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Walter Schönstedt - Kämpfende Jugend (1932)
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X.

Doktor traf sich am anderen Tag mit Karl. In der Nostizstraße war es unheimlich ruhig. Fast keine Menschen standen vor den Haustüren. Ein Überfallkommando fuhr hin und her. Ab und zu ein Ruf: „Fenster zu!" Oder „Weitergehen!"
Die beiden gingen zu Doktor in der Solmsstraße. Das Lokal wurde ständig von der Polizei bewacht. Wenig Gäste saßen da und Othello fluchte. Kriminalbeamte liefen schwitzend herum. Einige hatten Hunde mitgebracht.
„Was sagst Du zu gestern abend, Karl?"
„Was soll man sagen, war schlecht organisiert. Eins steht fest: Die kommen wieder. Auch die Polizei kommt wieder. Die Aufgabe der Nazis ist ja, durch solche Überfälle die Arbeiterschaft zu verwirren. Alle anderen Straßen sind nicht so gut wie unsere. Alles Kleinbürger und Sozialdemokraten. Da haben sie es leichter. Und die Polizei — na, Du weißt ja."
„Aber, Herrgott, das geht doch nicht. Wir können doch nicht von unseren Genossen verlangen, dass sie tagtäglich auf den Beinen sind. Sie haben keine vernünftige Kleidung, nichts Rechtes im Magen, das geht doch nicht."
„Es ist schon so, Doktor: Wir allein sind augenblicklich zu schwach, um die Faschisten zu schlagen. Und wenn wir auch zahlenmäßig stärker sind. Kampf gegen Faschismus heißt nicht nur Überfälle der SA. abwehren. Da gehört viel mehr zu. Lies doch heute abend die Zeitungen. Fast alle bringen verlogene Berichte. Die Kommunisten haben angegriffen, die Kommunisten haben geschossen. Vor allem das „Tempo". Wenn ich das so lese... "
Karl knurrte beim Sprechen und biss dann die Zähne aufeinander.
„Das ist doch die beste Unterstützung für die Nazis. Dass die Polizei immer gegen uns vorgehen wird, ist ja klar. Dann die Justiz. Wehren wir uns, bekommen die Nazis Keile und ein Genosse wird verhaftet, dann sehen wir ihn lange Zeit nicht wieder. Passiert das einem von den anderen, wird er meistens freigesprochen. Das macht doch den Leuten Mut, deshalb werden sie Immer frecher und rennen ungehindert mit ihren Pistolen herum. Uns nützt nur die Massenaktion. Mobilisierung der gesamten Bevölkerung. An ihrem geschlossenen Widerstand müssen solche Überfälle scheitern."
Doktors Wirtin klopfte schüchtern an die Tür.
„Darf ich mal reinkommen?"
„Bitte, bitte."
Sie war aufgeregt und sagte rasch: „Was sagen Sie denn bloß zu den Schießereien? Mein Gott, so lange, wie ich hier wohne, war so was noch nicht vorgekommen. So eine ruhige Gegend. Das ist ja Mord und Totschlag, das ist ja Bürgerkrieg. Bis hierher hab ich die Schüsse gehört."
Sie redete immer aufgeregter. Doktor hatte keine Lust zum Sprechen. Ihn bedrückte irgend etwas. Immer musste er an gestern denken. Und an Theo. Karl sagte langsam: „Ja, Bürgerkrieg. Den wird’s geben. Und er wird sich in der Hauptsache nicht nur in der Nostizstraße abspielen, sondern ganz wo anders. Aber Ihnen wird ja nichts passieren."
Die Frau lächelte. Sie sah Karl freundlich und prüfend an.
„Versteh das nicht. Sie sind doch auch Kommunist. Und Sie — Sie sehen doch gar nicht so aus. Wenn man die Zeitungen liest. — Versteh das nicht", murmelte sie. Langsam lief sie zur Küche zurück. Doktor saß nachdenklich auf einem Stuhl.
„Hat ja keinen Zweck, mit der alten Frau zu diskutieren. Wir brauchen andere Leute. Die stirbt ja doch bald", sagte Karl hart und wandte sich erstaunt Doktor zu.
„Was hast Du denn bloß, Mensch?"
„Ach, nichts. Ich weiß nicht. Ich denk zu viel darüber nach. Und überhaupt, ich bin nicht so wie Ihr. Ich hab alles viel schwerer und Ihr alle habt gegen mich eine falsche Einstellung. Alles ist so geschäftsmäßig, persönlich kennt man keinen. Und dann das andere... "
Karl war verwundert. Ein starkes Kameradschaftsgefühl für Doktor, stark und etwas weichlich, durchdrang ihn plötzlich. Er sah kurz auf. Doktor verzog den Mund. Seine Unterlippe war blass und hing wulstig nach unten.
„Ach, lass doch, Doktor. Ist doch nicht so schlimm. Hauptsache die Arbeit. — Mir gehts ja auch manchmal so. Vor allem, wenn ich verliebt bin. Da gibt’s dann so dumme Stimmungen. Man kann nicht einschlafen, denkt sinnloses Zeug und bildet sich ein, man müsste mehr Zeit für persönliche Dinge haben. Aber dann ist die Arbeit wieder da und alles wird besser."
Er stockte einen Moment. Seine Stimme war weich und er schämte sich. Dann begann er wieder: „Unseren anderen Genossen gehts doch oft auch so. Manchem so und manchem so Wenn man sie
sprechen hört, meint man, sie wären roh und einseitig. Aber na __
lass man. Unterhalten uns lieber über ,Telefunken', nicht, Doktor?"
„Ja, glaube auch. Ist wichtiger."
Es wurde dunkel im Zimmer. Auf der Straße kreischte ein junges Mädel. Von der Küche her drang das Klappern von Kochtöpfen. Die beiden schwiegen wie auf Verabredung. So, als ob der Eindruck des Gespräches erst richtig verschwinden sollte. Sie saßen da und streckten die Beine von sich. Doktor putzte die Brillengläser und kniff die Augen zusammen, als schmerzten sie leicht. Er holte mit den Armen weit aus und sagte: „Eine Verbindung hab ich schon "
„So, ist gut. Und, was ist?"
„Ja, wird schwer sein. Betriebsarbeit, mein Lieber, da ist viel versäumt worden. Die besten Kräfte müssen da eingesetzt werden. Ist schwer, da ranzukommen. Aber wir müssen. Machen wir die Vorarbeiten, später muss die ganze Gruppe eingesetzt werden. Überhaupt muss von vornherein für eine gute Verbindung von der Straßenzelle zur Betriebszelle gesorgt werden. Auf unserem Abziehapparat ziehen wir Einladungen zu einer Jugendversammlung ab. Ich hab einen knorken Kerl, der wird im Betrieb auch ein paar verteilen, die anderen wir."
„Gut, dufte, Doktor. Da haste ja direkt schon wat jemacht. Los, wir gehn gleich zu Ernst abziehen. Hoffentlich ist der Hund zu Hause."
Sie liefen beide Jos und waren fröhlich Die anderen Genossen hatten heute nichts zu tun. Elly und Erich saßen auf einer Bank in der Gneisenaustraße. „Rot Front, Ihr beiden", rief Karl. Erich wollte erst den Nacken einziehen, dann grüßte er zurück. Doktor nickte mit dem Kopf und musste lachen.

Der lange Emil traf sich mit Karl und Doktor sofort nach Betriebsschluss.
In einer halben Stunde sollte die Versammlung beginnen.
Emil lachte breit und schlug Doktor auf die Schultern. „Mensch, ick sage Dir. Bei uns wat machen. Die Jungs wolln alle. Aber sie traun sich nich. Na, Ihr werdet ja sehn."
Sie saßen in einem Lokal in der Lankwitzstraße am Halleschen Tor. Emils Freund, Fritz, kam mit einem blassen Burschen. „Is hier richtig?"
„Jawohl, komm ma her. Kommt Ihr alleene", fragte Emil.
„Na, vielmehr werden nicht kommen. Ihr wisst ja. Der olle Kühne steht an de Ecke Tempelhofer Ufer un passt uff. Die janz. neuen Stifte traun sich erst recht nicht her."
„Ma, wolln ma sehn. Wird schon werden."
An der Theke standen Kohlenkutscher und tranken ihre Mollen. Doktor rauchte eine Zigarette nach der anderen. Es kamen noch vier junge Arbeiter. Einige schüchtern, andere frech. Ein schwerfälliger Bursche blieb an der Tür stehen und sah noch einmal die Straße hinunter. Dann fluchte er:
„Der Kühne ist der reinste Betriebsspitzel. Uffs Maul haun, den Lumpen. Steht immer noch an de Ecke un passt uff."
„Weiter wird wohl keener kommen. Los, jehn wa nach hinten", meinte Emil. Karl hatte sich eine lange Rede zurechtgelegt. Aber er sprach nur kurz. Und Emil unterbrach ihn auch öfter. „Hör mal, det wissen wir ia schon allet. Son bisschen klassenbewußt sin wir ja ooch. Lass Dir doch von de Jungs aus den Betrieb berichten."
Der Blasse stand auf. Sein Gesicht war schmutzig und die Finger unheimlich lang. Beim Sprechen hustete er öfter und machte lange Pausen.
„Ja, Kollegen. Damit sind wir wohl alle einverstanden. Äber die technischen Schwierigkeiten, die sind schlimm. Unsere Jugendlichen im Betrieb sind verängstigt. Sie getraun sich nicht mehr, eine eigene Meinung zu haben. Und gerade ein Teil der älteren Verbandsmitglieder haben dafür gesorgt! Überall Spitzel im Betrieb. Vor allem der Kühne. Sagst Du was, Bumms: hier hast Du Deine Papiere, Wir hatten ja mal einen roten Jugendvertrauensmann, den Alex. Auch entlassen. Wir paar konnten allein keinen Krach machen. Und von außerhalb des Betriebes wurden wir nicht unterstützt, also — Ihr wart ja schon mal bei uns, wisst ja Bescheid. Wir hatten sogar zum Jugendtag in Leipzig eine Delegation, Die Teilnehmer wurden alle entlassen. Vor drei bis vier Wochen hatte sich Alex wieder eine Verbindung mit dem Betrieb gesucht. Ist ja gut, der Junge, muss man schon sagen. Er war auch beliebt bei den Kollegen. Wie gesagt, er traf sich mit einem Arbeitsburschen vor dem Betrieb. Der Arbeitsbursche wurde von Kühne gesehen und am nächsten Freitag hatte er die Papiere. Ihr seht, wie schwer das ist...."
„Ja, das ist schon eine Scheiße."
„Ach wat", polterte der lange Emil los. „Kühne haun wir mal vors Maul. Der wird bald die Schnauze halten. Habt doch man bloß nich so viel Angst, Mensch. Jedenfalls kann . man die Schwierigkeiten ganz gut beseitigen. Das ist doch alles Quatsch. Wir sin doch keene Hampelmänner."
„Sagst Du so. Aber heute aus dem Betrieb fliegen, das ist allerhand."
„Ja, das muss auf alle Fälle vermieden werden", sagte Karl. „Wir brauchen Betriebsarbeiter. Die sind wichtig. Ihr sollt auch nicht offen auftreten bei der Kleinarbeit, Gewiss, manchmal ist das notwendig. Aber wir von der Straßenzelle sind ja auch da. Wir werden Euch mit allen Mitteln unterstützen. Erst mal eine Zeitung fertig stellen. Ihr liefert das Material dazu. Wie: was ist im Betrieb los, wer sind die größten Schinder, Werkpolizei, Lehrlingsfragen, Faschisten, immer in Verbindung mit tagespolitischen und grundsätzlichen Fragen. Weiter, was wird im Betrieb produziert... ."
„Oho, das ist ja eben das Wichtige", rief der Blasse dazwischen. „Fast alle Funkeinrichtungen, auch für Panzerkreuzer. Der Großsender Nauen stammt von ,Telefunken'. Das ist sehr wichtig, meine Lieben."
Karl war verwundert. Der weiß ja allerhand, dachte er.
„... wir werden also zwei, drei Nummern von der Zeitung verteilen und dann eine große öffentliche Jugendbetriebsversammlung organisieren. Und zwar so, dass es keinem Spitzel möglich ist, die Jugendlichen zu überwachen. Das wird schon möglich sein. Ein Vertreter der RGO. wird eingeladen und auch welche von der Parteibetriebszelle. Einverstanden?"
„Ja, es muss gehen. Aber wie gesagt, von außen gut unterstützen."
„Ja, ja, könnt beruhigt sein."
Nur ein junger Arbeiter war ängstlich. Er stand das erste Jahr in der Lehre und hatte große Angst vor seinem Vater, einem Sozialdemokraten. Nun, Karl wusste ja Bescheid. Er verschwand dann auch bald stillschweigend. Der Blasse lachte, als er raus war. „Um, den hatte ich ja die meiste Angst, Genossen. Na, lass man."
„Bist Du denn auch Genosse?"
„Icke? Klar. Ich bin aus Moabit."
„Ach! Seh mal an. Det is doch eine Schweinerei. Und davon wissen wir gar nichts. Seh mal an", sagte ärgerlich Karl. Alle anderen, außer Emil, traten in den Jugendverband ein, mit dem Versprechen, im Betrieb zu arbeiten und die Zelle weiter auszubauen. Zwei von ihnen waren damals schon im Jugendverband, und als die Zelle aufflog, kümmerten sie sich um nichts mehr. Emil wollte nicht.
„Ach, da ist man doch dauernd gebunden. Ick hab da soone kleene Brumme. Uff die muss ick uffpassen, sonst looft se mir weg. Später mal, wenn ick verheiratet bin. Aber ick arbeete mit. Mensch, ick als oller Klassenkämpfer...." Er reckte seine große Faust,
Vergnügt trotteten Karl und Doktor nach Hause.
Von nun an trafen sie sich oft mit den Jungens aus ,Telefunken'. Sie hatten schon viele Artikel aus dem Betrieb erhalten. In der; nächsten Woche sollte die erste Betriebszeitung fertiggestellt werden. Jetzt galt es, die Genossen aus der Gruppe Nostizstraße zu mobilisieren.
Einen Tag später hatte die Gruppe ,Nostizstraße' Versammlung. Die Sitzung hatte noch nicht begonnen. Kater, Gustav, Orje und Frieda waren gemeinsam gekommen. Sie saßen vor Trude an einem Tisch und füllten Aufnahmescheine aus. Alle Genossen waren da. Ernst hatte die neueste Nummer des ,Jungen Wühler' gebracht. Nur Erich fehlte noch. Karl stand von seinem Stuhl auf und sprach: „Genossen! Wir haben in den letzten Wochen trotz allem Terror eine gute Arbeit geleistet. Heute abend sind vier junge Arbeiter, die Ihr alle gut kennt, zu uns gekommen. In ganz kurzer Zeit eine. Betriebsgruppe bei ,Telefunken' aufgebaut. Darüber werden wir noch später sprechen müssen. Einer unserer Genossen ist von Faschisten verwundet worden. Theo hat einen schweren Bauchschuß und liegt im Urbankrankenhaus. Er wird lange nicht bei uns sein können. Er lässt Euch alle grüßen und verlangt von der Gruppe verstärkte Arbeit. Und wir werden verstärkt arbeiten. Wir müssen einfach, Genossen!"' Die Genossen saßen da mit verbissenen Gesichtern. Alle dachten an Theo. Nur Doktor lächelte still vor sich hin. Er hatte in der letzten Woche viel gearbeitet. Die Betriebszelle von ,Telefunken' war jedenfalls geschaffen. Jetzt galt es nachzustoßen.
Eine kurze Pause trat ein. Die Körper waren gespannt. Man hörte stoßweises atmen. Jemand sagte: „Jawohl, wir müssen! Jetzt heißt es nicht nachlassen. Und wenn wir wirklich Komsomolzen sein wollen, dann schaffen wir es auch."
Die Tür ging auf. Nur wenige sahen sich um. Dann erhob sich eine brodelnde Unruhe: „Sssssssss — Ru—he!" Erich war eingetreten und schob Hermann Rhoden vor sich her. „Hier, ein neuer Genosse. Er traut sich nicht so recht... ."
„Bravo", riefen welche. Ein paar Stimmen murrten: „Der hat sich doch an dem Überfall beteiligt... ." „Nein, stimmt nicht." Auch Gustav stand auf und sagte verlegen: „Ich weiß es genau. Er stand bei mir, Nur sein Bruder...." Langsam kam Hermann näher. „Wenn Ihr erlaubt...."
„Bitte, bitte! Du ja, aber Dein Bruder niemals."
„Also Erich, Du bist vorgeschlagen an Theos Stelle. Wie denkt Ihr darüber, Genossen?" „Dufte, jawoll, Erich, Erich!" Der wurde bis über die Ohren rot. Aber am meisten freute sich Elly. Langsam begann der neue organisatorische Leiter zu sprechen. Seine Stimme wurde einen Moment unsicher, doch dann sprach er sicher weiter. „Ja, was soll ich dazu sagen. Ich kann nicht gut reden. Das wisst Ihr ja. Ich habe den Marxismus auch nicht mit dem Löffel gefressen. Aber arbeiten will ich, das verspreche ich Euch, Genossen. Und wir haben noch viel, viel Arbeit. Ich bin noch nicht lange Mitglied der Organisation. Aber das weiß ich heute: Kampf und nochmals Kampf. Um jeden Jungarbeiter müssen wir kämpfen. Um jeden in Betrieb und Straßenzelle. Um jeden in den gegnerischen Organisationen. Ich habe Theo versprochen, dass ich jetzt doppelt arbeiten werde. Und das verspreche ich Euch auch. Und so werde ich meine Funktion antreten, wenn ich auch nicht so gut sprechen kann...."

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