II.
Auf der Treppe des Hinterbodens lag ein alter Mann. Es war morgens sieben Uhr. Er lag mit dem halben Oberkörper schräg gegen die Wand gelehnt. Ein feiner Sonnenstrahl spielte um seinen Mund. Der Alte blinzelte mit den Augen und musste lächeln. Er glich einem Kind, das man unter den Armen kitzelt. Über seine Knie hatte er einen dicken, zerlumpten Mantel gelegt, ein zweiter, von unbestimmbarer Farbe, lag unter ihm auf der Erde. Der Alte wurde unwillig: der Sonnenstrahl traf sein Auge, und das Spielen mit ihm machte keinen Spaß mehr. Langsam erhob sich der Obdachlose. Seine schmutzigen, krummen Finger fuhren ein paar Mal durchs Haar wie ein Kamm. Die kleinen, müden Augen träumten, traurig irrten sie auf dem Bodenflur umher. Fast zärtlich strich er sich über die Backen. Dann humpelte er vorsichtig und leise los, sah erst eine Weile nach unten und ging dann Schritt für Schritt bedächtig die Treppe hinab.
Eines der grauen, elenden Nachtgespenster der Berliner Mietskasernen hatte ausgeschlafen und ging betteln, demütig, hoffnungslos...
Karl Langscheidt sprang von seinem Schlafsofa. Der Vater kam in die Küche und brummte ihn an:
„Wann bist Du gekommen?!"
„Um elf Uhr, Vater, wir hatten Gruppenabend."
„So, Gruppenabend. Da habt ihr Wohl wieder über die Sozialfaschisten geschimpft, wat?"
„Nee. Aber wir haben über den SPD.-Parteitag gesprochen und den Betrug der reformistischen Führer an den sozialdemokratischen Arbeitern und am Proletariat. Über die Notverordnungen und die Rolle der demagogischen „linken" Führer... ."
Der Alte unterbrach ihn schroff:
„Hör auf! Willst mich wohl wieder belehren, wat? Wenn Du bis heute abend nicht vernünftig bist, dann pack Deine Sachen und geh meinetwegen nach Moskau! So."
Die Mutter stellte Kaffee vor die beiden hin und blickte von einem zum andern. Als sich der Alte umdrehte, legte sie einen Finger an den Mund, Karl nickte und winkte lässig mit der Hand. Das Gesicht der Mutter war rissig. Die spärlichen, grauen Haarsträhnen hatte sie mit Wolle zu einem kleinen Knoten zusammengebunden.
Die eine Wand der Küche lief in großem Bogen von der Flurtür bis zum Fenster. In der Mitte, rings um die Wasserleitung, drang die Feuchtigkeit durch die blättrige Ölfarbe, die sich stellenweise zu kleinen grauen Muscheln zusammengerollt hatte. Karls Sofa stand in der Nähe der Tür. Der Alte sah noch recht verschlafen aus. Sein vom Schweiß gelbes Hemd hatte an den Schultern große Risse. Die Mutter deutete vorwurfsvoll darauf.
„Ach, nu fang Du ooch noch an. Hab schon genug Ärger. So eine Sauerei! Nischt kann man sich mehr zulegen. Nich mal ne vernünftige Molle kann man trinken. Wo soll det noch hin?"
Er sagte das so hoffnungslos und traurig, dass Karl mit ihm Mitleid bekam. Der ist ja auch nur sein ganzes Leben angeprügelt worden, deshalb frisst er jetzt aus der Hand, dachte er. Dann sah er in Gedanken ein Bild von einem Festessen sozialdemokratischer Minister und musste lächeln.
Sein Vater stand langsam auf, sah ihn noch einmal kurz und streng an und schob los. Nach kurzer Zeit ging Karl hinterher.
Auf der Straße traf Karl den alten Mann, der auf der Bodentreppe geschlafen hatte, und gab ihm eine geschmierte Scheibe Brot. Der sah ihn dankbar an und sagte:
„Ach, Sie sind ja der von gestern abend. Haben Sie sich erschreckt, im Dunkeln auf der Treppe?"
„Ach wo! Vor was denn? Aber sehen Sie sich vor, wenn Sie unser Nachbar Rhoden trifft, der holt die Polizei."
„Wat heißt Polizei? Da jibt's wenigstens ne vernünftige Schlafstelle. Danke schön fürs Brot — ihr Jungs, ihr seid doch noch die Besten."
Er humpelte weiter zur Gneisenaustraße und blieb vor einem Papierkorb stehen. Nichts, nicht einmal einen Stummel fand er. Er setzte sich in der Mittelpromenade auf eine Bank und ließ sich von der Sonne bescheinen. Mit der Umwelt schien er fertig zu sein. Nichts interessierte ihn.
Hinter seinem Rücken lag die kasernenmäßige Volksschule. Davor prügelten sich ein paar Jungens. Über den Rasen jagte ein zottiger Hund hinter einem glatten, mit langer Schnauze, und versuchte ihn anzuspringen. Leute blieben stehen und lächelten.
Aber dem Alten war das alles egal. Seinetwegen konnten jetzt zwei Straßenbahnwagen zusammenfahren. Wer kümmerte sich denn um ihn? Nur einen einigermaßen brauchbaren Stummel hätte er gerne. Und der lag, saftig und breitgetreten, fünf Schritte von ihm entfernt. Aber er schämte sich, gleich darauf loszustürzen — der Alte war früher bei den Preußen gewesen und hatte heute noch Disziplin in den Knochen, Er pirschte langsam im Halbkreis an den Stummel heran, mit einer unheimlichen Ruhe, ungefähr so, wie ein armer Berliner Teufel, der einen Fahrschein liegen sieht und sich nicht recht traut, ihn vor den Leuten aufzuheben.
Der Alte hatte den Stummel erwischt und lief wieder die fünf Schritte zur Bank zurück. Hier zerrieb er ihn und steckte ihn in eine alte, abgeknabberte Pfeife. Auf ihrem Mundansatz stak ein roter Bierflaschengummi; denn der Alte hatte fast keine Zähne mehr. Nun rauchte er.
In der Nostizstraße begann wieder der gleichmäßig eintönige Tag. Othello fegte den Laden und seine Frau putzte mit inniger Liebe den Bierhahn. Frau Mädicke ging wackelnd, mit festen, aufgesteckten Brüsten zur Markthalle am Marheinekeplatz. Sie roch stark nach Kölnisch Wasser. Wenn sie die Arme beim Gehen bewegte, sah man schwarze, krause Haare unter den Achselhöhlen hervorquellen.
Ein Bandonionspieler zog von Hof zu Hof und spielte sentimentale Lieder.
Der Mann aus dem Kuhstall kam und brüllte auf jedem Hol langgedehnt:
Brenn—hoolz für Kaar—too—ffelschalenl" Einige Weiber kamen mit Körben aus den Wohnungen und brachten dünne, schwindsüchtige Schalen. Dann wurde um Holzstückchen gefeilscht:
„Hörn Sie mal, Herr Kuhstall, wat soll det sin? Brennholz?! Zahnstocher sin det, Sie alter Kuhastronom. Sehn Sie sich mal meine Schalen an! Viel zu schade für det Vieh. Da haben Sie ja jar keen Verständnis für."
„Hier haben Sie noch wat. Mein Jott, wat wollen Se denn noch haben für die faulen Dinger? Mein Vieh pisst nich mal ruff, vastehn Se? Ick bin ja viel zu rücksichtsvoll. Man müsste ja direkt... ."
Eine andere, hagere Frau mischt sich dazwischen:
„Hörn Se bloß off zu saftein! Los, ick muss weiter! Rüber mit so 'n paar Baumstämme!"
Die Kinder der unteren Klassen gingen zur Schule, folgsam und ahnungslos. Einige trafen sich an der Ecke und zeigten einander ihre Schulhefte.
Juden aus Abzahlungsgeschäften, Beamte der Gas- und Elektrizitätswerke kamen, um Geld zu holen. Sie trafen an den Wohnungstüren nur verzweifelte Frauen und schreiende Kinder. Kein Geld, nur Hunger, Gejammer und muffige Luft.
Frau Rhoden hatte das Radio angestellt, und die halbe Nostizstraße hörte die Übertragung einer vaterländischen Feier. Die Musik spielte „Üb' immer Treu' und Redlichkeit" und hinterher „Deutschland, Deutschland über alles.“ Die Nostizstraße gehört auch zu Deutschland. Aber außer Frau Rhoden bleiben die meisten Bewohner beim Anhören der Nationalhymne teilnahmslos. Einige murrten und sagten:
„Schönet Konzert für Arbeetslose!"
Frau Danna fegte vor der Haustür, und die Gemüsefrau auf der anderen Seite der Straße saß schlaff und mager neben einem Korb Kopfsalat.
Der Briefträger kam eilig und schwitzend. Oft blieb er vor einer Frau stehen, kramte in seinem ledernen Umschlag, schüttelte den Kopf und zog weiter.
Ein Lumpenhändler zog seinen Wagen hinter sich her. Junge Burschen und Mädels kamen verschlafen aus den Haustüren und begrüßten einander.
Die Sonne schien bis zum zweiten Stock der rechten Straßenseite. Am Himmel standen weiße, nebelhafte Wolken.
„Verflucht warm, wat? Schade, dass ich nich baden fahren kann."
„Jeh doch offn Hof unter die Pumpe, Mensch!"
Die Bewohner der Hofseiten, die nach der Bergmannstraße zu lagen, bekamen die Sonne aus zweiter Hand: Die oberen Fensterscheiben der anderen Seite warfen sie grell und doch schwach zurück.
Vor seinen Eierkisten saß der Händler und langweilte sich. Hinter seinem Rücken kam leise ein junger Bursche heran und nahm sich ein Ei zum Frühstück mit. Es war sogar gestempelt. „Danish" stand mit kleinen, blauen Buchstaben darauf.
An einigen Hauswänden waren mit frischer Farbe Losungen gemalt: Rot Front in allen Ecken, der Hitler muss verrecken!
Einige Leute standen auf dem Fahrdamm und sahen nach der Arndtstraße, sie sprachen lebhaft, und viele freuten sich. Andere kamen hinzu.
„Wat is denn los? Een Flugzeug? Oder das ,Trumpf'-Luftschiff? . . ."
„Ach wat, Flugzeug. Det sehn wir ja alle Tage — aber da, da oben aufs Dach ... "
„Au Backe! Kinder, die machen aber Dinger! Meine Herrn!" Mit halbmannsgroßen Buchstaben war ein schräges Dach der
Arndtstraße bemalt. Neben der Inschrift: Die Rote Jungfront lebt!
prangte ein großer Sowjetstern,
„Dufte, dufte", sagte ein alter Mann und rieb sich unaufhörlich die Hände.
„So is richtig. Det schadet janischt. Lass man den Hauswirt kratzen. Warum verbieten se! Die anderen können alles machen. Der Stahlhelm darf aufmarschieren, und die Nazis werden immer frecher... "
„Det da keener bei runterjefallen is, wundert mir bloß. Wie sind die denn da bloß ruffjekommen?"
„Die kriejen doch allet fertig. Ostern fährt een Rot-Front-Fliejer über Berlin, den haben se bis heute noch nich. Gut sin die Jungs."
Frau Schade war auch hinzugekommen. Sie wurde gefragt:
„War det nich etwa Ihr Theo?... "
„Mein Theo? Mensch, der wird so leicht schwindlig. Der war gestern schon um acht Uhr oben. Nee, der war et bestimmt nich... "
„Mein Jott, wenn man so bedenkt, früher, rote Pfingsten. Wat war da immer für Leben in unsern Kietz. Und wat waren det for Kerle. Aus Apolda hatt' ick immer drei Stück im Quartier, die Jungs schreiben mir heute noch. Warum haben sie die nun verboten?"
„Warum? Na Mensch, weil die zu stark wurden, deshalb! Aber bilden Sie sich bloß nich ein, det die nich mehr da sin, bloß weil Sie keene Uniform mehr sehen. Sie sehn doch, da oben , . ."
„Na ja. Det denke ick mir ja ooeh. Wärn ja ooch duslig, wenn se sich det jefalln ließen."
„Mein Jott, wenn heute der RFB, erlaubt wäre, keen Nazi würde mehr da sein, sage ich Ihnen."
An der Ecke der Bergmannstraße war wieder ein neuer Menschenauflauf. Dort hing ein Schupo an einer Laterne und versuchte, das Straßenschild mit einem Seitengewehr abzukratzen. Über Nacht war aus der Nostizstraße eine Thälmannstraße geworden.
Auf dem Nachweis für ungelernte Arbeiter des Bezirks Kreuzberg war ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Im Hausflur stand dick und wichtig der Portier Langscheidt. Im dritten Stock wurde gestempelt, im vierten war der Aufenthalts- und Arbeitsvermittlungsraum. Die Luft war überall stickig und verbraucht. Die Fenster waren nur in ihrem oberen Teil geöffnet. Unten auf der Straße flutete der Verkehr: Lange Reihen Autos, Straßenbahnen und Omnibusse. Ein Polizist leitete auf dem freien Platz ruhig und überlegen die Wagenkolonnen. Aus dem Hochbahnhof Hallesches Tor krochen eilig die gelbroten Züge. Dort oben hatten 1918 und beim Kapp-Putsch Maschinengewehre gestanden. Rechts, an der Ecke der Lindenstraßa, stand das Gebäude des „Vorwärts", Angestellte mit Aktenmappen huschten eilig durch die Eingänge und mimten den „zweiten Mann"„
Vom Arbeitsnachweis sieht man auch einen Teil der blanken Friedrichstraße und die Belle-Alliance-Straße bis zum Kreuzberg hinab. Schwere Kämpfe hatten sich hier während der Revolution abgespielt, am „Vorwärls"-Gebäude, am Halleschen Tor und in der Friedrichstraße bei Büxenstein.
Die Arbeitslosen dachten oft daran...
Behäbig saßen" die Angestellten des Nachweises hinter ihren Schaltern; lange Reihen Erwerbsloser standen und warteten. Eine ekelhafte, müde Atmosphäre stand schlummerig In allen Räumen. Die Abgefertigten saßen auf langen Bänken. „Die Rote Fahne" ging von Hand zu Hand; jeder wollte sie zuerst lesen.
„Haste jelesen, Justav, jestern haben se wieder ne Filiale von Goldacker ausjeräumt."
„Na ja, wat solln se denn machen, Mensch?! Mir haben se heute ooch wieder zwee Mark abgezogen. Nächste Woche bin ich ausgesteuert."
„Wenn ick doch bloß wüsste, wo ick da mitmachen kann, ick würde mir ooch wat rausholn."
Traurig und gleichgültig saß ein blasser Bursche am Fenster. Der Hunger stach ihm aus den Augen. Seine Kleider waren abgeschabt, die Ärmel viel zu lang. Seine Nase war spitz und die Stirn flach und grau. Nervös hatte er die dürren Hände in den Schoß gelegt. Aus seinen entzündeten Augen trieften schmutzige Tropfen. Immer, wenn jemand vorbeiging, zuckte er zusammen. Er holte ein Paket aus der Tasche und wickelte große Stücke Brot und einige Scheiben Wurst aus Zeitungspapier. Langsam und schmatzend aß er.
Da trat Erich Schmidt an ihn heran, fasste ihn zögernd an den Schultern. Der Blasse drehte sich um und hörte auf mit Kauen. Dann lächelte er still.
„Emil, Mensch, wie siehst Du denn aus?! Wie kommst Du denn hier her? Meine Herren, hast Du Dir verändert! Wat frißte denn da?"
„Da! Für zwee Stunden Perserteppiche kloppen. Eeen Achtel Wurst in Zeitungspapier. Und denn tun se noch so, als ob se een wat schenken!" sagte Emil. Flüsternd sprach er weiter: „Ick bin aus de Fürsorge jetürmt. Halt de Fresse. Wollte mir hier anmelden. Aber, denkste, Papiere, polizeiliche Anmeldung..."
„Na und?"
„Hab ick doch nich. Un mir bringen se doch wieder zurück nach Züllichau. Da jeh ick aber nich mehr hin. Da war's ja — nich — zum Aushalten! Unterwegs bin ich umjekippt, in Freienwalde habn se mir ins Krankenhaus jeschleppt. Fünf Tage, denn haben se mir wieder rausjeschmissen. Der Arzt sagt, ick muss bald sterben, ick hab de Schwindsucht... "
Er schüttelte ein paar Mal leicht den Kopf, schob ein Stück Brot in den Mund und sah Erich an. So warm und kameradschaftlich. Erich konnte nicht sprechen, ihm war sonderbar zumute. In seiner Brust stand ein heißer Klumpen Mitleid. Einige Male versuchte er, seinem Schulfreund in die Augen zu sehen: Er konnte nicht. Sacht fasste er ihn am Ärmel und sagte: „Komm nach oben, da ist nicht so schlechte Luft."
Erich presste den Mund zusammen. Seine Augen brannten, rote Flecken standen ihm auf der Stirn. Der klägliche Rest Mensch stieg vor ihm die Treppe hinauf. Der geht ja kaputt, der geht kaputt... dachte er hastig.
Was war das früher für ein Kerl gewesen! In der Schule... Vater im Krieg gefallen... Geld geklaut, Fürsorge... Schwindsüchtig und ausgerissen... So geht der kaputt. So...
Erich strich sich über die Schläfen. Im Halse würgte es.
... Und wir, wir alle? Ich, Ich, was wird aus uns?! Wir gehen ja alle kaputt... wir alle. Alle! Zuhause... was soll denn das werden... ?
In allen Räumen des Nachweises lag die Müdigkeit. Erich wurde immer verzweifelter. In ihm vibrierte jeder Nerv. Und dazu summte in seinem Innern wieder diese dicke, widerlich sentimentale Saite... Im Aufenthaltsraum war es lauter. Fast alle Plätze waren besetzt. In der Mitte stand ein niedriger Podest. Alte Männer rauchten schlechten Tabak, und die Jungen versuchten, sich Zigaretten zu drehen. Blaue Rauchschwaden standen unter der Decke, wanderten von einer Ecke zur anderen und suchten einen Weg ins Freie. Mindestens sechzig Menschen befanden sich hier oben. Einige schliefen, nickten dabei mit den Köpfen und wachten dann jäh auf.
„Mach mal Platz, hier ist doch kein Asyl!" weckte ein ,besserer' Arbeitsloser einen Schlafenden auf. Der Schlafende trug eine Brille, er glotzte verständnislos, stand auf und tappte los wie ein gefangener Bär.
Ganz hinten in der Ecke lag das Nachtgespenst aus der Nostizstraße auf einer Bank und schnarchte. Ihn störte keiner. Neben sich hatte er ein schmutziges Paket liegen.
Drei vierzehn-, fünfzehnjährige Burschen saßen am kalten Ofen und spielten Schafskopf:
„Du musst koofen, Justav."
Gustav hatte rote Backen, lüstern und frech belauerte er seine Mitspieler, Er spielte wie ein Alter.
„Bedienen, Du alte Wiesenpenne — so! Und der steht von hinten. Allet meine!"
Gustav wurde unruhig und hatte keine Lust mehr zum Spielen. Kater und Spinne hatten ständig verloren und waren wütend. Sie schlugen alle drei die Beine übereinander und langweilten sich.
„Heute wird's wohl keene Arbeet mehr geben, is ja schon elf Uhr.
„Sag mal, Gustav, hast Du schon mal gearbeitet?" „Ick? Solange wie ick aus der Schule raus bin noch nich. Als Schulrabe ja. Ick wer wohl ooch keene mehr kriejen", sagte er ruhig. Und halb lachend, halb bedauernd fuhr er fort: „Und als ich zehn Jahre alt war, hat der Alte jesagt: ,Gustav, Du wirst mal Rechtsanwalt!' Heute bin ick zu Hause bloß noch det ,Sticke Mist'."
Kater kaute an einem Streichholz. „Det sin wir ja alle", sagte er so ganz nebenbei. „Aber lass man. Wem wir eben Verbrecher. Eeen andern Beruf jibs ja für uns nich mehr. Schade, dass Du nich Rechtsanwalt bist, da hält ick een billigen Verteidiger..."
Ein Mann mit schwarzer Hornbrille und schwarzem Lüsterjakett kam in den Saal. Alles sprang auf. Der Mann stellte sich auf das Podium und sah sich von oben,die Leute an.
„Nu los doch, Mensch! Lass uns nich so lange warten!"
„Immer ruhig, junger Mann, nicht wahr?"
Die Erwerbslosen standen dicht gedrängt um ihn herum und sahen zu ihm auf wie zu einem Lehrer, der interessante Geschichten zu erzählen hat. Er begann laut:
„Zwei Mann Zettel verteilen, Speisehaus Friedrichstraße."
„Wie viel? Wie viel Mark die Stunde?"
„Das steht nicht bei. Jedenfalls handelt sich's um ein Speisehaus und ein Mittagessen wird schon abfallen."
„Oho! Det kenn wir, det Mittagessen! Pellkartoffeln und Soße! Da jeht keener hin!"
„Was wollen Sie denn schon wieder? Sie können doch die Leute nicht von der Arbeit abhalten! — Also los: Wer will hingehn? Lohn nach Vereinbarung."
Zwei alte Männer meldeten sich. Sie gaben ihre Stempelkarten ab und gingen still lächelnd fort. Spinne machte ein verächtliches Gesicht und stieß Gustav an:
„Zettel verteiln! Det soll nu für unsereens Arbeet sin! Arbeitsburschenstellen kommen überhaupt nicht mehr raus. Dreck verfluchter!"
Jemand lachte ganz laut. Niemand drehte sich nach ihm um. Sechzig Erwerbslose warteten auf Arbeit. Aber keiner hatte Hoffnung. Der Mann mit der Brille tat immer wichtiger. Er wühlte geschäftig zwischen den Papieren in seiner Hand und kramte eine neue Vermittlungskarte vor. Es wurde wieder ruhig und die Augen der Wartenden wurden gespannt.
„Zwei Mann zum Teppichklopfen. Sie müssen das schon öfter gemacht haben. Stunde achtzig Pfennig. Es handelt sich um je zwei Stunden."
Zehn, zwölf Leute drängten sich zur Mitte und hielten ihre Karlen in die Luft. „Hier!" — „Icke!" — „Icke!" . . .
„Halt, nur zwei Mann. Wer ist länger als anderthalb Jahr arbeitslos?"
Das waren fast alle, die sich gemeldet hatten. Der Mann suchte zwei junge Leute aus, und empfahl ihnen, gleich hinzugehen: Großbeerenstraße 58, bei Frau Schnacke.
„Pass off det Jeld off, det aus die Teppiche fällt!" rief man den beiden nach.
Der Kreis um den Ausrufer wartete noch.
„Kommt denn heute noch wat raus?"
„Ja, das weiß ich nicht. Sie können ja warten, Sie haben ja so viel Zeit!"
„Du alter Tintenklohn, det denkste Dir ja bloß. Los, schwinge Deine Scheißständer und kiek nach, ob neue Arbeet da ist!... "
„Denkst wohl, weil Du die Ruhe weg hast, haben wir ooch Zeit, wat? Ick muss noch nach de Wohlfahrt zum Kottbusser Damm!"
Enttäuscht schlich jeder zu seinem Platz zurück. Sie wurden ja immer enttäuscht. Immer und überall. Enttäuscht und gedemütigt. Sie wurden herumgejagt mit nutzlosen Formularen, von einem Amt zum anderen, von Behörde zu Behörde. Manchmal nur wegen eines Stempels. Nur wenige murrten. Sie fraßen alles in sich hinein. Und das alles schwoll an zu einer gewaltigen Portion Hass und Wut. Da brauchte nur einer zu kommen, der sie an der richtigen Stelle packte und sagte: Jetzt ist aber Schluss! Die Berliner Erwerbslosen sehen friedlich und sanft aus, doch es braucht nur die richtige Stelle bei ihnen aufgerissen zu werden, und sie schlagen auf den Tisch. Die Wohlfahrt lässt die Kräftigsten nicht ganz verhungern, vielleicht werden sie später einmal gebraucht. Als Arbeiter oder Soldaten. — —
Wieder wurde Karten gespielt: Es war schon halb zwölf. Ab und zu flog ein toter Blick zur Uhr. Die Luft wurde immer stickiger. Der Qualm fand nirgends einen Abzug, Ein Erwerbsloser wurde blass und ging. Auf dem Flur erbrach er grünlichen Schleim und fasste sich in die Magengegend. Dann lehnte er den grauen Kopf schwer an die Wand. Von unten brachte jemand Wasser. Er wollte nicht trinken, hastig und heiser keuchte er: „Jeht doch weg mit Eurem Dreckwasser! Weiter habt Ihr nischt; Wasser oder blaue Bohnen."
Ein Bekannter stützte ihn und führte ihn zur Treppe.
„Komm, jeh nach Hause, bei Deine Frau."
„Ach, hör uff! Da wird mir ooch nich besser, Mensch, zu Hause. Wenn ick det so sehe — die Wut könnte man kriejen. Jetzt haben wir noch zwölf Mark die Woche. Drei Kinder. Un denn det Gejammer zu Hause . . ."
Kein anderer hatte sich um den Mann bekümmert. Das kam doch alle paar Tage vor, überhaupt, wenn es so heiß war. Wer weiß, wer morgen vor Hunger umfallen wird.
Spinne äffte den Ausrufer nach und stellte sich auf das Podium. Von irgendwoher hatte er sich eine Hornbrille geborgt. Mit verstellter Stimme rief er in den Saals
„Achtung! Ein Hausdiener mit Backenbart und eigenem Fahrstuhl wird verlangt! - Firma Karstadt, Hermannplatz. — Na, meldet sich keener?!"
Manche lachten. Es gibt Erwerbslose, die nicht mehr lachen können. Es gelingt ihnen einfach nicht mehr. So elend, so erbärmlich sind Menschen behandelt worden, Sie können nicht mehr lachen, haben nie frohe Stimmungen.
Spinne wurde wütend:
„Wat? bei so eine feine Firma wollt Ihr nicht hin? Ihr Arbeitslosen seid ja viel zu faul zum Arbeiten. Das steht doch alle Tage in den Zeitungen. Aber hier — hier habe ich noch eine feine Stelle. Kommt nur für einen Sohn achtbarer Eltern in Frage, Kater, det is wat for Dir! Verlangt wird: vier Pocken auf dem linken Oberarm, polizeiliches Führungszeugnis und Schuhgröße 41. Er muss englisch und französisch verstehen. Es handelt sich um eine allein stehende Dame mit Köter... "
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Langscheidt stürzte herein:
„Runter da! Das ist Hausfriedensbruch, Sie müssen aber auch überall dabei sein. Denken Sie, mir macht das Spaß, hier für Ordnung zu sorgen?"
„Beklecker Dir man nich! Für Ordnung sorjen wir schon alleene . . ,"
„Raus, Du Achtgroschenjunge!!"
Langscheidt wurde rot und verschwand wieder. An der Tür prallte er mit seinem Sohn Karl zusammen. Karl trug auf der linken Brust stolz das Komsomolabzeichen.
Die Jungens aus der Nostizstraße sahen gespannt zur Tür. Aber sie kamen nicht auf ihre Kosten. Karl machte seinem Vater Platz und kam dann lächelnd, mit leichten Schritten in den Saal. Alles an ihm glänzte: die Backen, die Haare, die Stirn. Er ging langsam auf Erich zu und blickte erstaunt auf Emil. Die anderen drei schoben sich auch allmählich heran. Der kranke Emil betrachtete sie mit wehleidigen, entzündeten Greisenaugen, Lange drückte er Karl die Hand.
„Sehn wir uns doch noch mal? Vierzehn Jahre waren wir damals alt, Karl."
„Ja, Emil, es ist schon sehr lange her."
Eine dumpfe Pause entstand. Karl suchte nach Worten, alle hatten irgendwie Angst, zu sprechen.
„Bist Du auch bei die Kommunisten, Karl?"
„Ja. Schon ne ganze Weile. Und Du? Was machst Du? Ich meine, kümmerst Du Dich um nichts?"
„Natürlich, Mensch. Ich hab alles mitgemacht da unten. Aber dass Du dabei bist, das habe ich mir denken können. Manchmal habe ich daran gedacht, dass Du ja auch Kommunist sein musst. Ich hatte das so im Gefühl. Am meisten gefreut haben wir uns, da unten im Heim, wenn wir ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!' gesungen haben. Das war alles so komisch. Und Du hast dagesessen, warst wehrlos und konntest nich raus. Wir hatten alle eine einzige Wut in solchen Situationen. Manchmal kam Kommunistische Jugend in Autos vorbei — und wir — Mensch! Da hab ich oft an Euch alle denken müssen. An alle. Und an die Nostizstraße. — Was ist da jetzt los?"
„Sie ist rot, Emil, Da kannst Du Gift drauf nehmen. Ab heute heißt sie Thälmannstraße."
„Das ist gut so. Aber ich weiß nicht, irgendwie hab ich auch das gefühlt. Mensch, der Dreck da — ach ja, über den Thälmann, über den haben wir uns oft unterhalten. Wie sieht der denn überhaupt aus?"
Das wusste sogar Spinne. Thälmann hatte jeder aus der Nostizstraße schon einmal gesehen. Im Sportpalast oder so. „Ja", sagte er wichtig, „det kann ick Dir sagen: wie ein Arbeiter, Wenn der spricht, staunste Bauklötzer. Da merkste gleich: det ist derjenige, welcher . , det is unser Führer."
„Haste seine letzte Broschüre gelesen?" fragte Karl. „Die hats in sich."
Spinne hatte sie nicht gelesen. Er erwiderte: „Mensch, wenn Teddy aber nach de Nostizritze kommt und sagt: ,Jungs, los!' — ick bin mit bei,"
„Wie steilste Dir denn "det vor", fragte Kater höhnisch, „det mit bei sein?"
„Jib doch nich so schaurig an! Soviel wie Du hab ick ooch davon weg, verstehste."
Karl lächelte: das war ja eben die Unklarheit bei den Jungens. Schlagen, ein bisschen Thälmann, und das andere ist ihnen alles egal. Da versagen sie alle, wenn sie sich nicht der proletarischen Disziplin fügen. Da versagt einfach der Mensch. Sie leben im erbärmlichsten Elend, winden sich durch und brüllen dann für ein paar Minuten auf. Wie gebändigte Raubtiere, denen die Wildheit noch in den Knochen steckt- Aber alles ist so unklar bei ihnen — da gibt es noch viele, zermürbende Arbeit...
Langsam verließ ein Erwerbsloser nach dem anderen den stickigen Arbeitsnachweis. Schwitzend, hungrig und traurig, den Kopf nach vorn gebeugt, liefen sie irgendwohin. Hinein in dieses sinnlose Leben ohne Freude. Verfluchte Müdigkeit drückte auf ihren Köpfen, ließ die Augen glotzen und alles grau erscheinen. Wenige waren da, meistens junge, von denen ging Kraft aus und Mut. Sie gingen aufrecht, und man freute sich.
Karl Langscheidt, Erich Schmidt und Emil Hefen zum Belle-Alliance-Platz. Sie setzten sich auf eine leere Bank. Ein Gespräch wollte nicht in Gang kommen. Vor allem Erich hatte eine grässliche Stimmung. Immer wieder zerrte ein komisches Mitleidsgefühl an seinem Herzen. Emil saß in der Mitte und stierte zu Boden. Niemand hatte große Lust zu sprechen. Und alle drei wussten, dass sie einander etwas sagen mussten. Aber was und wie, das wusste nur — aber auch noch undeutlich — Karl. Er begann ganz leise, ohne die Stimme zu heben, eintönig; der Klang seiner Stimme passte zu den dreien. Niemand gab sich Mühe, froh auszusehen. Langsam, während Karl 6prach, löste sich die stumpfe Verstimmung. Nur Emil döste weiter, ab und zu lächelte er still und teilnahmslos wie ein Schwindsüchtiger.
„... Seht Euch mal das an, da oben. Wie man da behandelt wird. Und dann die Luft. Keiner muckt auf. Das ist alles so ekelhaft, am liebsten würde ich nicht mehr hergehen. Aber... Hier, haben wir uns wieder gesehen, Emil. Da oben in dieser heißen Lausebude. Mensch, wenn man das bedenkt, wo wir schon hingekommen sind — wir alle, Kater, Spinne, Du und Du und Peikbeen und ich und alle die anderen — ich weiß nicht. Man müsste dann doch etwas Gemeinsames haben: wir müssten dann doch Kameraden sein. Aber ja. Kameradschaftlichkeit setzen sie voraus, wenn sie Zigaretten schlauchen wollen. Wenn man das so sieht, die Jungs, aus der Schule raus — hier hast Du Deine Stempelkarte — zum Nachweis. Keiner, wenigstens keiner von unsern Jungs aus der Straße, wird in den Produktionsprozess eingereiht. Was soll denn aus denen mal werden? Das geht tiefer, immer weiter, bis zum Lumpenproletariat. Und dann sind sie für die revolutionäre Arbeiterschaft verloren... Sie wollen alles vergessen. Da ist dann der Rummel, die Weiber. Manche gehen zu Biens in der Kreuzbergstraße tanzen, und andere wieder machen sich mit gemeinen Zoten Luft... Immer stärker, immer brutaler wird die proletarische Jugend unterdrückt. Die Jungens müssen ja kaputtgehen, wenn sie so weiterleben, wenn ihr Leben keinen Inhalt hat, kein Ziel... Sie sollen zu uns kommen, Das müssen sie einfach tun, wenn sie nicht vollständig stupide und stur werden wollen, wenn sie in ein besseres, schöneres Leber hineinwollen... Mensch, ich hab doch früher auch gedacht, mit Volkstanz und schönen Wanderfahrten wird das Leben besser. Aber ja, das Maul haben sie einem zugebunden, wenn wir mal aufgemuckt haben. Was sind wir hin- und hergerannt, freudig und eifrig. Und sie sind immer reaktionärer, kleinbürgerlicher geworden. Das haben ja sogar bürgerliche Zeitungen nach dem Leipziger Parteitag bestätigt. Nach der Haltung der SPD. richtet sich heute schon die Börse. Schade um die Proletenjungs, die heute noch an den Sozialismus der Wels und Breitscheid glauben... "
Emil war vollständig in sich zusammengesunken. Von unten her betrachtete er die Freunde. Erich dachte lange nach, dann sagte er ebenso leise und zögernd wie Karl, mit viel Zweifel und Bitterkeit in der Stimme:
„Ja, Du hast schon ganz recht. Aber ich glaube nicht, dass es einem dann besser geht, ich meine persönlich besser, wenn man bei Euch ist. Aber Du hast schon recht, — Ja, wenn man sich mit allen so unterhalten könnte, wie jetzt mit Dir, dann — ich glaube, dann verliert man allmählich die Zweifel. Aber Ihr habt ja nie Zeit dazu. Alle haben es so eilig. Und Eure Mädels sehen einen von oben herab an. Alle kommen sich furchtbar wichtig vor und tun geheimnisvoll, als wenn Ihr eine Geheimorganisation seid... Ich sehe selbst, dass mein ganzes Leben Quatsch ist. Zu was denn leben, wofür denn? — Beantworte mir mal eine Frage: meinst Du, wenn ich jetzt in den Jugendverband gehe, dass das dann alles aufhört, das Nachgrübeln und Suchen und der ganze Mist? Dann die fressende Sehnsucht nach Menschen, die einen verstehen... ?"
Wieder trat eine kurze Pause ein. Es war schon zwei Uhr Mittag geworden. Am Himmel standen verbummelte Wolken und es wurde mit einem Mal drückend schwül. Karl richtete sich auf, sah Erich an und sagte schnell:
„Das hängt von Dir ab. Wenn Du bei uns bist, hast Du Deine Aufgaben. Dann hat das Leben einen Sinn, Du hast ein Ziel, gemeinsam mit uns. Der eine hat große Schwierigkeiten, der andere findet sofort den richtigen Kontakt und wird ein guter Revolutionär. Wenn Du nur immer das machst, was für Deine Klasse richtig ist, dann ist's schon gut. Das andere musst Du alles über Bord werfen. — Du bist sehr sentimental, Erich. — Was Du von meinen Genossen sagst, stimmt schon zum Teil. Aber Du musst sehen, dass es ihnen auch nicht immer leicht wird, gegen sich selbst vorzugehen und alle Schlacken auszuräumen. Sie stammen aus dem gleichen Milieu wie Du. — Komm zu uns Erich, ich werde Dir helfen... "
Unbeholfen und alt stand Emil auf. Sein Gesicht war fahl, die Backenknochen standen grau hervor. Er sagte mit fremder, ferner Stimme zu Erich:
„Sei froh, dass Du endlich dahinter gekommen bist. Greif zu und versuche tüchtig, besser als ich zu sein. Ich bin krank, fertig mit der Welt. Sonst würde ich schon wissen, was ich zu tun habe. — Jetzt muss ich gehen."
„Red doch nich so ein Unsinn!" beruhigte ihn Karl. „Du bist noch lange nicht fertig mit der Welt. Man muss jetzt eine Möglichkeit finden, wie Du Dich durchschlägst."
„Ach, das überlass nur mir. Ihr habt genug zu tun, ich weiß schon, was ich mache. Auf Wiedersehen! Grüß die Jungens! Und die Straße... "
Emil war langsam zum Kreuzberg gelaufen, nachdem er stundenlang in der Stadt herumgeirrt war. Oft dachte er an das Gespräch vom Mittag. Feiner Bengel, der Karl... Aber ich bin krank, ich kann nicht mehr...
Müde setzte er sich auf eine Bank in der dunkelsten Ecke. Er saß da, ein erbärmliches Stück Mensch. Alles an ihm war alt, versaut. Sein Körper hinfällig zum Zusammenbrechen.. Ein junger, kräftiger Mensch ist kaputtgegangen. Die Schwindsucht hatte ihn zerfressen, weil er kein Geld hatte, sich auszuheilen. Der konnte nicht mehr leben, nicht mehr denken...
Kleine Regentropfen fielen. Der Mensch schlug den Rockkragen hoch. Ein paar Bänke weiter lagen Obdachlose, noch etwas entfernter flüchteten Liebespärchen vor dem Regen. Von irgendwoher klang eine schwermütige Weise. In der Luft lag ein Seufzen, schwer und traurig. Jemand ging vorbei und murmelte vor sich hin. In der nahen Schultheiß-Brauerei polterten Tonnen. Eine Lampe nach der anderen wurde ausgedreht und die Bäume standen dunkel und drohend. Von der Stadt her drang das schrille Klingeln der Straßenbahnen. Und Emil saß da, alles war leer in ihm, er versuchte, nicht einzuschlafen. Würgender Hunger stach in seinem Magen. Sein Puls ging ruhig. Es ist ja Wahnsinn, in blöder Geduld hier zu sitzen und auf noch mehr Elend zu warten, zu warten, bis ich krepiere — dachte er ein paar Mal. Seine Schultern und der Schädel zuckten, und, um einem Krampfanfall vorzubeugen, schüttelte er heftig den Kopf und streckte die Hände steil in die Luft. Dann sah er mit totem Blick in die dunklen Blätter der Bäume ...
Emil hatte niemanden mehr. Seine Mutter war vor zwei Jahren an der Schwindsucht gestorben. Zweimal hatte sie ein totes Kind zur Welt gebracht. Emil hatte keine Verbindung mehr mit seiner Umwelt, alle hatten sich von ihm gelöst. Und irgendetwas Schwarzes trieb ihn einem unbekannten Abgrund entgegen.
... warten — nicht mehr warten! Wartet ihr doch! Ihr könnt es ja. Seid doch nicht so!... Ich schaffe es nicht! Ich kann nicht mehr warten!
Er hatte laut geschrieen. Dann stützte er wieder den Kopf in die Hände. Die Kälte drang durch die Kleider und sein Blut rebellierte.
Neben der Bank stand ein Papierkorb. Eine Ratte sprang hinein und raschelte. Emil kümmerte sich nicht darum; als er von der Anstalt zu einem Bauern gebracht worden war, musste er im Stall neben Ratten schlafen.
Ab und zu knarrte ein Baum, Nachtvögel flogen lautlos, mit schnellem Flügelschlag vorüber.
Stundenlang saß Emil ohne Schlaf, den Rücken nach vorn gebogen. Er war immer mehr in sich zusammengesunken, wie ein jämmerliches, schmutziges Bündel. Sein wehrloser Körper dachte nicht an Widerstand...
Endlich erhob er sich und wankte den Weg zur Kreuzbergstraße hinab. Ein Wächter mit Taschenlampe und Schäferhund kam ihm entgegen. Er brummte Emil an: „Wird ja auch Zeit. Hier die Gegend unsicher machen, was?"
Emil drehte sich nicht einmal um. Zu was denn auch. Der Wächter wird noch genug Arbeit haben, um den anderen Obdachlosen da oben klar zu machen, dass die Menschen vor dem Gesetz alle gleich seien und sie deshalb nicht auf einer Bank im städtischen Park zu schlafen haben. Er wird seinen Köter bellen lassen und sich freuen, wie die Verschlafenen ängstlich davonrennen... , dachte er.
In der Nostizstraße lief Emil langsamer. Die Schupopatrouille hatte ihn misstrauisch betrachtet, war dann aber kopfschüttelnd weitergegangen. „Der ist ja plemplem!" hatte der eine gesagt.
Vorsichtig tappte Emil dem Haus zu, in dem er aufgewachsen war. Alles war wie früher, so alt und grau, derselbe Geruch stand in der Luft, auch nach Pferdebouletten roch es noch. Schritt für Schritt lief er weiter. An einem Haus blieb er stehen, holte einen Bleistiftstummel aus der Hand und schrieb an ein grünes Schild: „Emil war hier gewesen."
Seine Augen suchten an den Häuserfronten entlang. In einer Wohnung flackerte trübselig eine Petroleumlampe. Sonst war es überall dunkel, fast feindselig. Die Nostizstraße schlief und atmete schwer. Die Häuser schienen von oben her zusammenzustürzen und alles mitzureißen. Kichernd prallten Regentropfen auf die Dächer, und auf der Straße schlugen sie hell auf. An allen Wänden stand Entsetzen, und aus den dunklen Fenstern glomm die Müdigkeit... .
Emil lief weiter, die Baruther Straße hinauf, bog in die Zossener Straße links ein und ging dann schnell zum Landwehrkanal. Er kletterte auf die Brücke, holte ein Rasiermesser aus der Tasche und drückte es fest gegen die Kehle. Blut spritzte, ein leiser Schrei — niemand hörte ihn — der Körper klatschte ins Wasser wie ein voller Sack.
Am andern Abend schrieben die Zeitungen gleichgültig und zynisch:
. „Gestern abend nahm sich ein junger, etwa 17jähriger Bursche auf eine entsetzliche Weise das Leben. Er ließ sich, nachdem er sich vorher die Kehle mit einem Rasiermesser durchgeschnitten hatte, von der Brücke am Halleschen Tor in den Landwehrkanal fallen. Der Vorgang wurde nicht beobachtet, jedoch fanden kurze Zeit später Passanten das Rasiermesser und Blutspuren. Sie alarmierten die Feuerwehr, die sofort nach der Leiche fischte. Man fand sie in der Nähe der Brücke zwischen einem Motorboot und der Kanalmauer. Die Personalien des Toten konnten noch nicht ermittelt werden... "
Die „Rote Fahne" schrieb am folgenden Tag einen längeren Artikel:
„Furchtbare Selbstmordtragödie eines entwichenen Fürsorgezöglings. Der jugendliche Arbeiter Emil F. war vier Jahre in der Erziehungsanstalt Z. Schon nach ganz kurzer Zeit stellte der Arzt Lungentuberkulose fest. Aber trotzdem jagte man ihn zur Landarbeit zu einem Bauer in der Umgebung. Von früh bis spät musste der Jugendliche bei schlechter Ernährung arbeiten. Als die Erntearbeit vorüber war, wurde er wieder in die Anstalt zurückgebracht. Vor vier Wochen flüchtete er und kam zu Fuß nach Berlin. In der Nähe von F. brach er auf der Landstraße bewusstlos zusammen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus. Dort sagte ihm der Arzt, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Da das Krankenhaus den jungen Arbeiter nicht umsonst behandeln wollte, wurde er einfach vor die Tür gesetzt. Vorgestern kam er nach Berlin. Am Tage trafen ihn noch seine Schulfreunde in einer furchtbaren Verfassung. Er hatte hohes Fieber. Nachdem er wahrscheinlich längere Zeit in der Stadt herumgeirrt war, schnitt er sich gegen 4 Uhr morgens an der Zossener Brücke die Kehle durch und stürzte sich ins Wasser. F. hatte früher mit seiner Mutter, die inzwischen an Tuberkulose gestorben ist, in der Nostizstraße gewohnt, Dieser Fall... " |
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