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Walter Schönstedt - Kämpfende Jugend (1932)
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VIII.

Erich traf sich mit Hermann und Viktor in der Yorkstraße; von da aus gingen sie zum Sammelplatz am Halleschen Tor. Erich begrüßte die andern mit „Guten Abend!" Viktor puffte ihn in die Seite. „Du, das gibt es bei uns nicht, hier musst Du ,Heil' sagen. Das ist unser Gruß."
Bald hatten sich zwanzig bis fünfundzwanzig Leute versammelt; gutmütig aussehende Burschen, Kerle mit der Fresse der Fememörder und ahnungslose Kleinbürgersöhne. Ein etwas dicker Herr war darunter, die Mundwinkel blasiert herabgezogen. Fast alle trugen die graue Kleidung des alten Heeres, nur wenige hatten Windjacken. An den Beinen sah man Wickelgamaschen und Bärenstiefel. Ein langer Kerl kam stolz gelaufen, knallte die Hacken zusammen, rief übermäßig laut „Heil" und verschwand in einem Lokal am Landwehrkanal. Nach einer Weile kam er wieder heraus, auf den Kopf die Mütze des Kronprinzenregiments gestülpt, stolzierte mit Offiziersgesten auf und ab und ließ sich bewundern. Der Kopf war für den langen Kerl viel zu klein, die Mütze passte ihm nicht recht. Einer war da, der musterte jeden der Anwesenden, dann gab er leise Befehl, auf die Straßenbahnlinie 96 zu steigen und bis Machnow zu fahren, „ohne Aufsehen zu erregen".
Die Jungens waren stabil gebaut, sie versuchten, sich proletarisch zu benehmen. Ein Bursche plapperte in der Straßenbahn davon, dass er früher auch mal beim RFB. gewesen sei und die Fahnenspitze mit einem wollenen Lappen geputzt habe. Erich fragte ihn, wo er denn damals gewohnt habe. „In der Nostizstraße, mein Lieber. War in der Kameradschaft Kreuzberg.“ Erich hatte ihn noch nie gesehen. Aber der Kerl wurde ja auch von seinen Kameraden als „Angeber" bezeichnet. An vielen Haltestellen stiegen, einzeln oder in Gruppen, neue Sturmabteilungsleute ein. „Wer weiß, wird’s regnen?"
„Ach wo! Wenn wir rausfahren, nicht! Frontsoldaten fragen auch nicht danach, wie das Wetter wird, Du Muttersöhnchen."
In der Ecke neben Erich unterhielten sich die beiden Rhoden mit etlichen unbefriedigt dreinschauenden Jünglingen:
„Ja, sollten wir nun mit Schulterriemen kommen oder nicht? Ich bin der Meinung ... "
„Uns hat der Stuf erklärt, der Schulterriemen bleibt zu Hause." „Ich bin aber anders informiert. Mit Euch zu debattieren, hat ja gar keinen Zweck."
Der Sturmführer erschien, warf böse Blicke umher und beendete den Streit.
An Erich schob sich der lange Kerl mit der Kronprinzenregimentsmütze heran. Er schnarrte: „Sitzt falsch. Uff die andere Seite. Wie siehste denn aus?" Dabei deutete er auf Erichs Brotbeutel, der an der rechten Seite hing, während ihn die Nazis auf der linken Seite trugen.
Eine Dame stieg ein; sie wollte wahrscheinlich nach Teltow zum Vergnügen und hatte sich dementsprechend aufgetakelt. Die Rauhbeine im Wagen markierten Kavaliere, rückten zusammen und nahmen sie in ihre Mitte. Nach einer Weile sagte jemand eine Schweinerei, die Jüngsten kicherten, andere wieder grienten nur verstohlen. Als die Dame an einer der nächsten Haltestellen ausgestiegen war, schimpfte der Gruppenführer: „Wenn Leute dabei sind, lasst gefälligst die Sauereien, verstanden! Was sollen die Leute sonst von unserer Bewegung denken? Auf die fällt es doch letzten Endes zurück. Also, kommt nicht wieder vor."
Die Gerüffelten schwiegen und senkten den Kopf. Die Straßenbahn schaukelte jetzt durch Rieselfelder; es war neun Uhr abends. Die Machnower Schleuse war der allgemeine Treffpunkt. Es ging über eine Brücke hinein in den Wald. Überall Flüstern und glimmende Zigaretten. Alle waren gespannt in Erwartung.
Nach einer halben Stunde pfiff jemand. Viktor nahm Erich an der Hand und rannte mit ihm los. Hermann fiel fluchend über einen Baumstubben. Ein Mann, den niemand sehen konnte, gab Befehle.
„Achtung! Au—gen ke—ra—de aus!! Links — um! Rechts — um! Alle, die nicht versichert sind, vortreten!"
Erich trat vor die Front, zugleich mit ihm ein dicker Junge in Halbschuhen und Mantel
„Sie machen die Übung auf eigene Gefahr und Risiko mit. Sie scheinen noch nicht zu wissen, dass wir eine SA.-Versicherung haben! Kehrt — Marsch!"
Für diejenigen, die sich verlaufen oder „blind" gehen sollten, wurde das Marschziel angegeben.
„Achtung! Uhren stellen: es ist jetzt genau neun Uhr achtunddreißig. Fertigmachen! Im Gleichschritt — Maarsch! Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier!"
Ungefähr zweihundert Mann marschierten los, eingeteilt in Stürme, Trupps und Scharen. Die Nacht war still und schön. Manchmal flüsterte einer, dann brüllten die andern los: „Maul halten! Schmeißt doch den Kerl raus, der versaut ja alles!"
Der vorn brüllte wieder und kam nach hinten gerannt: „Vordermann halten! Was ist denn da schon wieder?! Oh Gittigittigit!"
Erich dachte: schade um die Jungens. Manche sind ganz sympathisch. Das macht denen nun Spaß, sich hier so dressieren zu lassen... Irgendwas brauchen sie doch...
Um Mitternacht kamen sie müde und abgehetzt in ein Dorf. Der Führer ließ halten und sagte flüsternd: „Hier sind zwei Lokale. In dem einen sitzt die Kommune, in dem andern das Reichsbanner. Also mosert nicht, wir sind in der Minderzahl, und unsere Schutzstaffel ist nicht hier. Wegtreten!"
Erich lief mit Viktor los. Im Lokal waren alte und junge Arbeiter. Die hatten alle braungebrannte Gesichter und harte Fäuste, die meisten rauchten Pfeife. Am Billard war Betrieb. Viktor bestellte großzügig drei Glas Bier und holte Äpfel aus dem Brotbeutel. „Da, die gibt uns der Alte immer mit. Früher gab’s das nicht, aber jetzt ist er schon viel vernünftiger geworden."
Hermann lehnte sich lässig zurück. Er war ärgerlich. „Was soll denn das dämliche Marschieren nun bedeuten? Man wird bloß müde; und dann die alte Großschnauze."
„Hör doch auf, Du verstehst eben nichts vom Gemeinschaftsgefühl. Das ist doch herrlich, so mit den Kameraden durch den Wald marschieren! Und kein einziger Jude ist dabei. Herrlich ist das! Bald werden wir den Marsch ins ,Dritte Reich' antreten."
Er sagte das so feierlich, beinahe zürnend, dass sich Erich zusammennehmen musste, um nicht laut loszulachen. Er dachte nur: armer, irrer Freund.
Wieder wurde eine Stunde marschiert. Dann ertönte das Kommando: „Marschordnung! Jetzt darf geraucht werden!" Die Gruppenführer liefen nach vorn.
Jedes Mal bei ,.Marschordnung" oder „Pause" wurde hinzugefügt: „Jetzt darf geraucht werden!" Das fiel Erich auf; er fragte Hermann, was das zu bedeuten habe. „Ach, gar nichts. Aber wir rauchen alle ,Sturm', das ist die Zigarette nationalsozialistischer Produktion, vollständig trust- und konzernfrei. Kein Jude ist daran beteiligt Aber ich rauche sie nicht mal gern, die schmecken lange nicht so gut wie eine ,Juno' und kosten fünf Pfennig. Hier hast du eine. Aber mach sie nicht schlecht, wenn Viktor dabei ist."
Immer weiter ging’s. Zoten wurden gerissen. Sie kicherten, wenn einer solche Worte im Munde zerkaute, waren wie die Kinder.
„Achtung! Die ganze Scheiße wegtreten!" Alles sprang in die Büsche und pinkelte. Zu Erich kam der lange Kerl, er knöpfte sich gerade den Hosenstall zu und sagte mit verstellter Stimme: „Tag, Kamrad! Sag mal, woher kennen wir uns bloß? Hab ich Dir nicht bei Verdun einen Granatsplitter aus der Brust gezogen?"
Erich antwortete: „Verschwinde hier!" und dachte: Natürlich, den trägst Du jetzt mit Dir im Kopf herum, Du langes Gelumpe. Der Lange war einen Moment verwundert, sah Erich knapp an und lief dann weiter. Er haute einen andern an: „Donnerwetter! Da treffen wir uns wieder! Wir waren doch zusammen am Isonzo, stimmts?"
„Ja, Du bist der Lange, der immer so gestunken hat, wenn die Granaten platzten, Siehste, jetzt kenn ich Dich."
„Ach, Du Affe! Versau doch nicht alles! — Nicht wahr das war ne Sache. Drei Meter unter Schnee gelegen und geladen und geschossen und geladen und geschossen, und zum Schluss haben wir überhaupt nur noch geschossen. Bin doch damals Offizier geworden, hab das Eiserne Kreuz erster Klasse, teurer Kamerad!"
Es liefen noch viele andere herum und unterhielten sich in dieser Art, auch Viktor. „Was? Woher wir uns kennen? Ich war bei Immelmann. Hatte mit meinem Fokker gerade zwei Franzosen abgeschossen, da kamst Du angesurrt. Dein ganzer Apparat hat gebrannt, und ich habe Dich gerettet. Mensch, das war ne Sache, wat, Kamerad?"
„Ja, ja, bloß mir gehts schlecht, ich habe eine alte Brandwunde, die ich damals abbekommen habe, bricht immer auf. Das juckt wie die Pest. Aber lass ma, bald fliegen wir wieder über Frankreich . . "
Es wurde schon schummrig, als sie an die Kemmelberge kamen. Ein anderer Trupp, der zu ihnen stoßen sollte, hatte sich verspätet, und sie mussten in die Büsche kriechen. Nach einer Weile großes Geschrei: „Ah, da sind sie ja! Da sind sie ja! Hurra! Hurra!"
„Da! da krauchen sie in die Büsche rum!" — „Haltet die Schnauze!" brüllte sie der Führer an. „Wir warten hier auf Euch." — „Ach so."
Jetzt war der oberste Standartenchef nicht zu finden, und sie mussten gemeinsam Grüßen und Ausrichten üben, Scheinwerfer tasteten sich zaghaft von weither an den Baumreihen entlang, bald polterten zwei elegante Autos über die holprige Chaussee. Erich dachte, dass es eine Parade geben würde, aber sie mussten durch einen feuchten Grund und auf lehmigen Wegen zu einer Lichtung im Walde krauchen. Hier wurden Fackeln angezündet, und die Trupps stellten sich im Kreise auf. Dann sprach der Osaf. Er knöpfte sich jede Gruppe vor. Viele wurden gelobt, andere getadelt. Er sagte auch, väterlich herablassend wie ein freundlicher Feldherr: „Euch muss man die Jacke vollhauen, wenn Eure Gruppe nicht in Ordnung ist!"
Seine Stimme wurde plötzlich feierlich: „Einer unserer Kameraden hat Hand an sich gelegt. Ich betone ausdrücklich, dass es eine Schande für unsere Bewegung ist. Wir haben alle den Glauben an unseren herrlichen Führer Adolf Hitler!"
„Eben deshalb hat er es ja getan", murmelte jemand ganz leise; manche hatten es gehört, sagten aber nichts.
„Das ,Dritte Reich' ist nicht mehr fern. Wir dürfen jetzt nicht verzweifeln! — Jede Gruppe hat einen kräftigen Mann zu stellen für eine Ehrenwache. Wir singen jetzt die erste Strophe von ,Die Fahne hoch!'
Dann zogen sie weiter. Der Weg wurde immer schlechter, Links und rechts Lehmlöcher. Der Dreck blieb zäh an den Schuhen kleben. Hermann knurrte ab und zu ärgerlich. Viktor träumte von seinem Flieger. Knappe Kommandos vorn, die man hinten nicht verstehen konnte. Der Zug hielt, und der Plan des Geländespiels wurde bekannt gegeben: das Gros wurde eingeteilt in drei Trupps; der eine Trupp soll verhindern, dass die beiden anderen in das Dorf gelangen. Das Dorf A hat zwei Zugangsstraßen und eine stark kommunistisch verseuchte Bevölkerung. Die Verteidiger waren die Rote Armee, während die Armee des ,Dritten Reiches' angriff. Erich und auch die beiden Rhoden gehörten zum Lehrkorps der Roten, das einen kleinen Weg bewachte, der von der Schule aufs freie Feld hinausführte, Patrouillen wurden ausgeschickt.
Es war kühl geworden, die Leute vom Lehrkorps froren und krochen eng an einer Mauer zusammen. Sie flüsterten. Einer ließ einen Furz, und ein anderer trat ihn dafür in den Hintern. Sie kamen sich wichtig vor und benahmen sich wie alte Frontkrieger. Ein Ostpreuße erzählte schaurige Geschichten von toten Russen, die des Nachts auf weißen Pferden über Felder reiten sollen und ohne Köpfe auf den Äckern herumsitzen. Er wurde ausgelacht, dann wurden die Jungens nachdenklich und still.
Einer von den Vorgesetzten kam: „Los, hin zum Dorfplatz! Hier beherrschen wir alles mit unserem schwerem MG. Dalli, dalli!"
Dort mussten sie wieder endlos lange warten. Das machte alles keinen Spaß mehr, sie wurden ungeduldig. Aber das gehörte auch zum Kriegspielen.
Plötzlich stürmte aus einer Straße ein dunkler Haufen Menschen. Sie rannten alles um, hatten gesiegt, und die Roten mussten sich ergeben. Erich wurde angerufen: „Halt! Bleib doch stehen! Du bist ja längst tot, rennst ja immer in der Feuerlinie herum!" Aber er kümmerte sich nicht darum, er hatte die Schnauze voll. Die SA.-Leute waren enttäuscht, das Spiel hatte irgendwie nicht geklappt. Aber da der Osaf geäußert hatte, dass er nur die Marschleistungen der Leute prüfen wolle, beruhigten sie sich bald wieder.
Der Marsch ging weiter. Die meisten hatten nasse Füße. Gesungen wurde nicht und gesprochen sehr wenig, es kam nicht mehr die richtige Stimmung auf. Um neun Uhr morgens gab es Mehlsuppe ohne Salz und Zucker. Nur wenige aßen mit Heißhunger, die meisten hatten gut belegte Stullen mit.
Viktor und Hermann wollten mit ihrem Sturm noch etwas unternehmen, aber Erich verdrückte sich und ging nach Stahnsdorf zur Straßenbahn.
Die Bahn war überfüllt. Mit Erich stiegen noch ungefähr zehn SA.-Leute ein. Sie waren alle in Stimmung und sangen Landsknechtlieder. Einige unterhielten sich laut über das Geländespiel: „. . . die ganze Kommune zusammengehaun, Kamrad! Dorf umzingelt, und dann auf sie!... ."
Die Leute staunten, ein alter Arbeiter sagte laut: „Ihr Arschlöcher!" Aber die Nazis waren so fröhlich, dass sie nichts hörten. Der lange Kerl war auch wieder dabei und gab schaurig an: „Kommt da so eine Granate rübergebrummt, die platzt, alles kaputt. Ich, mein Monokel ins Auge geklemmt, Monokel in Kakao gefallen, Monokel ganz geblieben, Kakao voll—stän—dig zertrümmert. Ne Sache, was Kamerad?"
Es wurde leerer im Wagen, und sie setzten sich. Einer schlief gleich ein und legte seinen Kopf schwer auf die Schulter des Nachbarn. Die Straßenbahn holperte und er rülpste dazu im Schlaf. Eine steinalte Frau stieg ein. Sie sah sich um, kein Mensch stand auf. Erich hatte keinen Sitzplatz. Die Frau war armselig gekleidet. Um die Schultern hing ihr ein zerfranstes Umschlagtuch. Aber die Rauhbeine saßen da, als wenn sie auf einer Tonne weichen Kaugummis hockten, die meisten starrten aus dem Fenster und zählten die Pflastersteine, die übrigen stellten sich schlafend Sie waren ja auch müde, die ganze Nacht marschiert und gekämpft. Die Frau schob die Tür auf und ging auf den Vorderperron. Nach einer Weile kam sie zurück, es war zu windig draußen. Ein Mann mit Hornbrille, der ein kleines Kind auf dem Schoß hatte, stand auf: „Setzen Sie sich! Hier im Wagen befinden sich anscheinend ein paar betrunkene Lümmels." — „Erlauben Sie mal! Meinen Sie etwa uns damit?!"
An der Gneisenaustraße stieg Erich ab und lief nach Hause.

Am Abend traf er Theo zusammen mit Trude.
„Na, wie war’s?"
„Aus den Übungen bin ich nicht recht schlau geworden, die waren alle versaut. Aber ich. habe andere Beobachtungen gemacht. Ist ganz interessant, da mal so mitmachen."
„Mach einen Bericht für den Gegnerobmann, Erich! Vielleicht kann er was brauchen davon. Mal sehn, wenn’s geht, werden wir auch was in unsere Zeitung setzen. Bist Du müde?"
„Au, saumäßig. Jetzt hau ich ab, ich schlaf erst ein paar Stunden. Rot Front!"
Am Montagabend saßen Hermann und Viktor in ihrer Stube beisammen. Sie bekamen jetzt regelmäßig eine Zeitung zugeschickt, die von oppositionellen SA.-Leuten zusammengestellt wurde. Auf der Titelseite war das Bild eines stämmigen SA-Mannes in Uniform, der eine Fahne in den Fäusten hielt. ,Sprachrohr' war der Titel der Zeitung, ,herausgegeben von den aufrechten Soldaten der deutschen Revolution'. Viktor brachte die Nummern jedes Mal seinem Gruppenführer, aber Hermann hob sie sorgfältig auf.
Er hatte Nr. 4 vor sich liegen und las aufmerksam einen Artikels
„Ein Ablenkungsmanöver! Wie unser Wahrheitsverkünder, der ,Angriff, Euch beinahe täglich erzählt, klaut uns die Kommune unsere Parolen und geht damit hausieren. Russland hat bekanntlich den Fünfjahrplan. Was lag näher, als die Praxis, die wir seit Jahren verfolgen, fortzusetzen und die Arbeitsmethoden der Kommune nachzuahmen, wie üblich im Westentaschenformat. So entstand also unser so genannter Zweimonatsplan, der eine ziemlich jämmerliche Nachäffung des Fünfjahrplans darstellt. Was will der Zweimonatsplan? Innerhalb dieser Zeitspanne soll der Mitgliederbestand unseres Gaues verdoppelt werden. Ganz im Gegenteil zu dem sonst immer betonten Auslesebetrieb wird man wohl dazu übergehen müssen, alles, was nicht gerade polizeiwidrig dof ist, in die Partei zu pressen. Insbesondere wird man wohl in Anbetracht der katastrophalen Finanzlage des Berliner Gaues Wert darauf legen, kapitalkräftige Revoluzzer zu gewinnen, die dann in den vordersten Reihen der Stoßtruppen für das ,Dritte Reich' kämpfen sollen. Das kann eine schöne Entwicklung geben! Seht Euch doch heute schon einmal in Euren Sektionen um, Ihr werdet kaum einen Arbeiter finden. Was Ihr seht, sind Spießbürger, Konjunkturritter und ähnliche Dunkelmänner, die aus opportunistischen Gründen sich in die Partei aufnehmen ließen. Und wo noch Arbeiter stecken, stellt man fest, dass sie nur noch passive Mitglieder sind, von ernsten Zweifeln an der Parteileitung befallen. Im Grunde genommen will man sie auch gar nicht mehr haben. Hoffen die paar revolutionär eingestellten, ehrlichen Sozialisten, die es bei uns immer noch- gibt, wirklich, mit solchen Mitteln die innere und äußere Befreiung Deutschlands erringen zu können? Das Gegenteil wird der Fall sein. Wir paar ehrliche Sozialisten werden von den neu Hinzukommenden ganz an die Wand gedrückt und kalt gestellt werden. Nicht der Arbeiter kommt zu uns, sondern derjenige, der glaubt, bei uns Pfründe erobern zu können. Die sechshundert Bewerbungsschreiben an den ,Angriff sprechen eine deutliche Sprache. Seht Euch unseren Gau an. Wo findet Ihr da noch Arbeiter? Offiziere und Akademiker sind dort tonangebend. Wo waren die Leute, die heute das Heft in der Hand haben, in den Anfängen der Partei, als wir, gejagt von der Kommune, unsere Schädel hinhielten im Kampf um das ,Dritte Reich', an das wir alle einmal inbrünstig geglaubt haben?" Hermann presste die Lippen aufeinander. Er sah starr auf den Fußboden. Seine Hände zitterten nervös. Er wusste: Das war kein Judenschwindel, das war die Sprache eines ehrlichen, nationalsozialistischen Arbeiters, der noch an die Revolution Hitlers glaubt. Dann las er weiter: „Wir sind betrogen! Die Partei ist heute ein hohler Koloss auf tönernen Füßen, den ein gar nicht zu kräftiger Windstoß zu Fall bringen wird. Der Zweimonatsplan zerstört noch mehr das Fundament. Der Koloss aber wird sich vergrößern, um dann umso eher zusammenzukrachen. Denkt an alles, was innerhalb des letzten Jahres geschehen ist, welchen Weg die Partei gegangen und welchen sie noch gehen wird. Den Weg in die Koalition mit den Brüning-Jesuiten und Kohlenbaronen, den Chemiekönigen und Bankfürsten, den Weg des Abbaues der Sozialfürsorge und des Arbeitslohnes. Das ist der Weg der finstersten Reaktion! SA.-Mann, Parteigenosse, willst Du diesen Weg gehen? Nein! Steuer herum und fest in die Hand genommen! Unser Ziel sieht anders aus!"
Das war eine harte, bittere Sprache. Hermann ließ das Blatt sinken und staunte. „Das ist so, Viktor. Ich hab doch auch meine Augen offen gehabt."
„Du bist ja wahnsinnig! Du hast keinen Glauben an die Idee, Du bist ein Nörgler. Alles, was andere sagen, glaubst Du. Aber unsere Schriften lässt Du links liegen!"
Hermann stand auf und sagte laut: „Weil die mir nichts bieten! Ich habe doch das Programm von Feder gelesen, das ist so kahl, so kahl und hohl sage ich Dir, ich lese schon, mein Lieber. Und das hier haben nicht andere geschrieben."
„Das glaubst Du, aber ich nicht. Das bringt nur so ein jüdischer Schmierfinke fertig."
„Ach so! So tust Du alle sachlichen Argumente ab: alles ist Schwindel. Aber hier — die Leute sind doch genau informiert: hier ist ein Bericht vom Parteitag, hier ist der Bericht eines SS.-Mannes, wie sich Hitler in Berlin bewachen ließ, hier schreiben sie über die Verhältnisse im Gaubüro, wo man Friedrichstadtnutten Karten zum Sportpalast schenkt und einfach mit Bleistift die Preise ändert. Das müssen doch Leute von uns sein. Vielleicht ist einiges übertrieben. Ich will jedenfalls nicht nur gehorchen, wie Hitler sagte, ich will überzeugt sein, will wissen, wofür ich kämpfe. Die erste Zeit ging das ja. Aber ich finde nicht das Wissen, das ich brauche. Unsere Gegner können uns alles widerlegen. Vor allem die Sache mit Leutnant Scheringer hat mir zu denken gegeben, hier liegt eine Broschüre von ihm, seine Briefe aus der Festung."
Viktor verzweifelte daran, seinen Bruder zu überzeugen. Er brüllte darum seinen Bruder an: „Alles Schwindel! Alles Schwindel! Scheringer ist von jeher ein Schwindler gewesen!"
„Ach so. Und damals hatte ihm die Partei ihre großen Erfolge zu danken. Denke nur an den Prozess der Ulmer Offiziere, da war er für uns der Mustertyp des deutschen Offiziers. Genau so, wie es mit den Bombenlegern von Schleswig war. Zuerst waren sie unsere Bauern, wir haben sie für unsere Propaganda ausgenützt, und heute laufen die zur Kommunistischen Partei. Die kümmert sich als einzige Partei um Klaus Hein, und der Bauernführer Salomon gibt die Erklärung ab, dass er mit dem Bauernhilfsprogramm der KPD. einverstanden ist."
„Ja, weil er ebenso wenig Glauben an die Idee hat, wie Du, nicht etwa, weil er da einen ,Schwindel durchschaut' hat. Ich habe Vertrauen zu unseren Führern."
„Hm. Ja. Das Sprengstoffattentat auf Goebbels kommt mir auch recht komisch vor. Und... "
„Halt' Deine Schnauze, Mensch! Mach unsere Führer nicht schlecht, oder ich breche mit Dir!"
Viktor schlug die Tür hinter sich zu. Das hatte er ja kommen sehen. Diese verfluchten Zeitungen, wenn er nur den Kerl erwischen könnte, der sie in den Kasten steckte!
Hermann setzte sich wieder. Ihm tat Viktor leid. Mit seinem Bruder hatte er sich immer gut gestanden — aber er konnte nicht anders handeln. Müde nahm er das Blatt wieder zur Hand.
,Wenn Goebbels schnorren geht', hieß ein Artikel, in dem ein SA.-Mann eine Versammlung beschrieb, die zum Zwecke der Kassenstärkung veranstaltet worden war. Er hatte als Arbeiter versehentlich eine Einladung bekommen. „... Ich glaubte in eine Versammlung von Mitgliedern der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei zu kommen. Zu meinem riesengroßen Erstaunen fand ich dort nur Leute vor, die in einer Arbeiterpartei nichts zu suchen haben. Es waren dort Akademiker, Hoffräuleins, Offiziere und sonstige Monokelträger, nur keine Arbeiter... Für mich war es sehr aufschlussreich festzustellen, dass zirka fünf bis zehn Prozent von den Anwesenden verdammt nach Kanaan aussahen, ob das bloß die Wesensverwandtschaft mit dem Doktor gemacht hat?... Scheinbar ist ein neuer Mercedes fällig... Wie lange noch?"
Unter dem Artikel befand sich ein Bild, wie Goebbels sich vor einem dicken Herrn verbeugt, der eine Zigarre im Maul hält und seine Brieftasche zieht; daneben als Text: „Mein Krampf! Ein Gewinnen des bürgerlichen Wahlstimmviehs aber darf niemals das Ziel dieser Bewegung sein."
Hermann warf die Zeitung zu Boden und sagte laut:. „Ach, was? soll man da bloß machen..."

An diesem Abend traf sich die Gruppe ,Nostizstraße', die Genossen steckten sich die Taschen voll Material und gingen zu vieren oder fünfen in die Häuser. Ernst, der kleine Bauer aus Langendorf und noch zwei andere Genossen bildeten einen Trupp. „Nu los, wollen mal den anderen was vormachen! Wir müssen das meiste verkaufen."
Öde lag die Nostizstraße da. Vereinzelt kamen Leute, verschwanden in den Haustüren. Ein kleiner Genosse mit frechem Gesicht und Stupsnase fuhr auf dem Fahrrad die umliegenden Straßen auf und ab. Es war still, wie eine dunkle Wolke legte sich das Schweigen auf die Erde und brachte graue Träume mit. Da und dort brannten schon zaghaft die Lampen in den Häusern. Überall tauchten kleine Gruppen der Genossen auf. Zurufe flogen hin und her.
„Du nimmst den Vorderaufgang mit Peter. Wir bleiben hinten. Los, die Häuser werden bald zugemacht."
Herr und Frau Mädicke saßen in der Stube, beide hatten den Kopfhörer um, er rauchte eine abgeknabberte Pfeife, sie stickte etwas Undefinierbares, Ab und zu knackte es im Radio, dann verzog sie knurrend das Gesicht, und er sprang auf und drehte an allen möglichen Schrauben. Eine böse Behaglichkeit lag im Zimmer. Die Fenster waren fest geschlossen. Manchmal lächelte Frau Mädicke leise, dann wurden ein paar Zahnstumpen sichtbar, und ihr Gesicht sah noch hässlicher aus als sonst. Ihre Augen bekamen einen fernen, sehnsüchtigen Glanz, mit weicher Stimme sagte sie: „Ah, die singt aber schön!"
Der Mann hörte nicht, sie wurde wütend und brüllte ihn an: „Hast Du Dreck in den Ohren?!"
Umständlich nahm er den Hörer vom Kopf. „Was sagst Du?"
„Ach Gott, der Mann! Der Mann macht mich noch verrückt! — Jetz rutsch mir den Buckel runter!"
Eine Weile war es wieder still im Zimmer, dann klingelte es schrill. Erstaunt sahen sich die beiden Mädickes an. „Wer kann das noch sein, so spät?"
„Herrgott, frag doch nicht so lange, geh hin und mach auf!"
Er humpelte in seinen grünen, bestickten Filzpantoffeln los. Vor der Tür standen Ernst und noch einer.
„Guten Abend! Ihnen kommen wir auch mal besuchen, Herr Mädicke. Sehen Sie mal, unsere Zeitung, die ,Junge Garde', ist von Grzeszinski verboten worden. Da haben wir 'ne neue herausgegeben, ,Der junge Wühler'. Die ist dufte, Sie, kostet nur fünf Pfennige."
„Ja, ja, ich — ich, warten Sie mal, meine Frau... "
Da brüllte sie auch schon hinter ihm, keifend und giftig: „Mach doch die Türe zu! Wat unterhältst Du Dir denn so lange!"
Er trat schüchtern zur Tür und gab ihr mit dem Fuß einen Tritt. Die beiden Genossen grienten sich eins. „So ein Pantoffelheld! Die Frau ist eine Hexe."
Frau Mädicke war ganz aufgeregt, sie schimpfte auf ihren Mann und er sagte ein paar mal leise vor sich hin: „Wenn ich doch bloß erst tot wäre...."
Sie rannte zum Fenster, riss es auf, dass die Scheiben klirrten und sah auf die Straße. „Du — Du, da unten sind ein paar Grüne. Jeh rasch runter und sag Bescheid! Die Burschen, die Burschen, das sind die, die uns die Müllkästen und det Pferdebeen vor die Türe gepackt haben, Det sind die. Los, geh runter!"
„Ach, lass doch! Ich soll nun gehen, und bei Gelegenheit hauen die mir mal die Jacke voll. Die vergreifen sich womöglich noch an einen alten Mann. Nee, nee, da mach ich nicht mit." Böse sah sie ihn an:
„Ach, Du Memme, Du! Du Feigling! Da denkt man, man hat eenen Kerl im Haus, Du Hosenscheißer!" Leise öffnete sie die Tür und schlich vorsichtig die Treppe hinab.
„Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister! Hören Sie doch mal, bleiben Sie doch mal stehen!"
„Was haben Sie denn, Frau? Sie sind ja ganz außer Atem?"
„Herr Wachtmeister, da — da sind Kommunisten in unser Haus und vakoofen verbotene Zeitungen. Bei mir waren sie ooch. Ick hab aber keene genommen. Mein Mann... ."
Im Hinteraufgang hatten die Genossen elf ,Junge Wühler' verkauft, fröhlich pfeifend kamen sie über den Hof. Die anderen beiden waren noch im Quergebäude. Da standen plötzlich drohend und massiv zwei Schupos vor ihnen. „Halt! Wer verkauft hier Zeitungen? Zeigen Sie mal Ihre Taschen!"
Bei Ernst fanden sie noch zwei Zeitungen, der kleine Bauer spielte den Ahnungslosen.
„Den lassen Sie man gehen, der ist eben per Zufall mit mir die Treppe runtergekommen, nicht wahr, Herr Lutze?"
Der Herr Lutze nickte so erschrocken mit dem Kopf und sah so ungefährlich aus, dass ihn die beiden Grünen laufen ließen.
„Aber Sie, Bursche, Sie kommen mit zur Wache. Das wäre ja noch schöner. Na, los!"
„Was wäre noch schöner?"
Erstaunt sahen sich die Grünen an, als ob sie sagen wollten: So was, hat obendrein noch eine große Schnauze! Frech sind die Lümmels... ."
„Sind Sie stille! Los, los Bürschchen. Auf Sie haben wir gerade gelauert."
Der eine Polizist stieß Ernst vor sich her, der andere sagte nichts, es hatte den Anschein, als ob er das Verhalten seines Kollegen nicht billigte.
Auf der Straße hatten sich Menschen angesammelt.
„Wen habt Ihr denn da gefangen, einen Raubmörder?"
„Machen Sie Platz da! Das geht Sie gar nichts an."
„Ach wo, die haben sich wieder mal stark gefühlt und haben einen jungen Kommunisten verhaftet."
„Nee, det is doch allerhand! Wat hat er denn jemacht?"
„Zeitungen verkauft, nur Zeitungen verkauft."
„Wat, deswegen wird man heute schon verhaftet? Junge, Junge, sind wir weit!"
Der erste Schupo sagte ruhig zu den Leuten: „Gehn Sie doch auseinander. Wir müssen doch unsere Pflicht erfüllen." In seinen Worten klang eine leichte Ironie, die aber keiner bemerkte. Es war eben ein Grüner, und die Grünen in Uniform hatten bei der Nostizstraße keinen Stein im Brett. Dazu hatten die Leute in den letzten Jahren, und vor allem in den letzten Monaten schon zuviel erlebt
Straßenbesetzung!
„Ach Sie, wat is denn Ihre Pflicht? Det wissen Sie ja alleene nich mehr vor lauter Notverordnungen."
Ernst hatte Adressen von Genossen in der Tasche, er hätte sich backpfeifen mögen. Sie waren auf Seidenpapier geschrieben. An der Ecke Bergmannstraße hatten sich etliche Genossen versammelt, die Polizisten mussten den Gummiknüppel ziehen. Diesen Moment nutzte Ernst aus: er holte mit unauffälliger Handbewegung das Papier aus der Seitentasche und steckte es in den Mund. Ein paar Kaubewegungen, und ohne große Schwierigkeiten war es heruntergeschluckt.
Ein Überfallwagen kam angerast und schaffte Ordnung in der Nostizstraße.

Die Genossen trafen sich auf der Gneisenaupromenade. Dass einer verhaftet wurde, kam ja fast alle Tage vor, sie verloren darum nicht gleich den Kopf. Im Gegenteil.
„So eine Gemeinheit!" sagte ärgerlich der Bauer aus Langendorf. „Mir hätten sie auch bald gehabt, aber der Ernst ist ein feiner Genosse, wenn der sich nich so geschickt verhalten hätte, dann wäre ich jetzt ooch mit. Ich bin jetzt Herr Lutze!"
„Wie viel Zeitungen habt Ihr verkauft?"
„36 Stück, 14 haben wir noch, die nehme ich morgen mit zum Nachweis."
„Dufte! Und Ihr? He, passt doch ein bisschen auf!" „Wat denn, wat denn? Mensch, hier haste Geld, 60 Stück off eenen Schlag, mein lieber Scholli."
Einer nach dem anderen ging nach Hause. Theo, Elly und Erich setzten sich noch auf eine Bank.
„Wird er wiederkommen?" fragte Elly.
„Natürlich. Den lassen sie frei. Vielleicht kriegt er einen Prozess."
Erich atmete schwer. Er war ganz gelassen und selbst darüber etwas erstaunt. Dann sagte er einfach: „Ja, da wird man immer härter, wenn man das erlebt. Und jetzt weiß ich auch, dass wir nicht umsonst arbeiten."

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