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Ludwig Renn - Nachkrieg (1930)
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Die Sicherheitstruppe

Ich ging zu Falbel und erzählte ihm von meinem Zusammenstoß mit dem Oberst.
„Na endlich! Jetzt übernimmst du gleich deine Sicherheitskompanie. Ich habe wenig Zeit, mich darum zu kümmern. Für uns ist wichtig, dass wir die neue Truppe gleich richtig aufbauen. Disziplin muss natürlich sein, aber nicht
Kadavergehorsam wie früher, sondern die Freiwilligen müssen von der Notwendigkeit überzeugt sein. Du musst dich gleich ernstlich darum kümmern, denn die Offiziere - das hast du ja am eigenen Leibe erfahren - versuchen alles, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen."
Ich ging zu meiner neuen Kompanie. Zuerst wollte ich mir mal ansehen, wie das organisiert war.
In der Schreibstube saßen mehrere und kritzelten. Der alte Feldwebel mit dem Glatzkopf sah auf, nickte und schrieb weiter. Am Tisch lehnte ein kleiner Mensch mit Schnurrbart und grinste freundlich. „Ich bin der neue Soldatenrat Michal. Übernimmst du heute die Kompanie?"
„Ja. Komm mal mit hinaus." Er sah mich erstaunt und etwas ängstlich an. Auf dem Flur fragte ich ihn: „Neulich sagte mir der eine Zugführer, weißt du, der mit dem mächtigen Schnauzbart und der rauen Stimme, dass etwas mit der Kasse nicht stimmte. Und der frühere Soldatenrat Albert sollte dabei nicht ganz reine Finger haben?"
„Ja, er ist fristlos entlassen worden."
„Und der alte Feldwebel? Der hat doch die Kasse in der Hand und ist mitverantwortlich. Ich sehe aber, er sitzt noch drin."
„Bei der Untersuchung hat sich herausgestellt, dass er sicher nicht die Absicht gehabt hat, zu unterschlagen." „Aber er musste doch nachrechnen!"
„Ja, der alte Mann! Er kann nicht gut rechnen. Er ist überhaupt zu weich. Da haben wir ihn abgesetzt und seinen Sohn gewählt. Der Vater ist jetzt bei ihm Hilfsschreiber. Wir konnten ihn doch nicht auf Wache schicken. Über Fünfundfünfzig ist er. Da kann er das nicht mehr aushalten."
Das ist ja eine sonderbare Methode! dachte ich. „Was für Posten sind denn hier sonst noch gewählt?"
„Die Zug- und Gruppenführer, dann der Kammerwart, der Schießwart, der Verpflegungswart und ich."
„Und was habt ihr Soldatenräte hier für eine Dienstvorschrift?"
„Wir haben die Vorschrift der bisherigen aktiven Truppen. Aber die passt gar nicht für unsere Verhältnisse, weil die alte Kompanie drei Vertrauensleute hat, die Sicherheitskompanie aber nur einen. Außerdem wird ein Befehl erst
durch Gegenzeichnung gültig, während die Führer bei uns auch so befehlen können, weil's ja Wahlführer sind und keine reaktionären Offiziere."
„Nu, seid ihr Soldatenräte noch nicht zusammengekommen und habt das mal durchgesprochen?"
„Das schon, aber das war mit den Soldatenräten der alten Armee zusammen. Und mit dem wilden Pack war doch kein vernünftiges Wort zu reden!"
„Wer ist denn Führer der zweiten Sicherheitskompanie?"
„Der Leutnant Herling."
„Ja, den kenn ich. Er hat mir neulich bei der Wachtablösung im Marstall gesagt, dass er beim Militär bleiben wollte, obwohl er Reserveoffizier ist und die aktiven Offiziere ihn nicht wollen. Der ist also jetzt hier?"
„Ja, aber die meisten Soldatenräte trauen ihm nicht."
„Und du?"
„Ich denke, wir können ihn gegen die Offiziere ausspielen, wenn die wieder gegen uns schieben." „Wir wollen mal zu ihm gehen."
Es waren nur zwanzig Schritte zur Schreibstube der zweiten Sicherheitskompanie. Wir lagen auf dem gleichen Flur zu beiden Seiten der Treppe.
Als wir eintraten, saß der Leutnant in einer Wolke von Zigarettenrauch und redete. Uns nickte er nur zu. Dann wandte er sich wieder an seinen Soldatenrat: „Der Regimentssoldatenrat sollte endlich Schluss machen mit den Offizieren! Tore geschlossen für jeden Offizier, der nicht den roten Streifen tragen will!"
„Was für einen roten Streifen?" fragte ich.
„Sehen Sie her!" Er deutete mit der linken Hand über die Brust weg auf sein rechtes Achselstück, über das ein schmaler Tuchstreifen genäht war. „Das verlangt die Regierung von den Offizieren zu tragen. Man kann es dabei kaum sehen! - Aber die Offiziere wollen nicht und kommen schon wieder in Zivil in die Kaserne. Zu streiken wagen sie nicht mehr, aus Furcht, dann für immer ausgeschlossen zu werden!"
„Mir scheint", sagte ich, „dass unsere Dienstverhältnisse noch nicht recht geklärt sind."
„Wie sollen sie auch, wo man sich mit diesen aktiven Offizieren herumzanken muss, die immer noch nicht eingesehen haben, dass heute andere Zeiten sind und dass sie umlernen müssen!" Er blies zischend den Rauch seiner Zigarette gerade vor sich hin.
„Wir müssen aber unsere Verhältnisse durchsprechen und mit den übrigen Sicherheitstruppen Verbindung aufnehmen!"
„Natürlich." Plötzlich lachte er. „Kommen Sie heute Abend zu mir? Ich habe ein Mädel da, knorke, kann ich Ihnen sagen. Aus der Zentralverkaufsstelle lasse ich mir auch Wein schicken. Sie müssen kommen!"
„Ich komme", sagte ich ärgerlich, ohne richtig darauf zu hören, und ging mit meinem Soldatenrat hinaus.
„Nu, was denkst du von dem da drin?" fragte ich.
Er sah mich ängstlich an. „Offen gestanden, da weiß man nicht, was man davon denken soll."
„Der Leutnant kann schimpfen, aber wir müssen handeln!"
„Ja, wir müssen handeln."
Er schwatzte mir ja nur die Worte nach! „Was bist denn du von Beruf?"
„Stenographielehrer. Ich beherrsche alle Systeme: Stolze-Schrey, Gabelsberger."
Ja, ja! Ich hatte eine große Hochachtung vor jedem, der Stenographie konnte. Aber Soldatenrat? Da gehörten festere Leute her! Heute früh in der Kantine hatte ich ein Gespräch gehört. „Wir werden unerhört beschissen!" sagte einer. „Im Osten wird regelrecht Krieg geführt gegen Russland. Und hast du schon was in den Zeitungen darüber gelesen? Da steht nur immer drin, dass die Polen wieder Überfälle gemacht haben. Aber dass wir richtige Armeen im Baltikum haben, davon kannst du kein Wort lesen! Nu frage ich dich, wer bezahlt denn die Truppen?"
Und wer hatte die Zigaretten des Soldatenrats Dr. Jaede bezahlt und hatte das Geld für den Offiziersunterstützungsfonds gegeben? Ob sich denn Falbel darüber klar war?
Ich lief zum Regimentsgeschäftszimmer und riss in meiner Eile die Tür auf, ohne anzuklopfen.
Drei Offiziere in Zivil und die Soldatenräte sahen sich erstaunt nach mir um.
„Sehen Sie", rief der Major von Pfitzner und nickte den Soldatenräten zu, „da haben Sie den Renn! Fragen Sie doch mal ihn nach seinem Urteil!"
„Und Sie, Herr Major", fuhr Lusche in die Höhe, „Sie werden sein Urteil anerkennen?"
„Na", lachte der kleine, bewegliche Major, „für so verbohrt wie Sie, mein lieber Lusche - nehmen Sie mir's nicht übel! -, halte ich den Renn nicht!"
„Ihnen fehlt auch jede Achtung vor dem gemeinen Mann! - Reaktionärer Offizier! Königstreue! Kadavergehorsam! Das ist Ihr Kurs!"
„Nu, Gott sei Dank! Sie haben den sozialistischen Kurs, ich den andern! Sollen wir Lämmer sein und Ihnen für den roten Streifen auf dem Achselstück danken, der nicht unserer politischen und menschlichen Überzeugung entspricht? -Aber fragen Sie mal den Renn wegen der Sache Weyhe!"
Lusche schob mir einen Stuhl heran. „Kennst du den Hauptmann von der Weyhe?"
„Ich habe ihn einmal gesehen."
„Der ist vor vierzehn Tagen zum Kommandanten der Festung Königstein ernannt worden. Dort hat er ein so reaktionäres Regiment eingeführt, dass der Soldatenrat -das ist er hier!", er deutete auf einen Mann in Zivil - „sich an uns gewendet hat, dass wir als Stammtruppenteil den Hauptmann ablehnen sollen. Er hat vor versammelter Mannschaft den Soldatenrat Lump und rotes Schwein genannt, wie der verlangt hat, die Meldung des Hauptmanns gegenzuzeichnen. Darauf hat der Soldatenrat erklärt, dass alle Anordnungen des Hauptmanns ungültig sind, weil sie nicht vom Soldatenrat genehmigt wären. Trotzdem hat er noch versucht, so weiterzukommandieren. Aber da ist er auf den Widerstand der Mannschaften gestoßen und hat nun erklärt, er streikte. Er ist nach Dresden gefahren und seitdem nicht mehr zum Dienst erschienen. Das Dienstsiegel hat er aber mitgenommen. - Nun, sage deine Meinung." Er streichelte
meine Hand.
„Wessen Aussage ist das?" fragte ich.
„Die des Soldatenrats. Aber der ist uns als durchaus glaubwürdig bekannt!"
„Und was sagt der Hauptmann zu seiner Entschuldigung?"
„Seht ihr!" lachte der Major. „Da habt ihr das gesunde Volksempfinden! Man soll niemand in seiner Abwesenheit verurteilen!"
„Herr Major!" schrie Lusche und sprang von seinem Stuhl auf. „Warum ist der Hauptmann schon zum zweiten Male nicht zur Vernehmung erschienen? Sie wissen ganz genau, warum! Er will unsere Untersuchungskommission sabotieren! Und das ist zwischen euch Offizieren vorher verabredet worden! Aber damit kommt ihr nicht mehr durch! Für uns heißt es jetzt, wenn die Offiziere sabotieren, dann raus mit ihnen!"
Der Major suchte zu Worte zu kommen, aber Lusche überschrie ihn, und Falbel drohte: „Wenn der Hauptmann nicht fliegt, sperren wir alle Offiziere des Regiments aus!"
„Still, still!" rief der Major. Er hatte sichtlich seine Ruhe verloren und war bereit, nachzugeben. „Das ist keine Verabredung zwischen uns Offizieren, sondern der Hauptmann -na, ihr kennt ihn doch selbst! - will nun einmal der Republik nicht dienen!"
„Und wer nicht will, muss raus!"
„Ich verlange, dass erst der Hauptmann gehört wird!" sagte der eine Leutnant etwas befangen.
„Wenn er nicht fliegt, dann fliegt ihr alle und er mit!" schrie Lusche.
„Nu ja!" bemühte sich der Major, ihn zu begütigen. „Einigen wir uns doch! Ich bin der Meinung, dass der Hauptmann nicht gehalten werden kann."
„Er muss persönlich gehört werden!" sagte der Leutnant mit beleidigtem Blick auf den Major.
„Ach, mein Lieber", antwortete ihm der. „Sie kennen wohl Weyhe nicht. Wenn wir ihm heute seine militärische Existenz retten, wird er morgen etwas tun, was ihn völlig unmöglich macht! Und dazu ist er unverheiratet und pensionsberechtigt. Wir können auf einen solchen Querkopf keine Rücksicht nehmen, wenn es um die Existenz der Allgemeinheit geht! - Also, meine Herren Soldatenräte, wir kommen zur Abstimmung."
„Wenn er nicht fliegt", schrie Lusche, „dann werdet ihr sehen!"
„Wer dafür ist", sagte der Major, unsicher lachend, „dass der Hauptmann von der Weyhe seines Postens enthoben und dem Generalkommando zur Verfügung gestellt wird, der hebe die Hand!"
Die beiden Leutnants saßen regungslos da. Nur der Major und die Soldatenräte hoben die Hand.
Unruhig wandte er sich an die Leutnants: „Meine Herren, machen Sie doch keine Geschichten! Es ist Einstimmigkeit erforderlich! Kommen Sie! Sie gefährden ja unsere Stellung!"
Zögernd erhoben sie die Hände.
„Also jetzt", rief der Major erleichtert, „fassen wir das Protokoll ab, und dann unterschreiben wir!"
Ich zupfte Falbel am Ärmel. „Ich erwarte dich draußen!"
Er kam auch bald. „Jetzt haben wir ein Sicherheitsbataillon", sagte ich, „aber die Verbindung zu den andern Bataillonen fehlt! Warst du schon einmal in der Kaserne drüben?"
„Nein. Ich habe auch absolut keine Zeit. Geh du mal hinüber und besprich dich mit ihnen."
„Höre, ich hatte eben Unterredungen mit dem Leutnant Herling und mit meinem Soldatenrat. Die sehen die Gefahr nicht! Hast du schon die Freikorps im Baltikum und den Grenzschutz beachtet?"
Er sah mich düster an. „Du glaubst auch an eine Gefahr von dort?"
„Sieh dir nur an, wo die Grenzschutztruppen und die Freikorps zusammengestellt werden, in den Städten etwa? -Lies doch mal die Zeitungen, die Werbeanzeigen, die da immer drin sind! In den großen Städten können sie die Truppen nicht zusammenstellen wegen der Arbeiter, weil sie nicht erklären können, wozu diese Truppen dienen sollen! Auf den großen Gütern im Osten und in kleinen Grenzorten, wo die Leute sowieso eingeschüchtert sind, da werden die Freikorps zusammengestellt! Ob das nicht gegen uns geht?"
„Aber hast du denn gar kein Vertrauen zu unserer Partei?"
„Kannst du für eure Vertreter im Parlament eintreten? Ich halte sie für genau solche wie die andern Abgeordneten: sie reden, aber handeln nicht!"
„Darin hast du ja leider recht. Aber wir können unsere Führer doch zwingen!"
„Du, ein Soldat handelt und verlässt sich nicht auf Worte. Unsere Truppe muss eine Macht werden. Das sind wir noch nicht! Wenn die Offiziere versuchen, wieder an die Macht zu kommen, müssen wir ihnen etwas entgegensetzen können!"
„Gut, unterhandle mit den andern Bataillonen, aber sag mir über alles Bescheid! - Und sprich nicht mit dem Lusche darüber! Er meint es wirklich ehrlich, aber er ist zu hitzig und verdirbt leicht alles."
Ich ging erst noch einmal zur Schreibstube und ließ mir eine Freiwilligenbinde geben. Die wurde am linken Oberarm getragen und war rot mit weißen Streifen an beiden Seiten. Durch die weißen Streifen wurde das revolutionäre Aussehen des Rots vollkommen aufgehoben.
Nun ging ich zu der Kaserne, in der unser Nachbarregiment lag. Nach mehrfachen Fragen kam ich zum Geschäftszimmer des Sicherheitsbataillons. Darin saßen sie auf den Tischen und rauchten.
Ein Vizefeldwebel kam mit einem Blick auf meine rotweiße Armbinde auf mich zu. Er hatte das Eiserne Kreuz erster Klasse auf seinem saubern Rock und die Bataillonsführerbinde der Sicherheitstruppe und fragte höflich: „Was wünschen Sie?"
„Ich möchte mit euch einige Unstimmigkeiten unserer Dienstvorschrift durchsprechen."
„Wir haben eben mit der Kommandantur deshalb telefoniert. In den nächsten Tagen wird eine gemeinsame Sitzung aller Sicherheitstruppenführer und Soldatenräte stattfinden. - Im übrigen mache ich euch darauf aufmerksam, dass im Seuchenlazarett Aufstand ist."
„Wo liegt das Lazarett?"
„Dort drüben." Er zeigte zum Fenster hinaus auf ein Gebäude, in dessen Fenstern sich Männer in Lazarettkitteln zeigten. „Sehen Sie, wie die Mädel dort aus und ein gehen bei den Syphilis- und Tripperkranken? Und diese Schweine von Geschlechtskranken verlangen auch noch, dass man ihnen Ausgang gibt, damit sie ja ihre Krankheiten noch weiter verbreiten!"
„Aber wieso kann dort Aufstand sein?"
„Nu, als ihnen die Ärzte, vollkommen mit Recht, den Ausgang verboten, haben sie die Räterepublik ausgerufen. Aber wir werden ihnen diese Art von Räterepublik schon heute Nachmittag austreiben! Vor der Bande fürchten wir uns nicht, wenn sie auch Gewehre und Maschinengewehre haben!"
„Wie steht ihr hier zu den Offizieren?"
„Wir haben sie aus der Kaserne ausgesperrt wegen ihrer Frechheiten. Sie haben versucht, das alte Regiment - diese Stummelkompanien mit den Achtzehn- und Neunzehnjährigen - gegen unser Sicherheitsbataillon aufzuhetzen. Aber dabei ist es so gekommen, dass die Offiziere von ihren jungen Kerlen hinausgeworfen worden sind. Die Wut war so groß, dass sie das Offizierskasino erstürmt haben. Das liegt ja bei uns nicht in der Kaserne, wie bei euch, sondern gegenüber im Park. Und bei der Gelegenheit sind auch die dortigen Offizierswohnungen erbrochen und geplündert worden. - Aber ihr habt doch einen Offizier bei eurem Sicherheitsbataillon?"
„Ja, den Herling."
„Ihr geht also mit den Offizieren zusammen?"
„Nein, der Herling ist selbst mit den Offizieren zerfallen. Der Oberst hat von ihm verlangt, dass er als Kompanieführer zurücktritt, wie der Unteroffizier Falbel sein Bataillonsführer geworden ist. Da hat er sich geweigert zu gehorchen und ist geblieben."
„Ich traue ihm doch nicht. Offizier ist Offizier! Er gehört zur Bourgeoisie, selbst wenn er aufsässig wird! Und ist das nicht einfach einer, der hofft, durch die Revolution was zu werden?"
„Ja, das glaube ich auch."
„Na, sehen Sie! Und außerdem hat bei euch sogar ein Vertreter des Großkapitals durch Bestechung Regimentssoldatenrat werden können!"
„Der ist aber jetzt fort."
„Wo nichts mehr zu holen ist!"
„Ich bin herübergekommen, um eine engere Zusammenarbeit zu besprechen."
„Das ist uns ganz recht. Wir werden euch von allen wichtigen Vorkommnissen unterrichten, und ihr tut das auch. -
Aber ein wirkliches Vertrauen können wir nicht zu euch haben, solange ihr nicht euren Leutnant hinausschmeißt!"
„Der ist aber von der Kompanie gewählt! Wir können den nicht hinausschmeißen!"
„Der Agent des Großkapitals war auch gewählt! Da müsst ihr eben eure Leute aufklären! Natürlich müssen sie selbst ihren gewählten Führer absetzen!"
Auch bei den andern Sicherheitstruppen, mit denen ich verhandelte, fand ich dieses Misstrauen gegen Herling. Falbel, dem ich das erzählte, sagte, es wäre ganz ausgeschlossen, den Herling hinauszutun, solange man keinerlei Anlass hätte, ihm zu misstrauen. „Das bringt nur eine Schärfe hervor, die ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten unmöglich macht."
Ich sollte am Abend zu Herling kommen. Aber ich hatte einen Widerwillen davor. Mich beschäftigte auch ein neuer Gedanke: man müsste sich doch einmal klarmachen, welche Gefahren für uns auftreten konnten. Zum Beispiel kommt der Grenzschutz oder irgendein Freikorps auf einmal mit der Eisenbahn an. Wo werden die Truppen ausgeladen? Wer wird am ersten bedroht? Oder sie kommen anmarschiert. Wo stellen sie sich vermutlich zum Angriff bereit? Dazu müsste man sich einen Plan der Stadt besorgen und alle Möglichkeiten durchdenken.
Dem Herling ließ ich durch seinen Burschen sagen, ich könnte heute Abend nicht Dafür zog ich mir Zivil an. Meine Sachen waren allerdings nicht mehr schön. Sie hatten den ganzen Krieg über bei meinem Onkel gelegen, und in die Hosen waren die Motten gekommen. Das war aber hinten und ließ sich mit dem Rock verdecken. So ging ich in weitem Bogen um die Kaserne herum, um mir die Verteidigungsmöglichkeiten anzusehen. Einige Leute sahen mich an, was ich denn da herumguckte. Das machte mich verlegen und unsicher. Von solchem Herumschnüffeln hat man doch in Detektivromanen gelesen, und die Filme sind voll davon. Aber das ist eigentlich ganz anders, viel nüchterner, und die gaffenden Leute stören einen doch recht dabei. Vielleicht gaffen die auch immer so, und sonst hat man nicht darauf geachtet! Vielleicht gaffe auch ich die Leute immer so an?
Ich bekam nichts weiter heraus, als dass unsere Wachen ziemlich gut standen. Dafür waren wir gegen einen ernstlichen Angriff von Truppen mit Artillerie überhaupt nicht vorbereitet!
Am Morgen kam ein Brief für mich. Ich kannte diese krakelige Handschrift nicht.
„Werter Herr Renn! Kennen Sie mir nicht einen großen Gefallen tun, ich wäre Ihnen immer Zeit dafür dankbar. Ich bin hier im Baltikum. Wir haben keine Gewehre weil wenn sie welche ausgeben. Dann werden sie gleich an die Bevölkerung verkauft. Wir haben zwei Gefechte gehabt da sind wir ausgerissen. Die Unordnung und Disziplinlosigkeit ist noch viel größer als bei unsre alte Kompanie. Also sein Sie so gut und sprechen Sie mal mit den Feldwebel ich möchte meine Papiere haben wo drin steht wann ich Vizefeldwebel geworden bin. Im voraus besten Dank
Ihr Ihnen stets dankbarer
Paul Mehling."
Sollte ich ihn bei dem Schwindel unterstützen? Der Feldwebel war doch nicht so dumm? Ich musste ihm schon abschreiben.
Heute sollte die Sitzung der Sicherheitstruppenführer und der Soldatenräte sein! Ich war voll Spannung, wie das werden würde. Bisher waren mir diese Sitzungen sehr geheimnisvoll erschienen. Ich konnte sie mir nicht vorstellen.
Auf dem Kasernenflur traf ich die anderen Führer. Alle waren gut angezogen, rasiert, hatten die rot-weißen Binden in gleicher Höhe auf dem linken Arm und drückten militärisch die Brust heraus. Wir fuhren mit der Straßenbahn in die innere Stadt und stiegen die Treppe des Landtagsgebäudes schweigend hinauf. Ich beobachtete dabei das Publikum, ob es sich nicht fragte, was für wichtige Leute da hineingingen. Aber sie fragten sich gar nichts und schienen nichts von unserer Wichtigkeit zu halten.
Ein Diener in einer dunklen Uniform wies uns in einen Saal mit großen Fenstern. Darin streckte sich ein Tisch mit grünem Tuch, auf dem Aschbecher standen. Alle begannen sofort zu rauchen. Dann kam der Beauftragte der Kommandantur und eröffnete die Sitzung. Zur Diskussion stand der Entwurf unserer Dienstvorschrift. Eine der ersten Bestimmungen der Vorschrift hieß: Alle Freiwilligen der Sicherheitstruppe müssen Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei und einer Gewerkschaft sein.
Ich bat dazu ums Wort, weil ich ja beides nicht war, aber schon sprach ein anderer gegen diese Bestimmung. Der nächste, ein großer Kerl mit einer Löwenstimme, erzählte alles mögliche, wie: „Ich war auch im Felde, und jeder, der mich draußen gekannt hat..."
Der nächste Redner sprach zwanzig Minuten darüber, dass der Vorhergehende nicht zur Sache gesprochen hätte. So zog sich die Diskussion endlos hin. Der Zigarettenrauch lagerte sich in Schichten in dem großen, hellen Raum. Wir bekamen Hunger. Das Licht musste angedreht werden. Aber immer noch redeten einige gleichgültiges Zeug mit viel Erbitterung.
Die Sitzung dauerte über sieben Stunden. Ich verließ den Landtag mit fast unerträglichem Kopfschmerz. Es war gegen sechs Uhr abends, und ich hatte nicht zu Mittag gegessen.
Noch immer gab es kein Brot und kein Fleisch ohne Marken. Und meine Marken behielt gleich die Küche in der Kaserne zurück, von der ich die Verpflegung bekam. Aber in der Mohrenschänke sollte man markenfrei essen können. Das war ein Lokal mit niedrigen, gewölbten Decken, in dem den ganzen Tag Licht brannte. Ich setzte mich zu einem Biertrinker an den Tisch. Der sah mürrisch auf meine rot-weiße Binde und döste dann weiter.
Auf einmal schlug mir jemand auf die Schulter und ließ sich neben mir auf die Bank nieder. „Auch einer von der Bande!" sagte er schallend. „Kommst du aus der Sitzung irr Landtag?"
Ich betrachtete ihn verblüfft. Er war mir völlig unbekannt, ein Mann in einem grauen Anzug mit einem merkwürdig roten, breiten Mund.
„Na, was habt ihr beschlossen? Ist der Paragraph über die Organisierung in der Sozialdemokratischen Partei gefallen?"
Alle ringsum hörten uns zu. Wer war das überhaupt? Ich suchte verlegen nach Worten.
„Du traust mir wohl nicht?" lachte er. „Ich bin der Führer des Matrosenbataillons! Nicht sehr beliebt bei der sozialdemokratischen Bonzokratie und bei den Spießern ohne Parteiprogramm!" Er zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn mir hin.
„Ich konnte heute nicht kommen", fuhr er unbekümmert laut fort, „weil ich eine Fehde mit meinem Oberst auszufechten hatte. Dieser reaktionäre Dummkopf wollte mir nicht erlauben, mich als Führer bei der Sicherheitstruppe wählen zu lassen! Den habe ich aber angeniest! Der Mann hatte sich tatsächlich eingebildet, dass ein Untergebener ihm nicht grob werden könnte. Ich habe ihm gesagt: ,Herr Oberst, wo steht Ihre Macht? Wollen Sie mit Ihren paar Offizieren gegen meine Matrosen vorgehen? Wenn Sie das wünschen, dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass auch die Mannschaften Ihres eigenen Regiments hinter mir stehen, und nicht hinter Ihnen!' Den Oberst hat es bald zerrissen vor Wut!"
„Sollten wir nicht etwas leiser sprechen?"
„Ach, wegen der Leute hier?" Er wandte sich an den mürrischen Biertrinker. „Müssen wir nicht das reaktionäre Gesindel von Offizieren abschaffen? Die haben uns doch in den Krieg gehetzt! Und wofür? Für den Geldsack von ein paar Schmarotzern! - Warum haben wir denn noch immer kein Brot und kein Fleisch? Ununterbrochen kommen seit Monaten die Schiffsladungen in Hamburg an. Warum kriegen wir sie nicht zu sehen? Weil es einträglicher ist, die Lebensmittel markenfrei zu Wucherpreisen hintenherum zu verkaufen als zum festen Normalpreis im Laden! Und wenn wir die Schieber nicht totschlagen, geht das auch so weiter!"
Der Mürrische nickte.
Von einem anderen Tisch beugte sich einer herüber. „Ich habe an einem Tage denken gelernt Das war 1914 beim Übergang über die Maas. Da hatte unser Oberst Belgier erschießen lassen, Männer, Frauen und Kinder. Unsere Feldküche hielt gerade davor. - Und wie ich in der Nacht an dem Leichenhaufen vorbeigehe, da sehe ich, wie sich da ein Kopf darin bewegt. Das war eine Frau. Sie war ganz blutig im Gesicht. Und die Augen vergesse ich nie! Nicht etwa wütend oder furchtsam, sondern sozusagen ganz ohne Ausdruck. - In dem Haufen sind nämlich viele nicht tot gewesen. Und die sind dann in der Nacht herausgekrochen. Und am Morgen haben sie auf einer Mauer gegenüber dem Leichenhaufen gesessen und haben sich so merkwürdig umgesehen. Damals habe ich angefangen nachzudenken! Es ist nie nachgewiesen worden, dass die Belgier dort wirklich geschossen haben. Jetzt glaube ich, dass es Schüsse vom andern Ufer gewesen sind, die an den Mauern abgeprallt sind. Die haben wir damals für Einwohnerschüsse gehalten. Untersucht ist es ja nicht worden, man hat einfach die Leute an die Wand gestellt, in einem dichten Haufen, und hineingeschossen, bis sie still waren, und hat sie liegenlassen! -Später war ich dann bei den Fliegern. Da hatten wir so einen Freiherrn von - ich weiß nicht mehr den Namen -, sie sagten, es wäre der uneheliche Sohn von irgendeinem Fürsten. Der hat als Staffelführer Eisenbahnwagen voll Altmaterial aus französischen Fabriken nach Deutschland verschoben und für sich verkauft."
„Und ist nicht bestraft worden?" lachte der Matrosenführer.
„Doch, er sitzt."
„Wenn sie ihn nicht in der Revolution befreit haben! Sie haben nämlich nicht nur die eingesponnenen Proleten befreit, sondern manchmal die gefährlichsten Burschen von der Reaktion, die es so schlimm getrieben hatten, dass selbst ihre Freunde, die Herren Richter vom Klassengericht, sie einsperren mussten! Totschlagen muss man die Reaktionäre!"
Das Gespräch ging lebhaft weiter. Der Matrosenführer gefiel mir in seinen Ausbrüchen, Aber immer gleich „totschlagen"!
Ich beobachtete die Leute rings an den Tischen. Es war nutzlos, ihnen zu predigen. Alles Kleinbürger ohne wirkliche Ansichten. Was brauchten die von den inneren Angelegenheiten der Sicherheitstruppe zu wissen, die der Matrosenführer ihnen jetzt erzählte? Recht hatte er ja, dass bei uns eine traurige Zaghaftigkeit war. Er sollte das aber lieber den Freiwilligen erzählen als den Spießern hier.
Ich ging durch die feuchtkalte Nacht nach Hause. Wenige Laternen brannten, weil es zuwenig Kohlen gab. An einer Litfasssäule klebte ein großes neues Plakat in blutigen Farben. Ein Mensch mit bleckenden Zähnen erstach einen andern von hinten. Darunter stand:
„Das ist das Gesicht des Bolschewismus! Mord! Raub! Entrechtung! Zügellosigkeit!"
Klein stand in der rechten unteren Ecke: „Antibolschewistische Liga". Ich hatte schon in letzter Zeit Nachrichten aus Russland gelesen, dass alle Frauen Gemeineigentum wären. Gingen vielleicht diese Nachrichten von der Antibolschewistischen Liga aus? Von Jaede und seinen Freunden? Neulich stand in der Zeitung auch etwas über spartakistische Kampfmethoden. Es wurde behauptet, sie wären ihren russischen Vorbildern gleich. Sie sind blutig und feige. Man treibt Frauen und Kinder vor die Maschinengewehre, wenn es dem Gegner gelingt, den Spartakiden auf den Leib zu rücken.
Nu, woher sollen sie denn immer gleich die Frauen und Kinder haben?
Jeden Morgen ging ich in die Schreibstube, um zu regieren, wie wir das nannten.
Der junge Feldwebel - der Sohn des Schreibers - sagte mir: „Es ist eine Verfügung da, dass unsere Truppe exerzieren soll. Aber die kommen doch heute von Wache, dann müssen sie den Nachmittag frei haben, und morgen ziehen sie wieder auf Wache. Da dürfen sie am Vormittag nur zu kleinem Dienst herangezogen werden. Und die Verheirateten wollen vor der Wache noch einmal nach Hause. Einige brauchen über eine Stunde mit der Straßenbahn bis zu ihrer Wohnung. Die möchten den Dienst so eingerichtet haben, dass sie sich am wachtfreien Morgen ausschlafen können, und dann den Kasernendienst unmittelbar vor das Antreten zur Wache gelegt haben. Nach unserer Vorschrift müssen sie aber unmittelbar vor der Wache dienstfrei gehalten werden. Was sollen wir nun da tun?"
„Gut, ich werde eine Meldung darüber abfassen. Das ist ja eine Angelegenheit, die für alle Kompanien gleich ist und die einheitlich geregelt werden muss. - Was liegt sonst vor?"
„Auf der Landtagswache sind Läuse festgestellt. Wir müssen bei der Kommandantur neues Stroh beantragen, bevor die Läuse auf die anderen Wachen weiterverschleppt werden, die eben erst entlaust sind."
Ich rief die Kommandantur an. Der Beauftragte, den sie dort heranriefen, war sehr höflich und bat mich, auch den übrigen Führern unseres Bataillons zu sagen, dass morgen eine Sitzung zusammen mit den Vertretern der Kommandantur und des Arbeiterrates im Landtag stattfinden sollte.
Gegen ein Uhr nachmittags gab es ein allgemeines Trampeln von Zweckenstiefeln auf dem Zementboden des Flurs. Die Wachen kamen zurück. Weil sie mit der Straßenbahn fuhren, kamen sie ziemlich früh. Der Zugführer mit der rauen Stimme kam mit bösem Blick auf mich los. „Die Kompanie verlangt gleich nach dem Essen eine Versammlung!"
„Worum handelt es sich dabei?"
„Wir haben erfahren, dass man uns aus der Kaserne ausquartieren will. Wir sollen in die Schießstandbaracken. Da machen wir aber nicht mit! Wir müssen warme Räume haben, wenn wir von Wache kommen. In den Baracken zieht es von allen Seiten herein!"
„Davon wissen wir noch gar nichts! Ich laufe sofort zu Falbel."
Den traf ich im Regimentsgeschäftszimmer in Beratung mit Lusche und einem dritten. Ich trug ihnen die Sache vor.
„Das hat wieder der Oberst gemacht!" schrie Lusche empört. „Der besteht darauf, dass ich entlassen werde, weil mein Jahrgang ja schon längst entlassen ist. Aber ich bleibe noch, damit er seine schmutzigen Absichten nicht ausführen kann! Die neueste Sache ist ein Versuch, das Sicherheitsbataillon aus der Kaserne zu verdrängen, um wieder allein Herr hier zu sein. Aber das soll ihm misslingen!"
Er rief sofort den Oberst an, aber der schien diesmal wirklich unschuldig zu sein. Das städtische Wohnungsamt hatte von der Garnisonverwaltung die teilweise Räumung der Kaserne verlangt. Lusche brüllte jetzt den Garnisonverwaltungsinspektor durch den Hörer an: „Natürlich muss der Wohnungsnot ein Ende bereitet werden! Aber doch nicht auf Kosten der Sicherheitstruppe!"
Von der anderen Seite wurde längere Zeit gesprochen.
Lusche wandte sich zu mir. „Ist das wahr, dass die Sicherheitsfreiwilligen teilweise eigene Wohnung und außerdem ein Bett in der Kaserne haben?"
„Ja. Und das ist unbedingt notwendig. Wo sollten sie denn schlafen, wenn sie Bereitschaft haben und in der Kaserne bleiben müssen?"
Er brüllte wieder in den Hörer hinein: „Es gibt noch viele Wohnungen! Das städtische Wohnungsamt soll einmal in die Villen der reichen Leute an der Tiergartenstraße hineingehen. Es soll die ganze Bande in eine Villa sperren und die übrigen für Wohnzwecke requirieren! Der ehemalige Hof hat auch noch mehrere Palais und Villen, die sind sehr schön groß! Bei uns gibt's nichts!"
Ich lief zurück zur Kompanie. Dort gingen sie noch mit den Essnäpfen umher, um sie auszuspülen. Ich lehnte wartend an einem Fenster. Da kam aus dem Waschraum ein langer Matrose heraus. Wir trugen ja alle verschiedene Uniformen und waren nur in den rot-weißen Armbinden gleich.
„Du!" rief ich ihn an. „Es liegt eine Verfügung vor, dass alle ehemaligen Marineangehörigen zum Matrosensicherheitsbataillon versetzt werden sollen."
„Ich gehe nicht!" sagte er und sah mich mit seinem großen Gesicht fest an.
„Warum nicht?" fragte ich verwundert.
„Ich habe hier meinen Freund, und der ist Infanterist gewesen."
„Ach so, ihr wollt zusammenbleiben? Das ist ja ganz richtig, aber ich weiß nicht..."
„Ich gehe eher von der Sicherheitstruppe weg als zum Matrosenbataillon!" rief er mit finsterem Blick.
„Gut, ich werde mich darum bemühen, dass du hier bleibst."
Die Kompanieversammlung fand in einer großen Stube statt. Die Freiwilligen saßen rings auf Schemeln. Der Soldatenrat leitete die Versammlung, aber ich als Kompanieführer durfte sprechen, auch ohne das Wort zu haben. Ich berichtete über die Verhandlungen mit der Garnisonverwaltung.
Plötzlich kam Falbel zur Tür hereingeschossen. „Erhöhte Alarmbereitschaft! Neue schwere Kämpfe mit den Spartakisten in Berlin! Niemand darf die Kaserne verlassen!"
„Das geht nicht!" rief ein älterer Mann. „Ich esse nicht in der Kaserne, und meine Frau wartet mit dem Essen daheim! Wir sind nicht so hoch bezahlt, dass ihr von mir verlangen könnt, dass ich hier etwas extra kaufe!"
„Das hilft doch nichts!" rief Falbel. „Wenn die Revolution in Gefahr ist!"
Einige unterhielten sich murrend.
„Falbel!" rief ich. „Geht es nicht so, dass wir allen denen, die zu Hause essen - es sind ja doch noch nicht ein Drittel! -, drei Stunden Urlaub geben? Sie haben Punkt sechs wieder hier zu sein."
„Ja, wenn sie dann bestimmt wieder da sind, bin ich einverstanden."
„Ich beantrage", der Matrose erhob sich in seiner ganzen Länge, „dass die Kompanieversammlung bis sechs Uhr vertagt wird. Wer dann nicht da ist, wird mit einer Geldstrafe belegt."
Der Antrag wurde angenommen, und alle verteilten sich rasch in die Stuben.
Einen, der sich eine neue Zeitung holen wollte, bat ich, mir auch eine mitzubringen. Ich wusste nur, dass in Berlin um das Zeitungsviertel gekämpft wurde und dass auch der Polizeipräsident Eichhorn auf Seiten der Aufständischen war. Wenn so ein Mann dabei war, konnte es doch nicht nur ein Kampf von Verbrechern sein, wie sie immer behaupteten, sondern eine ernste Sache.
Der Freiwillige hatte nur eine bürgerliche Zeitung erwischt, die ein Abendblatt herausgab. Er las in seiner Stube laut vor: „,In Berlin heftige Kämpfe während der Nacht. Man erwartet eine Entscheidung. Aber der dritte Tag der Gegenrevolution von links ist vorübergegangen, ohne dass die schwere Nervenprobe von der Bevölkerung der Reichshauptstadt genommen worden ist.
Das gesamte in Berlin weilende Offizierskorps hat sich auf Ehrenwort dem Oberkommandierenden von Berlin, dem Volksbeauftragten Noske, verpflichtet. Die Regierung ist zur Bildung von Offiziersbataillonen geschritten.'
Verflucht", sagte er, „das muss aber schlecht dort stehen, wenn sie nur noch Offiziere zur Verfügung haben! Bei uns lassen sie sie nicht auf Wache, und dort bilden sie Offiziers-
trappen!" Er las weiter: „,Die Spartakusbanden versuchten, die Regierungstruppen im Reichstagsgebäude zur Übergabe zu zwingen. Sie gingen mit Maschinengewehren vor. Es entwickelte sich ein sehr lebhaftes Feuergefecht. Dazwischen wurden Handgranaten geworfen. Es gab auf beiden Seiten Verwundete und Tote. Auch ein Geschütz von der Dorotheenstraße her griff in den Kampf ein. In den Stadtteilen, aus denen die Spartakisten bis jetzt noch nicht verdrängt worden sind, greifen sie Passanten an, untersuchen sie auf Geld und Wertsachen und rauben beides. Sie haben den Grünen Weg zwischen Andreasplatz und Blumenstraße bis zur Großen Frankfurter Straße abgesperrt, um sämtliche Läden zu plündern. Das beweist, dass die Verproviantierung höchst mangelhaft ist.' Solche Lumpen!"
„Du, das würden wir auch machen, wenn es gegen die Offiziere ginge und wir hätten nichts zu fressen! Das kann ich überhaupt nicht verstehen, wie sie die Offiziere wieder bewaffnen können!"
„Wenn aber die Revolution in Gefahr ist?"
„Du, vielleicht täuschen die sich auch, und die Revolution ist von der andern Seite in Gefahr! Lies nur mal, was die Unabhängigen schreiben! Die sagen, dass Ebert und Noske die Gardekavallerieschützendivision bewaffnet haben und dass dort die allerreaktionärsten Offiziere sind! Mein Lieber, schon der alte Bebel hat gesagt: seht euren Führern auf die Finger! Und das war doch 'n ehrlicher Genosse und musste die andern kennen!"
Nachmittags um sechs rückten alle mit ihren Schemeln wieder in den Versammlungsraum.
Als erster Redner sprach ein älterer Mann über die Wöchnerinnenbeihilfe und Kinderzulage bei der Sicherheitstruppe. Darüber entspann sich eine hartnäckige Diskussion. Mir schien ja anderes viel wichtiger zu besprechen, aber ich wagte nicht einzugreifen, weil mir diese parlamentarische Diskussionsform mit den schrecklich vielen unnützen Worten fremd war. An die Wöchnerinnenbeihilfe hatte ich auch noch nie gedacht.
Schließlich erhob sich der lange Matrose und sagte mit unbeholfener, aber kräftiger Stimme: „Kameraden! Ihr redet von Sachen, die schon wichtig sind, aber ihr vergesst doch darüber ganz, wozu wir da sind! Wir sind doch nicht eine Versorgungsanstalt für Arbeitslose! Wir sind eine revolutionäre Truppe und müssen bereit sein, unsere Brüder in der Arbeitskluft zu verteidigen gegen die Versuche der Reaktion, das alte Regime wiederaufzurichten. Dazu müssen wir vor allem schießen können. Aber die meisten von uns können die Maschinengewehre, die wir auf Wache haben, gar nicht bedienen! Und wenn schon, dann können sie die einfachste Ladehemmung nicht beseitigen! Ich rege daher an, dass vom Bataillon aus Kurse am Maschinengewehr eingerichtet werden!"
Er setzte sich unter beifälligem Gemurmel. Jetzt sprachen andere als vorhin bei der Kinderzulage, jüngere. Die hatten eine ganz andere Sprache, fester und leidenschaftlicher. Jetzt fühlte ich mich auch gleich wieder auf der Höhe und versprach ihnen, dass wir sehr bald mit der Ausbildung am Maschinengewehr beginnen würden, vielleicht schon morgen. Als die Versammlung geschlossen war, gingen einige zum Skat in die andern Stuben.
Der Matrose und sein Freund traten zu mir. „Die meisten hier sind gar keine Soldaten! Das sind gemietete Wachtbeamte!"
Ein anderer drängte sich zwischen uns. „Man sollte rücksichtslos sein und alle Verheirateten hinauswerfen! Auf die werden wir uns nie verlassen können, wenn es gilt, Leben und Existenz aufs Spiel zu setzen! Wir brauchen junge Kerle, die noch nicht in der Familie verbürgerlicht sind!"
Es wurde ein allgemeines Gespräch, das sich über Stunden hinzog. Der Matrose sah sich um und sagte: „Siehst du, in der ersten Revolutionszeit ist alle Ordnung zum Teufel gegangen, und auch die Kameradschaft. Aber heute fühle ich mich zum ersten Male wieder wohl. Wir ziehen wieder an einem Strick! Das macht die einigende Kraft des Sozialismus!"
Ich sah ihn an. Er war begeistert, aber das Wort Sozialismus kühlte mich ab. Ich begriff das noch immer nicht.
Die Nacht verging ohne Störung. Am Morgen waren die Zeitungen wieder voll von den Kämpfen in Berlin, aber in einer so unklaren Weise, dass man nichts verstehen konnte. Wer kämpfte eigentlich gegen wen?
Zu Mittag zog ich mit dem größten Teil der Kompanie auf Landtagswache. Es war erhöhte Alarmbereitschaft angeordnet. Wir hatten einen Maschinengewehrwagen mit Dem gab ich eine Gruppe als Bedeckung bei. Aber auf den Straßen war gewöhnlicher Verkehr und gar nichts von Aufregung zu merken. An einer Litfasssäule sah ich ein neues Riesenplakat gegen den Bolschewismus. Darunter stand aber nicht Antibolschewistische Liga, sondern Noske und noch zwei andere, also wahrscheinlich alles Mitglieder der sozialdemokratischen Regierung.
Im Landtag nisteten wir uns in einem großen Sitzungssaal ein. In den zweiten Stock des Turmes brachten wir ein Maschinengewehr.
Gegen Abend rief mich einer ans Telefon. Ich lief nach der Zelle.
„Hier Kommandantur. Vor der ,Volkszeitung' sammeln sich wieder Volksmassen. Höchste Alarmbereitschaft. Ein Zug mit Maschinengewehren ist nach der ,Volkszeitung' in Marsch gesetzt. Haltet dauernde telefonische Verbindung mit Schloss und Marstall."
Ich rief den Marstall an. „Wie steht es bei euch?"
„Alles wohlauf! Unser Kompanieführer Prochaska ist hinüber. Der wird die Sache schon schmeißen und mit dem Gesindel aufräumen!" Er sagte das so obenhin, als wäre das eine hübsche, lustige Sache. „Warte mal!" rief er. Ich hörte ihn den Hörer weglegen und fortrennen. Nach kurzer Zeit hörte ich wieder Tritte. „Die Posten vorn am Tor haben schießen gehört! Ich schicke gleich 'ne Streife in Zivil. Schluss."
Ich lief in den Wachtsaal.
Einer kam herein. „Der Posten auf dem Turm hört schießen, Gewehre und Maschinengewehre!" „Schießen sie noch?" „Mal fragen!" Er lief hinaus.
Unterdessen erklärte ich, was ich wusste. „Können wir nicht auch eine Streife in Zivil hinüberschicken?"
„Ja, ich!" rief einer. „Ich mach die Binde ab und den Rock auf. Da sieht es aus wie ein Entlassungsanzug." Er band sich noch ein Tuch um den Hals und hatte irgendwoher eine Schlappmütze. Zwei andere wollten noch mit ihm. Aber er sagte: „Das macht man besser allein!"
Wir saßen indessen im Wachtsaal. Einige brüteten vor sich hin. Ich dachte nach, ob ich den Turmposten verstärken sollte. Währenddem hörte ich mit halbem Ohr die Gespräche.
„Warum demonstrieren die nur immer wieder vor der ,Volkszeitung'? Da steht doch fast gar nichts drin!" Ja, da hatte er recht, ein ledernes Blatt war das!
„Weil es die Zeitung unserer Regierung ist. Und die wollen sie stürzen. Aber dann kommt doch nur die Reaktion hoch!"
Ich musste noch einen Posten aufstellen, und zwar einen Alarmposten im ersten Stock. Als ich den angewiesen hatte, rief ich wieder den Marstall an.
„Fein hat das der Prochaska gemacht!" rief der drüben. „Erst ist er mit Hurra in die Menge 'nein. Die sollen ja auseinandergeflitzt sein! Dann hat er das Gebäude der ,Volkszeitung' besetzt und hat unten ans Tor 'n Posten gestellt. Unterdessen haben sich die Demonstranten wieder versammelt und haben versucht, den Posten in die Menge zu ziehen. Aber den Kameraden ist es gelungen, den zurückzuziehen, und sie haben das Tor zugemacht. Nu hat die Menge versucht zu stürmen. Aber da haben sie aus dem ersten Stock runtergeschossen. Im Nu war der Platz leer!"
„Hat es Verluste gegeben?"
„Bei uns nicht Die andern sollen Verluste haben. Aber das geschieht dem Gesindel ganz recht!" Ich ging zurück in den Wachtsaal.
Nach einiger Zeit hörten wir auf dem Gang lautes Schimpfen. Der Ausgesandte kam sehr aufgeregt zurück. „Das ist nicht zu rechtfertigen!" schrie er einen an. „Das ist einfacher Mord!"
Alle umringten ihn. Er sah sich um und rief mit empörten Augen: „Sind wir dazu angeworben, um unbewaffnete Demonstrationen zusammenzuknallen? Wenn das wirklich der Kriegsminister befohlen hat, dann sage ich, dass er ein Mörder ist! Ja, ein Mörder! Der ganze Platz vor der ,Volkszeitung' liegt voller Toter! Da sind Anlagen mit Bänken. Da liegen sie alle! Fünfzehn Tote! haben sie mir gesagt. Und das haben welche von der Sicherheitstruppe gemacht! Einfach hineingeschossen von oben aus der ,Volkszeitung'! Das ist Mord! Das werde ich auch dem Minister ins Gesicht sagen, dass er ein Mörder ist! Der ist für mich kein Genosse mehr!"
„Da müssen die doch ziemlich lange geschossen haben, dass es fünfzehn getroffen hat?"
„Nur fünfzehn?" fuhr er auf. „Siebzig! Fünfzehn Tote allein! Die Verwundeten hatten sie ja schon weggebracht! Wenn das überhaupt langt: siebzig! Mir hat einer erzählt, die haben einen richtigen Feuerüberfall auf die Demonstranten gemacht. Fächerförmig haben sie von oben in die Menge geschossen! Die müssen es planmäßig darauf angelegt haben, recht viel umzubringen!"
Bis in die späte Nacht wurde weiterdiskutiert. Was der Bote sagte, stimmte ja zu dem Ton des Wachthabenden im Marstall, als der mir vorhin sagte: „Die Demonstranten sollen Verluste haben. Aber das geschieht dem Gesindel ganz recht!"
Das hätten die Offiziere der früheren Zeit auch nicht anders ausdrücken können!
Wir hatten in den nächsten Tagen immer Bereitschaft. Die Zeitungen meldeten die Schießerei an der „Volkszeitung" wie etwas ganz Nebensächliches. In Berlin sollte der Spartakusaufstand niedergeschlagen sein.
„Eine dreiste Verdrehung!" schrieb eine Zeitung. „In der ,Freiheit' veröffentlicht der Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokraten einen Aufruf, der an Fälschung der Tatsachen und tendenziöser Mache das Tollste ist, was diese Partei sich bisher geleistet hat. Richtig ist nur der erste Satz, dass in Berlin der Terror herrsche. Es heißt weiter: ,Offiziere, Studenten, aufgeputschte Bourgeoisiesöhne haben in Berlin ein Willkürregiment errichtet, wie es niemals erlebt worden ist! Die Verteidiger des alten zaristischen Regimes sind durch eine verbrecherische und wahnsinnige Regierung in Berlin wieder zum Leben erweckt worden. Bewaffnete dringen in die Wohnungen friedlicher Bürger ein, nehmen Haussuchungen und Verhaftungen vor, ohne sich um die bestehenden Gesetze irgendwie zu kümmern.
Alles, was unter dem schärfsten Belagerungszustand an Härte und Unmenschlichkeit geschehen ist, verblasst hinter den Rohheiten und Grausamkeiten dieser Tage, in denen eine angeblich demokratische und soziale Regierung am Ruder ist!'"
Und wenn das doch stimmt, was die Unabhängigen schreiben?
Wir hatten eine neue Führertagung im Landtag. Der Beauftragte der Kommandantur Kupfer leitete sie. Die Familienfürsorge der Freiwilligen stand zur Diskussion. Aber schon der zweite Redner kam auf die Schießerei vor der „Volkszeitung". „Wenn die Regierung meint, sich durch unnötige Blutbäder beliebt zu machen, täuscht sie sich!"
„Oho!" brüllte einer. „Das war nicht unnötig!" Er stand in seiner ganzen Länge auf. „Ja, Schwächlinge sind hier nicht zu brauchen! Wer kein Blut sehen kann, gehört nicht hierher!"
„Ich habe noch das Wort!" schrie der andere.
Der Beauftragte klingelte, verhalf ihm aber nicht zum Wort, sondern ließ den Langen weiterreden. Es war der Kompanieführer Prochaska, der damals hatte schießen lassen. Er brüstete sich mit seinem Schneid. „Ja, da muss man eben handeln!" lachte er und brüllte weiter: „Auf uns kann sich die Regierung verlassen."
„Das Wort hat Kamerad Engert."
Ein kleiner Kerl mit vorstehenden Backenknochen stand auf. „Kameraden! Vor einigen Tagen stand in allen Zeitungen", er las einen Ausschnitt vor: „Gestern Abend sind die beiden Hauptführer der Spartakusbewegung ums Leben gekommen. Karl Liebknecht wurde nach seiner Verhaftung bei einem Fluchtversuch im Tiergarten von Regierungssoldaten erschossen, während Rosa Luxemburg von der wütenden Menge durch Schläge über den Kopf und einen Revolverschuss am Kurfürstendamm in der Nähe der Nürnberger Straße getötet wurde." Er hob den Kopf. „Das steht auch so in der ,Volkszeitung'. Aber in Wirklichkeit sind sie ermordet worden! Ermordet im Auftrage von Ebert und Noske! Das ist die Wahrheit! Aber die ,Volkszeitung' schreibt die Lügen! Sie deckt die Lügen! Und da wundert ihr euch, wenn die Arbeiter gegen dieses Lügenblatt demonstrieren! Und der Kamerad Prochaska schießst die Demonstranten zusammen!"
„Und was sollte er machen?" rief einer. Schon vorher war es unruhig gewesen. Jetzt sprach alles durcheinander. Der Beauftragte klingelte und rief: „Zur Debatte steht die Familienfürsorge!"
Einige lachten.
Ich fragte, wer der letzte Redner war. „Ein Unabhängiger."
Sie fragten ihn immer wieder, was Prochaska hätte tun sollen.
„Natürlich musste er sich verteidigen. Aber nicht in dieser Weise! Alle, die dabei waren, haben den Eindruck gehabt -und eben habt ihr es aus dem Ton seiner Reden gehört -, dass es ihm Spaß gemacht hat, Arbeiter niederzuknallen!"
Der Beauftragte klingelte wieder. Und jetzt gelang es ihm auch, dass von der Familienfürsorge geredet wurde.
An einem der nächsten Tage traf ich auf dem Kasernenhof den Unabhängigen, der gegen die Regierung den Vorwurf erhoben hatte, dass Liebknecht und Rosa Luxemburg auf Befehl von Ebert und Noske ermordet worden wären. Jetzt wandten sich auch die sozialdemokratischen Zeitungen gegen diesen Mord.
Ich ging auf ihn zu, er war Bataillonsführer. „Du hast doch neulich die Rede gehalten gegen die Sozialdemokraten."
„Nicht gegen die Sozialdemokraten!" entgegnete er unwillig.
„Sondern? Du hast doch die Führer der Anstiftung zum Mord bezichtigt!"
„Ja, selbstverständlich. Und?" Er schien meiner Frage ausweichen zu wollen.
Um weiterzukommen, fragte ich: „Was unterscheidet euch Unabhängige eigentlich von den Mehrheitssozialisten?"
„Ach, da ist nicht viel Unterschied", sagte er wegwerfend, gab mir die Hand und ging fort.
Ich stand auf dem Hof und sah ihm nach. Wozu dann erst die dicken Töne, wenn nichts dahinter ist? Meine direkte Frage war ihm auch sichtlich peinlich gewesen. Bei seiner
Rede neulich hatte er mir gut gefallen. Was ist das alles für ein lügnerisches Pack! Ich fühlte Hass gegen ihn und wurde den ganzen Tag die Frage nicht mehr los: Warum haben die denn eine eigene Partei?
Als ich einmal Falbel traf, fragte ich ihn vorsichtig, ob er den Bataillonsführer kennte.
„Ja, warum fragst du?"
„Das ist doch ein Unabhängiger!"
„Der hängt seinen Mantel nach dem Wind! Der ist doch nur bei den Unabhängigen eingetreten, weil er geglaubt hat, die kommen an die Macht. Jetzt wird er wohl bald zurückkommen !"
Ich betrachtete mir Falbeis Bewegungen dabei. Er sah mich nicht an. Ob es nur Parteihass war, was aus ihm sprach, war mir nicht klar. Aber immerhin war es eine Erklärung. Und wem konnte man von allen Kameraden vertrauen? Von den Führern traute ich keinem und musste doch täglich mit ihnen umgehen.
In diesen Tagen sollte zu irgend etwas gewählt werden. Ich war im Wahlvorstand als Beisitzer.
Am Tage vor der Wahl wartete ich zufällig in einer Fensternische auf Falbel. Zwei Leutnants standen in der nächsten Nische und unterhielten sich. „Der Hauptmann Windscheid hat gesagt, man könnte auch Stresemann wählen, die Deutsche Volkspartei."
„Meinen Sie? Mir gefällt ja auch der Ton bei den Deutschnationalen nicht ganz. Solche Ansichten sind leicht zu vertreten, wenn man zu Hause sitzt. Aber wir hier mit dieser Horde? Am Morgen möchte man gar nicht aufstehen vor Ekel!"
„Und doch ist es außerordentlich wichtig, hier zu bleiben. Wir müssen an jeder Stelle festhalten um der guten Sache willen. Und das tut die Deutsche Volkspartei ebenso wie die Deutschnationalen. Die hält auch den deutschen Gedanken hoch."
Wir vom Wahlvorstand trafen uns früh im Wahllokal. Das war eine lang gestreckte Kasernenstube mit vielen Fenstern. Am Morgen kam noch fast niemand. Da wählten wir erst einmal selbst. Die Sozialdemokraten passten mir zwar auch nicht ganz. Aber ich wählte sie, weil ich gegen die andern Parteien noch größeres Misstrauen hatte.
Der Vorsitzende war ein lebhafter Mann in einem eleganten schwarzen Rock, Soldatenrat beim alten Regiment. Wir saßen mindestens drei Stunden auf dem Fensterbrett, und er suchte mich zu überzeugen, dass ich in die Sozialdemokratische Partei eintreten müsste. Warum versprachen mir diese Leute immer wieder, ich könnte etwas bei ihnen werden?
„Aber Sie stehen doch schon ganz bei uns!" rief er. „Ich wüsste nicht!"
„Dass Sie das nicht verstehen! Die Sicherheitstruppe, was ist denn das? Etwa Deutschnational? Und dort haben Sie sich wählen lassen. Ich kann Ihnen versichern, dass die Offiziere Sie alle für einen Sozialdemokraten halten."
Ich war betroffen. „Aber", sagte ich etwas unsicher und eigentlich mehr, um mich nicht geschlagen zu geben, „was können Sie wissen, ob ich nicht Kommunist bin?"
„Kommunist?" Er lachte. „Dazu sind Sie doch viel zu vernünftig!"
Jetzt kamen endlich die ersten Wähler, der Kasernenwärter mit seiner Familie. Das war ein ältlicher Mann, der etwas unterwürfig „Guten Tag" sagte. Früher tat er das wohl den Offizieren gegenüber.
„Trübes Wetter heute", sagte seine Frau, als ob sie im Laden einkaufte.
Die folgenden Wähler hörten wir schon von weitem laut reden und die Stiefel auf dem Zementboden schleifen. Sie drangen mit schiefen Mützen und feindlichen Mienen ein.
„Wo muss man wählen?" fragte einer rau.
„Hier", antwortete der im schwarzen Rock geschmeidig. „Wie heißt du?" Er suchte mit einem andern in der Liste. Unterdessen polterten die andern in der Stube herum. Sie hatten teils rote, teils gar keine Kokarden an den Mützen.
„Was bist du denn für einer?" fragte ein Soldat misstrauisch den im schwarzen Rock.
„Soldatenrat des ersten Bataillons."
„Siehst aber verflucht bürgerlich aus, du! Wenn das nur nicht Schiebungen sind!" Feindlich betrachtete er jetzt den dicken Feldwebelleutnant Reimers. „Was haben hier Offiziere zu suchen? Das Gesindel gehört abgeschafft!"
„Aber, Genossen, er ist Mitglied der Partei!"
„Das muss ja 'ne hübsche Partei sein, wo diese Bullen sich wohl fühlen! Ich wähle Kommunisten!"
Als sie mit viel unnötigem Lärm hinauslatschten, lachte mich der Vorsitzende an. „Das waren Ihre Freunde!"
Ich fühlte mich rot werden, und als die andern nun auch lachten, rief ich gereizt: „Und wenn sie doch recht haben?" Ich wollte noch mehr sagen, aber fand nichts. Und gerade das ärgerte mich besonders. Aber es blieb bei diesem kleinen Zusammenstoß, denn neue Wähler kamen herein. Einige waren scheu und fürchteten sich augenscheinlich, dass jemand erfahren könnte, was sie wählten. - Kurz nach Mittag kam einer, der nicht in der Liste stand. Wütend schlug er auf die hölzerne Wahlurne. „Ich will hier wählen!"
„Aber Kamerad ...", zwei zugleich versuchten ihn zu begütigen.
„Ich will wählen!" schrie er und versuchte, sich mit Gewalt einen Wahlumschlag zu holen. Gerade kamen Neue herein. Die blieben in einiger Entfernung, so tobte der Kerl jetzt. Der Vorsitzende legte sich über die Wahlurne, um sie zu schützen, und schrie: „Das nützt dir doch nichts! Der Wahlzettel ist ungültig, wenn du ihn ohne Umschlag hineinwirfst!"
„Raus mit dem Störenfried!" rief ein starker Kerl, der eben hereinkam.
Zwei Junge wandten sich gegen ihn. Nach zehn Minuten war wieder alles ruhig.
Am Nachmittag kamen nur noch wenige. Einer nach dem andern ging deshalb essen. Noch nicht die Hälfte der Namen war in den Listen angestrichen. Der Vorsitzende meinte, noch kurz vor sechs würde ein Schwarm kommen. Aber da kam nur noch ein Soldat, der sehr verhungert aussah. Dann begann das Auszählen der Stimmen. Ich bekam die kommunistischen, „weil Sie ja die Radaubrüder so sehr lieben".
„Sozialdemokraten, Sozialdemokraten, Zentrum! Oho! Da ist wohl einer ganz dämlich geworden! Deutschnational, Unabhängige, Kommunisten, Sozialdemokraten. Was ist denn das hier? - ,Ich wähle mich selbst, ihr Arschlöcher!' -
Da macht einer seine eigene Partei auf und schreibt nicht mal, wie er heißt! - Sozialdemokraten, Sozialdemokraten."
Ich war gewiss kein ernsthafter, ja überhaupt kein Kommunist, aber ich hatte doch mit vielen Stimmen für sie gerechnet. Aber fast niemand hatte sie gewählt. Da waren die schimpfenden Kerle also nichts weiter gewesen als polternde Sozialdemokraten? Ich war ganz benommen von dem Ergebnis und ging schwer verstimmt in die Stadt, wo die vorläufigen Wahlergebnisse von den Zeitungen angeschlagen wurden. Ich las da etliche Zahlen. Keiner Partei gönnte ich die Stimmen.

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