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Friedrich Wolf - Cyankali (§ 218) (1929)
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V.

In einem Zeitungskiosk an einer Straßenecke. Ein Drittel des Raum links dient dem Verkauf; dort zwei kleine Fenster mit Zahlbrett und Auslage. Der größere Teil des Kiosks ist als kleiner Wohnraum eingerichtet: Öfchen, Hocker und im Hintergrund eine Schlafpritsche, unter der Stöße von Zeitungen und Zeitschriften liegen. Die Schlafpritsche selbst ist durch zwei Zeltbahnen, die hochgeschlagen werden können, verdeckt. Der ganze Kiosk wird von Häusern überragt, Straßenlärm draußen.
Am Schalter links verkauft Kuckuck dauernd Zeitungen. Auf einem Hocker im Wohnteil sitzt Max und sortiert.
Kuckuck am Schalter: „Berliner Illustrierte", „Die Morgenausgabe", „AIZ" ... zwanzig Pfennige, bitte! „The Star of Oklahoma" auf dem Weg zum Südpol gesichtet ... Selbstredend schon in dieser Nummer! ... Streikender Mob der Walzwerke demonstriert und nötigt Polizei zum Eingreifen: neun Tote, fünfunddreißig Verwundete ... Immer verkaufend: In Pforzheim zwei Elefanten von Sarasani ausgebrochen, rennen bei Tietz in die Herrenabteilung, erheblicher Sachschaden, doch keine Menschenleben zu beklagen ... zu Max: „Das Tagblatt", los! Nimmt, wieder vorn. Sturmfahrt des „Graf Zeppelin" über Mittelasien; der Luftriese wechselt einen Propeller bei voller Fahrt...
Max: Schon zwölf?
Kuckuck: Halb; um zwölf wird's erst schnaffte!
Max: Keine „Rote Fahne" heute?
Kuckuck: Beschlagnahmt!
Max: Scheiße! Aber diese Dreckblätter, die immer grad uns mit Jauche bespritzen, die verkaufste!
Kuckuck: Leben, fressen ... fressen, leben, liebe Blattlaus!
Max: Ist das konsequent?
Kuckuck: Wäre der Kuckuck konsequent, hätte keiner von
uns 'nen Platz, wo er pennt! - Allright ... weder du, noch ich, noch Paul ... please!
Max: Zu blöde, sie machen richtig Jagd auf ihn ... auf der Straße drehten sie schon ihre Köppe nach uns.
Kuckuck: Bist doch ein mickriges Würmchen, Max, dass du nicht mal auf das Mädchen gewartet!
Max: Türme du mal drei Tage und Nächte herum, wenn dir alle auf den Schlips gucken...
Kuckuck: Was du dir nicht einbildest! Nur der Paul ist mit
Namen genannt, weil er der „Rädelsführer" ist!
Max: Als hätten wir unter Mutterns Rock Erbsen gepflückt!
Kuckuck erregt: Aber nur einer ist doch der „Rädelsführer"! Mensch, das ist doch 'n Begriff! Verkauft immer.
Max nach der Pritsche: Sei doch stille!
Kuckuck am Schalter: Zwanzig Pfennige, mein Herr, für die „Illustrierte" ... das weiß doch jedes Kind! Das ist doch 'n Begriff! Hören Sie nicht! Zwanzig! Haltet ihn, haltet ihn! Sie!! Sie Hochstapler!! Rennt links zur Tür hinaus.
Max tritt an den Schalter: „Die Morgenpost", „Generalanzeiger", die zweite Ausgabe „Deutsche Zeitung" ... Von der Pritsche blickt unter der Zeltbahn Paul hervor; er ist übernächtigt und verwahrlost.
Paul springt auf: Max, Mensch, biste blöde! Weg vom Schalter, lass die Klappe runter! Zieht ihn fort; zeigt ihm eine zusammengeknüllte Zeitung mit einem Bild.
Max: Junge, das biste ja selbst! Puppe! Liest: „Paul Krüger, der Rädelsführer der sabotierenden Arbeiter, ist wegen Einbruch, Raub und Landfriedensbruch unter Anklage gestellt. Für die Ergreifung des Krüger oder die Mitwirkung an seiner Ergreifung wird eine Belohnung von eintausend Mark ausgesetzt." Schaut ihn mit Hochachtung an. Mensch!
Paul: Na?
Max: Sei nicht gemein!
Paul: Aber an den Schalter darfst du dich nicht mehr stellen, klar, Max! Wo sie uns doch früher immer zusammen gesehn haben! Und dem Kuckuck kocht ja so schon 's Wasser in der Hose! Liest der's, ist's hier aus!
Max: Verfluchter Mist!
Kuckuck stürzt herein, Paul hat sich schnell auf die Pritsche gehauen.
Kuckuck atemlos: Ist das noch Christentum! Ist das noch Menschentum! 'nen armen Kolporteur um einen Groschen zu betrügen. Er saust mit der geklauten „Illustrierten" los, ich hinter ihm her, er springt auf die Elektrische, ich gucke in den Mond; aus! Heftig. Seit zweitausend Jahren predigen sie, wie der Mensch leben soll! Aber wie lebt er?
Max: Dreckig.
Kuckuck erregt vor ihm: Aber wieso lebt er denn dreckig und kommt in zweitausend Jahren nicht 'nen Zentimeter vorwärts?
Max ruhig: Wieso kommt Kuhscheiße aufs Dach?
Es klopft am Schalter. Kuckuck springt hin, öffnet: „Die Illustrierte", „Tagblatt",
„Generalanzeiger" ... Fährt zurück. Mutter Fents Kopf im
Schalter.
Mutter Fent: Ich sah dich laufen, Kuckuck. Kann ich mal rein?
Kuckuck: O je, die Mutter ... da staunen die Blattläuse! Während Kuckuck links zur Tür geht, wirft sich auch Max schnell auf die Pritsche; beide ziehen die Zeltplane zu Mutter Fent tritt langsam ein.
Kuckuck zieht sie nach vorn: Schön von dir, Mutter, dass du auch mal den Pressechef besuchst ... bisschen eng, was ... na, setz dich, bist wohl müde. Schiebt ihr einen Schemel hin. Sind die kleinen Blattläuse gesund, na, ich meine doch nur so... was redste denn nicht, Mutter ... Hier haste noch 'ne Mark, kein Pensionsgeld, nur für Milch für die kleinen Würmer.
Mutter Fent steckt das Geld mechanisch ein: Hast du sie gesehn?
Kuckuck verlegen: Wen meinste? Ach so, ja, weißte, ich komme aus meinem Kabuff hier auch nicht raus ... nee, wirklich, ich habe sie nicht gesehen, die Hete ... aber das ist kein schlechtes Zeichen, du! Die wird Arbeit suchen.
Mutter Fent starr: Hier auf der Hauptstraße soll sie sein... so um sechs Uhr ... manchmal nachts, manchmal mittags...
Kuckuck: Da muss man dann aber scharf hinsehen ... um sechs Uhr abends bei dem Betrieb!
Mutter Fent vergräbt den Kopf in den Händen: Ich Aas! Ich Aas! Wenn sie umkommt, wenn sie schon im Dreck liegt! Springt auf. Ich glaube, du, ich hab sie vorhin gesehn, da an der Haltestelle; schon war sie weg ... dann kamst du gelaufen, und ich glaub, auch du rennst hinter ihr her ... wir liefen alle umeinander rum in dem Schlamassel ... sie muss noch draußen sein, Kuckuck ... lass, lass mich!!
Stürzt hinaus. Kuckuck steht still da. Dann hebt sich die Zeltplane, Max und Paul kriechen vorsichtig heraus.
Paul: Was hat sie gesagt? Hinter den Lappen hier hört man auch gar nichts!
Kuckuck: Na ... sie hat nach ihr gefragt.
Paul: Wie kommt sie denn her?
Kuckuck: Hat mich draußen gesehn; da dacht sie wohl, wo der Kuckuck rennt, da gibts Rosinen.
Die Tür geht auf. Schnell ist, Hete drin, zieht die Tür zu, bleibt stehen.
Paul Sprung zu ihr: Hete!!
Hete: Ist die Mutter fort?
Paul: Die Minute.
Hete dreht den Schlüssel herum: Kann ich sitzen? Max bringt ihr einen Hocker.
Kuckuck: Mensch, das ist 'n Fest! Mach mal Kaffee, Paul!
Es klopft dauernd am Schalter; Stimmen: „Ist das 'n Betrieb! Herr Kollege, Ihnen haben sie wohl hypnotisiert?" - „Saubande!" Springt zum Schalter. „Sofort, meine Herrschaften! Bitte sehr! Sofort! Zwanzig Pfennige!" Zurückrufend: „Zureichen, Maxe, Munition! - Jawohl, frischgelegt, noch warm aus der Presse! Das Wochenblatt, Der Junggeselle, selbstverständlich! Jedem das Seine, mein Herr! Eine Mark, bitte!" Er verkauft, während Max, der nun auch ganz links steht, wie eine Maschine ihm zureicht; zwischendurch und später werden Zeitungspacks „Der Mittag", „Die Abendausgabe" durchs Fenster geworfen, die Max aus der Umhüllung schneidet und schnell ordnet.
Paul hat eine Kaffeemühle genommen und beginnt zu mahlen. Hete steht auf geht zu ihm, streicht ihm übers Haar.
Paul hält inne.
Hete nimmt seinen Kopf hoch: Du!
Paul steht auf, presst sie an sich: Hete, ich bin ja so gemein!
Hete hält ihm den Mund zu: Red nicht solch Zeug! Das hat keinen Wert. Sag nur ... ob du mich lieb hast, ob du mich immer noch lieb hast?
Paul: Du! Küsst sie.
Kuckuck am Schalter: Selbstverständlich ... „Die elegante Welt", „Das Leben", „Die Schönheit" ... an diesem Dessin fehlt es nie bei uns, bitte ... auch „Sport und Sonne" ... eine Mark bitte!
Hete die zurückgetreten: Bist du immer hier?
Paul: Sie sind mir auf den Hacken, Hete. Hier mitten in der Stadt sucht mich keiner.
Hete: Weshalb bist du überhaupt noch in der Stadt?
Paul: Weil ... du noch hier bist, siehste! Aber ich konnt nicht zu euch kommen, Hete, am Abend, was hätt das für 'n Sinn, wenn sie mich gleich schnappten.
Hete: Ich weiß doch.
Paul: Was guckste?
Hete: Wie lang ist's eigentlich her, dass die Polente kam?
Paul: Zehn Tage.
Hete: Lange Zeit.
Paul: Verflucht lange.
Hete: Haste auch gehungert?
Paul: Und ob.
Hete: Und wo haste ... gepennt?
Paul: Na, überall... bei Genossen, unter 'ner Brücke ... auf den Bänken, wo man trocken liegt, durfte ich doch nicht,
wo man mich sucht ... auch mal Platte geschoben und mal auf 'nem Dach.
Hete streichelt ihn: Siehst auch arg ruppig aus.
Paul sie betrachtend: Na, dir hat's nicht viel geschadet; bist ja ganz schnieke ... hast wohl doch noch 'ne Stelle beim Direktor gefasst?
Hete sieht ihn an: Du Kind, du ... Plötzlich: Hast du's noch?
Paul fasst unter seinen Rock: Hier.
Hete scheu: Zeig's mal!
Paul sieht sich um, dreht sich dann mit der Schachtel der Rückwand zu: Weißt du's jetzt?
Hete zögernd: Ja...
Paul: Ist's ... gemacht?
Hete: Nein. Fasst ihn. Nein, Paul! Keiner hat mir geholfen, keiner! Aber du musst mir helfen, jetzt sind wir noch beisammen! Paul, ich kann's nicht allein, ich tu mir was ... Leise, heftig: Du musst's tun, gleich hier ...
Paul: Gleich hier?!
Hete: Hier! Hier! Da auf Pritsche, dahinter ... da kann man liegen ... jetzt ist Hochbetrieb da vorn, keiner merkt's jetzt, keiner hört's in dem Lärm, wenn ich stöhne ... nein, nein, ich werd ganz stille sein, auch wenn's weh tut, bestimmt, Paul, sicher, keinen Laut ... Paul, komm, komm doch!!
Paul hilflos: Muss ich 's nicht sauber machen?
Hete: Ja, ja, da ist Seife und Wasser ... die brauchste ja sowieso ... Sie legt sich auf die Pritsche hinter den Zeltbahnen, schaut nochmals nach dem Schalter und zieht dann die Zeltbahn ganz vor das Lager.
Paul tritt hinter den Schirm. - Links am Schalter eifriger Zeitungsverkauf; Max reicht an, Kuckuck setzt ab. - Leiser Schrei: „Paul!" Ein Instrument klirrt zu Boden. Paul kommt verstört nach vorn.
Paul leise: Verfluchter Dreck, wenn man's nicht versteht!
Hete ihm nach, nach vorn: Ich schreie bestimmt nicht mehr,
Paul... ich bin ganz still, ich schwöre dir's ... Will ihn
nach hinten ziehen. Paul unbeweglich: Nee, nee, du ... Blut!
Hete: Hast du Angst? Paul schweigt.
Hete plötzlich: Oder ... du, ekelt's dich? Ekelt's dich?!
Nimmt seinen Kopf. Du, sieh mich an, sieh mich doch an! Paul steht da. Hete geht zur Tür.
Paul hält sie; müde: Ich mach's ja.
Hete sieht ihn an: Armer Junge.
Paul heftig: Warum?
Hete leise: Weil du dich ekelst, Paul... Weil du dich vor mir ekelst.
Paul rasch: Quatsch! Ich mach's!
Hete: Nein, Paul, nein, du sollst es nicht machen, du sollst dich nicht ekeln vor mir; dafür hab ich dich zu lieb.
Paul : Das ist ja zum närrisch werden!!
Hete nimmt seinen Kopf, streichelt ihn: Mein Paul, Junge, es ist ja gar nicht so schlimm, sei doch ruhig! Das ist doch alle Unsinn ... das wird ja alles gut, sei doch ruhig, Paul... geh jetzt, geh und sei heut Abend Punkt zehn am Schlesischen geh jetzt...
Paul sieht sie an, nimmt das Instrument vom Boden.
Hete sieht das Instrument, packt es schnell: Das lass mir! Nur, falls wir uns verfehlen ... am Abend! Geh jetzt, Paul, geh!
Sie schließt auf und schiebt ihn zur Tür hinaus, dann schließt sie schnell wieder ab. Stille im Pritschenraum; wilder Zeitungsverkauf und Lärm links am Schalter.
Hete hat das Instrument genommen, geht dann langsam hinter de Wandschirm.
Kuckuck links: Sie können alles bei mir haben, mein Herr... Von der „Deutschen Zeitung" bis zur „Roten Fahne". Wir sind völlig auf der Höhe H... Wirft Max neue Kolli zu. Aufpacken, lieber Blatthengst! Dalli, dalli! Von sechs bis halb sieben, das ist die große Stunde des Pressemanns ... da saust der Frack, da zittert das Hemde! Tempo, Max Tempo!
Kurzer Schrei, der von dem Lärm des Zeitungsausrufers und der Straßengeräusche fast verschlungen wird. - Hete kommt hervor sie hält sich den Leib und setzt sich auf einen Hocker.
Max von links mit Zeitungspacks; zu Hete: Du, das ist Sache hier was! Hochbetrieb ... na, schnür nur mal den Packen da auf und reich mir immer so 'nen Stoß rüber ... immer nur rüberreichen den Schwung, kannste doch?
Hete: Klar.
Max: Biste müde?
Hete: Ach was.
Hete reißt das Zeitungspaket auf und reicht - wie eine Maschine 4 Stoß um Stoß die Blätter Max herüber. Links wilder Verkauf.

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