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Friedrich Wolf - Cyankali (§ 218) (1929)
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VII.

Küche von Mutter Fent. Es ist Abend. Der Kuckuck und Frau Klee sitzen am Tisch und brocken stumpf vor sich hin Brotrinden in ihre Kaffeetassen; der Kuckuck liest dazu aus einem Zeitungsfetzen. Mutter Fent schafft am Ofen und wischt auf.
Kuckuck lesend, vor sich hin: Wird noch 'ne Weltberühmtheit der Paul, alle Nasen lang steht was drin von ihm ... jetzt, wo sie ihn liquidiert und auf Nummero Sicher haben, jetzt kommt erst das ganze Register zum Vorschein; hat vor seiner Verhaftung noch 'nen Kriminal durch 'nen Kopfschuss umgelegt ...
Frau Klee singt:
Im Rüdesheimer Schloss steht eine Linde,
Der Frühlingswind zieht durch die Blätter grün,
Ein Herz ...
Oh, ihr lieben Arschwedel, wenn nur einer von euch
Viertel so wäre wie der Paul! Kuckuck mit Blick auf Mutter Fent: Pst!
Frau Klee: Ach was, irgendwo muss die Seele doch Luft haben!
Kuckuck beginnt, um abzulenken, zu singen:
Der Heizer Christian Schulze, sonst ein rechtlicher Mann Eines Tages er zu seiner Arbeitsstelle kam: Betriebseinschränkung! Er ward nochmals entlohnt, Dann stand er auf der Straße ...
Bricht ab, verlegenes Schweigen.
Frau Klee: Übrigens fangen sie drunten wieder an zu arbeiten; halbe Schicht! Gut sortiert!
Mutter Fent plötzlich: Hast du sie gesehn?
Frau Klee: Ich, nee; aber der Maxe sagt, sie sei wieder im Viertel.
Kuckuck: Wo soll sie auch hin, wenn sie nicht ...
Mutter Fent: Ins Wasser geht.
Frau Klee: Mecker nicht, Mutter; heut früh hat der
Kuckuck sie doch noch hier am Haus gesehn.
Mutter Fent packt ihn: Wo?
Kuckuck: Die rannte, wie sie mich sah ...
Max, ziemlich elend, von links.
Max: Die Saubande fängt wieder an zu schaffen mit 'ner
halben Amnestie!
Frau Klee: Und du?
Max: Meinste, die mit dem Paul waren, die lassen sie wieder ran? Hete stand drüben auf der Straße; aber wie ich zu ihr wollte, weg war sie!
Mutter Fent: Die wartet grad auf dich! Will nach links.
Prosnik tritt ein; er scheint sehr guter Laune, jovial, mustert in Ruhe die vier.
Prosnik: 'n Abend! Wieder Volksversammlung! Auf Max: Sogar alte Bekannte?
Max mit gekreuzten Händen: Bitte abführen, Herr Spitzel!
Prosnik: Kein Interesse an Kleinvieh. - Der Genosse Paul hat seine Laufbahn ja konsequent fortgesetzt, sich zu 'nem richtigen Knallheinrich entwickelt, brummt jetzt die nächsten Jahre im Kasten.
Max: Und Sie Arsch mit Ohren, Sie knistern die nächsten Tage vielleicht im Sarge! Mahlzeit! Schnell ab.
Prosnik: Letzte Zuckungen! - Es gibt wieder Arbeit, Minna, was! Der Konsum macht wieder auf! Die „Rote Fahne" erscheint wieder, Kuckuck!
Kuckuck vor ihm: Darf ich mir gestatten, dem Herr Verwalter ein Exemplar gratis und franko zu überreichen? Ab.
Frau Klee: Warte, Kuckuck, ich komme mit. Ihm nach.
Prosnik steht unentschlossen da; Mutter Fent räumt auf. Schweigen.
Prosnik: Haben Sie was von ihr gehört?
Mutter Fent: Ach was.
Prosnik: Ist Ihnen das gleich?
Mutter Fent: Lassen Sie mich in Frieden!
Prosnik: Wir hätten sie halten sollen.
Mutter Fent: Möcht wissen, wie? Prosnik : Sie haben sie geohrfeigt. Sie sprachen von Schande. Ich wollte sie zu mir nehmen. Langsam ab.
Mutter Fent setzt sich erschöpft auf einen Schemel. Sie ruht so eine Weile, dann horcht sie, steht auf, geht an den Tisch, räumt ab. - Hete tritt leise von rechts ein. Mutter Fent dreht sich um, steht einen Augenblick starr, fängt dann wieder an, den Tisch abzuwischen.
Hete: 'n Abend, Mutter. Mutter Fent reinigt den Tisch. Hete: Möcht mich setzen. Mutter Fent wischt immer noch, schiebt mit dem Fuß einen Schemel hin.
Hete: Den ganzen Abend hab ich draußen gewartet ... Mutter Fent schweigt. Hete: Ich wollt dich noch mal sehn. Mutter Fent hat ihr Kaffee eingegossen und hingestellt. Hete nimmt fast ungläubig die Kaffeetasse, stellt sie wieder nieder,
spricht dann vor sich hin: Die andern sind ja alle weg, nicht
wahr ..., da wollt ich noch mal zu dir ... Mutter Fent stellt die Tasse auf eine Untertasse. Hete: Weil du mir doch noch 'n Wort vielleicht sagen
konntest ..., ach, bin ich durstig, so heiß ist mir ... so den
ganzen Tag ... Sie trinkt gierig. So durstig ... Setzt die Tasse
hin; dann: Wie geht's auch den Kindern? Mutter Fent: Gut. Hete: Und dir?
Mutter Fent ohne sie anzusehen: Gut.
Hete steht auf, wartet auf Mutter Fent, die arbeitet und an ihr vorübergeht, als wäre sie Luft; dann: 'n Abend, Mutter. Geht nach links.
Mutter Fent packt sie plötzlich, reißt sie zu sich, presst Hetes Kopf an ihre Brust: Nicht wieder weggehn, Hete! Nicht wieder gehn! Wo warst du? Wohin willst du, Kind? Weshalb hab ich dich gehen lassen! Wie siehst du denn aus, Hete! Wer hat dir was getan, Du!?
Hete scheint plötzlich ganz müde.
Mutter Fent : Setz dich, Kind, du bist ja ganz schwach ...
du hast Hunger, nicht wahr ... komm, hier ist was Brot!
Nimm, iss, du musst jetzt zu Kraft kommen, du musst
essen, Kind! Hete: Lass, Mutter, ich muss ja alles brechen. Mutter Fent hat ihre Hände gefasst: Wie heiß du bist, Kind;
du musst mir gleich ins Bett, das ist ja Fieber! Hete nickt.
Mutter Fent: Das kommt vom späten Draußenstehn, wenn man sich erkältet ... 'ne Grippe, 'ne richtige ... Grippe.
Hete sieht sie an.
Mutter Fent begreift plötzlich: Daher? Hete leise: Ja.
Mutter Fent: Kind, wer hat dir was getan?
Hete an sie geklammert: Mutter! Mutter! Ich muss sterben,
Mutter ... niemand hilft mir, Mutter ... das Fieber ist
schon in meinem Bauch, Mutter!! Mutter Fent hart: Red kein Blech, Hete! Erschrocken.
Ruhig, Hete, ganz still, Du! Ich rufe den Doktor. Hete: Bist du verrückt, Mutter!? Bleib!! Der bringt uns
doch ins Zuchthaus!! Mutter Fent: Du hast es gemacht? Hete nickt.
Mutter Fent: Ist es fort?
Hete: Nein, Mutter; ich konnt's doch nicht allein, keiner half mir; jetzt bin ich krank, Mutter, weil ich's nicht richtig wusste ... Außer sich. Ich hab mir was getan, Mutter, und jetzt hab ich das Fieber im Leib, Mutter, das Fieber, und dazu noch das tote Kind!!
Mutter Fent will hinaus.
Hete: Wohin?
Mutter Fent: Der Arzt muss her!
Hete: Der hilft nicht! Ich weiß es doch!
Mutter Fent: Aber es muss doch einer helfen!!
Hete umfasst sie: Du, Mutter ... du musst mir helfen ... still, Mutter! Hier ... das kleine Fläschchen, das gab mir die Frau, und davon bloß fünf Tropfen, siehst du ... Holt es hervor. So 'n Fläschchen, siehst du!
Mutter Fent: Das soll's schaffen?
Hete leise: Cyankali.
Mutter Fent: Das klingt ja wie Gift?
Hete: Wenn man zuviel davon nimmt. Aber fünf Tropfen bloß, das macht dann nur Krämpfe; dann kommt's ... und dann ist's vorüber, die Angst, Mutter, die schreckliche Angst, das muss doch mal vorüber sein ... wo's vielleicht schon tot ist! Packt sie. Mutter! Nimmt den Pfropfen ab. Du gibst mir's, Mutter, du schickst mich nicht fort, Mutter, du bleibst bei mir, wenn's mir Krämpfe macht ...
Mutter Fent: Aber wenn es Gift ist?!
Hete verzweifelt: Es hilft, es hilft, Mutter!!
Mutter Fent: Still, Kind; du hast Fieber, Kind! Sei einmal still, hör einmal her, du ... deine Mutter will dir helfen, hilft dir, lass sie erst zu Atem kommen ... du bist doch mein Kind! Zieht einen Schemel heran, setzt sich. Du willst jetzt, dass deine Mutter dir zu trinken gibt, das willst du jetzt?
Hete nickt.
Mutter Fent: Und wenn du Schmerzen hast, so willst du
dass deine Mutter dann bei dir bleibt? Hete nickt.
Mutter Fent ist aufgestanden und hat ein Glas mit Wasser gefüllt: Und da soll das jetzt herein? Und dann wirst du's trinken und ganz ruhig sein, Hete, ganz ruhig. - Wie viel, Hete?
Hete gibt einige Tropfen hinein, zögert: Dass es auch ja hilft! Gibt noch mehrere Tropfen hinzu.
Beide sitzen dicht nebeneinander auf ihren zwei Schemeln, ganz vorne. Mutter Fent hält das Glas. Hete schaut in großer Angst vor sich hin.
Mutter Fent hat Hetes Kopf an ihre Schulter gezogen: Ruhig, Kind, ruhig ... das sind ja nur 'n paar Schlücke, siehste ... still, ich bleib ja bei dir, Kind; leg deinen Kopf an meine Schulter, ganz ruhig, so ... so war's schon mal, als du ganz klein warst, Hete ...
Hete plötzlich in Heiterkeit: Du Mutter, als ich noch klein war, da gabst du uns mal zwei Pulver für 'ne Brauselimonade, für fünf Pfennige, weißt du, ein weißes und rosanes, di musste man in ein Glas tun, zuerst das weiße ... und dann Wasser darauf, und dann das rosane ... das ging dann hoch wie Selters ...
Mutter Fent: Na siehste, das ist doch alles nicht so schlimm, nicht wahr? Nimmt sie ganz an ihre Schulter wie ein Kind.
Komm! Gibt ihr zu trinken. Hete plötzlich in großer Angst über das Glas weg: Ob's mich
nicht doch kaputt macht, Mutter?! Mutter Fent drückt Hetes Kopf fest an sich.

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