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Ludwig Renn - Nachkrieg (1930)
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Polizei-Werbestelle

„Wachtmeister Renn wird zur Werbestelle versetzt. Er hat sich am 15. d. Mts. bei seiner neuen Dienststelle zu melden."
Das stand im Tagesbefehl. Da musste ich morgen schon in die Stadt fahren, wo die Werbestelle war.
Am Abend ging ich mit Müller in eine Kantine. Wir saßen einander gegenüber, meistens stumm. Ich fürchtete, dass Müller fragen würde, wie es zu meiner Versetzung gekommen wäre. Aber er fragte nicht. Wie ausgetrocknet war ich. Mit einer mir unverständlichen Kälte sagte ich mir: Was verlasse ich denn? Nichts! Was habe ich mit den Kameraden zu tun? Nichts! Und doch war mir weh zumute. Einzelne waren es nicht, aber sie alle zusammen. Freilich hatte ich in den letzten Tagen etwas bemerkt: ein Teil lehnte sich innerlich noch gegen die Offiziere und ihren scharfen neuen Kurs auf. Einzelne aber gaben schon nach, vielleicht die neu Angeworbenen zuerst. Sie hatten die Sachen im Kapp-Putsch nicht miterlebt.
Müller stützte sich mit einem Ellbogen auf den Tisch. „Wir werden es sehr schwer hier haben gegen die Reaktion. Am liebsten würde ich gehen, aber man darf nicht. Wir dürfen es den Offizieren nicht so leicht machen. Sie müssen uns einzeln hinauswerfen. Und bei jedem solchen Fall werden wir noch die sozialdemokratischen Regierungskommissare gegen sie in Bewegung setzen!"
Wir schwiegen wieder.
Am Morgen ging ich mit meinem wenigen Gepäck nach der Bahnstation. Es war ein warmer Tag. Vögel sangen, und einige Bäume hatten schon etwas Grün.
Der Bummelzug ratterte und hielt und ratterte wieder.
Am Nachmittag kam ich in der Stadt an und fuhr mit der
Elektrischen nach der Kaserne. Das waren eine Anzahl rote Ziegelgebäude mit einem weiten Hof in der Mitte.
Am Tor hing ein Pappschild: „Zur Werbestelle der Sicherheitspolizei."
Ich kam in ein großes Geschäftszimmer. Darin saßen mehrere Wachtmeister und Unterwachtmeister. An einem kleinen Tisch am Fenster war ein Hauptmann über Papiere gebeugt. Ich legte mein Gepäck nieder, zog mir den Rock zurecht und stellte mich vor ihm auf: „Wachtmeister Renn meldet sich zur Werbestelle versetzt."
Er sah mich mit unfreundlichen Kalbsaugen an und rief: „Herr Lorenz! - Wo wollen wir den Wachtmeister verwenden? Für die fliegende Werbestelle brauchen wir wohl niemand?"
Lorenz, ein dünner Mann mit listigen Augen, betrachtete mich. „Eigentlich brauchen wir einen Registrandenschreiber. Können Sie so etwas?"
„Ich habe nur als Vertreter des Feldwebels Registrande geführt. Aber das wird wohl hier schwieriger sein."
„Ach, das ist nicht so schlimm."
„Gut", sagte der Hauptmann. „Richten Sie ihn ein!"
Lorenz zog mich zu seinem Tisch. „Sie ziehen zu dem Unterwachtmeister Schröder in die Stube. - Bei uns ist es gerade hier ein bisschen durcheinander." Er kniff die Augen zusammen und wollte wohl damit sagen: Ich kann hier nicht frei reden. „Sie kommen an die lange Tafel zwischen Schröder, der die erste Registrande führt, und den Führer der schwarzen Listen."
Schwarze Listen? Rockstroh hatte uns doch im Unterricht gesagt, die wären abgeschafft!
„Sie nehmen die Buchstaben L bis Z. Der Vorgang ist so: Sie bekommen die Aufnahmegesuche von mir, tragen sie hier in diese Spalte ein und geben sie dann Herrn Hauptmann. Der bearbeitet sie weiter. Wenn dann der Gesuchsteller Bescheid bekommt, tragen Sie das in diese Spalte ein. Das übrige ist auch sehr einfach. In zwei Tagen machen Sie das im Schlafe. Ich bringe Ihnen gleich einen Stoß Gesuche. Wir haben nämlich seit einer Woche Hochbetrieb."
Ich begann Eintragungen in die Registrande zu machen. Das war ein Heft von großem Format mit vielen Spalten.
Später kamen die Bewerber einzeln herein und standen vor dem Hauptmann stramm, der sie von seinem Tisch aus unfreundlich ansah und sie in schroffem Ton ausfragte. „Wo waren Sie in der Zeit vom 10. September 1916 bis zum 8. Januar des nächsten Jahres?" fragte er einen. „Darüber gibt Ihr Militärpass keine Auskunft"
„Bei Maschinengewehrabteilung 254, Herr Hauptmann!"
Der Hauptmann schrieb etwas auf.
„Sie haben vor dem Kriege einmal zwei Tage Haft gehabt. Das ist zwar für die Einstellung nicht wesentlich. Aber weshalb war denn das?"
„Wegen Betteln, Herr Hauptmann!"
Der Hauptmann schrieb wieder. Wenn es für die Einstellung nicht wesentlich war, weshalb schrieb er es dann auf?
Nachdem er so alle Papiere durchgesehen hatte, ging er zum Polizeioberst zum Vortrag.
Nachmittags um vier war Büroschluss. Wir gingen zusammen hinaus.
„Du bist das, der auf der Riesaer Brücke entwaffnet worden ist?" fragte einer neugierig.
„Bei euch hat doch die ganze Hundertschaft gemeutert?" sagte ein kleiner Mensch mit listigen Augen. „Ich kann dir sagen, hier ist ja auch allerhand passiert! Der Hauptmann", flüsterte er, „hat sich so dumm benommen, dass er in den nächsten Tagen verschwinden muss. Er kommt ins Zeithainer Lager, und hierher kommt 'n anderer."
„Was hat er denn gemacht?"
„Der Hauptmann pflegte sich immer Notizen zu den Gesuchen zu machen, und einmal ist aus Versehen mit den Personalpapieren auch das Gesuch mit den Bemerkungen zurückgesandt worden. Und da stand drauf, dass er abgelehnt war, weil ihn die Gewerkschaften empfohlen hatten. Das hat einen mächtigen Stunk gegeben. Der Regierungskommissar hat die Ablösung des Hauptmanns verlangt, und der Oberst von Migliotti hat ihn versetzen müssen -obwohl wir glauben, dass er selbst dahinter gestanden hat! Ich könnte dir ja noch vieles erzählen, aber ich muss jetzt zum Oberst. Ich bin sozusagen Bursche bei ihm. Das gibt's zwar bei der Polizei nicht, aber - es gibt's eben doch!" Mit einem Kopfnicken lief der Kerl mit flinken Beinen fort.
Schröder führte mich in unsere Stube. Die war hell und sauber. Er war ein großer, kräftiger Mensch mit etwas verschlafenen Augen.
„Nachher kommt mein Mädel. Das stört dich doch nicht* „Ist denn das hier erlaubt, Mädel in die Kaserne zu bringen?"
„Erlaubt? Weiß ich nicht. Alle machen es."
„Was soll ich dagegen haben? Von mir aus kannst du machen, was du willst."
Ich legte meine Sachen in den Schrank und setzte mich an den Tisch, um meiner Mutter meine neue Adresse mitzuteilen.
Schröder ging nach dem Tor, um sein Mädel zu holen, und kam bald mit ihr wieder. Sie hatte ein weißes Gesicht mit einer spitzen, geraden Nase und sah mich und dann ihren Fritz ängstlich an.
„Sie brauchen sich vor mir nicht zu genieren", sagte ich. „Außerdem gehe ich nachher aus."
Sie blieb aber verlegen, bis ich meinen Brief zugeklebt hatte und fortging.
Der Abend war warm und klar. Kinder spielten auf der Straße. Ich streifte im Walde hinter der Kaserne umher bis zu einem Aussichtsturm und kehrte dann langsam zurück.
In unserer Kasernenstube war es dunkel. Ich drehte das elektrische Licht an. Schröder und sein Mädel lagen zusammen im Bett und lachten mich an. Sie lag zufrieden mit dem Kopf auf seiner nackten Brust. Ich hatte eine richtige Freude daran, die beiden so zu sehen.
Am Morgen brachte er sie hinaus und kam dann wieder. „Du, vergiss nicht, dich polizeilich anzumelden."
„Aber wir sind doch selbst Polizei!"
„Ja, das hilft nichts. Wir sind hier nur zur Miete in der Kaserne."
Wir gingen in den Speisesaal Kaffee trinken und dann in die Werbestelle. Heute waren einige Gesichter da, die ich gestern nicht gesehen hatte. Vor dem Hauptmann stand ein winziger Leutnant und sah sich immer mal nach uns Schreibern um. Übrigens sah er gar nicht wie ein Offizier aus und hatte etwas auffallend Scheues an sich. In der andern Ecke des großen Raumes stritten sich leise der Oberwachtmeister
Lorenz, der mich gestern eingewiesen hatte, und ein anderer Oberwachtmeister. Wie die Katzen fauchten sie sich an. Wir Registrandenführer hatten nichts zu tun, weil sich die beiden stritten und uns daher keine eingegangenen Briefe zum Eintragen gaben. Der neben mir blätterte hastig in seinen schwarzen Listen. Als er bemerkte, dass ich zusah, flüsterte er: „Es ist unmöglich, wirklich festzustellen, ob da einer drinsteht. Alle paar Tage kommt eine Liste mit Hunderten von neuen Namen, und alle muss man durchsehen. Und eigentlich darf überhaupt niemand wissen, dass es so was gibt."
„Wie viel Namen sind denn drin?"
„Zehntausende."
„Ja, was sind denn das für Leute?" Ich war verblüfft über die Menge.
„Alle möglichen, aber hauptsächlich Leute, die in Berlin und sonst wo gegen die Regierung gekämpft haben. Jetzt kommen gerade die Namen vom Kapp-Putsch."
„Aber die haben doch für die Regierung gekämpft gegen die aufständische Reichswehr und die Bürgerwehren?"
„Sprich nicht weiter!" sagte er leise und blätterte tief gebeugt in seinen Listen. Ich sah interessiert in meine Registrande, denn wahrscheinlich beobachtete uns jemand. Im Raum war allerhand Unruhe. Die zankenden Oberwachtmeister zogen vor den Hauptmann und hatten dort auf einmal freundlich lächelnde Gesichter. Der winzige Leutnant lächelte auch, und das in einer halb blöden Art. Irgend etwas spielte auch der. Auf einmal kam der Oberst von Migliotti herein. Alle sprangen auf. Er hatte heute ein Paar hohe Stiefel an, deren Schäfte viel zu weit waren. Sie schienen oben abgeschnitten zu sein. Wie uns sein Bursche erzählt hatte, waren sie aus dem Nachlass eines anderen Offiziers gekauft. Er winkte dem Hauptmann herauszukommen und streifte dabei mich mit einem kalten Blick.
Wir hatten noch immer nichts einzutragen und dösten vor uns hin. Der winzige Leutnant kam zu mir. „Wachtmeister Renn?" Er lächelte beinah unterwürfig.
„Jawohl, Herr Leutnant."
„Haben Sie schon mit dem Regierungskommissar gesprochen?"
„Nein, Herr Leutnant. Ich wüsste auch nicht, warum ich mit dem sprechen sollte!"
„Ich dachte, Sie wären Sozialist?"
„Nein, Herr Leutnant!" schnarrte ich dienstlich, um ihn loszuwerden.
Er sah mich unsicher an. Dann sagte er: „Eine langweilige Beschäftigung hier!" und ging an ein Fenster, wo er sich eine Zigarette anbrannte.
Wem konnte man hier eigentlich trauen? Schröder, ja, der war ehrlich. Aber ob man ihn fragen konnte, was hier alles los war? Ehrlich schien auch noch der mit den schwarzen Listen zu sein, aber sehr verschlossen.
Als ich bei der Mittagspause nach dem Speisesaal ging, traf ich draußen den Regierungskommissar.
„Nun, sind Sie da?" Er roch aus dem Munde nach Schnaps, und seine Augen glänzten etwas.
„Ja, ich bin da!" erwiderte ich laut, denn er war mir in seinem jetzigen Zustand noch widerwärtiger.
„Ganz gute Stellung, nicht?"
„Ausgezeichnet! Ich sehe, dass alle, die gegen Kapp, für die sozialdemokratische Regierung gekämpft haben, in den schwarzen Listen der Polizei stehen!"
„Was sagen Sie?" Er versuchte nachzudenken und zog die Stirn in Falten.
„Ich sage, dass die Sozialdemokraten herrliche Leute sind, so offen und ohne Hintergedanken!"
„Ach, Rennchen, Sie sollten sich bessern!"
„Sie meinen: auch saufen?"
„Nein - jetzt endlich zu unserer Partei kommen."
„Ja, wunderbar! Und was soll ich dort? Auch so ein versoffener Kommissar werden?"
„Ach, ach!" lächelte er in seinem Dusel und fuhr sich mit den Fingern an den Augen vorbei, als wollte er da etwas wegwischen. Dann wandte er sich um und ging ziemlich aufrecht in sein Geschäftszimmer.
Als ich vom Essen zurückkam, lehnte ein kleiner, junger Kerl an einem Fenster vor dem Geschäftszimmer und trat mir in den Weg. „Herr Wachtmeister! Ist das wirklich wahr, dass ich wegen meiner Größe nicht eingestellt werde?"
„Ich weiß das nicht. Diese Sachen bearbeitet der Hauptmann."
„Ich denke nämlich", flüsterte er, „das ist gar nicht deshalb, sondern wegen meiner Strafen vor dem Kriege." „Das weiß ich wirklich nicht."
„Aber könnten Sie nicht mal nachsehen? Ich bin schon so lange arbeitslos. In meinem Beruf gibt's überhaupt nichts mehr. Bitte, sehen Sie doch nach!"
„Und was sollte das nützen? Nein, ich kann das nicht machen."
In der Werbestelle änderte sich einiges. Der Hauptmann, der keine Sozialdemokraten einstellen wollte, war verschwunden und an seine Stelle ein anderer gekommen. Mir fiel sofort auf, dass er den winzigen Leutnant schlecht behandelte, der noch immer in unserm Büro herumstand, ohne etwas Richtiges zu tun. Gegen uns war er viel freundlicher. Was hier wieder für ein Gegensatz bestand, wurde mir nicht klar.
Die Feindschaft der beiden Oberwachtmeister führte jetzt zu einem lauten Krach. Der neue Hauptmann bestimmte Lorenz als Bürovorstand und wollte den andern zu einer Werbestelle in einer kleineren Stadt versetzen. Der beschwerte sich aber beim Oberst. Das gab zwei Tage lang laute Szenen in der Werbestelle und vor dem Oberst. Lorenz lachte siegesbewusst und ließ den andern schimpfen. So unverhohlen hatte ich nie Neid und Schadenfreude aufeinanderprallen sehen wie hier. Ich hielt den einen für so berechnend und gemein wie den andern. Lorenz blieb da. Man erzählte, dass der Oberst den andern aus seinem Büro hinausgeworfen hatte, wie der zum dritten Male kam, um sich über den Hauptmann und über seinen Nebenbuhler Lorenz zu beschweren. Wir erfuhren alle solche Sachen durch den so genannten Burschen des Obersten. Der war ein großer Spötter.
Täglich bei Büroschluss pflegte er zu sagen: „Jetzt muss ich aber schnell zum Oberst. Wenn ich hinkomme, sitzt immer schon die ganze Familie um den Tisch herum und wartet auf den Salzhering, den ich mitbringe."
„Ist denn der so geizig?"
„Eine Dreizehnzimmerwohnung haben sie, aber im Winter sind alle verschlossen, außer einem, wo die ganze Familie um den Ofen hockt. Und essen tun sie, dass einem grausen kann! Das Stubenmädchen kocht Salzkartoffeln, und ich bringe den Hering mit!"
Die Geschichte von dem Hering klang ja sehr nach einem alten Witz. Aber merkwürdige Leute waren das sicherlich. Die Frau sollte um den Hals und um die Taille ein blaues Band haben. Aber manchmal wusste sie nicht gleich, wohin sie gehörten, so dünn war ihre Taille. Das Stubenmädchen sollte sehr unzufrieden sein, weil die Frau kleinlich war und nach außen wer weiß was vorstellen wollte. Der speckige Rock des Obersten und sein steifer weißer Kragen mit dem grauen Schmutzrand deuteten ja auch auf sonderbare Verhältnisse zu Hause. Aber trotz unserm Gelächter nahm ich mich dem Oberst gegenüber sehr zusammen. Er beobachtete scharf mit seinen kleinen Augen und hatte keine der eitlen Albernheiten der anderen Offiziere an sich.
Täglich kamen mehr Gesuche um Einstellung bei der Polizei. Wir mussten Überstunden machen und kamen doch nicht durch. Neue Schreiber wurden eingestellt. Jeden Tag kam eine große Zahl zur ärztlichen Untersuchung. Manche suchten sich durch besonders strammes Benehmen zu empfehlen.
„Wo haben Sie gedient?" fragte der Hauptmann.
„Bei der kaiserlichen Marine, Seiner Majestät Schiff ,König', Herr Hauptmann!"
Der tat so, als hörte er es nicht. Aber wir nahmen an, dass es doch auf ihn wirkte und er diesen Mann unter allen Umständen einstellte.
Der Unterwachtmeister mit den schwarzen Listen blätterte und blätterte und kam doch nicht nach.
Einmal vor dem Dienst auf dem Kasernenhof redete mich ein braungebrannter Mann mit Ledergamaschen an: „Bitte, werden hier auch Offiziere angeworben?"
„Soviel ich weiß, nicht." Er hatte arg vertragene Reithosen an und einen Rock, der ihm zu eng geworden war.
„Ich will Ihnen nur sagen, worum es sich handelt. Ich und mein Bruder, wir sind beide Landwirte. Aber es ist da absolut nichts zu machen. Sehen Sie, wie ich aussehe! Wir waren beide Reserveoffiziere im Kriege. Ich war bei einem
Sturmbataillon. Was sollen wir aber machen? Stellung als Verwalter oder sonst auf einem Gut ist nicht zu bekommen! Wir bestehen ja gar nicht darauf, als Offiziere eingestellt zu werden, sondern nur überhaupt. Der niedrigste Dienstgrad ist uns recht!"
„Da müssen Sie schon mit Herrn Hauptmann sprechen."
„Wir sind auch in einem nationalistischen Jugendverband und können die besten Zeugnisse beibringen!"
„Die Zugehörigkeit zu nationalistischen Verbänden wird hier sehr verschieden beurteilt."
Er sah mich etwas verwirrt an. „Meinen Sie, dass man das Herrn Hauptmann nicht sagen darf?"
„Dem dürfen Sie es schon sagen, aber ob Sie sich bei den übrigen Beamten damit Vertrauen erringen, ist fraglich!"
„Ich danke Ihnen schön für die Auskunft." Er drückte mir die Hand. Die Unfreundlichkeit in meiner Antwort hatte er gar nicht verstanden. Später sah ich den Hauptmann mit ihm sprechen. Sie gingen zusammen zum Oberst hinein. Aber der soll die Einstellung schroff abgelehnt haben.
Es wurde Sommer und Spätsommer. Die Ausbildung der Sipo im Zeithainer Lager war beendet, und die Hundertschaften sollten auf die Städte verteilt werden. Die Offiziere waren aufgeregt. Ob das nicht zu Unruhen führen würde? Aber alles ging glatt. Sofort war ein ganz anderes Leben in der Kaserne. Viele kannten mich und begrüßten mich freundschaftlich. Jetzt fühlte ich erst richtig, wie fremd ich in der Werbestelle war, wo alle vorsichtig herumhorchten und keiner dem andern traute. Freilich hatten die Offiziere auch aus der Truppe die Politik ausgetrieben und das Misstrauen dafür gesetzt. Aber wenn sie mit mir redeten, war da sofort ein Vertrauen. Mich betrachteten sie wohl als den, der damals die Front der Arbeiter im Polizeirock gegen die Offiziere geführt hatte. Jedenfalls war diese Front noch da. Das war auch kein Wunder, denn im Lager standen nur Offiziere und untere Beamte gegeneinander. Hier aber in der Stadt mussten sie der Bevölkerung gegenübertreten, und da fürchtete ich, dass sie sich, wie die Polizei überall, bald den Spießern anhängen würden und den Zusammenhang mit der Arbeiterschaft verlören. Vorläufig war die Gefahr noch nicht so groß, weil sie in der Kaserne eingesperrt werden sollten und die Heiratserlaubnis nur wenigen gegeben wurde. Daher kämpften sie hauptsächlich um die Ehe, und das ging wieder gegen die Offiziere.
Der Zudrang zur Polizei stockte auf einmal wieder. Im Vogtland waren Unruhen. Wir waren damals in der Werbestelle sechzehn Mann und hatten auf einmal nichts mehr zu tun, saßen auf den Tischen und rauchten. In der zweiten Woche begann man Beamte abzubauen. Einer der ersten war Schröder. Der wurde zu einer Hundertschaft in den Außendienst versetzt, obwohl sie da gar niemand brauchten. Um die viele neue Polizei nur zu verwenden und zu beweisen, dass sie nötig wäre, wurden überall Verkehrspolizisten aufgestellt. Das mochte ja in Berlin nötig sein und in unserer Stadt an zwei, drei Straßenkreuzungen. Aber sonst war das eine lächerliche Sache, wenn der Polizist einem Fuhrwerk feierlich winkte durchzufahren, und sonst war alles leer.
Der winzige Leutnant war eines Tages verschwunden, und nun stellte sich heraus, dass er ein Betrüger war, der mit den unteren Beamten freundlich tat und sie dann beschwindelte. Auch Schröder war auf ihn hereingefallen und hatte ihm von seinem geringen Gehalt noch Geld geborgt. Der Bursche des Obersten spottete darüber, aber mehr noch über die Vorbereitungen für den Ball des Kreisamts.
„Neulich der Ball der ersten Abteilung ist ja zum Schluss so gewesen, dass es selbst der Polizei zuviel wurde, und die kann doch sonst was vertragen! Auf allen Bänken im Park lagen die besoffenen Weiber. Im Salon wälzten sich mehrere Paare auf dem Teppich. Und die Baronin Migliotti bereitet sich schon jetzt für den Ball vor. Sie ist ins Seidenhaus Siegfried Mayer gegangen und hat sich einen halben Meter neues blaues Band gekauft. Das reicht ja bei ihr für Hals und Taille! Der Oberst spart auch schon für ein kleines einfaches Bier für sich und seine Frau!"
Am Tage des Kreisamtsballs wurde viel herumgelaufen. Als ich am Abend in das Kasino kam, schienen mir einige schon etwas angetrunken zu sein. Unser Bürovorstand Lorenz lachte mit seinem Mädchen. Die war mit einem durchsichtigen schwarzen Schleier behängt, der bis zu den Knien ging. Weiter oben sah man aber alles, oder glaubte es doch zu sehen. Die Beamten kamen mit ihren Blicken gar nicht davon fort, während sich ihre Mädel ärgerten. Und die waren auch nicht gerade zurückhaltend mit ihren Reizen. Im Salon versammelten sich die Offiziere. In der Mitte stand hochaufgerichtet eine dürre Frau mit stolzer, gebogener Nase und einem breiten blauen Band um den Hals. Mir zuckte der Bauch, weil ich mein Lachen zurückhalten musste. Als sie sich jetzt leutselig zu dem kleinen, dicken Abteilungskommandeur neigte, sah ich auch das breite Band um die Taille. Hinten war es in eine Schleife gelegt, die sorgfältig gezupft war.
Die Offiziere formierten sich mit ihren Frauen und kamen in den Saal. Die Musik setzte ein, und alle tanzten mit ihren Frauen oder Bräuten. Lorenz tanzte betont schieberhaft und setzte dann seine Braut ab. Da stand sie in der Nähe der Musik und fächelte sich mit einem schwarzen Fächer. Ab und zu drehte sie sich ein wenig, um sich von verschiedenen Seiten sehen zu lassen. Wieder sahen alle Männer hinüber, selbst die Tanzenden.
Beim nächsten Tanz stand sie allein. Auch die anderen Mädchen standen ziemlich vereinsamt, weil alle Männer von der Schwarzen angezogen wurden, ohne dass doch einer wagte hinüberzugehen. Der Bursche des Obersten stand neben mir. „Das ist seine siebente Braut. Aber er möchte ein paar abschieben. - Hast du schon die Baronin Migliotti gesehen? Dort wird sie vom Major herumgedreht. Es sieht aber aus, als ob die Bohnenstange das Fass um sich herumdrehte."
Mit hocherhobener Nase und strengem Gesicht ließ sie sich drehen, und der Major schien nicht begeistert von der Tätigkeit.
Ich tanzte mit Schröders Mädel. Die sah heute besonders nett und sauber aus. Während wir tanzten, sah ich plötzlich, dass ein Leutnant die Schwarze ergriffen hatte und mit Leidenschaft lossprang. Er hatte den Bann gebrochen. Jetzt tanzten alle Offiziere mit ihr, außer dem Oberst, der mit dem Major gelangweilt bei seiner Frau stand.
Der Tag war heiß gewesen. Alle Fenster des Saales standen offen. Die Beamten wischten sich den Schweiß aus dem Kragen und begannen zu trinken. Der Musik wurde auch öfters eine Lage gespendet. So wurde ihr Spiel etwas unordentlich. Der Leutnant, der vorhin mit der Schwarzen zuerst getanzt hatte, tanzte immer wieder mit ihr. Plötzlich beugte er sich über sie und küsste sie auf die nackte Schulter. Mit einem Schrei sprang sie davon und kam neben dem Adjutanten des Obersten zu stehen. Der machte ihr sofort eine Verbeugung und schwenkte sie dann lachend durch den Saal. Lorenz unterdessen spielte Liebeskummer, soff ein Glas nach dem andern, dirigierte mit verbissener Miene die Musik und schien sich in der Rolle des abgesetzten Liebhabers sehr wohl zu fühlen.
Als die Polonäse kam, waren manche Augen schon recht gläsern und die Haare der Bräute reichlich zerrauft. Die Paare bauten sich auf, vorn der Oberst mit der Frau des Majors, dahinter der dicke Major mit der langen Frau des Obersten. Die Musik begann. Aber der Oberst blieb stehen. Seine Frau beugte sich von hinten vor und schimpfte auf ihn. Ihr blaues Halsband zitterte vor gekränktem Ehrgefühl. Aber der Oberst stand unentschlossen da und wusste nicht, wie er die Polonäse anführen sollte. Da trat ein Mann mit braungebranntem Gesicht an ihn heran. Der war eigentlich Bademeister, ließ sich aber auch als Tanzmeister verpflichten. Lächelnd fasste er den Oberst am linken Arm und führte mit ihm die Polonäse an.
Nicht lange darauf gingen die Offiziere fort. Lorenz tanzte wie wahnsinnig mit einem Stuhl. Ein Teil der Paare war im Park. Schröders Mädel war müde und wollte nach Hause. Da ging ich mit ihnen.
In den nächsten Tagen wurde nur von dem Ball gesprochen. Der mit den schwarzen Listen sagte: „Eine Schande ist das! Wenn irgendwo sonst solche Orgien gefeiert würden, da griffen wir ein. Aber bei uns ist alles erlaubt! Da gibt's keine Polizeistunde! Und das ganze Viertel spricht nur von dem Massenpuff bei der Polizei!"
Niemand widersprach ihm ernstlich, und doch gefiel es allen sehr gut so.
Eines Morgens hatte ich ein eiliges Gesuch zum Obersten in sein Geschäftszimmer zu bringen.
Er war gerade im Begriff fortzugehen und ließ sich in seinen alten, schäbigen Mantel helfen.
„Ach, das Gesuch", sagte er, „legen Sie es mir auf den
Tisch!"
Ein Schreiber kam herein. „Herr Staatsanwalt Rebentropp möchte Herrn Oberst dringend sprechen."
„Ich habe gar keine Zeit! - Na, er soll kommen!"
Herein trat ein Herr mit einer ledernen Aktenmappe und scharfen Bügelfalten in den Hosen. „Herr Oberst! Ich möchte Sie bitten, mir sofort ein Polizeikommando von etwa zwölf Mann zur Verfügung zu stellen. Es handelt sich darum, einen Reichswehrleutnant festzunehmen. Die Sache steht im Zusammenhang mit den Hölz-Unruhen. Der Leutnant hatte von seiner Kommandostelle den Auftrag, mit den Kommunisten zusammen einiges zu unternehmen. Leider hat er aber seine Befugnisse überschritten. Er hat eine Bande angeführt. Sie sind mit einem Lastauto vor der Villa eines Fabrikanten vorgefahren und haben von ihm Geld erpresst. Und dabei hat der Leutnant Geld für sich genommen. Wir müssen ihn sofort festnehmen, weil Fluchtverdacht besteht. Er hält sich in Plauen auf. Ich bitte also um eine Anweisung an die Polizeiabteilung in Plauen, die Ihnen ja untersteht."
„Ich bedaure sehr, Herr Staatsanwalt. Das kann ich nicht tun. Sie müssen sich dazu mit der Kreishauptmannschaft Zwickau in Verbindung setzen."
„Aber, Herr Oberst, ich komme extra von Plauen herüber, weil mir der dortige Amtshauptmann erklärte, es wäre Ihre Aufgabe, Herr Oberst."
„Nein, das gehört nicht zu meiner Kompetenz!"
Der Staatsanwalt fingerte vor Aufregung an seiner Aktentasche. „Die Verfolgung eines - eines zum Verbrecher gewordenen Spitzels darf doch nicht durch Kompetenzschwierigkeiten unmöglich gemacht werden!"
„Ich habe Ihnen schon erklärt, dass ich ohne die Anweisung der Kreishauptmannschaft Zwickau über die Plauener Abteilung nicht verfügen kann."
„Aber, Herr Oberst, das hält uns doch viel zu sehr auf!"
„Ich bedaure, Sie nicht unterstützen zu können!"
Der Staatsanwalt suchte nach Worten vor Erregung: „Ich muss ja geradezu den Eindruck mitnehmen, dass Sie dem Leutnant die Flucht ermöglichen wollen!"
„Entschuldigen Sie mich, Herr Staatsanwalt!" Der Oberst sah auf seine Uhr. „Ich muss auf die Bahn!"
Der Staatsanwalt schien noch etwas sagen zu wollen, machte aber dann nur eine Verbeugung und ging mit aufeinandergepreßten Lippen hinaus.
Der Oberst nahm das Gesuch, das ich gebracht hatte, und bemerkte mich auf einmal wieder. „Ach, Sie sind noch da?! Ich wollte Ihnen sowieso sagen, dass es Zeit wird, dass Sie Ihre Kündigung einreichen!" Das sagte er kalt und ging hinaus.
Ich war noch ganz betroffen über das Gespräch. Von Staats wegen waren Überfälle auf Fabrikanten inszeniert worden, um sie den Kommunisten in die Schuhe zu schieben?
Wenige Tage später bekam ich meine Papiere.

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