IV.
Bei Familie Rhoden war Krach. Richtiger, derber Krach kam bei der Familie aus dem Rheinland nur selten vor. Viktor war nur zwei Stunden älter als sein Bruder Hermann. Kraftstrotzend und faul war er am Morgen im Bett geblieben. Zwar hatte er seinem Vater versprochen, gleich aufzustehen und zur Markthalle nachzukommen, aber er dachte nicht im geringsten daran. Die Mutter kam, schimpfte, kreischte und wollte ihm die Decke wegziehen. Viktor war bockig wie ein Esel, auf dem man schon zu lange herumgeritten ist; ärgerlich knurrend steckte er den Kopf unter die Decke und blieb liegen. Immer das ewige Einerlei: Viktor, aufstehen, zur Markthalle! Viktor, fass mal an die Kiepe da an, und dann sortiere die faulen Äpfel aus! Viktor, Feierabend, dann gehst du noch eine Weile spazieren bis neun Uhr, und dann marsch, ins Bett!
Viktor war ein kräftiger Bursche. Er hatte auch andere Sehnsüchte — aber die wurden ihm in der Nostizstraße zwischen 7 und 9 Uhr abends nicht erfüllt. Er fühlte sich gekränkt, vernachlässigt, gedemütigt, und er war doch der Sohn eines selbständigen Gemüsehändlers en gros. So protestierte er in dieser hilflosen, ahnungslosen Art. Damit kommst du nicht durch, Viktor, hatte er manchmal zu sich selbst gesagt.
Doch der Drang in seinem Körper, dieser Drang, den jeder Bursche in Viktors Alter staunend empfindet, ohne ihn beschreiben zu können, war stärker, als die gute, rheinische Erziehung. Deshalb kam der Krach.
„Warum bist Du nicht gekommen?" fragte nachmittags der Vater, als er schwitzend aus der Markthalle zurückgekehrt war.
Erst wollte Viktor stillschweigend abziehen, ohne sich zu verteidigen, dann aber hatte er es sich anders überlegt und sagte kühl, fast höhnisch; „Ich fühlte mich nicht wohl, Papa."
Da wetterte der Alte los, seine Stimme überschlug sich vor so viel Frechheit. „So, Du fühltest Dich nicht wohl?! Hast Du überhaupt schon heute etwas verdient? He, hast Du schon überhaupt etwas verdient, frag ich Dich? — Willst Du antworten, Du störrischer Bengel?!"
Die Mutter legte ängstlich die Hand auf den Arm des aufgeregten Alten. Der sah sie verständnislos an. „Willst ihn wohl in Schutz nehmen, was? Unsereins plagt sich von früh bis spät, dass es die Kinder später mal besser haben, und dann erntet man so einen Dank. Überhaupt heute, bei solchen Zeiten. Wir haben letzte Woche alle drei zusammen keine siebzig Mark verdient, und der bleibt einfach liegen, bleibt im Bett: ich komme gleich nach. Geh man, schufte Du man, Alter. Wer nicht kommt, ist mein Viktor! So!"
Hermann musste kichern, er stieß dem Bruder in die Seite und flüsterte schadenfroh: „Siehste, da hast Du es!" Der Alte rannte aufgeregt hin und her. Er wollte nichts zu essen haben.
„Nein, nein! Lass, ich kann vor Ärger nichts essen. Da muss man ja... da hat man ja... haaach! Da weiß man überhaupt nicht mehr, was man dazu sagen soll!" Er sah Viktor so böse und drohend an, dass der sein Essen stehen ließ und sich in das Zimmer zurückziehen wollte, das den beiden Jungens gehörte. Da donnerte ihn der Alte von neuem an. Seine Augen waren aufgequollen und die Lippen blau wie die einer Wasserleiche.
„Hier geblieben! Sag mir jetzt, was mit Dir Jos ist! Sag mir jetzt endlich, oder ich vergeß mich!"
Jetzt bekam Viktor richtige Angst, Mit kleinen, trippelnden Schritten lief er vor seinem Vater hin und her und wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er geantwortet hätte: Papa, ich hatte keine Lust, dann hätte es Senge gegeben, fürchterliche Senge — da hing so ein altes, kerniges Militärkoppel im Schrank. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er traute sich nicht, den Vater anzusehen, nur von unten herauf beobachtete er alle seine Bewegungen.
„Wilhelm, um Himmelswillen, Wilhelm! Lass ihn doch sein! Er wird sich sicher nicht wohl gefühlt haben", rief entsetzt die Mutter.
„Ach was! Ein Kerl wie ein Bär und sich nicht wohlfühlen. Lächerlich. Lass mich nur machen, Du hast ihn nämlich bloß verwöhnt. Der liegt im Bett, und ich quäle mich mit den Körben und Kisten herum. Warum hat man denn die Lausejungens großgezogen? Bloß zum Sattfressen? Nee, meine Liebe!"
„Ja natürlich, ich hab' ihn verwöhnt, nun gib mir man wieder die Schuld. Natürlich, wenn Du nicht weiter kannst, dann bekomme ich Deine Wut zu spüren. Ist ja lächerlich, sich so aufzuregen. Lass ihn zufrieden, es wird schon nicht wieder vorkommen. Nicht wahr, Viktor, mein Junge?"
„Nein, Mama, es wird nicht mehr vorkommen", sagte Viktor und kam sich dabei wie ein Schulrabe vor.
„Was Du bloß immer hast! Ich möchte gerne wissen, warum er nicht aufgestanden ist."
„Weil mich ein solches Leben ankotzt!!" brüllte Viktor plötzlich. „Wir haben unser Abitur gemacht, haben gelernt bis in die Nacht, und ich habe dabei bestimmt nicht von Gemüsekörben geträumt, Papa. Das wollte ich Dir sagen."
Der Alte war platt. So etwas war einfach noch nicht dagewesen, so etwas hatte sich von den beiden Jungens noch keiner erlaubt. Wie ein Wilder brüllte jetzt Herr Rhoden los:
„Ruhe, Ruhe, Freundchen! Immer ruhig bleiben, nicht wahr? Was kotzt Dich an, wie Du Dich auszudrücken beliebtest, he? — Dieses Leben? Ja, sag mal, was hast Du Dir denn überhaupt für ein Leben vorgestellt? Meinst Du, das Gute kommt alles von selbst. Nein, da heißt es arbeiten von früh bis spät, arbeiten und noch mal arbeiten, wenn man es zu etwas bringen will. Du siehst, ich muss auch zufrieden sein.“
„Ja, Papa, Du bist vielleicht zufrieden, aber wir sind jung! Das darfst Du nicht vergessen. Und dann weiß ich ja auch, dass Du von früh bis spät arbeitest und noch immer nicht weiter gekommen bist. Im Gegenteil: vor vier Jahren hast Du den Laden verkaufen müssen, zwei Jahre später das Auto. Früher hattest Du vier Leute ständig angestellt, heute keinen. Das ist es ja, was ich nicht begreife."
„Das verstehst Du wieder nicht. Das hängt mit der allgemeinen Krise zusammen. Und weil Deutschland den Krieg verloren hat. Wir müssen eben die Hälfte des Ertrags unserer Arbeit an die Franzosen zahlen. Wir, die Mittelständler... " Der Alte wurde ruhiger.
„Das weiß ich ja auch alles, Papa. Aber warum arbeitest Du denn da? Ich meine, warum arbeitest Du denn so viel, dass die andere Hälfte, die man aus Dir herauspresst, recht groß wird? — Sieh mal, ich kann verzichten, und ich verzichte gern. Aber etwas muss man doch schließlich vom Leben haben. Du hattest uns beiden ein Motorrad versprochen... "
„Ach so, dahinaus willst Du! Das mach Dir man ab, mein Junge, Motorrad, nee, nee, da ist nichts mehr zu wollen. Vorläufig gar nicht daran zu denken, mein Lieber. Arbeite tüchtig und spare, dann werden wir weiter sehen. Aber vorläufig — nee. Und jetzt will ich meine Ruhe haben!"
Der Alte nahm einen Pack Steuerquittungen und ging damit in die große Stube. Seine Frau eilig, immer noch ängstlich, hinter ihm her.
„Bude zu, Affe krank!" sagte lächelnd Hermann. „Mensch, unser Alter, mit dem kannst Du doch nicht reden, was denkst Du, wie der mir heute den ganzen Tag in den Ohren gelegen hat: Das faule Schwein kommt doch nicht! Na, warte man, lass mich man zuhause sein, dem schlag ich die Knochen im Leibe kaputt, vielleicht ist er doch krank — aber nein doch, ein Kerl wie ein Bulle... so ging das den ganzen Tag. — Warum bist Du denn nun eigentlich nicht gekommen? Mensch, wegen Dir musste ich heute doppelt arbeiten. Dauert nicht lange, dann bleibe ich einfach liegen."
„Ja, was soll ich Dir da antworten? Dir gehts wahrscheinlich genau so wie mir, Hermann. Es ist alles Scheiße!" Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sah lauernd zu Hermann.
Der schien alles nicht so schwer zu nehmen. Er blickte gleichgültig umher und knabberte die Knochen seines Koteletts ab. Dann nahm er sich wieder sein Buch vor, „Die Sünde wider das Blut".
,Ja, Hermann, man muss sich doch darüber klar sein, was später werden soll. Meinst Du, ich habe Lust, mich dauernd mit Gemüsekörben rumzuschleppen und wie ein Jude mit den Leuten zu handeln? Ekelhaft ist so ein Prachergeschäft — verflucht, wenn ich doch bloß weg könnte von hier! Immer dasselbe Einerlei, immer derselbe Stumpfsinn!"
„Ja, die Juden", sagte Hermann gedehnt „,wenn die nicht wären. Wo soll denn das auch alles hin? Der alte Herr kann doch nichts dafür; was denkst Du, was der sich für Kopfschmerzen macht, Viktor. — Übrigens, wenn im Sportpalast wieder mal Naziversammlung ist, gehe ich wieder hin. Das sind doch Kerls! Und der Goebbels, der kann reden, sage ich Dir! Da wird man direkt begeistert. Manches ist ja Quatsch, was er sagt, aber die Juden, die hat er anständig beim Wickel."
„So. Also Dir gefällt das auch. Mir hat vor allem der Fahneneinmarsch imponiert. Das Militärische, Forsche, dafür kann ich mich begeistern. Man muss ja irgend etwas haben. Gehn wir zu den Nazis, Hermann!"
„Und der alte Herr, was wird der dazu sagen?"
„Ach was, der sagt gar nichts, der freut sich vielleicht noch. Bei den letzten Reichstagswahlen hat er auch Nazis gewählt.; Der schimpft auch auf die Juden. Das muss doch mal anders werden, entweder gehn wir so oder so kaputt."
„Und wenn es in der Straße bekannt wird?"
„Das braucht ja niemand zu wissen. Sehen wir uns eben ein bisschen vor."
„Das sind aber alles Kommunisten."
„Was heißt Kommunisten. Sind wir ja auch, bloß, dass wir mit den Juden auch abrechnen wollen. Bin schon einverstanden mit den Kommunisten. Alles kaputt schlagen! Weißt Du, manchmal möchte ich den Kurfürstendamm herunterrennen und alles über den Haufen stechen, so eine Wut habe ich... "
Hermann legte das Buch beiseite. Er kratzte sich die Brust und schnaufte. Hass und Wut war in beiden aufgestaut. Irgendwo musste jetzt Luft geschafft werden.
„Und das alles wegen dem verlorenen Krieg! Weil wir alles bezahlen müssen, deswegen geht es uns so beschissen, und wegen der Juden, die alles in der Hand haben und mit Frankreich liebäugeln. Und dagegen sind eben die Nazis."
„Die Kommunisten aber auch, Viktor."
„Na ja, aber wir können doch nicht zu den Kommunisten gehen. Mach Dich doch nicht lächerlich! Das geht nicht... "
„Ich versteh schon. Aber stell Dir vor, wir kommen mit den Leuten hier aus der Straße in Konflikt. Die werden von den Nazis doch oft schlimmer als die Juden behandelt. Ich habe da doch immer noch einige Bedenken."
„Ach, die gehen schon noch vorüber. Das ist doch kein Problem. — Hoffentlich hat sich der Alte beruhigt; ich dachte schon, er wollte mich fressen."
Der Alte hatte sich noch nicht beruhigt. Mit einem lauten Fluch hatte er seinen Schreib- und Steuerkram in die Ecke geworfen und sich stöhnend und resigniert ins Bett gepackt.
„Sei doch schon endlich ruhig, Wilhelm!" redete ihm seine Frau gut zu.
„Du hast gut reden. Aber ich, ich allein bin hier der Leidtragende... " Seine Stimme klang weinerlich. Er fasste mit krummen Fingern in die Bettdecke und warf sich hin und her. Seine Frau kämmte sich die Haare.
Das zweischläfige Bett nahm den größten Teil der Stube ein. Über ihnen hing ein kleines, silbernes Kreuz, dessen Querteil hielt mit Nägeln die Arme Jesu. Blut tropfte von den Händen des Gekreuzigten, Blut tropfte von seinem Kopf, der schwermütig und zerfurcht von vielem Leiden auf die rechte Schulter geneigt war.
Rhoden hob das Kinn hoch und sah seufzend nach oben. „... und erlöse uns von dem Übel... " Der Mann streckte die Arme empor und lag lange mit geschlossenen Augen da. „Erlöse uns? Erlöse uns? Wer erlöst uns denn?" schrie er plötzlich.
Seine Frau kam sonderbar ruhig: „Sei still, Papi."
„Ja, sei still. Immer bin ich still gewesen, Marie."
Der alte Rhoden, der nicht wusste, warum das alles so war, weinte. Dicke, salzige Tränen hingen ihm an den Wimpern, liefen über die faltigen Backen und den traurig verzogenen Mund. „Meine eigenen Jungens, meine Jungens, an denen ich so gehangen habe, Marie. Was sind das für kräftige Kerle. Weißt Du, ich sage ihnen das nicht, ich lasse sie es auch nicht merken. Und doch freue ich mich, wenn ich mit beiden, der eine links, der andere rechts, durch die Straßen gehe. Meine Jungens sind so zu mir? Und ausgerechnet der Viktor. Von dem habe ich das meiste gehalten. Ich kann sie ja trotzdem so gut verstehen. Sie sind ja noch so jung."
„Sei doch jetzt ruhig, Wilhelm", sagte liebevoll seine Frau und kuschelte sich dicht an ihn. „Warum machst Du Dir denn immer so viel Kopfschmerzen, es wird schon alles besser werden. Sei doch ruhig jetzt... "
„Wie kann ich denn ruhig sein! — Ach, lass mich doch in Frieden. Herrgott, machst Du Dir denn gar keine Kopfschmerzen darüber? Was soll denn aus den Jungens mal werden? Wer weiß, wie lange noch, und mein Gemüsehandel hat aufgehört, längstens noch bis zum Winter. Die verdammten Steuern machen einen ja kaputt, die fressen ja am meisten... Ich kann das schon verstehen von dem Viktor. Die armen Teufel haben ja auch nichts von ihrem Leben."
„Wilhelm, hör doch jetzt auf. Das ist doch nun einmal so: wenn der liebe Gott will, hilft er schon."
„Ja, der liebe Gott... . ja... "
Theo trug gern Ledergamaschen und ein einfaches Hemd. Wenn er allein war, ging er immer eilig, er wusste selbst nicht warum, es lag so in ihm drin. Er arbeitete in einer kleinen Tischlerei in der Wiener Straße, eine halbe Stunde von der Nostizstraße entfernt. Oft ging er nicht gleich von der Arbeit aus nach Hause, es wurde elf, zwölf, manchmal auch ein Uhr, ehe er Mittag essen konnte. Seine Gamaschen waren stets blank, man konnte sich darin spiegeln. An seiner blauen Schirmmütze trug er ein rotes Fliegerabzeichen. Darauf war er stolz. Das hatte ihm mal eine kleine, schwarze russische Genossin geschenkt. Er dachte oft sehnsüchtig an sie. Bis ihm dann plötzlich wieder einfiel, dass er noch da und da hin müsse. Und er sprang auf, raste los und rannte alles über den Haufen, was ihm in den Weg kam. Er konnte Unpünktlichkeit nicht leiden. „Unpünktlichkeit ist Diebstahl an der proletarischen Revolution" pflegte er zu Genossen zu sagen, die das Privileg für sich in Anspruch nahmen, immer zu spät zu kommen, und sei es auch nur um eine halbe Minute, Fast nie gönnte sich Theo einen freien Abend, nur ganz selten einmal an einem Sonntag. Und auch dann konnte er nicht stille sitzen: et suchte die faulen Genossen auf und schmierte sie nach Strich und Faden aus.—
Wie ein Wiesel sprang er die vier Treppen hoch, klopfte ungestüm.
„Nanu, nanu, wo brennt's denn schon wieder?" empfing ihn seine Mutter. Frau Schade war immer guter Laune. Aber sie konnte auch ernst sein, besonders wenn sie sich mit den Frauen unterhielt, da konnte sie manchmal geradezu wütend werden:
„Schon sechs Kinder, und det siebente soll jetzt kommen?! Wat wollen Sie denn bloß mit so viel? Zu was denn!"
„Ach ja, wat soll man denn bloß machen?"
„Quatsch, es gibt doch so viel Sachen, die einigermaßen sicher sind... ,"
Solche Gespräche führte sie oft, sie redete dann so leidenschaftlich, dass den Frauen beinahe Angst wurde. Aber sie hatten Vertrauen zu ihr und ließen sich geduldig die Seele waschen.-------
„Junge, wo kommst Du bloß so spät her? Det janze Essen ist schon wieder kalt ... "
„Mach, Mutter, mach! Ich muss rasch wieder weg. Wir haben Flugblätter verteilt vor DTW. in der Zeughofstraße. Mach schnell, ich habe keine Zeit."
„Na, Du wirst doch wohl noch zum Essen Zeit haben. Herrgott, Du wirst ja immer weniger. Was nützt Dich denn der Klassenkampf, wenn Du nachher auf der Nase liegen bleibst."
„Ach, mach doch schon, Mutter, das ist doch gar nicht wichtig! — Wenn Du das Essen noch nicht fertig hast, esse ich eben nachher."
„Nu warte doch schon, warte doch, is doch gleich fertig. — Nee, der Junge, der macht sich noch ganz kaputt mit seiner Rummrennerei... "
Sie hantierte still am Herd und sah ab und zu mal zu Theo. Er saß am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt und las eilig die „Rote Fahne".
Frau Schade bewohnte mit ihrem Jungen Stube und Küche. Der Vater war bei den Spartakuskämpfen 1918 erschossen worden. In der Stube, am Fenster, stand ein selbstgebautes Bücherregal, von oben bis unten mit Broschüren und marxistischer Literatur voll gestopft. Darüber in schmucklosem, schwarzem Rahmen ein Leninbild. Lenin lächelte auf diesem Bild ganz leis, ein leises Lächeln, das einem ordentlich Mut machte.
Die Wand hatte Theo im Winter mit billiger Ölfarbe gestrichen. Unter einer alten Matratze hatte er Füße angebracht, mit einer wollenen Decke belegt, stand sie jetzt als seine Schlafgelegenheit in der Küche.
Seine Mutter kam lächelnd mit einem großen Teller Kohl: „Hier, Theo, lass Dirs schmecken! Fleisch ist nicht drin, aber es wird auch so gehen."
„Ach, das ist doch gar nicht wichtig, Mutter. Mach schon, ich muss gehen,"
Hastig begann er zu schlingen. „Au verflucht, is das heiß!" „Nu hör aber auf! Ich kann doch nicht wegen dem Klassenkampf das Essen ohne Feuer kochen."
„Doch, wenn es notwendig ist, muss auch das gehen, Genossin Schade. Dann wird eben nicht gekocht, dann wird der Kohl eben roh gefressen, nicht wahr?"
Die Mutter kam langsam an den Küchentisch heran. Am liebsten hätte sie jetzt ihrem Jungen das Haar gestreichelt, aber sie wusste, er konnte das nicht leiden und würde hochfahren. Für ihn waren Mutterliebe und Familiensinn Begriffe, die einer alten, stockigen Vergangenheit angehörten. Sie schaute ihm beim Essen zu und sagte nur: „Bist ein tüchtiger Kerl, Theo."
Er hatte fertig gegessen, schob den Teller beiseite und sprang auf. Mit seinen harten Händen fasste er die Mutter bei den Schultern, dass sie aufschrie.
„Ja, Mutter, wir beide, nicht wahr? Aber jetzt muss ich gehen, wenn ein Genosse kommt und es ist eilig, dann schick ihn zu Doktor. Rot Front! Mutter!"
„Rot Front! Theo!" rief sie ihm nach. Aber er hörte nicht mehr, seine Schritte polterten schon im zweiten Stock.
Doktor wohnte möbliert in der Solmsstraße bei einer alten, äußerst freundlichen Frau. Sie war etwas rundlich, hatte graue Haare und gütige, verständnisvolle Augen.
Ernst probierte an dem Greifapparat herum. Sein Kopf war vor lauter Eifer rot und die Hände von der Farbe schwarz. Er sah aus wie ein kleiner Junge, dem man zum ersten Mal einen Tuschkasten zum Spielen gegeben hatte.
„Wenn ick bloß wüsste, wie det Ding funkt. Mein Jott, die olle Schraube hier, zu wat die bloß da dranne is, möcht ick wissen."
„Zeig doch mal her!" unterbrach Doktor fachmännisch Ernsts Betrachtungen über die Tücken und Schrauben eines Abziehapparates. Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern und murmelte unverständlich etwas. Da klingelte es, und gleich hinter der Wirtin trat Theo ins Zimmer.
„Schöner Besuch", murrte Ernst, „der will doch bloß wieder kritisieren."
„Guten Tag, Jungs!"
„Guten Tag, Papa!"
Doktor bemerkte grienend: „Die Begrüßung zweier Komsomolzen, von denen der eine sich anmaßt, der Vater des anderen zu sein, während der andere sich tatsächlich einbildet, er war der Junge des
einen.'
„Nu werde man nich schon wieder philosophisch, Doktor! Zeigt mal her, was Ihr gemacht habt! Warum habt Ihr denn den Apparat schon aufgestellt?"
„Zum Abziehen, alter Dussel, oder denkste zum Brotschneiden?" knurrte ihn Ernst an. Es passte ihm gar nicht, dass Theo so mir nichts dir nichts hereingeschneit kam, wie ein Lehrer alles kontrolliert und einem womöglich noch alles über den Haufen schmeißt.
Missgelaunt holte er ein paar eng beschriebene Bogen vom Schrank. Oben auf dem Papierstapel lagen etliche gute Zeichnungen und der Kopf der Zeitung, fein säuberlich mit Ausziehtusche in mühseliger Arbeit von Ernst hergestellt, „Die Rote Sturmfanfare".
„Hm, Sturmfanfare, Das hört sich ganz gut an, klingt aber zu romantisch. Sturm ist mir zu windig, und Fanfare heißt schon die Zeitung vom Kampfbund Machen wir ... "
„Siehste, Doktor, wat hab ick jesagt?! Der kommt, und denn: ja, ja, ja, det, und det, und det muss aus politischen Gründen geändert werden. Wie soll se denn heeßen, wat?"
„Müssen wir mal sehen. Jedenfalls muss es etwas mit Jugend sein, es soll doch eine Jugendzeitung werden."
Ernst war ordentlich wütend, Doktor lächelte still vor sich hin und sagte: „Kabbelt Euch man, ich verbrenne mir nicht mehr die Schnauze."
„Nennen wir sie doch Komsomolz-Prawda" meinte nach einer Weile Ernst lächelnd, dabei seine schlechten Zähne zeigend.
„Unsinn, ,Prawda' versteht doch keen Mensch!"
Theo überlegte ernsthaft, Ernst erteilte Ratschläge, Doktor ging Tee kochen.
„Na, pass mal auf, Theo, nennen wir doch det Ding ,Der junge
Wühler'."
„Hm, jung und wühlen. Passt ganz gut zusammen. Jung und die bürgerliche Gesellschaft unterwühlen, den Proleten aufwühlen, hm", sagte Theo, „gut, Ernst, schön, sagen wir ,Der junge Wühler'. Aber wir müssen uns beeilen. Gestern ist die ,Junge Garde' verboten worden, da muss von uns sofort etwas unternommen werden. Siehste, Du kannst direkt wat."
„Wollt ick ooch jewußt haben, alter Freund. Also ,Der junge Wühler'. Verflucht, nu muss ick ja eenen neuen Kopp malen."
Doktor brachte Tee. Ernst brummte: „Ne anständige Molle wäre mir lieber."
„Ach was, Molle. Bier ist schädlich. Alkohol hält den Proleten vom Klassenkampf ab. Das Biertrinken sollten sich alle Genossen abgewöhnen."
„Wie ein Pastor sprichst Du. Molle trinken hat noch lange nischt mit besaufen zu tun. Und wenn anständiger Ersatz da ist, werden unsere Jugendgenossen keine Molle mehr trinken. Man kann doch Othello nich kaputljehen lassen."
Theo hatte sich die Artikel vorgenommen, die Ernst und Doktor im Übereifer zusammengeschmiert hatten. Er blätterte und machte sich Notizen. Nach einer Weile sagte er gemessen und freundschaftlich:
„Der Hauptfehler der Zeitung stellt sich jetzt schon heraus Es ist falsch, wenn Ihr beide die Artikel allein schreibt, Ihr müsst auch die Genossen aus der Gruppe damit beauftragen. Weiter müsst Ihr zu erreichen versuchen, dass indifferente Jugendliche über ihre Nöte in unserer Zeitung schreiben. Dann finde ich keinen Artikel, der besonders auf unser Gebiet zugeschnitten ist; in den umliegenden Straßen passieren so viele Dinge, die sich ausgezeichnet verwerten lassen, da findet Ihr so viel interessantes Material. Und dann, was ist das für ein Unsinn im Schlusssatz des Leitartikel.... Die proletarische Jugend ist am Ende Es ist daher kein Wunder, wenn Hungernde auf offener Straße Briefträger anfallen oder Selbstmord verüben. Das ist unklar. In dem ganzen Artikel kommt nicht zum Ausdruck, dass es eine andere proletarische Jugend gibt, die den Kampf führt gegen diese Zustände. Ein Jugendgenosse wird keinen Briefträger anfallen, nicht wahr? — Warum hast Du das nicht korrigiert, Doktor?"
„Was heißt das, Genosse Theo, der Ernst lässt sich von mir doch nichts sagen. Mach Du man ruhig," sagte Doktor ironisch.
„Quatsch nicht so duslig!"
Ernst war ganz aufgeregt. Er nahm die Blätter eines nach dem anderen zur Hand und sah sie wie geistesabwesend noch einmal durch. Dann legte er sie mit einem lauten Fluch auf den Tisch, so heftig, dass der Tee überschwappte. „Wat nu, Mensch? Nu soll ick wohl wieder von vorne anfangen, wat? — meine Herren!"
Doktor lachte innerlich und nickte mit dem Kopf. „Feiner Anfang. Wenn wir so weiter machen, sind wir in vierzehn Tagen fertig.
Ist ja auch klar, bei dieser falschen Zusammenstellung der Redaktion."
„Du wolltest wohl sicher sagen, bei dieser psychologischen Unmöglichkeit der Zusammenstellung", verbesserte ihn Theo.
„Vielleicht hast Du recht, mein Lieber. Diese Seite darf man nicht außer acht lassen. Jedenfalls ist die Basis für eine gute Zusammenarbeit nicht vorhanden."
„Dann hast Du die Aufgabe, eine solche Basis schnellstens zu schaffen, verstehst Du. Wir müssen die Kräfte, die vorhanden sind, verwenden, Unmöglichkeiten in Deinem Sinne darf es für uns nicht geben! Du bist stärker als Ernst, das ist entscheidend."
Ernst interessierte die Unterhaltung der beiden absolut nicht, er hantierte wieder am Abziehapparat herum.
„Hast Du ihn geholt, Ernst?"
„Ja, zwei Mann hoch. Erst wollte er ihn nicht rausrücken, da hatten wir ihm ein bisschen vom Wehrsport erzählt, und nach langem hin und her hat er ihn dann vorgekramt. Er wusste selber nicht, wem der Apparat gehört. Jetzt gehört er jedenfalls uns."
Ernst war wieder der alte. Seine Wut war wie weggeblasen, und stolz lief er um den Apparat herum wie ein großer Wachhund.
„Macht die Sachen bis morgen fertig und gebt sie Grete mit. Platten hat sie schon besorgt. Vor der Landagitation werden wir doch keine Zeitung haben, heute ist schon Donnerstag...."
Doktor hatte die dritte Tasse Tee beim Wickel. Ernst schnupperte daran herum und goss sie in einem Zug herunter. „Ist der zum Abführen, Doktor?"
Wolkenfetzen schoben sich am Himmel zu großen grauen Klumpen zusammen, als die drei die Straße betraten. Wütend trieb der Wind Blätter und Papierreste vor sich her, es war dunkler als an anderen Abenden um die gleiche Zeit.
Die drei Jungens gingen zur Nostizstraße, in der Mitte Doktor wie ein altes, hilfloses Männlein. Ernst war lustig, er fing an zu singen:
„Ach, lass doch fahren hin, was früher einmal war! Maruschka, koch uns Tee aus dem neuen Samowar."
Dabei lief er in kleinen Sprüngen einige Meter vor und klatschte in die Hände. Seine Augen lachten, und die schlechten Zähne sahen plötzlich gutmütig aus. Er kam wieder zurück und sagte nachdenklich:
„Mensch, wenn wir uns doch mal richtig freuen könnten! So wie die russische Jugend, Sich richtig freuen, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu brauchen. So wie ,Hier, wir sind die Jugend, macht Platz'!"
Er schlug vor lauter Übermut auf Doktors schmale Schulter, und wäre die Brille nicht stabil gewesen, bestimmt wären die Gläser dabei herausgesprungen. „Du bist ja gar nicht so, Doktor. Lass man."
Doktor lächelte plötzlich still und wurde nachdenklich.
In der Nostizstraße war es ruhiger als gewöhnlich, es war nicht so heiß, die meisten Leute schliefen schon. Nur Jugendliche standen in losen Gruppen vor den Haustüren. Franz machte ein finsteres
Gesicht und Kater schlich von einem zum anderen. Frieda stand mit
dem hageren, hübschen Gustav an die Haustür gelehnt. Sie sah aus,
als sei eben das Glück an ihr vorbeigegangen. Gustav redete leise auf
sie ein, packte sie grob am Arm, sie sah ihn an, ängstlich und flehend:
„Lass doch, Gustav! Ich kann doch nicht, ich kann doch nicht..."
„Schön, wenn Du nicht willst, gehe ich. Es gibt ja so viele Mädels,
die nicht nein sagen."
„Das weiß ich ja. Das weiß ich ja auch, Gustav. Warte doch, später mal. Jetzt nicht. Ich kann doch nicht... "
„Also los, komm mit. Bei uns ist keiner zu Hause. Komm, mach schon!"
„Nein! Ich kann nicht. Ich möchte aber, dass Du bleibst."
„Dann rutsch mir den Buckel runter", sagte Gustav und schob ärgerlich ab. Frieda lief hinter ihm her, sie fauchte ihn an und schlug ihre Fingernägel tief in sein Handgelenk. „Du Biest!" keuchte sie. Gustav staunte, dann holte er aus und schlug ihr klatschend ins Gesicht. Sofort waren alle fünf Finger zu sehen. Frieda taumelte und lehnte sich bleich an die Wand. Aus ihrer Nase tropfte hellrotes Blut auf ihre kleinen, abgearbeiteten Hände. Sie sah es an, mit verständnislosen, gleichgültigen Augen. Gustav aber ging seelenruhig weiter. Er bereute schon wieder sein Verhalten, aber zurück ging er nicht mehr, das brachte er doch nicht fertig. Seine Freunde hatten den Vorgang aus geringer Entfernung beobachtet.
„Warum hast Du geschlagen?" fragte Spinne.
„Meine Sache, verstehste!"
„Na, Du brauchst doch aber nicht gleich zu hauen," wiederholte Spinne.
„Ach, halt die Fresse!"
Franz kniff die Augen zusammen und sah lauernd zu Frieda. In ihm tobte es. Aber dann sagte er friedfertig: „Geht Dir nischt an, Spinne! Lass die doch machen, was sie wollen. Mensch, so oder so, is ja doch allet ejal. Wenn die später verheiratet ist, hat sie es nich so schwer, da is sie schon dran gewöhnt. Die verfluchten Weiber. Ick hatte mal eene, die wollte wegen mir ins Wasser gehen, aber rangelassen, hat mir das Aas nich. Heute geht sie aufn Strich. Wenn ick will, kann ick bei die als Lude gehn."
„Na, und warum jehste nich?" fragte Spinne neugierig.
„Alte Nudelpfeife! Denkste denn, ick lasse mir wejen so eine Sau einsperrn? Wer Geld nimmt, wird verklagt, mein Lieber."
„Ja, is schlimm, mit die Tippelschicksen, ich möchte keene sinn."
Spinne wurde nachdenklich. Solche Gespräche kitzelten. „Na, wie is denn det, brauchen die denn alle een Luden?"
Franz fuhr wütend hoch. „Brauchen, brauchen! Wat weeß ick. Manch eene braucht een, manche wieder nich. Wenn alle solche Prügels kommen wie Du, da brauchen sie keenen, mit Dir wird ja jede fertig. Oder willst Du etwa Lude wern?"
„Ach wo. Aber muss doch interessant sein der Beruf."
Gustav gähnte gelangweilt. Am liebsten wäre er zu Frieda gelaufen, hätte sie zärtlich umgefasst und ihre Haare gestreichelt. Er sagte schleppend:
„Wenn ,Grüne Woche' is, denn möcht ick Lude sinn. Mensch, würde ick die Großagrarier hochnehm! Ohne Hemde würde ick die über die Stoppeln jagen. Das sinn die Richtigen. Und im Dorf wundert man sich, wie die Syphilis reinjekommen is. Da wäre noch wat zu machen."
Große, schwere Regentropfen fielen. Der Himmel wurde dunkel, ein heftiger Wind fegte plötzlich durch die Straßen. „Da, jetzt fängt et och noch an zu regnen!" „Wat, jehn wa nach Hause. Kinder is det een Mist."
In Othellos Kneipe war wenig Betrieb. Drei alte Männer spielten Skat. Erich Schmidt saß mit Elly an einem Tisch. Elly sah den Burschen mit dem traurigen Gesicht neugierig an. Im Hinterzimmer war es dunkel. Othello saß mit halbgeschlossenen Augen hinter der Theke und träumte.
„Ach ja", seufzte Elly. Auf ihrem blassen Gesicht waren kleine rote Flecken. Sie schob die Oberlippe vor, und als Erich zu ihr hinsah, tat sie wieder gleichgültig und gelangweilt.
„Was meinst Du?"
„Nichts, ich dachte nur so."
Nach einer Weile begann sie wieder. Ganz verändert war sie auf einmal: „Wie alt bist Du eigentlich, Erich?"
„Zwanzig. Warum fragst Du?"
„Du siehst jünger aus. — Gefällts Dir bei uns?"
„Wie man's nimmt. Ich habe ja noch nicht viel mitgemacht. Ihr habt ein paar ganz anständige Leute hier." Er beobachtete sie, indes er sich weit über den Tisch lehnte, dabei die Hände knetend, bis sie schweißig wurden.
„Es wird Dir schon gefallen. Wenn Du erst theoretisch ein bisschen weiter bist. Kommst Du mit zur Autofahrt?"
„Ich kann nicht, hab kein Geld. Karl sagt ja, man wird für mich sammeln unter den Genossen, aber das möchte ich nicht."
„Ach, komm doch mit. — Ich werde Dir das Fahrgeld geben."
„Nicht doch! Nein! Das geht doch nicht."
„Nu mach schon, komm nimm. — Ich möchte gern, dass Du mitkommst."
Sie sahen sich lange an. Erich wurde wieder sentimental, beinahe hätte er geheult. Oder sie gepackt, fest gepackt, und dann die Zähne in ihre schmalen, strengen Lippen geschlagen.
Da kam Doktor mit den beiden anderen.
„Na, Ihr?"
„Na, Du?"
„Also, stell Dir vor, Elly, die Zeitung kann noch nicht rauskommen, weil diese beiden keinen vernünftigen Artikel fertig kriegen", begann Theo.
Ernst fügte entschuldigend hinzu: „Die Artikel waren ja alle fertig, nicht wahr, Doktor? Aber der Orgleiter hat sie durchgestrichen. Quatsch, politische Unmöglichkeit usw. Und nachher fing Doktor mit seiner Basis an." Er trat hinter Ellys Stuhl und fasste sie unter die Arme.
„Ist das ein Kerl!" dachte Erich. „Einfach auch so machen, ganz einfach zu ihr hingehen, drücken und stille sein dabei."
Elly wurde wieder wütend. Ihr Gesicht verzog sich, und der echte Mundwinkel hing abweisend nach unten. Dann lächelte sie Erich wieder zu.
„So, da sind wir ja zusammen. Der Genosse Erich gehört zu unserer Fünfergruppe!"
„Das ist fein!" sagte Elly, und Erich wurde rot. Doktor staunte und blinzelte durch die Brillengläser wie ein Staatsanwalt.
„Wir sind vollzählig. Los, gehen wir kleben. Solmsstraße, Baruther, Zossener, Fürbringer, Mittenwalder, Bergmann. Doktor und ich schwingen den Pinsel, vorn passt Ernst auf, und Elly und Erich hinten. Wartet, ich hol die Plakate und den Kleister."
Die Straßen waren wenig belebt. Neugierig blieben die Leute stehen und sahen sich die frisch gekleisterten Plakate an.
„Am 1. August wird demonstriert gegen die Kriegsgefahr. Für die Verteidigung der Sowjetunion, Gegen Arbeitsdienstpflicht.
Die revolutionären Jungarbeiter."
Das Kleben ging rasend schnell. Jede Fünfergruppe hatte nur vierzig kleine Plakatstreifen. Erich trottete stumpf neben Elly her. Er wartete darauf, dass sie zu sprechen anfinge. Elly sah sich ab und zu um. Sie schien ihn gar nicht mehr zu bemerken.
„Warte hier! Wir müssen aufpassen, bis die beiden über die Ecke sind, dann können wir weitergehen. Wenn ein Grüner kommt, pfeifst Du ,Waldeslust'!"
Umständlich steckte er sich eine Zigarette an. Es war kühl nach dem Regen. Elly schob sich dicht an ihn heran und sagte: „Lass mir auch mal einen Zug machen!" Sie nahm ihm die Zigarette aus der Hand und sog gierig den Rauch ein. „Dankeschön, Erich, Bist ein guter Kerl. — Komm weiter."
An der nächsten Ecke standen Ernst und die beiden Kleber.
„Was ist los?"
„Der Kleister ist zu dick."
Ernst nahm den Topf und ging wortlos in einen Hausflur. Dort knöpfte er sich den Hosenstall auf: „So. Da habt Ihr. Wir werden doch nicht aufhören. Jetzt ist der Kleister wieder dünn. Habt Ihr noch viel Plakate?"
„Nee, fünf, oder sechs Stück."
Das war alles so selbstverständlich, Erich musste lächeln. Dann schämte er sich wieder vor Elly, doch die tat so, als hätte sie nichts gesehen. Sie hielt ihn wieder zurück, bis die anderen die nächste Querstraße erreicht hatten.
„Alles so ruhig heute. Kein Grüner. Sonst haben sie uns immer gleich beim Wickel."
Was sollte Erich antworten. Er trottete neben ihr her und dachte verkrampft nach. Komisch, dieses Mädel, nimmt mir die Zigarette weg, geht kleben wie ein Junge. Erst macht sie einen mit dem Augenblinkern verrückt, und dann tut sie wieder so, als sähe sie
keinen.
In der Bergmannstraße trafen sie wieder mit den anderen zusammen.
„So, hat alles geklappt. Ab, nach Hause!"
Als Erich daheim ankam, schnauzte ihn die Mutter an, wo er so spät herkomme. Auf dem Tisch flatterte trübselig ein Talglicht. Langsam zog sich Erich aus.
Im Bett dann dachte er mit gieriger Freude an Elly, hin und wieder auch an die anderen Genossen, an das neue Leben um ihn... |
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