausdrücklich gesagt, er wollte keine Politik hineinbringen, er selbst stehe jeder Politik fern. Das hatten sie zuerst auch ganz richtig gefunden. Dann aber war darin doch ein Haken, denn die Arbeiterschaft aufklären, ist ja für sich allein schon Politik, und sie fühlten ihm noch einmal gründlich auf den Zahn, was er damit meine. Sie fanden aber keinen Grund zum Misstrauen, doch nahm sich jeder vor, die erste Gelegenheit zu benutzen und dem Doktor das noch auszutreiben. Farbe müsste er schon bekennen, hieß es. Schließlich wurden der Wünsche und Pläne so viele, dass ein großes weitverzweigtes Bildungsinstitut notwendig gewesen wäre, sie alle zu erfüllen. Doch man fing ernstlich an. Der Doktor hatte jetzt einen Plan entworfen, der allgemeine Billigung fand. Danach gliederte sich nun die Arbeitsschule, die eine Anzahl Genossen aus eigenem errichteten, in eine Reihe besonderer technischer und wissenschaftlicher Kurse. Ein bestimmter Lehrplan wurde aufgestellt, der zwei Abende der Woche beschlagnahmte. Die Leitung des Ganzen wurde dem Doktor übertragen, der für die anderen Lehrkurse Sorge zu tragen hatte. Die Teilnehmer der Kurse setzten je einen besonderen Ausschuss aus ihrer Mitte in die Verwaltung ein. Die Oberaufsicht über das Ganze wurde dem Bewohnerausschuss übertragen, der alles billigte und jetzt Interesse für die Sache gewann. Die Verwaltungsräume wurden zur Verfügung gestellt und für die praktischen Arbeiten ein alter Bauschuppen, der noch stehen geblieben war. Das dort noch lagernde Material wurde an die Mitglieder zur Einlagerung in die Keller verteilt. Es ging vorwärts. Der Doktor ließ sich nicht müde werden, eifrig dafür zu arbeiten. Was zuerst noch unverständlich blieb oder zu schnell ging, wurde immer wieder gefragt, und der Doktor lernte Geduld, immer wieder zu antworten. Die beiden Nachbarsiedlungen kamen von selber. Auf vieles Drängen musste der Doktor einen gleichen Kursus in Freudenthal halten, die Waldheimer kamen nach Arbeitsfriede. Die Vorstände dieser Kolonien waren sich schlüssig geworden, falls man ein Heim bauen wollte, einen Kostenbeitrag dazu zu leisten. Es wurde überhaupt angeregt, bei der Gemeinde im Anschluss daran eine Schule auch für die Kleinen durchzusetzen. Arbeitsfriede lag dafür am günstigsten. So könnte alles unter einen Hutgebracht werden.
Dem Doktor schwindelte vor allen diesen Plänen, die aus dem Boden schossen. Aber er hatte die große Genugtuung, mitzuempfinden, wie leicht und inhaltreich doch sein Leben geworden war.


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