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Walter Schönstedt - Kämpfende Jugend (1932)
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III.

Frau Mädicke war wirklich eine Ausnahme. Heute morgen hatte sie ihren Mann schon um acht Uhr aus dem Bette gejagt. (Sonst stand er immer erst um halb neun auf.) Frau Mädicke war wieder hinter den Wanzen her. Sie hatte einen blauen Morgenrock an, bestickt mit dicken, roten Blumen. Der Flitgeruch stritt in der Luft mit Duft von Kölnischem Wasser. Sie brachte den Kanarienvogel vorsichtig in die Küche und unterhielt sich blöde und kindisch mit ihm:
„Wo ist denn mein Hänsekin, he? Wo ist denn mein Hänsekin? Willst Du nicht ein bisschen singen? Hänsekin, sing doch Deinem Frauchen was vor. Willste nich? — Komm, ich geb Dir ein Stück Eierbrot — da. Musst Du aus der Stube raus, ja? Die ollen Wanzen, nich Hänsekin? Die ollen Wanzen .
Hänsekin flatterte aufgeregt hin und her. Er war teilnahmslos und beleidigt. Endlich ließ ihn Frauchen in Ruhe, sie nahm den Flitzerstäuber in die Hand und ein Röhrchen zwischen ihre wulstigen Lippen. Ihr Gesicht verzog sich dabei, als hätte sie ein Kilo Schmierseife im Mund, und dann pustete sie mit voller Lunge einen feinen zerstiebenden Strahl Flit auf die roten Bettmatratzen. Sie musste dabei wohl ihre Kehle etwas angefeuchtet haben, denn sie schimpfte los wie ein räudiger Köter, dem man Insektenpulver auf die von Flöhen zerbissenen Stellen gestreut hatte.
„Verfluchter Mist! Mein Gott, ich werde noch verrückt. Die verfluchten Wanzen. Was mach ich denn bloß, was mach ich denn bloß! Die Leute unten sind ja Schweine. Ja, wenn sie alle was machen würden! Aber ja, ziehn bloß den ganzen Tag über andere her: was hat denn die Mädicken heut wieder an, waa? An die Wanzen denken sie nicht. Was soll ich denn bloß machen... ?"
Es klingelte. Sie schob sich mit feuchten Fingern die fetten schwarzen Haare zurecht und stampfte zur Tür.
„Entschuldigen Sie, gnädige Frau! Ich habe hier einen ganz neuen Artikel, gestatten Sie... "
„Janischt jestatte ich!" sagte Frau Mädicke. Aber der junge Mann vor ihr lächelte so liebenswürdig, und dann das mit der „gnädigen Frau"...
„Sehen Sie, ich habe hier ein prima Kopfwaschmittel. Für Ihre herrlichen Haare wie geschaffen, gnädige Frau. Das ist echte Markenware, wir können Ihnen dieses günstige Angebot nur deshalb machen, weil meine Firma dank ihrer guten Beziehungen in der glücklichen Lage war, preiswert in Arabien Wohlgerüche aufzukaufen. Versäumen Sie nicht, von unserem seltenen Angebot Gebrauch zu machen. Ein ganz außergewöhnliches Angebot, gnädige Frau.'' „So, Kopfwaschmittel aus Arabien? Wat kost denn det?" „Drei Mark die Flasche, sie reicht für..." „Waas?? Drei Mark? Hörn Sie mall" „Ja, gnädige Frau dürfen aber nicht vergessen , , ." „Drei Mark. Kinder, das ist ein Haufen Geld. — Geben Sie mal eine Flasche von dem arabischen Zeug!"
Der junge Mann reichte ihr eine grüne Flasche und steckte ernst und feierlich die drei Markstücke ein. Er schnupperte mit der Nase in der Luft herum und sagte: „Nach was riecht denn das hier so stark bei Ihnen?"
„Ach, das ist Farbe. Mein Mann hat soviel Farbe rumstehn."
„Ach so, sonst — Wanzenvertilgungsmitte] hätte ich Ihnen auch rerkaufen können. Auf Wiedersehen!"
Das Haarwaschmittel war wahrscheinlich sehr vielseitig und zu allem Möglichen zu gebrauchen. Drei Wochen später wischte Frau Mädicke ihre Küche damit auf.
Frau Mädicke fand die Wanzen überall, träge und blutig krochen sie dahin. Flit spritzte, die Wanzen schwammen ein bisschen darin herum und krochen dann unbekümmert weiter. „Da, wieder so ein fettes Biest!" Sie drückte mit dem Daumen ein gut ausgewachsenes Exemplar an die Wand. Blutbeschmiert zog sie den Daumen zurück und schimpfte unentwegt. Sie hatte keine Wanzen; sie kamen alle aus dem Hinterhaus. Aber die Wanzen hatten sie. Stärker als Frau Mädicke und ihr schlecht verspritztes Flit waren die Wanzen.
Es klingelte wieder.
„Wat is denn nu schon wieder los!" brüllte sie, hinter der Tür antwortete ein undeutliches Murmeln, wütend riss sie die Tür auf.
Ein junger, ungefähr sechzehnjähriger Bursche, mit abgerissenen Kleidern, stand vor ihr, sah sie mit stumpfem Blick an und bettelte tonlos;
„.... ich bekomme keine Unterstützung mehr, zu Haus sind auch alle arbeitslos. Ich habe großen Hunger. Stehlen will ich nicht gehen. Haben Sie nicht..."
„Ich habe ooch nischt. Geh doch arbeiten! Mein Mann muss sich auch rumplagen!"
Sie schlug die Tür zu und der junge Bursche machte einen demütigen Diener. Aber kaum war er zur Nachbartür gekommen, da öffnete Frau Mädicke wieder: „Warten Sie mal, ich habe eine Arbeit für Sie. Mein Mann kann die Kohlen nicht tragen. Gehen Sie mit mir zum Kohlenhändler und tragen Sie mir die Kohlen rauf!"
In der Mariendorfer Straße ließ sie einen Zentner Kohlen einsacken, und der Händler warf ihn dem Jungen auf den Rücken. Der keuchte los. Der Sack erdrückte ihn fast. Frau Mädicke lief stolz neben ihm her, als ob sie aller Welt zeigen wollte dass sie es gar nicht nötig habe. Schnaufend ließ der Junge in der Küche den Sack auf den Boden fallen, die Frau wurde zornig: „Sehn Sie sich doch ein bisschen vor! Sind so groß und können nicht mal den Sack halten!" Dann gab sie ihm ein Zehnpfennigstück. Draußen spuckte der Junge vor ihre Tür.

Die Nostizstraße hungerte. Es war schlimmer als in den elenden Jahren der Inflation.
In den Läden hingen Speckseiten, Butter und Brot waren aufgestapelt. Die kleinen Händler in der Straße jammerten: Viertelpfundweise verkauften sie die Margarine, manchmal kamen Leute und verlangten zwei Scheiben Brot. Mütter gaben den Kindern mit Wasser yerdünnte Milch zu trinken...
Peikbeen ging zur Wohlfahrtsvorsteherin. Frau Sommer wohnte Nr. 42. Sie war eine freundliche, ernste Frau. Ihre lebhaften Augen musterten den groben Burschen, der zu ihr kam und Brot forderte. Ein hübscher, schwarz-gelber Kater strich um ihre Füße. Über ihrem wackligen Schreibtisch hing ein Leninbild.
„Ja, lieber Freund, das ist schlimm, Du weißt, mir sind alle Hände gebunden. Ich kann Dein Gesuch nur weiterleiten. Oder meinst Du, uns setzen sie dorthin, wo wir wirklich helfen können ?" „Nee, das nich, aber... Mein Vater ist auch schon zehn Monate arbeitslos. Ich kriege zu Hause einfach nischt mehr zu fressen. Und dann ist das auch so komisch, nicht einen Pfennig Geld habe ich im letzten Jahr verdient, das ist dann ein verfluchtes Gefühl den Eltern gegenüber. Da traut man sich nicht mehr ran ans Brot... " Frau Sommer nickte mit dem Kopf und sagte hastig: „Ich kenne das. Obwohl ich schon eine alte Frau bin, kann ich Euch Jungens verstehen, ich habe selbst Kinder unter elenden Verhältnissen großziehen müssen. Aber ich habe darauf geachtet, dass sie wissen, warum es uns Proleten so dreckig geht. Ich verstehe Euch aber nicht, wenn Ihr bei Euren Vergnügungen nutzlos Kraft verpulvert. Macht doch mal was gegen Euer Elend. Kämpft doch für ein besseres Leben! Die ganze bürgerliche Wohlfahrt ist doch nur Schwindel . . , Ein besseres Leben könnt Ihr Euch bloß auf der Straße erkämpfen, und Ihr seid diejenigen, die in vorderster Reihe stehen müssen. Von Euch kann man das verlangen, nicht von den alten Frauen, die hierher zu mir kommen, müde und verkrüppelt. Die können nicht mehr brüllen, marschieren und fordern. Aber Ihr, Ihr Jungs!"
„Na ja, aber wenn man doch Hunger hat... Wenn man am liebsten an nichts mehr denken möchte..."
„Da, hast Du ein paar Essenmarken. Glaube nicht, dass Du satt wirst. Die andere Sache werde ich unterstützen."

Der kleine Karl Danna spielte wieder mit den Murmeln, Eine hatte sich zwischen den Müllkästen festgeklemmt, und er versuchte nun, mit krummen, kleinen Fingern darunterzufassen. Unwillig fuhr er sich dann über den Mund, der Müll vermengte sich mit dem Speichel, und der kleine Kerl hatte ein gelb verschmiertes Gesicht. Die Frau mit dem Wuschelkopf ging vorüber: „Wie kann man bloß det Kind so alleene da. sitzen lassen! Mein Gott..."
Der kleine Kerl brüllte. Wütend schrie seine Mutter aus der Kellerwohnung: „Willst Du mal stille sin! Komm mal her, Du Dreckschwein!"
Eine Frau sang in ihrer Wohnung einen Choral, viel Sehnsucht lag in dem Lied, wenn auch die Melodie abscheulich gesungen wurde, dass es fast klang, als solle Gott verhöhnt werden.
Ü berall roch es nach Kuhstall und Katzendreck. Zahllose Fliegen summten durch die Schwaden dicken Gestanks.
Die Jungens aus der Nostizstraße standen an der Ecke. Peikbeen erzählte von seinem Besuch bei der Wohlfahrtsvorsteherin. Karl drehte sich aus zusammengeflochtenem Tabak Zigaretten. Irgend jemand begann von Emil zu sprechen. Wut und Mitleid zitterten in seiner Stimme. Ein anderer erzählte zaghaft von einem Schulerlebnis, das er in der Kriegszeit mit Emil hatte:
„... Da gab’s Rotkohl, es sollte jedenfalls Rotkohl sein. Furchtbar hat der Dreck gestunken, aber wir haben ihn runtergewürgt vor lauter Hunger. Damals hatten wir gerade Nachmittagsunterricht, weil 32
keine Kohlen da waren, vormittags froren die Mädels, dann wir in den halbdurchwärmten Räumen mit den Lehrern um die Wette. Und in der zweiten Stunde hat Emil seinen Rotkohl ausgekotzt. Die alte hysterische Zicke von Lehrerin hat ihn dann durchgeprügelt, fürchterlich geprügelt... "
„Da müsste man doch wirklich den Knüppel nehmen! Was haben sie mit uns nicht schon alles angestellt! Heute haben sie mir wieder zwei Mark abgezogen ... "
„Ach, sing doch nich so ville, Erich, Du wohnst doch noch zu Hause. Du hast doch noch allet, Mensch."
„Een Dreck hab ick! Meenste, meine Mutter kann mir von ihre Rente ernähren, Du Pfeife!"
Immer mehr Jungens kamen. Spinne und Kater, wieder zusammen, wie zwei Brüder. Franz stand abseits mit zusammengezogener Stirn. Kater schob sich an ihn heran und bettelte: „Gib mir ne Zigarette!"
„Aufs Maul werd ick Dir haun, Du Gauner!"
Franz war immer bissig. Er lungerte um seine Freunde rum und fauchte jeden an, der ihm zu nahe kam Und doch war er ein guter Kamerad. Viel gesunde Kraft ging von ihm aus. Bei allen Gelegenheiten wurde er um Rat gefragt. Scharfe Falten lagen um seinen Mund, hart war seine Sprache und offen.
Unvermittelt sprach er die anderen an: „Jungs! Aufpassen! Wir sind achtzehn Mann, los, holen wir uns was zu fressen!"
Das schlug wie eine Bombe ein. Jetzt war einer da, der sie führte. Mit funkelnden Augen sahen sie ihn an.
„Steht nich so da und glotzt! Wer nich mitmachen will, bleibt hier. Los, ich gehe vor. Aber aufpassen, Jungs!"
Alle gingen mit. Hintereinander, in kurzen Abständen, liefen die Jungens hastig zur Lindenstraße. Unterwegs wurde wenig gesprochen. Sie gingen, plötzlich mit einer entschlossenen Energie geladen. Sie dachten nicht daran, was werden könnte — nur weiter, vorwärts! An der Spitze lief Franz, neben ihm Erich Schmidt. Keiner blieb zurück. Sie rannten los, um sich einmal sattzufressen, um zu zeigen, dass sie sich nicht widerstandslos aushungern ließen...
Beim Schlächtermeister Kasch war Betrieb. Kleinbürgerfrauen feilschten mit den Verkäuferinnen.
„Nicht soviel Knochen, bitte!"
„Frollein, mir ein Pfund Kalbfleisch."
Der dicke Meister schwitzte. Seine weiße Schürze war blutgetränkt wie die Uniform eines Soldaten nach dem Bajonettangriff. Mit sicherer Hand trennte er große Scheiben Fleisch von einem Kalb ab.
„Wie viel Kotelett, gnä Frau?"
„Geben Sie drei, vier Stück, Meister."
Große Fleischstücke flogen vom Hauklotz auf die Waagen, wanderten von dort in die Taschen der keifenden Frauen.
Vor der großen Schaufensterscheibe standen Weiber und schüttelten den Kopf. Ihre leeren Augen lungerten zwischen den Auslagen. Ab und zu betrat eine von ihnen den Laden und verlangte Knochen.
„Wat wollen Sie haben? Knochen?"
„Ja, für zwanzig Pfennig Knochen."
Frau Mädicke stand in dem Laden und kaufte Leber. Freundlich nickte sie dem Meister zu und wippte dabei mit den Brüsten. Ein großes Paket packte sie in ihre Tasche, dann ging sie zur Kasse, wechselte einen Zehnmarkschein. „Det schöne, gute Geld!" jammerte sie.
Plötzlich kamen acht, neun brutale Burschen in den Laden gestürmt. Wie Wölfe, die in eine Schafherde geraten sind, sprangen sie auf Keulen und aufgerissene Bäuche zu. Die Weiber kreischten auf, und die Verkäuferinnen flüchteten. Der Meister schwang drohend seine breite Axt in der Luft. Peikbeen drückte ihn mit aller Wucht zur Seite und schrie ihn an:
„Hab Dir man nich so, Du fettes Aast! Dein Geld wollen wir ja janich. Jetzt halts Maul!"
Alles ging blitzschnell. Klebrige Fleischstücke und lange Würste wurden in den Kleidertaschen verstaut, unter den Jacken versteckt. Mit großartiger Geste packte Peikbeen einen Arm voll Rollschinken und warf ihn auf die Straße unter die draußen stehenden Leute. Dabei rief er:
„An Mein Volk! Jetzt fresst!"
Vor Freude über ein solches Wunder rannten alte Mütterchen und abgehärmte Frauen mit den Schinken davon. Franz rannte als letzter aus dem Laden,
Plötzlich schrie jemand laut und gellend: „Überfall! Überfall!" Ein kleiner Flitzer sauste heran, stoppte scharf ab; noch im Fahren stürzten sechs bis sieben junge Schupos von den Wagen. Wie unbefriedigte Sadisten schlugen sie auf die neugierige Menge ein.
„Weitergehen! Herrschaften, immer weitergehen!"
Grob und näselnd brüllten sie die Leute an. Eine Frau bekam mit dem Gummiknüppel einen Schlag auf den Kopf und blieb liegen. Ihre hellen Haare klebten über der Stirn blutig zusammen. Niemand half ihr, niemand traute sich, zu ihr hinzugehen. Ihr kleiner Junge stand neben ihr und weinte jämmerlich. Dann richtete sich die Frau mühsam auf, warf die Hände in die Luft und schrie: „Warum schlagt Ihr denn?! Ich habe doch nichts getan! Warum... "
Dann brach sie wieder zusammen und schlug schwer mit dem Kopf auf die Steine auf. Der Schlächtermeister rannte immer noch mit seiner Axt im Laden aufgeregt hin und her und schnauzte die Verkäuferinnen an. Frau Mädicke stand lauernd auf der anderen Seite in einem Hausflur. Rasch und giftig zeigte sie einem Schupo Peikbeen: „Da, der da!"
Peikbeen wollte gerade um die nächste Straßenecke flüchten. Der Schupo zog die Pistole und rief: „Halt! Stehen bleiben!'
„Wat denn, wat denn, Herr Wachtmeister! Ick hab doch jarnischt jemacht."
„Maul halten! Mitkommen!" Wie ein Bündel wurde er auf ein Auto geladen und zur Wache nach der Alexandrinenstraße gebracht.
Dort gab es ein langes, neugieriges Verhör.
„Wer hat Ihnen den Auftrag dazu gegeben?"
„Niemand; ick kam da zufällig vorbei. Ick streite entschieden ab, det ick dabei war. Und von Auftraggeben kann überhaupt keene Rede sein."
„Wo wohnen Sie?"
„Nostizstraße, zufällig, Herr Vorsteher."
„Na, da scheinen Sie ja also doch der Richtige zu sein. Nostizstraße? Hm, das genügt uns. Abführen!"
Peikbeen wurde noch am gleichen Tag zum Polizeipräsidium gebracht. Der Schnellrichter verurteilte ihn sofort zu vier Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs und Aufruhrs.

Am Abend des gleichen Tages hatte die Gruppe Nostizstraße Gruppenabend bei Othello. Langsam fand sich einer nach dem andern ein, und Othello hielt die Hand an den Bierhahn. Die Kneipe bekam plötzlich ein anderes Gesicht. Zwölf bis fünfzehn Jungens lungerten vorn an den Tischen herum. Sie rauchten und besprachen irgendeine organisatorische Maßnahme. Der Lautsprecher brüllte die neuesten Nachrichten:
„... Vor allem in Kassel und Frankfurt am Main schwere Zusammenstöße. Es kam überall zu ausgedehnten, kommunistischen Ausschreitungen. In Kassel nahmen kommunistische Erwerbslose eine drohende Haltung gegen die Polizei ein und überschütteten diese mit einem Hagel von Pflastersteinen. In der Marktgasse und Wildemannsgasse wurden die Beamten mit Blumentöpfen bombardiert. Vereinzelte Schüsse fielen, und ein Polizeibeamter blieb mit einem Bauchschuß tot auf dem Platz. Bis gegen ein Uhr donnerten die Schrecksalven der Polizei durch die Nacht. Ein Zivilist wurde ebenfalls schwer verwundet und dürfte wohl kaum mit dem Leben davonkommen. Etwa dreißig Personen wurden zwangsgestellt. — Frankfurt am Main. Hier bildeten sich in der Altstadt gegen zehn Uhr abends Sprechchöre, die „Nieder"-Rufe auf die Regierung Brüning ausstießen. Gegen elf Uhr wurden einige Straßen in der Nähe der Zeil fast unpassierbar. Einige Polizisten wurden tätlich angegriffen, so dass sie scharfe Schüsse abgaben. Verletzt wurde niemand. Auch in Berlin kam es heute morgen zu schweren Ausschreitungen. Ungefähr vierzig Jungen drangen in das Fleischwarengeschäft von Kasch in der Lindenstraße ein und erbeuteten Wurstwaren im Werte von ungefähr 25 Mark. Die Täter konnten bis auf einen unerkannt entkommen. Es hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, jedoch gelang es der Schupo in ganz kurzer Zeit, die Ordnung wiederherzustellen. — Vor dem Kaufhaus Tietz am Alexanderplatz fuhr in den Morgenstunden ein Taxi vor, aus dem drei junge Burschen heraussprangen und mit Pflastersteinen vier große Fensterscheiben vollständig zertrümmerten. Die Passanten waren durch den Vorfall so aufgeregt, dass sie vergaßen, die Nummer des Wagens festzustellen. Die Täter sind auch hier unerkannt entkommen. — Wir machen eine Pause von fünf Minuten. Es folgt dann das Vaterländische Lieder-Potpourri, gespielt von... "
„Siehste, da habt ihrs! Polizeibeamte werden bedrängt, Wurst wird geklaut, und Schaufenster werden eingeschlagen. Die verfluchten Kommunisten!" sagte jemand ironisch. „Und immer sind es Horden junger Burschen."
Theo kam, in Begleitung von vier stämmigen Burschen, mit vollen, langen Haaren.
„Rot Front! Ihr Untermenschen!"
„Rot Front! Jungs! Ist Karl noch nicht da?" „Nee, der liest seinem Alten die Parteitagsberichte vor." Der Budicker brachte den fünf Jungens fünf Mollen halb und halb. Theo bezahlte. „Wat, sonst kostet die Molle zwanzig und jetz willste fünfundzwanzig haben? Du kannst wohl nich dafor?"
„Na, los, rück schon raus! Die werden Euch det Biersaufen schon abgewöhnen. Bei mir is bald Ebbe, wenn det so weitergeht. Da verdien ick gerade mein Fressen. Da hat meine Olle noch nischt, die Kinder noch nischt, und die Miete bezahlt mir ooch keene Wohlfahrt. Notverordnung, meine Lieben. Tja, das kommt noch besser."
Othello ließ sich schwerfällig neben Theo nieder und sprach leise:
„Du, heut' morgen waren die Bullen hier. Mir wollten sie wieder mal einen Schreck einjagen, von wegen Konzessionsentziehung und so. Sie haben sich das Vereinszimmer angesehen und haben gefragt, wer hier alles tagt."
„Na und, was haste gesagt?"
„Was soll ick da sagen? Ab und zu der Jugendverband, hab ick jesagt. Wo die Partei ist, wollten sie wissen, und ob in meinem Lokal alles ruhig ist. Da hack jesagt, ick bin Manns jenug, um Ordnung zu schaffen. Und ob ich schon mal bei einem Waffen gesehen habe... "
„Ach ja, wat die sich so allet denken."
Ein kraftloser, bleicher Mann saß in der Nähe des Einganges und blätterte in der „Linkskurve". Die Zeitschrift hatte er vor sich auf der Aktenmappe liegen. Hinter seiner Hornbrille funkelten tiefe, braune Augen; seine dunklen, schwachen Haare waren am Hinterkopf durch den Ansatz einer Platte geteilt. Er hatte ein faltiges, aufgeregtes Gesicht. Seine weiblichen, feinen Hände lagen auf dem Tisch und trommelten nervös den Takt des Liedes „Aufs Pferd, Kameraden, aufs Pferd... " Über seiner eingefallenen Brust beulte sich ein frisch gewaschenes Oberhemd. Theo kam an ihn heran und legte die patschige Hand auf seine Schulter:
„Du, Doktor, heute abend kommt ein neuer Genosse. Ich bin der Meinung, dass Du ihn am besten mit Deinen Theorien verschonst. Der muss gleich praktisch arbeiten, der Junge ist schon verwirrt genug." Der blasse Doktor brauste auf: „Was soll das heißen, Genosse? Bitte, unterlass diese Anzüglichkeiten. Ich bin sonst gezwungen, organisatorisch gegen Dich vorzugehen. Das machst Du ganz systematisch, Genosse Theo."
Ü ber Theos Gesicht huschte ein bescheidenes Lächeln. „Schon gut. Tu das!"
Der Doktor passte gar nicht hierher, auch seine Art zu reden nicht. Die war geziert und geschraubt. Er schien ein verstecktes Dasein zu leben.
Ab und zu ging die Tür auf. An den Tischen wimmelte es von Jugendlichen. Drei Mann spielten Skat, altklug und wichtig. Es war kurz vor acht Uhr. Karl kam eilig, er hielt in der Hand zusammengerollte Bogen Papier, hinter ihm trat Erich ein.
Erichs blasser, stets trauriger Mund wurde lebhaft. Die meisten kannten ihn. Der Doktor rückte die Brille schief und betrachtete ihn mit seinen ernsten, nachdenklichen Augen. Als sich Erich umdrehte, schob er sofort das rote Heft vor und studierte einen Artikel „Der Mangel der Arbeiterkunstkritik".
Die Genossin Trude, Kassiererin der Gruppe, rief Karl zu sich heran. Sie besprachen kurz etwas, und Karl nickte zustimmend und hastig mit dem Kopf. Trude lachte. Sie lachte so heiter und lebenslustig, dass jeder seine helle Freude daran hatte. Sogar Othello musste grienen und verkaufte ihr sofort einen Streifen Schokolade für zehn Pfennig. Trude trug eine Windjacke; die nackten Beine streckte sie jungenhaft von sich. Überhaupt war manches an ihr gar nicht wie bei einem Mädel. In dem vollen Gesicht standen frech und herausfordernd die lebhaften Augen, der Mund sprudelte in einem fort, rot und üppig waren die Lippen wie überreife Erdbeeren. Eine überschüssige, ungebändigte Kraft pulste in ihr, jeder fühlte sich von ihr angezogen. Links neben Trude saß die Genossin Elli, feine, unsagbar schöne Konturen des Gesichts, nervöse Hände im Schoß liegend. Der Missmut schien ihr ständig in der Kehle zu sitzen. Unbehaglich sah sie zu den drei Skatspielern hinüber.
„Jugendverbandsmitglieder, und denn Skat spieln!"
„Ach, Du alte Singuhr! Komm, wir gehen mit Dir auf die Straße, spielen Murmeln."
Der eine Junge, ein kräftiger Bursche in Windjacke und Gamaschen, klopfte verächtlich seine Tabakspfeife aus.
„Wat sich die Weiber immer bei uns einzumischen haben. Alles, ist unkommunistisch. Und wenn sie im Cafe Eis fressen und Sonntags mit ihren Ottos im Theater sitzen, denn kommen se sich wie Revolutionäre vor, die zehn Jahre illegale Arbeit hinter sich haben. Soll lieber auf ihre Mädels aufpassen, die olle Kuh!"
Der Doktor hatte auch früher mal wegen des Skatspiels Krach gemacht, aber die Jungens hatten nur mit den Achseln gezuckt und gemeint, sie seien trotzdem bessere Komsomolzen als er, den sie zur Arbeit stets aus dem Bett holen müssten. Er setzte sich zu Elli und begann eine lange Debatte über den unbefriedigten Spieltrieb der Großstadtjugend. Die beiden schienen einen guten Kontakt zu haben. Elli hörte aufmerksam zu und konnte sich einige hämische Blicke auf die Skatspieler nicht verkneifen.
Leise surrend drehte sich der Ventilator über der Tür. Irgend jemand pfiff das Lied von dem kleinen Trompeter. An den Wänden hingen riesige Plakate der Sportler, der „Roten Hilfe" und ein Werbeplakat der „Jungen Garde". Mehrere Zeitungen lagen auf den Tischen, einige andere hingen fein säuberlich an der Wand.
An der verräucherten Decke brannte eine helle elektrische Lampe. Fliegen, kleine, staubige Motten und Mücken flogen, von dem Licht angelockt, darauf zu, verbrannten sich die Flügel und blieben in der Schale unter der Glühbirne liegen. Am Schanktisch standen vier Arbeiter mit Rucksäcken auf dem Rücken; sie trudelten eine Lage aus. Eine Frau zog verschüchtert und ängstlich ihren Mann am Ärmel:
„Komm doch, Paul, komm doch schon... "
„Ja doch, hör doch uff! Noch eene Molle, denn komm ick ja schon, Olle."
Der größte Teil der Genossen war schon nach hinten ins Vereinszimmer gegangen, nur die Skatspieler, Karl, Theo und Erich, saßen noch draußen. Karl sprach leise mit Othello und rief dann:
„Los, Genossen, wir fangen an!"
„Nu lass uns man det Spiel noch zu Ende machen. Jetzt is et noch nich halb neune. Ihr habt ja nie pünktlich angefangen. Noch fünf Minuten... . "
„Nee, nee, los! Jetzt ist Sitzung. Wir hätten schon früher angefangen, aber der Referent hat uns versetzt, — Also los, Ernst, mach keen Unsinn."
Ernst war ein stiller Bursche mit ewig ärgerlichem Gesicht. Sein Mund war stets ein wenig geöffnet, und man sah schlechte, schiefe Zähne. Lang gezogen sagte er;
„Siehste, schon wieder Referent versetzt. Warum lasst Ihr Euch det dauernd gefallen? Wir werden schon so lange, wie die Gruppe existiert, als Stiefkinder behandelt. Die Schweinebande... "
Im Vereinszimmer waren alle Stühle besetzt. Am Fenster saßen drei Mädels an einem Tisch- Rechts an der Wand hing ein roter Baldachin, darunter eine Leninbüste. Die stammte noch aus der Zeit, als der RFB. in Uniform ging. Links waren Bogen grauen Packpapiers mit Bilderausschnitten angeheftet, die Wandzeitung. Die Bilder waren sehr alt, sie zeigten Szenen der Pariser Kommune. Darüber, in einfachem Rahmen, ein Bild; „Attentat auf Lenin". Am unteren Teil des Rahmens war auf einem Metallschild eine Inschrift eingraviert: „Der Roten Jungfront, 6. Abteilung, 5. Zug, für gute Arbeit im Märzaufgebot als ersten Preis. Die Gauführung Berlin-Brandenburg".
Das Zimmer war viel zu eng. Eine furchtbare Hitze machte die Kehlen trocken; die Jungens hatten die Jacken ausgezogen und die Hemdsärmel "aufgekrempelt, braun und sicher lagen ihre Arme auf den Tischen. Der Tabaksqualm schlängelte sich in langen Fäden zur Decke und blieb dort in dicken Wolken stehen. Die Genossen hatten rote Gesichter und schwitzten.
„Fangt doch endlich- an, zum Donnerwetter!" „Ja doch, is gleich halb neune." Theo eröffnete die Sitzung, rasch trat Ruhe ein. „Genossen, unsere heutige Sitzung ist eröffnet. Wir haben darum so spät angefangen, weil uns der Referent versetzt hat, den wir von der UBL. angefordert hatten."
„Schon wieder mal nicht erschienen?" „Det is doch allerhand!" Theo sprach weiter, sicher und fest:
„Ja, Genossen, schon wieder mal. Das ist jetzt etliche Male hintereinander passiert; ich glaube nicht, dass der Genosse, der kommen sollte, sich heute abend amüsiert, sondern irgendeine andere wichtige Arbeit hat. Wir werden die Sache aber prüfen und Krach schlagen Tatsache ist jedenfalls, dass unsere Unterbezirksleitung schwach ist, man wird nicht nur unsere Gruppe versetzen, sondern auch andere Ich glaube aber, wir sind stark genug, unsern Gruppenabend auch ohne Referenten durchzuführen. Es gibt nämlich tatsächlich Genossen, die ihre schlechte Arbeit und die der Gruppe immer damit entschuldigen, dass die Referenten nicht kommen. Das tut aber nichts zur Sache. Wir werden über unsere kommenden Arbeiten sprechen und verlangen, dass sich alle Genossen an der Diskussion beteiligen. Vor allem die notorischen Meckerköppe werden aufgefordert, neue Vorschläge für die Arbeit zu machen. Das Wort hat jetzt der Genosse Karl."
„Ich bitte, doch das Rauchen einzustellen", meinte Elly eifrig. Der größte Teil der Anwesenden murrte dagegen,
„Hast wohl nischt zu roochen, wat?"
„Ach wo, die roocht nicht, die kann det doch nich vertragen."
„Weiber dürfen überhaupt nicht roochen, vastehste."
„Ja, Genossen, die Genossin Elly hat recht. Hier sitzen über zwanzig Mann im Raum, und wenn zehn davon rauchen, dann fällt einem das Sprechen schwer, noch dazu bei solcher Hitze. Also macht die Zigaretten und Pfeifen aus,"
„Meine Kumille rooch ick erst zu Ende. Wenn ick sie köppe, schmeckt sie nachher nich mehr."
Trude konnte sich über den ausgebliebenen Referenten immer noch nicht beruhigen: „Ich bin der Meinung, dass die Gruppe eine Entschließung ausarbeitet und annimmt, in der gesagt wird... "
Sie wurde von vielen Seiten unterbrochen:
„Blödsinn!"
„So ein Quatsch!"
„Mach doch ne Abstimmung darüber!"
„Wir sind doch keene Staatspartei!"
Aber Trude ließ nicht locker. Erregt sprang sie vom Stuhl au! und versuchte, ihre Ansicht durchzusetzen:
„Bedenkt doch, Genossen, wir bleiben mit unserer politischen Schulung weit zurück. Noch dazu, wo unsere Gruppe zum größten Teil aus jungen Genossen besteht,"
„Wat Du immer mit Deine Schulung hast. Arbeite lieber, det is viel gescheiter. Wie viele „Junge Garden" haste denn von die letzte Nummer verkooft, he?"
„Ruhe! Zum Donnerwetter! Euch ist wohl die Hitze in den Kopf gestiegen, wat?"
Gekränkt setzte sich Trude. Einen Moment lang öffnete sie den Mund, wie zu einem Schrei, runzelte die Stirn und zog eine bösartige Grimasse. Dann klammerte sie sich mit ihrem Blick an Karl; der nickte zustimmend, und sie wurde ruhiger.
Erich saß neben Theo, mit einem wehmütigen Blick umfasste er Elly, doch sie nahm von ihm keine Notiz. Er stand vollständig in ihrem Bann. Nach einer Weile drehte er sich wieder um und ließ den Kopf sinken.
Mit etwas heiserer Stimme begann Karl zu sprechen, indem er zu Elly hinübersah:
„Wir haben die Tatsache zu verzeichnen, dass junge Genossen, die nicht mit vielem theoretischen Kram überlastet sind, besser arbeiten als Genossen, die jahrelang in unseren Reihen stehen, dicke Bücher gelesen haben, ja, die Illegalität 1923/24 mitgemacht haben Dort, wo der Kampf geführt wird, im Betrieb, auf der Straße, überall dort, wo es gilt, systematische Kleinarbeit zu leisten, erziehen wir unsere Genossen am besten. Das sind Tatsachen, die nicht zu leugnen sind. Wir haben bei uns alte Genossen, die nichts unternehmen, um die Arbeit der Gruppe durch neue, Jugendliche Arbeitsmethoden zu beleben. Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen."
Er machte eine kurze Pause und sah sich um. Erich lächelte ihm leicht zu.
„Wir werden jetzt in echt bolschewistischer, selbstkritischer Art die Arbeit unserer Gruppe betrachten. Da müssen wir von vornherein feststellen, dass wir weit hinter dem Tempo der revolutionären Entwicklung zurückgeblieben sind. Wir haben die Tatsache zu verzeichnen, dass arbeitslose Jugendliche aus eigener Initiative heraus demonstrativ in die Läden größerer Geschäftsleute gehen und Lebensmittel plündern, ohne Führung, ohne vorherige Organisation. Das ist ein Zeichen für die ungeheuer rasch fortschreitende Verelendung und Verzweiflung weiter Schichten der Jungarbeiter. Diese Jugendlichen müssen wir erfassen. Wir müssen ihre Kräfte, die sie nutzlos vergeuden, in den Dienst der deutschen Komsomolz stellen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass der große Teil dieser Jugendlichen zum Lumpenproletariat herabsinkt. Gestern überfielen zwei junge Arbeitslose einen Geldbriefträger, weil sie Hunger hatten! Auf der Polizei musste man ihnen zu essen geben, ehe sie Aussagen machen konnten. Dieser Fall hat die gleiche Bedeutung wie der Fall Lieschen Neumann und all die anderen, die in der letzten Zeit zu Hunderten vorgekommen sind. Hier müssen wir eingreifen. Hier muss eine intensive Propaganda einsetzen. Wir müssen den Jugendlichen zeigen, dass sie durch solche Dinge ihre wirtschaftliche Lage nicht verbessern, sondern sich vielmehr ihr ganzes Leben versauen. Wir wenden uns von diesen Jugendlichen nicht ab. Man muss ihnen klarmachen, dass erst im Sozialismus alle Voraussetzungen für ein vernünftiges Leben gesichert sind. Der kapitalistische Staat kann nicht mehr helfen. Er allein ist die wahre Ursache allen Elends; der Sozialismus muss erkämpft werden, um alles müssen wir kämpfen. Mit dem entscheidenden Teil des Proletariats zusammen. Und wir können nicht sagen, dass wir den entscheidenden Teil der Jungarbeiterschaft unseres Viertels — eines ausgesprochenen Arbeiterviertels — erfasst haben. Gewiss, wir wissen, dass unser Gebiet rot ist, wir wissen, dass der größte Teil der jungen Arbeiter bei der letzten Wahl für die KPD. gestimmt hat, aber das allein genügt nicht. Wir brauchen diese Leute für den aktiven Kampf. Und wie kommen wir an die Jugendlichen heran? In den Haustüren stehen täglich große Gruppen, die uns nur von der allgemeinen Propaganda kennen. Unsere Agitationsmethoden sind veraltet und wenig lebendig. Die Jungfront ist allerdings illegal, aber sie geht einfach auf die Dächer und malt dort ihre Parolen. Gestern sprach ich mit einem jungen Arbeiter, der erklärte mir glatt: ,Ja, Eure Genossen haben es ja immer so eilig, sie tun immer so, als wenn Ihr eine geheime Organisation seid.' Das zeigt, wie wenig lebendig unsere Propaganda ist. Ich schlage vor, dass die Gruppe erstens den Vertrieb der ,Jungen Garde' besser organisiert und steigert und zweitens eine eigene Zeitung herausgibt. Diese Zeitung soll vor allem auf unseren Kietz zugeschnitten sein. Der Inhalt soll sich den- lokalen Verhältnissen anpassen. Sie muss so interessant sein, dass jeder Jugendliche auf das Erscheinen der nächsten Nummer geradezu wartet. Wir werden nachher sehen, wer die Aufgaben eines Redakteurs übernehmen wird..."
„Knorke! Det fehlt uns!"
„... Jetzt steht die Frage des Abziehapparates. Die Gruppe hat kein Geld, einen zu kaufen. Aber wir müssen das Geld irgendwie zusammenbringen, und wenn sich alle Genossen dafür einsetzen..."
Der ärgerliche Ernst unterbrach ihn:
„Halt mal! Ich kenne einen Parteigenossen, der hat einen knorken Greifapparat zu stehen. Da gehe ich morgen mit ein paar Jungens hin, und det Ding wird beschlagnahmt."
„Ick komm mit, Ernst."
„... Also, wenn dort ein Apparat unbenutzt steht, gibt Euch die Gruppenleitung den Auftrag, den Apparat zu beschlagnahmen. Wie wär’s denn, Ernst, wenn Du Dich auch gleich um die Redaktion kümmern würdest?"
„Wer? Icke?! Mensch, da hab ick doch keene Ahnung von. Nee, det kann ick nich."
„Der macht 'ne Familienzeitschrift. ,Humor vom Tage' und so."
„Lasst doch den Unsinn."
„Ernst und Doktor gemeinsam!" machte jemand den Vorschlag. Die Mädels an dem Tisch hinten lachten. Eine kleine Blonde wurde lebhaft und meinte:
„Ich habe einen Vorschlag zur Finanzierung: wir gehen zu Geschäftsleuten, erklären so und so und fragen, ob sie nicht inserieren wollen. Jedes Inserat eine Mark. Fünf, sechs Stück bekommen wir schon zusammen, und dann haben wir Geld für Papier und Platten. Die Platten nehme ich mit ins Geschäft, und da werden sie auf Kosten der Likörfabrik Schadow & Co. getippt."
„Dufte, Grete! Siehste, Du bist jar nich so dämlich, wie Du aussiehst!"
„Halt doch Dein gottloses Maul, Rudi, mach doch andere Vorschläge."
„Othello muss ooch inserieren: Ia Bouletten, gut gepflegte Biere!"
Ernst hatte einen feuerroten Kopf. Er war eifrig und machte sich Notizen. Dieser Vorschlag war für ihn außerordentlich ungewöhnlich. Er griente ein paar Mal breit und zeigte seine schlechten Zähne.
„Euch werde ich schon zeigen, wat ein roter Redakteur ist, Ihr Mummelgreise. Die Zeitung werde ich schon machen, aber wehe dem, der nicht seine zwanzig Stück umsetzt! Der Genosse Doktor ist mir als Mitarbeiter natürlich angenehm, vorausgesetzt, dass er keine Ecke über das Geschlechtsleben der Mistkäfer für sich beansprucht."
Doktor grunzte tief. Erst schien es, als wollte er Ernst nicht hören. Dann wurde er böse und ballte seine kleine Schreiberfaust: „Warte man, Dir werde ich schon rankriegen, von wegen Mistkäfer... "
Das bodenlose Gewieher der Genossen wollte nicht verstummen. Karl schlug ein paar Mal mit der Faust auf den Tisch. Erich wurde immer lebendiger, am liebsten hätte er auch mitgelacht oder etwas gesagt. Er fühlte sich hier mit einmal froher und sicherer.
Mit fester Stimme sprach Karl weiter:
„Ich glaube, die beiden Genossen werden schon gut zusammenarbeiten. Die Gruppenleitung wird mit ihnen nachher noch alle konkreten Fragen besprechen. Genossen, nun zu unserer Dorfpatenschaft. Die Genossen aus Langendorf haben uns geschrieben, ob wir denn nichts von der Parole „Kommunisten aufs Land!" gehört hätten. Sie bitten uns, mitzuteilen, wann wir die Güte haben würden, unserer Patenschaftspflicht nachzukommen. Genossen, wir haben jetzt Juni. Seit März sind wir nicht mehr dagewesen. Wir haben daher mit den Funktionären beschlossen, gemeinsam mit der Gruppe Kreuzberg am Sonntag auf Landagitation zu fahren..."
„Bravo! Warum denn nicht gleich so!"
„Fahrgeld? Wat kost Fahrgeld?"
„Wir fahren, obwohl ja Autofahrten verboten sind, aus Sparsamkeitsgründen mit dem Auto, Fahrgeld beträgt eine Mark fünfzig, und das ist bei hundert Kilometern nicht zu viel. Ich glaube, dass alle Genossen das Fahrgeld aufbringen können. Wenn nicht, sollen sie sich beim Genossen Theo melden. Der Genosse Theo hat eine feine Methode, solchen Drückebergern zum Fahrgeld zu verhelfen. Also: Sonntag alles aufs Land! Der Wagen hat Sitzplätze, ist luftbereift. Wir fahren natürlich nicht vom Lokal ab, sondern so, dass wir ohne Polizei aus Berlin, mit verschlossenem Verdeck, herauskommen. Die Fünferführer geben die näheren Anweisungen noch durch..."
„Ick kann nich mitkommen, Karl!"
„Warum nich?"
„Meine Schwester feiert Verlobung. Da jibts wat zu fressen, die heirat een Schlächter."
„Kommt janich in Frage, Maxe. Du kommst mit, und damit basta."
„Wat jeht uns Deine Schwester an. Meine stirbt Sonntag, und ick fahre doch mit."
„Der Genosse Max wird auch mitkommen. Ich glaube nicht, dass er sich bei der Verlobung wohlfühlt. Wenn die alten Tanten singen: ,Aus der Jugendzeit' und ,Wie früher alles doch so anders war'. Also, kommste mit, Max?"
„Mal sehn. Ick weeß noch nich jenau."
„Ach wat, nimmst Dir eben ein paar anständige Würste und drei bis vier Napfkuchen mit."
„Natürlich, habt keine Angst, der Max wird da sein."
Der kleine Max, ein verschmitzter Bursche, fühlte sich wohl, ihm tat Zureden immer recht gut. Und ein Genosse neben ihm, wahrscheinlich sein Vertrauter, flüsterte ihm zu: „Wen meenst Du denn mit Schwester? Eure Töle?" Und dann krepierten beide beinahe vor Lachen.
„Ruhe! Maxe. Weiter, Genossen. Wir haben vorhin über Schulung gesprochen. Sonntag in acht Tagen findet eine Wochenendschule statt. Unsere Gruppe kann zwei Delegierte entsenden. Ich schlage den Genossen Peter Simon und die Genossin Elly vor."
Elly sprang vom Stuhle auf und stieß mit der Kniescheibe hart gegen die Tischkante. „Au, verflucht!" Sie war vor lauter Zorn blasser als sonst im Gesicht und hatte so laut gebrüllt, dass wieder ein übermütiges Gewieher einsetzte. Nur Erich sah sie bedauernd an, und Doktor blieb starr wie eine Bildsäule. Schulmeisterhaft und strafend warf er seine Blicke umher. Elly trat dicht an Karl heran und schaute ihm beleidigt ins Gesicht:
„Genosse Karl, ich protestiere dagegen, dass Du hier einfach so diktatorisch festlegst, dass ich mit zur Schule soll!" Dabei stampfte sie mit ihren niedlichen Füßchen auf den Boden, als wenn sie sich mit aller Gewalt Respekt verschaffen wollte. Karl sah betroffen zu Theo. So verrückt war sie ja noch nie gewesen. Was ist denn bloß mit ihr los?
„Hast wohl ne Verabredung, wat?"
„Und wenn ich zehnmal eine Verabredung habe, das geht Dir gar nichts an, bäh!" Sie steckte weit und ulkig ihre Zunge heraus.
„Der ist die Hitze in den Kopf gestiegen", lachte Karl.
Er wollte zur Tagesordnung übergehen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Der Referent stürzte atemlos und schwitzend herein: „Entschuldigt, Genossen, ich hatte eine wichtige Sitzung. Aber es ist ja erst halb zehn, da... "
„Aha, der Spachtel! der Genosse Spachtel!" staunten die Genossen.
Spachtel erklärte, er wolle die Sache kurz machen, sozusagen Telegrammstil. Seine Stimme hatte einen weinerlichen Klang, und seine Hände spielten dauernd auf dem Tisch herum. In regelmäßigen Abständen sagte er: „... nicht wahr Genossen..." Max hatte einen Bieruntersatz vor sich liegen, und immer, wenn dieser Satz gesprochen wurde, machte er einen Bleistiftstrich.
Spachtel sprach wirklich im Telegrammstil; mal war er in Spanien, dann wieder in Genf, dann sprach er etwas konkreter von dem Heranreifen einer revolutionären Krise in Deutschland. Er machte einige Vorschläge zur Intensivierung der Arbeit, kritisierte heftig die Arbeit der Gruppe als die schlechteste im Bezirk Zentrum und erreichte damit am Schluss eine lebhafte Debatte. Als erste Diskussionsrednerin sprach Trude, ruhig und überzeugend. Sie war auch der Meinung, dass die Gruppe gegenüber der allgemeinen Entwicklung sehr im Tempo zurückgeblieben sei. Alle übrigen begrüßten den Vorschlag einer eigenen Zeitung und gaben die Versicherung ab, dass sie alle nach Kräften mitarbeiten würden.
Theo gab kurz und knapp organisatorische Anweisungen für die nächsten Tage, dann schloss er die Sitzung etwas zu eilig. Aus Protest fingen zwei, drei Genossen an, das Komsomolzenlied zu singen. Es dauerte nicht lange, und die ganze Bande sang stehend mit, vor allem der Refrain schlug dröhnend gegen die Wände.

„Landwirtschaft und Industrie
produzieren wie noch nie
in der Sowjetunion!
Bauer, der so lange schlief,
schaftt jetzt mit dem Kollektiv
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol!
Auf dem Land: Komsomol!
Überall: Komsomol!
Bricht dem Sozialismus Bahn.
Ja, die Komsomolzen,
Was sind das doch für Kerle?

Knorke! Knorke alle Mann.
Ja, die Komsomolzen,
Was sind das doch für Kerle?
Knorke! Knorke alle Mann.

Lenin spricht: Elektrokraft
mit am Sozialismus schafft
in der Sowjetunion!
Mit Traktor und Eisenbahn
bau'n wir den Fünfjahresplan
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...

Technik und das Alphabet
bringt ins Dorf der Stadtprolet
in der Sowjetunion!
Volksverdummung ist gewesen,
heute lernt der Bauer lesen
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...

Hüte dich, du Weißgardist!
Immer wacht der Rotarmist
in der Sowjetunion!
GPU. und Milizei
kämpfen mit Lenins Partei
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...

Höre, deutscher Jungprolet!
Stolz die rote Fahn weht
in der Sowjetunion!
Kämpfe und verzage nie,
kämpf mit aller Energie
für die Sowjetunion!
Im Betrieb: Komsomol...

Die vier stämmigen Burschen, die mit Theo gekommen waren, setzten sich draußen an einen Tisch und beratschlagten leise.
„... die olle Kuh, die. Wegen der is der arme Teufel doch bloß Hopps gegangen ... "
„Also los, treffen wir die Vorbereitungen, und um halb zwölf vor der Haustür. Rot Front!"-------
Als Frau Mädicke am nächsten Morgen Brötchen holen wollte, brüllte sie laut auf: Vor ihrer Tür standen zwei volle, schwere Müllkästen, darauf ein Paar lange, braune Pferdebeine mit blanken Hufeisen. Sie stanken furchtbar...
Grässliche Träume hatte Frau Mädicke in den folgenden Nächten: Immer hingen baumelnde, stinkende Pferdebeine vor ihr, die Hufeisen blinkten, und dann kam der Schlächtermeister Kasch mit der Axt...

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