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Friedrich Wolf - Cyankali (§ 218) (1929)
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VI.

Stube von Madame Heye: Tisch, ein paar Stühle und ein kleiner Wandschrank mit Lysolflasche, Borsäurelösung, Watte und in Tücher gehüllten Instrumenten; das Ganze die Verwirklichung der kleinen zweizeiligen Annoncen: „Frauen und Mädchen finden diskrete Aufnahme..." - Madame Heye sitzt in einem Lehnstuhl bei Wurst, Butterbrot, Rettich und einer Flasche Bier; sie mampft mit dem Genuss eines Menschen, der sich unbeobachtet weiß (spießt mit dem Messer eine Wurstscheibe auf und stößt sie sich mit großer Kunst wie ein Degenschlucker in den Rachen); dabei liest sie die Zeitung. Es klopft.
Madame Heye stellt schnell das Vesper seitlich auf einen Stuhl und zieht ihren weißen Schwesternmantel an: Ja!
Von rechts kommt Hete; sie bleibt zögernd stehen.
Madame Heye streng: Halb acht abends! Was gibt's noch?
Hete mit Zeitungsausschnitt: Bin ich hier recht?
Madame Heye knüllt den Ausschnitt zusammen: Haben Sie das jemand im Haus gezeigt?
Hete: Nein.
Madame Heye: Setzen Sie sich! - Sie sind müde.
Hete: Ja.
Madame Heye: Sie sind noch jung?
Hete: Zwanzig.
Madame Heye: Nicht volljährig. - Reden Sie doch!
Hete: Ich komme zu Ihnen ... aber Sie wissen das ja alles, quälen Sie mich nicht! Leise: Sie müssen mir helfen, Sie!!
Madame Heye: Richtig. Betrachtet sie. Legen Sie Ihren Mantel ab. Etwas mitgenommen siehste aus.
Hete sieht sie an: Lassen Sie das! Ich zahle.
Madame Heye: Klar. - Warste schon mal beim Arzt?
Hete: Nein.
Madame Heye sieht sie an: Hast du's selbst mal probiert?
Hete: Nein.
Madame Heye: Du siehst so elend aus...
Hete: Was sagen Sie?
Madame Heye: Hast du 'ne Mutter?
Hete steht auf: Ich zahle doch! Bin ich denn hier beim Doktor?!
Madame Heye aufhorchend: Wieso beim Doktor?
Hete setzt sich, müde: Ich meinte bloß.
Madame Heye misstrauisch: Hat deine Mutter dir's Gel gegeben, oder hast du so 'n Kavalier unterwegs ... bleib nur, ich meine, du siehst gar nicht so aus wie 'ne Nutte ... brauchst nicht hochzugehen, das zieht hier nicht, wir sind reell und wollen wissen, wen wir bedienen! - Wie heißt er denn?
Hete: Kein Klauenfritze, Sie!! Nee! Wenn er auch türmen
musste wegen der Kantine ... der bekommt schon wieder
Arbeit, der Paul! Madame Heye: Ach so, der ... der Kantinen-Paul, ach so ...
natürlich kriegt der Arbeit, aber Tütenkleben und Mattenflechten; der sitzt hinterm Gitter ...
Hete: Nein!!
Madame Heye: Gestern haben sie ihn geschnappt; dem sind
ein paar Jahre sicher. Hete geht nach rechts.
Madame Heye vor ihr: Wohin, Kind! Keine Menkenken So was kommt doch alle Tage vor! Nur nicht die Noble markiert! Haste denn Pinke?
Hete: Nicht viel; wir sind doch arbeitslos.
Madame Heye: Wie viel?
Hete: ... zehn Mark.
Madame Heye: Du bist verrückt! Streckst du dafür deine Kopf in die Schlinge? Und damit dir gleich 'ne Latüchte aufgeht: Hier biste in solidem Haus, in prima Bedienung ... alles mit die Antisepsis und Sterilisation, verstehste, von wegen dem Kindbettfieber ... holt aus dem Schränkchen in Tücher und Papier gewickelte Instrumente und von wegen die Sepsis, die leicht den Uterus heraufschleicht, verstehste, und wenn was darin zurückbleibt, das gibt dann die Sauerei mit dem Gericht und das Purperalfieber; jawohl, mein Kind, da staunste, Madame Heye hat da studieren
müssen vor zwanzig Jahren von der Gynäkologie bis zur Diagnose, alles tipptopp ... und nun von wegen dem Zaster: Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert! Zwanzig Mark gleich, zehn in 'ner Woche!
Hete: Ich habe aber nur ... Schweigt.
Madame Heye: Das habe ich gern! Den Ofen anstecken, und nachher ist kein Koks da! Zehn Mark bei die Polizeibespitzelung heute, wo doch die ganze Moral uns auf die Hacken ist! Ausgeschlossen! Servus! Packt Instrumente wieder ein.
Hete wendet sich und geht nach rechts.
Madame Heye schnell: Wenn man nicht so 'n gutes Herz
hätte! Komm mal her, du, wie heißt du denn?
Hete: Hete.
Madame Heye betrachtet sie: Hete, Mensch, du bist doch 'n sauberes Stück, Mädchen ... betastet sie die Arme, die ganze Figur ... wer wird denn da herumlaufen mit schiefen Absätzen und zerbrochener Seele! Na was denn, Hete! Nase in die Luft! Weil du's bist, Hete, ich weiß da einen Gönner ... ganz ungefährlich, so 'n sechzigjähriger Greis mit Silberhaar und rosigen Bäcklein und mit Pinke in der Busentasche, na ja schon, der hat schon vielen geholfen, die so waren wie du, und die mit 'ner Empfehlung von mir kamen.
Hete: Ich verstehe Sie nicht.
Madame Heye: Wirste schon verstehen, wenn dir der richtige Knopf aufgeht, mein Kind! Nur Geduld, du wirst Madame Heye noch im Grabe segnen! Weil sie so 'n schwaches Herze für dich hat! - Wo haste deinen Kies?
Hete holt zehn Mark aus ihrer Tasche, gibt es.
Madame Heye steckt's ein, stöhnend: Zehn Märker? Lächerlich! Es wird immer unreeller und liederlicher auf der Welt! — Was stehst du so krumm und verbogen da, was? Hast doch keine Schmerzen, wie? Das sag man gleich!
Hete: Ich bin nur müde.
Madame Heye: Geh nebenan! Führt sie nach links. Da hinein, nicht so zimperlich, mach frei, leg dich hin! Sie krempelt die Ärmel hoch, holt Instrumente und Lysoform, das sie in Wasser verdünnt. Ich muss das hier fertig machen.
Hete bleibt links stehen: Glauben Sie, es geht?
Madame Heye: Red keine Brühe! Wo ich doch die diskretesten Manipulationen ausführe in meiner Praxis! Los, los!
Hete geht links in den Raum. Madame Heye schließt die Zugangstür ab, knipst das Licht aus und folgt ihr. — Stille. — Madame Heye schnell von links; sie knipst das Licht wieder an; hinter ihr Hete.
Madame Heye erregt: Sieh mich an, du! Dich hat schon vorher jemand in Kur gehabt ... Du ... das muss ich wissen!!
Hete sitzt gekrümmt auf einem Stuhl: Lassen Sie mich!
Madame Heye: Nee, nee, du ... das lassen wir gar nicht! Du willst wohl mit gelernten Leuten Quatsch machen? Deine Hand! Nimmt sie, zählt den Puls.
Hete: Fieber?!
Madame Heye: Schrei nicht so, du! Hast wohl Madame Heye mit 'ner vermasselten Sache reinlegen wollen, wie! Nee, nee! Is nich! Daran verbrenn sich 'ne andre die Finger!
Hete: Nein, nein, ich gehe nicht, Sie; ich rühre mich nicht hier weg ... ich lasse mich nicht mehr fortschicken!! Rufen Sie doch die Polizei, rufen Sie doch die ...
Madame Heye hält ihr entsetzt den Mund zu.
Hete sich befreiend, umklammert sie: Sie! Sie müssen mir helfen!! Sie wissen, was das ist ... das Fieber, das Fieber ... das verfault jetzt in mir!!
Madame Heye: Nerven sind das, Kind, Nerven! Still!
Hete: Nicht still, ich will nicht still sein!! Ich lasse mir nicht den Mund zustopfen! Das Fieber ... Aufschreiend: Ich will nicht sterben, du!! Ich bin noch jung, du! Ich will nicht sterben! Paul!!
Madame Heye: Du, man hört das!
Hete: Lass sie's doch hören!! Plötzlich ganz ruhig, wie erwachend; sieht Madame Heye an: Ich lebe ja noch, wie ... aber wenn mir niemand hilft, dann gibt's doch nur eines noch ... gradeaus, immer gradeaus ... Packt Madame Heye: Aber ... wenn man hundert Mark hätte, oder zweihundert oder dreihundert, dann brauchte man nicht gradeaus!
Madame Heye: Soviel gibt's ja gar nicht auf einen Haufen!
Hete: Dann brauchte man nicht immer gradeaus, bis zu Kanal, bis zur Eckert und ihrem Kind ...
Madame Heye erschreckt: Bist du verrückt! Mach mir kein
Zicken, Mädchen, dass es nachher noch an mir hängen bleibt! Komm her, du! Hier hast du was ... Geht zum Schrank, holt ein Fläschchen. Davon nur fünf Tropfen, einmal am Tag, hörste!! rüttelt sie, fünf Tropfen, nicht mehr, verstehste!! Hete nickt.
Madame Heye leise: Das ist Gift, eigentlich ... aber nur 'ne ganz schwache Lösung, und in kleinen Mengen, da hilft's ... das Cyankali.
Hete greift danach.
Madame Heye: Nur wenn du mir versprichst, sofort zu deiner Mutter zu gehn, nirgendwo andershin! Zu deiner Mutter!
Hete schaut sie an.
Madame Heye: Zur Mutter, hörste!
Hete nickt.
Madame Heye gibt ihr's: Nur fünf Tropfen, du!
Hete: Danke. Rechts ab.
Madame Heye schließt das Schränkchen wieder, zieht die zehn Mark aus der Tasche, betrachtet sie, steckt sie wieder ein, streift die Ärmel wieder herunter; über sich selbst gerührt: ... wenn man nicht so 'n gutes Herz hätte!

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