Bei der Sipo im Kapp-Putsch
Nach dem Auszug der Siedler wurden die Reste der Kompanien vereinigt, und wir zogen möglichst dicht zusammen, um nicht so sehr zu frieren.
Ich wurde jetzt zur Abwicklung der letzten Geschäfte der Truppe verwendet. Bücher mussten abgeschlossen werden. Eine große Zahl von Gerichtsverfahren liefen noch wegen unberechtigten Verkaufs von Dienstgegenständen oder wegen Diebstahls. Aber die Täter waren nicht mehr da. Und in den Akten musste vermerkt werden, wohin wir die Betreffenden entlassen hatten. Diese Beschäftigung musste bald zu Ende sein. Dann wollte ich mir Arbeit suchen.
Da traf ich gelegentlich auf der Straße den Grassert. Der schlug mir vor, zur Sicherheitspolizei zu gehen, für die eben geworben wurde. Ich lehnte das entschieden ab. Aber als ich mit Falbel darüber sprach, sagte der: „Das ist ja ausgezeichnet! Du wirst als ehemaliger Vizefeldwebel gleich Wachtmeister, und wir haben einen Mann drin!"
„Ich mag aber diesem verfluchten Staat nicht mehr dienen!" „Du willst lieber in die Fabrik gehen und dich vom Kapitalisten ausbeuten lassen?"
Ich überlegte mir's noch einmal. Mit der Arbeit sah es jetzt noch schlechter aus als im Herbst. Und ich meldete mich zur Sicherheitspolizei.
Die Werbestelle der Polizei befand sich in einer Kaserne. Ich wurde mit noch einem nach der Stube 327 geschickt. Wir mussten uns ausziehen. Ein Stabsarzt mit einem merkwürdig bekümmerten Gesichtsausdruck kam herein. Das passte gar nicht zu seiner Uniform und seiner strammen Haltung. Der betrachtete mich. „Ja, haben Sie denn gedient?"
„Jawohl."
„Aber Sie waren nicht an der Front?" „Doch, fast den ganzen Krieg über. Ich war zweimal verwundet."
Er schüttelte den Kopf. „Man kann sich doch sehr täuschen." Zum Schreiber gewendet, sagte er: „Schreiben Sie! Hochgradig unterernährt." Er untersuchte Lunge und Herz. Alles war gesund.
Mit dem ärztlichen Befund „tauglich" ging ich zum Geschäftszimmer zurück. Dort bekam ich einen Zettel. „Melden Sie sich am 11. Januar 1920 im Zeithainer Lager, Geschäftszimmerbaracke 1."
Am 11. Januar war es kalt. Ich fuhr mit dem Frühzug nach der Bahnstation, die dem Zeithainer Lager am nächsten lag. Dort stiegen mehrere in Entlassungsuniform aus, alles Polizeianwärter. Einen kannte ich, den Müller. Er war bei der Sicherheitstruppe Zugführer gewesen.
„Kennst du den Weg zum Lager?" fragte er.
„Ja, ich habe das Lager vor einem Jahre mal zehn Tage lang bewacht."
Wir marschierten los, einige zehn Mann, durch dürre Kiefernstreifen und über sandige Heide mit schwarzen, vertrockneten Ginsterbüschen vom letzten Jahre.
„Das hätte mir einer sagen sollen, dass ich mal Polizist würde!" murmelte Müller. „Aber was soll man denn machen?"
Ich antwortete nicht. Das ging uns ja allen so. Wäre nicht die Not, würde diese Regierung nicht viele finden für ihre Polizei.
Als wir zur Geschäftszimmerbaracke kamen, trat da eben
der Major heraus, der im vorigen Jahre Lagerkommandant gewesen war. Jetzt hatte er Polizeiuniform an. Wenn solche Leute hier waren, das war doch recht erfreulich.
„Nu, auch hier?" rief er und zog ein verschmitztes Gesicht. „Hat Ihre Truppe noch einmal gemeutert? Was war das doch für eine komische Übergangserscheinung, Ihre Sicherheitstruppe mit den Wahlführern!"
„Aber damals war sie gut, Herrn Major vor der Gefangennahme durch das Nachrichtenbataillon zu schützen!"
Er stutzte und lächelte schelmisch. „Nur nicht gleich feindlich! Natürlich war sie damals das Beste. Aber jetzt ist es eben anders."
Ich sah ihm nach. Aha, der Ton passte dir nicht. Jetzt ist es eben anders! Das heißt, jetzt haben wir, die Offiziere, wieder die Macht.
Bedeutend ernüchtert trat ich in das Geschäftszimmer der Abteilung. Der Schreiber schickte mich und Müller zur siebenten Hundertschaft. Die lag in derselben Baracke, wo ich im vorigen Jahre gelegen hatte. Am linken Ende war die Schreibstube. Da hatte ich im vorigen Jahre als Führer gesessen. Als ich eintrat, stand ein Mann mit Feldwebelabzeichen auf. „Die Hundertschaft besteht erst aus vier Mann, außer dem Hauptmann und mir. Sie werden Zugführer. Wir gehen gleich mal hinüber."
Die vier Mann waren erst gestern gekommen und hatten sich in die kleinste Stube einquartiert, denn die lange Baracke war wohl den ganzen Winter noch nicht geheizt worden. In der Stube ließ es sich auch nur durch dauerndes Einkacheln aushalten. Wir bekamen aber nicht soviel Kohlen, wie wir dazu brauchten, und gingen in die Waldstreifen zwischen den Baracken trockenes Holz sammeln. Das machten wir mehrmals am Tage, denn wir hatten keinen Dienst, und unser Leben bestand in Schlafen, Essen und der Sorge für unseren Ofen.
Am Abend kam der Hauptmann, ein kleiner Mann mit etwas krummen Beinen, einem hübschen Gesicht und einer Hornbrille. „Nu", sagte er liebenswürdig, „da sind wir ja wieder um zwei stärker geworden."
Als er fortgegangen war, fragte ich den Unterwachtmeister Kroll: „Was ist denn das für einer, der Alte?"
„Ach, der ist wie alle." Dazu zog er einen Mund, als ob er sehr wenig von ihm hielte.
Am nächsten Tage erfuhr ich durch Herumfragen, dass im Lager zwei ganze Reichswehrregimenter lagen und außerdem die ersten Anfänge von zwei Polizeiregimentern. Freilich hießen die nicht Regimenter, sondern Gruppen. Die Bataillone hießen Abteilungen und die Kompanien Hundertschaften. Sonst aber waren wir genauso organisiert wie das Militär, hatten Maschinengewehre und sogar Artillerie und Kavallerie. Nur wurden wir mit Herr angeredet und waren Beamte.
Die Offiziere kümmerten sich gar nicht um uns. Sie hatten bei altgedienten Polizeiwachtmeistern Unterricht im Polizeidienst, denn sie waren ehemalige Offiziere der Armee und mussten natürlich auch erst ihren neuen Dienst lernen. In den Stuben, nicht nur bei unserer Hundertschaft, wurde ausgiebig über unsere Organisationsart diskutiert. Einige waren damit gar nicht einverstanden. Sie sprachen es nicht deutlich aus, aber es stand hinter ihren Reden: sie sahen hier, dass wir nicht nur eine harmlose Polizei werden sollten, die dazu da ist, Pilzsucher zu verscheuchen und auf Ordnung in den Straßen zu halten, sondern eine Bürgerkriegsarmee gegen die Arbeiterschaft. Diese Stimmung war anfangs durchaus nicht allgemein, wurde aber durch zwei Vorkommnisse sehr gefördert.
In den ersten Tagen nach meinem Eintreffen kam täglich ein großer Schub von Neugeworbenen an. Am vierten kamen nur zwei. Am Tage darauf gar niemand mehr. Der Ersatz stockte vollkommen.
Der Hauptmann sprach mit dem Hauptwachtmeister darüber, woher das nur käme. Wir wussten es alle, aber keiner hatte Lust, es zu sagen. Am 13. Januar war in Berlin vor dem Reichstag eine riesige Demonstration gegen das Betriebsrätegesetz auseinander geschossen worden. Vierzig Tote und hundert Verwundete sollte es gegeben haben. Und am Tage darauf war der Belagerungszustand über das ganze Reich verhängt worden. Wir waren uns zwar über das Betriebsrätegesetz nicht klar, aber bei der Aussicht, auf frühere Arbeitskollegen schießen zu müssen, ließ sich niemand für die Polizei anwerben. Daher stockte der Ersatz.
Der andere Grund der Missstimmung waren die schweren Polizeiwaffen. In diesen Tagen kamen mittlere und leichte Minenwerfer an und langrohrige Kanonen, die feldmäßig bunt bemalt waren.
„Das nennt sich Polizei!" sagte Kroll. „Hier wird gerüstet weit über das hinaus, was der Versailler Vertrag zulässt! Und niemand weiß, wofür! Ich teile das ja den Kommunisten mit!"
„Sag nicht solches Zeug!" versuchte ihn Müller zu beruhigen.
Aber Kroll war im Zuge. „Die Offiziere bereiten hier was vor. Das soll ihnen nicht so durchgehen!"
Ich sah mich um. Man kannte die Kameraden noch nicht so genau.
Am nächsten Morgen, als der Hauptmann gekommen war, wurde Kroll in die Schreibstube vorgerufen.
„Den hat einer verpetzt!" sagte ich leise zu Müller. Er antwortete nicht.
Einige Minuten später kam der Hilfsschreiber in unsere Stube. „Stolte, du sollst mal zu Herrn Hauptmann kommen."
Stolte lächelte sichtlich verlegen und folgte dem Schreiber.
„Das ist der Angeber", sagte Müller leise, aber so, dass alle es hörten.
Nach über einer Stunde kamen sie wieder.
„Was hat er gesagt?" fragte jemand wie nebenbei.
Kroll lachte. „Ein Protokoll hat der Alte aufgenommen und mich entlassen. Kommunisten könnten sie nicht gebrauchen. Ich bin recht froh, dass ich von hier fortkomme! Geschossen hätte ich sowieso nicht auf die Arbeiter!"
Müller hatte sich unterdessen vor Stolte aufgestellt „Du hast ihn verpfiffen! Du Spitzel!"
„Ich bin kein Spitzel!" Stolte fuhr empört auf. „Der Kroll ist ein Spitzel! Du hast ja gehört, dass er mit den Kommunisten in Verbindung steht!"
„Nein!" rief Kroll. „Bisher stand ich mit ihnen nicht in Verbindung! Aber jetzt habe ich einiges gesehen! In Berlin schießen sie die Arbeiter zusammen! Und was ich draußen im Beruf nie begriffen habe, das ist mir hier klar geworden bei der Polizei: Wir werden zum Schutze der bürgerlichen Klasse ausgebildet und mit allen technischen Mitteln ausgerüstet! Und das geht gegen die Arbeiterschaft. So liegt es! Nicht ich habe gespitzelt, sondern die Verhältnisse bei der Polizei haben mich überzeugt, dass man auf die Offiziere aufpassen muss!"
Wir standen stumm in der Stube.
„Recht hat er", sagte einer. „Wir müssen auf die Offiziere aufpassen." Stolte schoss einen Blick auf ihn.
Müller sagte zu Stolte in ruhigem Ton: „Geh vor zum Hauptmann und melde ihn auch!"
„Das soll er nur wagen!" schrie ein anderer. „Spitzel dulden wir nicht unter uns!"
„Und ihr wollt euch verhetzen lassen?" rief Stolte, etwas unsicher, denn alle waren gegen ihn.
„Spitzel dulden wir nicht unter uns!"
„Was gibt's denn hier?"
Wir sahen uns um. Da stand der alte Polizeimeister Rockstroh. „Kinder, Meinungen kämpft man nicht mit den Lungen aus, sondern mit Argumenten! Was habt ihr denn?"
Alle drängten auf ihn zu und wollten ihn von ihrer Sache überzeugen, denn er war sehr beliebt.
„Wisst ihr, da kann man zwei Ansichten haben. Der richtige Vorgesetzte sagt: Wenn einer zu den Kommunisten hält, der muss raus! Und wer ihn anzeigt, hat recht. Denn die Polizei dient der Regierung und bekämpft die Kommunisten. - Die andere Meinung sagt: Ach Gott, dem Kroll ist eine Laus über die Leber gelaufen, und da hat er geschimpft. Passiert uns allen mal. Ich sehe mir den Kerl erst mal an, ob er wirklich so schlimm ist." Er sah sich um und sagte nichts weiter. Schließlich fragte einer: „Und was ist Ihre Ansicht, Herr Oberwachtmeister?"
„Ich bin Vorgesetzter, da muss ich die eine Meinung haben. Wenn ich aber zu euch als Mensch käme, da würde ich sagen: Der Kroll hat sich verplappert, und der andere sich übereilt. Deshalb schlägt man sich nicht die Knochen kaputt, sondern man lernt daran." Er sah den Stolte an, durchaus freundlich. Aber dem stieg die Röte ins Gesicht, und er wandte sich ab.
„Jetzt zankt euch nicht mehr! Es gehört auch zur Kameradschaft, dass man einander nichts nachträgt" Er ging fort.
In der Stube war es still. Jeder tat etwas anderes. Stolte holte sich aus seinem Schrank ein Buch und setzte sich mit lautem Scharren des Schemels an den Tisch. Dann las er eifrig. Ich glaube, alle beobachteten es. Aber niemand zeigte das.
Diese Vorgänge wären wohl bald vergessen worden, wenn die Kanonen mit ihren langen Rohren nicht vor unserer Baracke gestanden hätten. Als jetzt wieder Neugeworbene eintrafen, musste ihr erster Blick auf die Geschütze neuester Konstruktion fallen. Und wir waren ja alle langgediente Leute, die sofort sahen, dass wir solche moderne Dinger im Felde nie gehabt hatten. Fast nie äußerte einer von den Neuen etwas, um nicht gleich mit einer dummen Frage aufzufallen. Aber wir sahen doch in ihren Blicken die Frage: Ich denke, ich bin zur Polizei angeworben? Aber was sollen denn die Kanonen?
Jetzt waren wir so viel, dass der Polizeiunterricht anfangen konnte. Der alte Rockstroh trug „Über das Verhalten des Polizeibeamten" vor. Wir saßen dann in einer größeren Stube am Tisch, jeder vor sich ein Blatt Papier zum Nachschreiben. Uns gegenüber saß Rockstroh mit seiner großen gebogenen Nase. „Merkt euch eins: Wenn ihr angepöbelt werdet, lasst sie schimpfen! Wer sich provozieren lässt, macht sicher was Dummes. Ihr werdet schon jetzt gelegentlich hier zum Straßendienst verwandt werden. Da sollt ihr Kleinigkeiten übersehen. Wenn ein Radfahrer ohne Licht fährt, seht nach der andern Seite. Und wenn jemand nach etwas fragt, seid recht höflich. Die Sipo soll sich beliebt machen. Sonst wird sie bei einem ernsten Einsatz einem ganz unnötigen Widerstand begegnen."
Immer wieder ermahnte er uns in väterlicher Weise, ja nicht die Angewohnheiten der alten, dicken Wachtmeister anzunehmen, die mit aufgeblasener Brust in den Kneipen sitzen und mit ihren Heldentaten protzen. Diese Ermahnungen gefielen uns natürlich, denn wir waren junge Kerle und noch nicht lange über die Zeit weg, wo man sich auf der Straße umsah, ob nicht ein Polizist in der Nähe wäre, bevor man Zündplättchen auf die Schienen legte, mit Steinen in die Kastanienbäume schoss oder an fremden Türen klingelte und dann ausriss.
Der alte Rockstroh erzählte uns auch von den schwarzen
Listen bei der Polizei. Jetzt gäbe es keine mehr. Er erzählte, wie vor dem Kriege die „Politischen" in der Wachtstube geröstet wurden. Man setzte den Verhafteten recht nah an den glühenden Ofen und heizte ein wie toll. Das gäbe es heute auch nicht mehr. Er erzählte auch, wie früher vor Gericht der Polizeibeamte stets recht bekam. Er konnte noch so widersinniges Zeug aussagen und beschwören, man glaubte ihm und legte es ihm nicht als Meineid aus. „Aber heute müsst ihr schon vorsichtig sein. Der Richter wird ja auch heute geneigt sein, euch recht zu geben, aber er kann das doch nicht mehr so wie früher."
„Aber ist denn das Recht", rief einer, „wenn er überhaupt versucht, uns recht zu geben?"
„Kinder! Wenn man bei der Polizei ist, muss man das begreifen, sonst kann man nicht dableiben. Recht ist nicht so Recht, wie sich das die Leute im allgemeinen denken. Die Kommunisten reden von Klassengericht, und das ist natürlich auch so. Aber ihr müsst doch verstehen, dass es gar nicht anders geht. Das, was ihr zu vertreten habt, ist das Recht des Staates, nicht das Recht von irgendwelchen Idealisten. Wer das nicht einsieht und nicht anerkennen will, wird vor Gewissensbissen nie handeln können, wenn es darauf ankommt. - Aber jetzt ist unsere Stunde um. Das nächste Mal wird einer vorlesen, was er nachgeschrieben hat."
Er stand auf und wollte gehen. Aber sie umringten ihn. Alle hatten Vertrauen zu ihm, weil er so offen war, und trugen ihm alle ihre Zweifel vor. Schließlich sagte er: „Es ist ja sehr gut, dass ihr euch für die Sache interessiert, aber die Offiziere wollen auch was lernen. Ich muss jetzt zu ihnen."
Über Strafrecht trug ein Kriminalwachtmeister mit einem mageren Gesicht und Klemmer vor. Der war wenig beliebt, obwohl er sehr klar vortrug. Er war zu kalt. Niemand hätte ihm eine persönliche Frage gestellt.
Einer trug über das Verhalten bei Unruhen vor. Was er sagte, war recht dürftig und stimmte wohl auch zum Teil gar nicht. Er wärmte das alte Märchen wieder auf, dass die Anführer und Hetzer immer hinten stünden. Nach vorn schöben sie die Frauen und Kinder. Dazu würde aber eine gute Organisierung drüben gehören! Beim Tod des Kriegsministers und an der „Volkszeitung" und auch in allen anderen Fällen, von denen ich je gehört hatte, war bei der Menge gar nichts vorbereitet, sondern sie hatte aus Empörung gehandelt.
„Bei solchen Gelegenheiten", erzählte er, „pflegt auswärtiges Gesindel angereist zu kommen von Hamburg und den Hafenstädten." - Mir schien, dass ich mehr von Unruhen verstand als dieser Lehrer. Wer soll denn dem so genannten auswärtigen Gesindel die Reise von Hamburg bis hierher bezahlen?
Wir hatten nicht viel Interesse für diesen Unterricht, desto mehr aber für Jiu-Jitsu. Dabei standen wir im Freien, immer zwei zusammen, und übten. Die Schläge mit der Handkante gegen Hals, Nase und Hüfte wurden natürlich nur angedeutet. Aber bei den eigentlichen Griffen wurde fest zugepackt. Da wurden Arme ausgedreht. Wenn einer sich auf den Rücken legte, um bei der Verhaftung Schwierigkeiten zu machen, trat man ihm die Fußspitzen herunter. Der war dann schnell hoch! Bei den Anfängern erregte immer der Hosenbodengriff Gelächter. Man fasst dem Verhafteten nach dem Hosenboden und zieht ihn hoch. Dann trippelt der auf den Fußspitzen vor einem her, wohin man will. Aber einmal fasste einer dabei zu fest zu und hielt nur einen Fetzen Tuch in der Hand. Es war eine Hose aus schlechtem Kriegstuch gewesen.
Auch außer Dienst trieben wir viel Sport, Steinstoßen, Springen und Laufen. Auffallend viel starke und gewandte Kerle waren unter uns. Dieses gesunde Leben und der anregende Unterricht verringerten in dieser Zeit die politischen Spannungen, besonders auch, weil wir die Offiziere so wenig sahen.
Anfang März kamen täglich Neue, und unsere Hundertschaft hatte schon etwa siebzig Mann, während andere noch ganz geringen Bestand hatten.
Wir lasen in der Zeitung: „Umtriebe gegen die Republik. Die Verhaftung des Generallandschaftsdirektors Kapp ist angeordnet worden, weil er unter dem dringenden Verdacht steht, für seine Umtriebe auch militärische Stellen gewinnen zu wollen. Er hat mit dem Hauptmann Papst zusammengearbeitet, der bei der Ermordung von Liebknecht und Rosa Luxemburg eine sehr verdächtige Rolle gespielt hat und der auch bei anderen Vorgängen genannt wurde, die der Gardekavallerieschützendivision zur Last gelegt werden. Er ist einer der zähesten Anhänger des alten Systems, und man darf ihn zu den Führern der monarchistischen Bewegung rechnen. Während des Krieges wurde er bekannt durch seine wahnsinnigen Forderungen, ganze Länder und Gebiete zu annektieren."
„Na, jedenfalls bei der Reichswehr hier im Lager wird er kein Schwein haben! Ich habe erst heute mit Unteroffizieren von dort gesprochen. So was kommt in unserem industriellen Lande ja gar nicht in Frage!"
Zur Dienstausgabe kam der Hauptmann mit einem Papier in der Hand. „Nach sicheren Meldungen hat der Generallandschaftsdirektor Kapp zusammen mit dem General von Lüttwitz in Berlin die Macht an sich gerissen. Sie haben die Regierung Ebert für abgesetzt erklärt. - Es lässt sich noch nicht übersehen", das sagte er etwas gezwungen, „wie diese Sache ausgeht. Jedenfalls ist zu hoffen, dass sie den bisherigen unwürdigen Zuständen ein Ende bereitet!"
Wir traten weg. Niemand sprach. Ich ging gleich in die Stube, um zu hören, was sie sagen würden.
„Das bedeutet den Kaiser!" sagte einer ins Allgemeine hinein.
„Das bedeutet, dass aller alte Kotz und Bims wieder losgeht!"
„Hast du seine Stimme gehört, wie er sich gefreut hat? Bei so 'ner Gelegenheit erkennst du den Monarchisten!"
Die Stimmung war bei uns allgemein gegen Kapp-Lüttwitz. Bisher schien sie mir nicht einheitlich gewesen zu sein. Aber die meisten von uns waren ja Sozialdemokraten.
Von der zweiten Hundertschaft kam einer. „Ist euch schon bekannt, dass die Reichswehr hier im Lager auf den General von Lüttwitz und Kapp vereidigt worden ist? Auf Anweisung von Kapp ist doppelte Löhnung gezahlt worden."
„Haben denn die Mannschaften das mitgemacht? Dass die Offiziere so sind, wissen wir ja."
„Alle haben sie ,Hoch Lüttwitz!' gebrüllt. Die jungen Kerle, was verstehen denn die?"
„Verdammt!"
„Also, Kameraden, passt auf! Das ist eine üble Lage."
Von anderen Stuben kamen welche zu uns herein, um zu erfahren, was wir von der Lage dächten.
„Das gibt einen Krieg zwischen Sipo und Reichswehr hier im Lager. Die sind mindestens so stark wie wir, und wir haben beide Kanonen und Minenwerfer!"
„Aber wir haben keine Artilleriemunition!"
„Und die Reichswehr?"
„Weiß ich nicht. Aber dazu kommt es auch gar nicht. Ich denke viel eher, unsere Offiziere erklären sich auch für Kapp."
„Das kann ich dir sagen, dann verweigere ich glatt den Gehorsam!"
„Das wirst du nicht tun! Hier hat niemand einzeln zu handeln, sondern wenn es soweit kommt, beraten wir, was wir tun wollen."
Nach Dunkelwerden kam Rockstroh in unsere Stube. Man umringte ihn gleich.
„Ist es wahr, dass die Reichswehr auf Lüttwitz vereidigt worden ist und doppelte Löhnung bekommen hat?"
„Ja."
„Dann stehen wir doch gegeneinander, Sipo und Reichswehr! Wir sind schwer bewaffnet und sie auch!"
Er schüttelte den Kopf. „Die Offiziere essen zusammen in derselben Kantine, nur an verschiedenen Tischen. Und dann müsst ihr euch überlegen, wie die untereinander zusammenhängen! Die gehen nicht gegeneinander!"
„Aber dafür miteinander, auf der Seite von Kapp!"
„Nein. Unser Oberstleutnant hat heute gleich bei der ersten Nachricht erklärt, dass er den Putsch verurteilt. Das wäre ein Abenteurerstreich von Leuten, die nicht die Stimmung im Volke kennen."
„Achtung!" schrie jemand an der Tür.
Der Hauptmann war hereingekommen. Wir stellten uns stramm hin.
„Guten Abend, meine Herren!" Mit süßlichem Lächeln wandte er sich an Rockstroh. „Nun, Herr Oberwachtmeister, was treibt Sie so spät noch hierher?"
Die Frage war sicher nicht freundlich gemeint, sondern er misstraute dem Polizeilehrer. Vielleicht nahm er an, dass sich Rockstroh mit uns gegen die Offiziere beriet
„Ich wollte den Beamten sagen, Herr Hauptmann", entgegnete Rockstroh, ebenso lächelnd, „dass morgen früh der Unterricht ausfallen muss."
„Dann gute Nacht, meine Herren!" Der Hauptmann drehte sich kurz um und ging hinaus.
„Also jetzt wissen Sie, weshalb ich gekommen bin", sagte Rockstroh mit dienstlichem Gesicht, musste aber dann selbst lachen.
„Gut hat er's dem Hauptmann gegeben!" hörte ich jemand hinter mir.
Wir gingen zu Bett. Da kam der Hauptwachtmeister noch einmal herein. „Herr Renn, bestimmen Sie sofort drei Beamte. Die ganze Nacht sollen Streifen um die Offiziersbaracken gehen. Einer hat in der Kantine erklärt - im Norden des Lagers, wo die Wohnungslosen untergebracht sind -, dass sie diese Nacht die Offiziere ermorden würden!"
„Blödes Geschwätz ist das! Weiter nichts! Ich würde mich als Offizier schämen, solche Angst zu zeigen!"
„Lasst uns nur die Offiziere bewachen, die sind nu mal so!" sagte Müller verächtlich.
Ich ging mit der Streife hinaus. Es war eine stille Sternennacht und nicht sehr dunkel. Die Offiziersbaracke lag im Kiefernwald. Ein Kiesweg lief darum. Zwei Beamte mit Karabinern kamen uns entgegen. „Sind Sie auch zur Bewachung der Baracken bestimmt?"
„Ja, und von der achten Hundertschaft läuft auch eine Streife hier herum."
„Und da sollen auch wir noch hier patrouillieren?" Das war gewiss eine Kleinigkeit, aber ich ärgerte mich so darüber, dass ich noch im Bett keine Ruhe fand. Was hatten die Offiziere sonst immer für Töne über Mut geredet!
Am Morgen schickten wir mit Wissen des Hauptwachtmeisters den Müller, auf jeden Fall eine Zeitung zu besorgen. Er fuhr in Zivil auf einem Dienstrad davon und sollte, wenn es nötig wäre, bis nach Riesa.
„Hört mal!" kam einer herein. „Drüben bei der elften Hundertschaft hat der Leutnant Busenius vor der versammelten Beamtenschaft gesagt: ,Wir haben uns jetzt zu entscheiden, zu welcher Regierung wir stehen, zur alten oder zur neuen! Es kann nur die neue sein!'"
„Und was haben die Kameraden geantwortet?"
„Wir haben 'ne Versammlung gemacht und haben dem Leutnant den Beamtenrat geschickt mit der Frage, ob er im Auftrag seiner Vorgesetzten gesprochen hätte oder nur von sich aus."
„Gut habt ihr das gemacht! Und was hat er geantwortet?"
„Der Ausschuss ist noch nicht zurück."
„Sagt uns Bescheid, wenn ihr mehr wisst!"
Eine andere Stube hatte Beamte fremder Hundertschaften vor der Baracke aufgehalten und ausgefragt.
„Mensch, wie bei uns die Offiziere sind! Da brauchst du dir nur ihre Gesichter anzusehen! Sie beneiden ihre Kameraden von der Reichswehr, dass sie schon so weit sind!"
Müller kam mit der Zeitung. „Ihr macht euch ja keinen Begriff, wie das aussieht! Die Straßen voller Menschen! Die ganze Stadt Riesa ist in der Hand der Arbeiter. Eine furchtbare Wut haben sie auf Kapp und die Reichswehr, aber auch auf Noske, weil er die hat groß werden lassen!"
Wir gingen in die größte Stube. Müller stellte sich auf einen Schemel und las vor: „Meldung von gestern: Gegenrevolution in Berlin. Während der Nacht und in den frühen Morgenstunden sind aus Döberitz die Baltikumtruppen und die zu ihnen gehörenden Marinetruppen nach Berlin eingerückt. In den Nachtstunden waren die Regierungsgebäude von den Reichswehrtruppen noch abgesperrt, die aber im Laufe der Nacht vom Straßenbild verschwanden. Nunmehr ist der ganze Bezirk der Wilhelmstraße, Unter den Linden in der Nähe des Reichswehrministeriums von Baltikumtruppen besetzt. An den starken Kreuzungen sind Minenwerfer und Maschinengewehre aufgestellt. Kleine Bauernwagen halten neben diesen Wacht, die mit neuen schwarzweißroten Fahnen mit dem preußischen Adler geschmückt sind. Auf dem Wilhelmplatz spielen Musikkapellen alte preußische Militärweisen. Denen, die noch in Unkenntnis der neuen Lage zu ihren Arbeitsstätten eilen, wird von diesen Truppen erklärt, dass sie selbständig seien und dass die alte Regierung beseitigt sei. Auf telefonische Anrufe bei verschiedenen Regierungsstellen in der Wilhelmstraße wird von Unbekannten gesagt, dass eine neue Regierung mit dem Generallandschaftsdirektor Kapp in die Reichskanzlei eingezogen sei.
Die Sozialdemokratische Partei proklamiert den Generalstreik.' "
Müller machte eine Pause. „Jetzt kommen die heutigen Nachrichten: ,In den Straßen Berlins wird ein von Kapp unterzeichnetes Flugblatt verteilt, das die Grundsätze der neuen Regierung mitteilt: ... Finanz- und Steuerhoheit der Bundesstaaten auf föderativer Grundlage, völlige Beseitigung der Zwangswirtschaft, die Unterdrückung von Streiks!"
„Na, den Generalstreik sollen sie nur mal versuchen abzuwürgen! Diese Offiziere denken immer, mit Maschinengewehren kann man alles!"
„Jeder Satz des Flugblattes fängt mit den Worten an: Die Regierung wird ... In Wirklichkeit ist aber diese Regierung noch ganz auf die Straßen Berlins beschränkt und hat selbst dort in vielen Stadtteilen gar keine Anhänger gefunden. Ihre Grundfesten sind Antisemitismus, Monarchismus und Arbeiterfeindlichkeit. Noske ist jetzt von den ihn umgebenden Generalen zum Teufel gejagt worden, denen er so lange sein Vertrauen schenkte und deren Truppen er morden und plündern ließ."
Der Kamerad von der Elften kam wieder. Eben wollte er erzählen, was mit dem Leutnant Busenius und dem Beamtenausschuss geworden wäre, als der Hauptmann durch die Stuben ging. Wir versteckten den Verbindungsmann hinter zwei breiten Rücken. Als der Hauptmann wieder verschwunden war, berichtete er: „Wie der Ausschuss zum Leutnant in die Bude kam, da war der ungeheuer aufgeregt. ,Das nennt sich Polizei!' brüllte er gleich los. ,Ihr seid ja schlimmer als die Soldatenräte!' Aber unser Ausschuss blieb ganz ruhig und wiederholte solange seine Frage: ,Ist das die Meinung von Herrn Leutnant oder die der Offiziere?', bis der Leutnant sagte: ,Wenn Sie es durchaus wissen wollen, gehen Sie doch zu Herrn Major selbst!' Vielleicht dachte er, dass wir nicht wagen würden, zum Major zu gehen, oder dass der Major uns nicht empfangen würde. Aber der Major erklärte: ,Ich komme mit Ihnen zur Hundertschaft!' Sofort wurden alle zusammengerufen, und der Major sagte: ,Wir haben ausdrückliche Anweisung vom Landesamt der Sicherheitspolizei, dass wir zur Regierung stehen, das heißt zu
unserer Landesregierung, die mit der geflohenen Regierung Ebert zusammenarbeitet! Was der Leutnant Busenius vor Ihnen gesagt hat, ist nicht die Meinung der Polizei!' Endlich haben sie sich offen erklärt! Das hat bei uns einen guten Eindruck gemacht. Aber freilich die übrigen Offiziere, die standen da, als ob sie gefroren wären. Denen war das nicht recht! Und lasst irgendwas kommen, dann gehen sie doch zu Kapp über!"
„Ob wohl die Regierung weiß, was hier vorgeht?"
„Wir haben vorhin telefoniert. Der Finke von der Siebenten, der kennt den Ministerpräsidenten gut. Drüben vom Dorf aus hat er ihn angerufen."
„Und was hat der geantwortet?"
„Genossen, hat er gesagt, wir passen hier schon auf, dass die Offiziere nichts Dummes machen!"
„Habt ihr schon gehört?" kam noch einer herein. „Die zehnte Hundertschaft hat erklärt, sofort in den Polizeistreik zu treten, wenn sich die Offiziere für Kapp erklären!"
Am folgenden Morgen marschierte die Reichswehr ab, um sich mit anderen Kapp-Truppen zu vereinigen, wie man bei uns sagte.
Vor der Baracke rief einer: „Generalstreik der Eisenbahner! Kein Zug geht mehr, solange die verfluchten Monarchisten in Berlin sitzen!" Wir zogen ihn in die Stube herein, denn er hatte eine Zeitung. Müller musste wieder vorlesen: „,Die Lage der Berliner Staatsstreichler ist schon heute, zwei Tage nach ihrem Gewaltakt, derart, dass Herr Kapp und seine Genossen dem tatsächlichen Zusammenbruch nahe scheinen.'"
Ich hatte unsere Posten an der Kommandantur nachzusehen. Als ich zur Geschäftszimmerbaracke kam, standen da drei Offiziere. Ein Feldwebel sagte aufgeregt: „Sie haben uns mit falschen Nachrichten auf Exzellenz von Lüttwitz vereidigt. Das ist Landesverrat!"
„Ja, Landesverrat!" knurrte ein Soldat in drohender Haltung.
Die Offiziere schwiegen und schienen unschlüssig.
„Wir verlangen Auskunft!" Der Feldwebel zitterte vor Erregung. „Uns wird man einsperren wegen Landesverrat! Die Offiziere gehen immer frei aus!"
„Man wird Sie nicht einsperren", sagte der Hauptmann. „Weshalb sollte man denn?"
Der Feldwebel wurde rot. Er hatte etwas anderes sagen, seine Empörung anders hinausschreien wollen. „Auskunft verlangen wir! Wollen Sie uns gegen die rechtmäßige Regierung Ebert führen? - Dann verweigern wir den Gehorsam!"
„Ja, das ist es! Wir wollen sofort Auskunft!"
Aus der Tür der Geschäftszimmerbaracke trat unser Polizeimajor und wollte vorbeigehen.
„Herr Major!" sprach ihn der Feldwebel fast flehend an. „Wir bitten Sie als Zeugen. Sie stehen zur rechtmäßigen Regierung! Aber die Offiziere hier wollen uns dagegen führen! Das ist Landesverrat!"
„Ich gehöre nicht zur Reichswehr!"
„Aber Sie sind auch Offizier! Es geht doch nicht, dass wir zu einem monarchistischen Putsch missbraucht werden!"
„Sie können nicht einfach den Gehorsam verweigern!"
„Was sollen wir tun? Wenn wir unseren Offizieren gehorchen, verletzen wir unseren Fahneneid!"
„Ich bin überzeugt, dass Ihre Herren Vorgesetzten vorläufig nichts gegen die Regierung unternehmen werden. — Nicht wahr?" Er sah fragend den Reichswehrhauptmann an.
Der lächelte verächtlich. „Was sollten wir denn mit revoltierenden Mannschaften für einen Aufstand machen?!"
„Na also! Sie marschieren unter Ihren Offizieren nach Ihrem Truppenteil ab. Dort werden dann Ihre Angelegenheiten geregelt. Sind Sie bereit, das zu tun?"
Der Feldwebel sah zu Boden. Der Vorschlag bedeutete für ihn vollkommene Unterwerfung! Aber was sollte er auch machen, mit seinen drei Mann?
Er nickte und ging stumm fort. Die Soldaten standen noch den Offizieren halb drohend gegenüber. Dann drehten sie sich verlegen um und gingen auch.
Die Offiziere lächelten. Sie waren Sieger geblieben.
In unserer Stube erzählten sie, in Riesa hätten die Arbeiter Reichswehr entwaffnet.
„Reichswehr entwaffnet? Das ist allerhand!"
„Die eigentliche Truppe ist schon durchgewesen. Da ist die große Bagage hinterhergekommen mit einem Leutnant an der Spitze. Die Arbeiter waren doch alle auf der Straße wegen des Generalstreiks. Da haben sie gebrüllt ,Arbeiterschlächter!' und ,Noskehunde!'. Der Offizier hat seinen Reitstock erhoben. Aber im Nu hatten sie ihn vom Pferde heruntergezerrt und vermöbelt. Und wie sie den hatten, da haben sie auch die ganze Bagage entwaffnet. So was kann nämlich verflucht schnell gehen! Die Waffen sollen sie alle ins Volkshaus gebracht haben."
„Wachtmeister Renn! Sofort ins Abteilungsgeschäftszimmer!"
Was mochte los sein? Der Bote keuchte.
Ich lief zur Geschäftszimmerbaracke. „Herr Major wartet schon", sagte der Schreiber und öffnete die Tür. Der Major reichte mir ein Blatt Papier. „Hier ist ein Telegramm des Ministers des Innern: die Getreidevorräte im Riesaer Hafen sind vor Plünderung zu schützen. Leider steht mir gerade kein Offizier zur Verfügung - wenigstens keiner mit infanteristischer Erfahrung. Daher müssen Sie gehen. Sie bekommen einen Zug von fünfzig Mann mit und einen Maschinengewehrwagen. Außerdem einen Wagen mit Verpflegung, denn Sie können in den nächsten Tagen mit keiner Ablösung rechnen. Haben Sie dazu Fragen?"
„Herr Major, was für Meldungen sind über Riesa da?"
„Die Brücke, über die Sie müssen, soll von bewaffneten Arbeitern besetzt sein."
„Wäre es da nicht besser, weiter westlich über den Fluss zu gehen? In Strehla ist eine fliegende Fähre."
„Nein, gehen Sie nur über die Riesaer Brücke! - Wir haben gerade Sie ausgesucht, weil Sie ruhig sind und nicht ohne weiteres schießen werden. Über unsere Dienstvorschriften in der Hinsicht sind Sie sich doch klar? Sie dürfen nur von der Waffe Gebrauch machen, wenn Sie angegriffen werden oder um den Durchgang zu erzwingen, nach dreimaligem Anruf. - Hier haben Sie die beglaubigte Abschrift des Telegramms des Ministeriums zum Vorzeigen, wenn es nötig sein sollte."
Ich ging wie im Schlaf aus dem Geschäftszimmer fort. Es ist klar, ich muss mit den Arbeitern verhandeln! Aber wenn es doch zum Kampf kommt? Mit unseren Entlassungsuniformen vom alten Heer müssen sie uns für ein reaktionäres Unteroffiziersbataillon halten!
Der Hauptwachtmeister ließ die Hundertschaft heraustreten. Ich erklärte ihnen, welche Aufgabe wir hätten. Bei einigen sah ich, wie sich eine Blässe von der Nase her verbreitete. Die begriffen wohl, dass wir vielleicht in die unbewaffnete Menge hineinschießen sollten.
„Lasst sie auf uns schimpfen, was sie wollen! Kaltes Blut! Wir haben einen Getreideschuppen zu bewachen und nicht Streik zu brechen!"
Einige nickten mit ernsten Gesichtern.
„Noch eins! Nur anfangs marschieren wir in gewöhnlicher Marschkolonne. Wenn wir in die Nähe der Brücke kommen, lasse ich einen Halt machen, und dann nehmen wir jeder vom anderen Abstand, damit wir nicht zusammengedrängt werden können und dann hilflos sind. Dann bekommen auch die Wagen einen Seitenschutz. Also lasst euch nicht zusammendrücken. Sonst sind wir verloren! Wir können weder schlagen noch schießen, und sie reißen uns die Karabiner aus den Händen!"
Ich schickte einen Beamten in Zivil auf dem Rade voraus, um nachzusehen, was auf der Brücke wäre.
„Laden und sichern!" befahl ich. „Mit Gruppen rechts schwenkt, ohne Tritt - marsch!"
Ich ging voraus und versuchte, unbefangen zu erscheinen. Die Bäume am Straßenrand hatten knollige Stämme mit schwarzer geplatzter Rinde. Die Äcker waren leer und düster. Ein Dorf kam mit weißen Häusern und grauen Scheunen. Auf einem Blechschild stand das Wort: „Con-tinental-Pneumatik".
Auf dem Rade kam der Bote und stieg ab. Ich ließ halten. Er kam dicht heran. „Die Brücke ist auf dem jenseitigen Ufer besetzt. Zwei oder drei Arbeiter mit Gewehren stehen vorn. Dahinter ist alles schwarz von Menschen. Sie wissen schon, dass wir anmarschieren."
„Wie mögen sie das erfahren haben?"
„Die Straßen wimmeln von Radfahrern. Bei dem Streik strömt alles aus den Dörfern in die Stadt. Ich hörte, wie einer sagte, es ständen auch Maschinengewehre bereit. Aber wo, weiß ich nicht."
Mir rieselte ein Schauer über den Rücken. Ich richtete mich steif auf und ordnete die neue Marschkolonne an, einen halben Schritt Zwischenraum von Mann zu Mann. Die äußere Reihe sollte unter Umständen die Karabiner quer halten und nach außen drücken. Die hinteren sollten sie dann schützen.
Während wir so dastanden, hatten sich Neugierige aufgestellt.
Wir marschierten weiter. Vor uns lag schon über dem Bodennebel die Stadt mit einem Wasserturm und einer Kirchenkuppel. Die Straße bog rechts hinauf zu der eisernen Brücke. Was jenseits war, verdeckten noch die Eisenträger.
Rechts auf der Brücke liefen Eisenbahngleise. Drüben erschien die Menschenmauer, wirklich sehr viel! Wenn sie den Kopf verlieren und plötzlich schießen? Soll ich lieber schon hier halten lassen? Nein, das wäre ein Nachgeben. Dann käme ich gar nicht mehr hinüber.
Ich ging gleichmäßig weiter, sah mich nicht nach meinen Beamten um. Der Schritt hallte, die Wagen rumpelten auf der Eisenbrücke. Neben mir ging als Halbzugsführer Müller.
Wir waren schon in der Mitte der Brücke. Die Menschenmauer drüben bewegte sich nur wenig. Ein paar Radfahrer überholten uns und sahen uns neugierig ins Gesicht. Drüben drängte einer mit Gewehr die andern zurück. Die Gesichter waren schon zu erkennen. Ich hörte aufgeregte Worte! Mit Gewehren sah ich nur zwei.
Ich wollte auf dreißig Meter herangehen. Der Schritt dröhnte. Die Wagen rumpelten. Der eine mit Gewehr trat etwas vor und hob die Hand. Ich wandte mich um. „Abteilung - halt!"
Dann ging ich mit Müller bis in die Mitte zwischen beiden Fronten. „Ich möchte mit jemand von drüben verhandeln und bitte, dazu hier vorzukommen."
Von drüben lösten sich auch gleich zwei ab und kamen zu uns.
„Zunächst möchte ich betonen, dass wir nicht hier hergekommen sind, um ein Blutbad anzurichten. Wir sind überhaupt mit keinem politischen Auftrag da."
„Wie sollen wir Ihnen das glauben?"
„Hier ist mein Dienstausweis. Wir sind Polizei." Es gelang mir nicht, das mit der nötigen Selbstverständlichkeit zu sagen, denn wer sollte das nach unserm Aussehen glauben!
Er zuckte die Achsel. „Sie sind ein aus reaktionären Unteroffizieren zusammengesetztes Bataillon. Das sieht doch jeder an den Uniformen."
„Leider sieht es so aus, weil wir erst zusammengestellt worden sind und noch keine Bekleidung bekommen haben. - Habe ich es übrigens mit Gewerkschaftsfunktionären zu tun?"
„Ja, und wir wollen uns auch ausweisen, weil Sie so höflich waren, das zu tun." Auch er wies ein Papier vor, das ich mir aber in der Aufregung nicht genau ansah.
„Unser Auftrag ist nur, den Getreideschuppen im Hafen zu bewachen. Um politische Angelegenheiten werden wir uns nicht kümmern. Hier haben Sie das Telegramm des Ministers des Innern in Abschrift."
„Was nützt mir Stempel und Unterschrift, wenn ich den Herrn nicht kenne, der da unterschrieben hat! Das kann sonst was sein!"
„Ja, darin haben Sie recht. Wie soll ich Ihnen aber beweisen, dass ich nicht lüge?"
Wenn ich es nicht beweisen kann, muss ich den Durchgang erzwingen! Oder abziehen!
Ich sah hinüber. So weit der Platz reichte, schien sich das Menschenmeer zu erstrecken. Hinter uns kamen auch immerfort Neue und schlossen uns ein.
Da kam mir ein Gedanke. „Hier in Riesa ist doch der so genannte Kettenschulze. Den kenne ich. Lässt der sich nicht herrufen? Der würde Ihnen gleich sagen, dass ich kein Reaktionär bin!"
„Ja, der ist hier bekannt. Jetzt dürfte er im Volkshaus sein. Das ist aber ziemlich entfernt. Und unterdessen könnte es hier zu einem Kampf kommen. Die Arbeiter trauen Ihnen nicht - wenn ich Ihnen auch persönlich glaube."
„Vielleicht können wir telefonieren?"
„Ja, das ginge. Dort drüben von dem Hotel aus." Er zeigte über die Menschenmenge weg. Dort stand an einem Hause: „Hotel zum goldenen Schwan".
Ich sollte da durchgehen? Aber es musste sein! „Gehen wir!" Ich ging voraus, auf die Menschen zu. Sie wichen stumm vor mir auseinander. Ich sah ihnen ins Gesicht. Es waren harmlose Leute, wie überall.
Die Menschenmenge war nicht so tief, wie ich gedacht hatte. Ein Kellner öffnete aufgeregt die große Glastür und schwenkte sein weißes Tuch auf dem linken Arm. „Sie können das Hotel hier nicht besetzen! Das Haus ist voller Gäste!"
„Wir wollen nur telefonieren. Dann gehen wir sofort wieder."
Er rannte voraus und riss die Tür der Telefonzelle auf. „Hierher, bitte!"
Ich trat hinein. Die Tür wollte hinter mir zuschlagen. Einer trat mit dem Fuß dazwischen. „Wir werden nicht dulden, dass Sie allein telefonieren!"
„Das will ich auch gar nicht!" lachte ich. Erst dann fiel mir ein, dass sie sicher annahmen, ich wollte Verstärkungen herbeirufen.
„Hier Amt."
„Bitte Volkshaus ..."
„Hier Volkshaus."
„Kann ich den Kettenschulze sprechen?" „Mal sehen, ob er da ist."
„Hier Schulze." „Hier Renn."
„Wie kommst denn du hierher?" Er brüllte das so, dass es die Gewerkschaftler hören mussten.
Ich erklärte ihm unsere Lage und bat ihn, sofort herzukommen.
„Mich haben sie heute auch entwaffnet", sagte er etwas kleinlaut. Knack! machte es im Telefon. Die Verbindung war unterbrochen.
„Was jetzt?" wandte ich mich um.
„Wir sehen schon, es stimmt. Wir werden mit den Arbeitern sprechen und Ihrer Abteilung den Durchweg ermöglichen."
Der Kellner stand aufgeregt daneben.
„Was kostet das Gespräch?" fragte ich.
„Nichts, nichts! Bitt schön!" Er öffnete eilfertig die Tür, um uns wieder hinaus zu haben.
Wir gingen über den Platz. Die Menge öffnete sich wieder vor mir. Einige sahen mich erstaunt an. Das machte mich sicherer.
Ich trat vor meine Abteilung. Gerade fuhren zwei Wagen vorbei, hochbeladen mit Heu, und drängten die Beamten zusammen.
„Die Schwierigkeiten sind beseitigt!" rief ich. „Der Gewerkschaftssekretär wird uns selber begleiten!" Ich sah mich nach ihm um. Er winkte, wir sollten antreten.
„Ohne Tritt - marsch!"
Rechts und links standen stumm die Menschen.
„Halt! Halt!" schrie eine Stimme. Ein Eisenbahner fuchtelte mit den Armen. „Lasst euch nicht hinters Licht führen! Die Unteroffiziere behaupten, dass sie die Lebensmittel im Hafen zu bewachen hätten! Aber wir Eisenbahner haben uns selbst verpflichtet, sie zu bewachen! Das ist Beschiss!"
„Seht ihr, Beschiss ist's!"
„Wenn die in den Hafen kommen, dann werden sie merken, dass auch wir bewaffnet sind! Ohne Kampf kommen sie bei uns nicht herein!"
„Also doch Kapp-Truppen!"
Ich hob den Arm, dass meine Abteilung hielt. „Das ist ein Missverständnis!" Ich zwang mich, meine Unruhe nicht zu zeigen. Meine Leute waren jetzt vollkommen zusammengedrängt und konnten sich nicht wehren. „Ich gehe mit dem Eisenbahner sofort auf den Bahnhof! Wir marschieren erst weiter, wenn alles geklärt ist!"
Ich rannte fast durch die Menge und drückte rücksichtslos die Menschen auseinander. „Wo ist der Eingang?" Auch der Eisenbahner wurde unruhig. „Hier!" Er ließ mich durch eine Gittertür auf den leeren Bahnsteig und lief voraus. Nirgends ein Mensch.
In einem düsteren Raum saßen zwei ältere Beamte an Schreibtischen.
„Was gibt es?" fragte der eine und sah mich forschend an.
„Hier ist die Abschrift eines Telegramms. Hier ist ein Missverständnis! Meine Leute stehen draußen in der erregten Menge!"
Er las es durch. „Selbstverständlich." Er erhob sich liebenswürdig. „Sie können mit jeder Unterstützung rechnen." Er gab dem Eisenbahner Anweisungen. Der drehte seine Mütze in der Hand. „Jawohl! Sofort!"
Höchstens drei Minuten hatte das gedauert. Und jetzt musste es glatt gehen!
„Ihre Leute sind entwaffnet", sagte mir einer und ging unauffällig weiter.
Ich sah schon einen unserer Wagen uns entgegenkommen, den mit den Maschinengewehren.
„Wir sind entwaffnet." Der Beisitzer beugte sich zu mir herunter. „Jetzt sollen wir die Maschinengewehre noch zum Volkshaus bringen."
„Wir erwarten euch am andern Ufer", sagte ich mit einer Ruhe, über die ich mich selbst wunderte. „Macht aber schnell!"
Ein Bursche trat zu mir, ein kleiner, schwächlicher Kerl. „Haben Sie noch Waffen?"
Ich nahm meine Pistole aus der Tasche. Die war ja jetzt überflüssig. „Aber nimm dich in acht, sie ist geladen!"
Er hielt sie erschrocken in der Hand.
„So gefährlich ist das nicht!" Ich hatte ein Bedürfnis, freundlich zu sein, weil mir sehr weh war wegen meiner Leute. „Sieh her, nur wenn du das Ding da herumdrehst, kann die Pistole losgehen. Liefre sie im Volkshaus ab!"
„Jawohl!" sagte er, wie einer, dem sein Vater einen Befehl gegeben hat.
Meine Leute standen in der Menschenmenge und sahen mich alle an, als wollten sie sagen: Wir konnten nicht anders.
Müller wollte sprechen. Aber ich unterbrach ihn: „Weiß schon. - Ganze Abteilung - kehrt! Ohne Tritt - marsch!"
„Wir konnten nichts mehr machen!" flüsterte der Flügelmann. „Plötzlich kam der Ruf: Waffen abnehmen!, und da war nichts mehr zu machen."
Drüben ließ ich neben der Straße halten. Sie standen ordentlich in Reih und Glied und sahen zu Boden.
Hätte ich schießen lassen sollen? Eine Unzahl Tote und Verwundete. Die Zeitungen hätten vom Blutbad in Riesa geschrieben! Und die Offiziere hätten gesagt: Wie kann man auch gleich schießen!
Ein Hilfswachtmeister trat zu mir. „Mach dir keine Gedanken! Du bist nicht daran schuld. Wir wissen, was wir zu tun haben."
Ich sah ihm ins Gesicht, ehrlich sah er aus.
Schon sammelten sich wieder Menschen um uns, und wir waren ganz wehrlos.
Schließlich kamen die Wagen, und wir rückten durch den grauen Nachmittag ab.
Hinter dem Dorf kam uns unser Hauptmann in Zivil entgegen. „Was bedeutet das? - Unerhört! Dazu hat man Waffen! Das ist aber diese Schlappheit - diese Weichheit! Wie soll ich das nun verantworten!"
„Das verantworte ich!"
„Nein, so eine Schlappheit! Nicht einmal verteidigt haben sich diese Menschen! Wenn der Führer nicht da ist. fehlt jedes Verantwortungsgefühl!
„Herr Hauptmann!" Mir selbst hätte er vieles sagen können, aber meine Leute beleidigte er, und das brachte mich aus der Fassung. „Erkundigen Sie sich erst, wie es war! Wir fordern eine Untersuchung!"
„Ja, die sollen Sie haben. Die sollen Sie haben!"
Am Eingang des Lagers stand der Polizeimajor. Ich meldete ihm. Er blieb ruhig. „Lassen Sie die Abteilung wegtreten! Schreiben Sie einen genauen Bericht mit Lageskizze! Natürlich muss eine Untersuchung eingeleitet werden."
Vor der Baracke ließ ich die Abteilung wegtreten und ging in die Stube. Wir legten die Leibriemen ab. Niemand sprach ein Wort.
Ich nahm Schreibpapier, Tinte und Feder aus meinem Schrank und begann, den Bericht über die Entwaffnung aufzusetzen.
„Draußen schießt es!"
Wir rannten ins Freie.
In der Ferne, in der Richtung von Riesa Kanonenschüsse. Wer konnte dort schießen? Reichswehr? Es war Abenddämmerung. Nichts war mehr zu hören. Die andern gingen in die Stuben zurück. Ich aber war so erregt, dass ich allein stehen blieb, in die Nacht hinaushorchte und nachdachte.
„Renn?"
„Ja."
Der alte Rockstroh kam dicht an mich heran und schob seinen großen Kopf vor. „Es gibt Lagen, wo man es nur falsch machen kann. Ich weiß nicht, ob mir's besser gegangen wäre. Seien Sie froh, dass Sie nicht auch noch Blut auf dem Gewissen haben! - Weshalb stehen Sie denn hier?"
„Drin in der Stube habe ich keine Ruhe, und ich muss einen Bericht schreiben."
„Kommen Sie zu mir!"
„Was mag das vorhin für ein Schießen gewesen sein?"
„Wir zerbrechen uns auch den Kopf darüber, Reichswehr kann nicht dort sein, soviel wir wissen, und die Arbeiter haben doch keine Kanonen. - Hier wohne ich. Setzen Sie sich an den Tisch! Ich gehe noch einmal fort."
Ich begann wieder zu schreiben. Da wurde hastig an die Tür geklopft und auch schon geöffnet.
Müller war es. „Wo ist Rockstroh? Bei uns ist ein Leutnant in der Stube. Der schimpft in den gemeinsten Ausdrücken über die Entwaffnung. Die Kameraden sind so empört, dass sie schon auf ihn losgehen! Du musst sofort kommen, damit nicht was Dummes geschieht!"
Ich sprang auf, und wir rannten durch die Dunkelheit nach der Baracke. Als ich die Tür aufriss, stand ich dicht vor einem fremden Hauptmann. Er hatte den Leutnant an den Arm gefasst und wollte ihn hinausziehen. Aber der sagte: „Erbärmliches Pack!"
Die Beamten standen finster ihm gegenüber.
„Sie würden also", sagte ein Hilfswachtmeister, „von vornherein geschossen haben, Herr Leutnant?"
„Selbstverständlich! Da gehören blaue Bohnen hin, wo das Volk nicht gehorcht!"
„Bluthund!" sagte jemand leise.
„Ihr seid eben alle verhetzt! Ihr wollt die Verbrecher schützen, feiges Pack!" „Nehmen Sie das zurück?"
Der Leutnant und die andern waren so gereizt! Ich musste handeln, bevor ihn einer anpackte.
Ich trat zwischen ihn und meine Leute. „Hinaus! Ich bin Stubenältester! Und Sie haben hier nichts zu sagen! Über das andre sprechen wir an andrer Stelle!"
„Kommen Sie heraus!" drängte der Hauptmann.
Der Leutnant wandte sich noch einmal um. „Das geht Ihnen nicht gut aus! Einen Offizier hinauszuwerfen!"
Die Tür schloss sich. Es summte in der Stube. Überall platzte die Empörung los.
Was sollte ich tun? Das war natürlich ein Grund, mich zu entlassen. Das werde ich aber nicht abwarten, sondern meine Entlassung selbst fordern. Dann bin ich fort von dieser verfluchten Polizei! Gleichzeitig werde ich die volle Verantwortung für die Entwaffnung auf mich nehmen.
Ich ging an meinen Schrank, nahm ein Blatt Papier und schrieb gleich dort im Stehen, als ob es etwas ganz Nebensächliches wäre: „Ich bitte um meine Entlassung aus dem Dienste der Sicherheitspolizei, weil ich als Führer der auf der Riesaer Elbbrücke entwaffneten Abteilung die Verantwortung trage. Renn, Wachtmeister."
Das steckte ich in einen Briefumschlag und trug es nach der Offiziersbaracke, um es dem Hauptmann in seinen Briefkasten zu werfen.
Ich fühlte mich froh. Jetzt werde ich wieder frei!
Auf dem Rückweg begegnete mir Müller. „Eben ist einer aus der Stadt gekommen. Die Kanonenschüsse, das ist Reichswehr gewesen! In Riesa liegt nämlich Reichswehr, und wir auf der Brücke haben gar nichts davon gewusst!"
„Aber warum haben sie denn mit Kanonen geschossen?"
„Die Menge hat versucht, die Kaserne zu stürmen. Da haben sie plötzlich die großen Tore aufgerissen und haben mit Kartätschen in die Menge gefunkt."
„Mit Kartätschen! Auf die Entfernung!"
„Ja, das soll auch furchtbar gewesen sein. Der Platz davor ist noch jetzt voller Blut, erzählte der Bote."
Meine Heiterkeit war verschwunden. Mit Kartätschen in die Menge? Und wofür?
Bei Rockstroh war Licht. Er saß am Tische und sah auf. „Haben Sie wirklich den Leutnant hinausgeworfen?"
„Ja."
„Das verstehe ich nicht! Sie sind doch sonst nicht unüberlegt!"
„Sollte ich etwa warten, bis einer der Kameraden ihm eine in die Fresse haut? Sie hätten dabeisein sollen, wie er sie aufgereizt hat! - Und dann bei der Verhandlung gegen den, dem endlich die Geduld geplatzt ist, wird der Richter ihm
als mildernde Umstände zubilligen, dass der Leutnant ihn vorher beleidigt hat!"
„Ja, hat er sie denn beleidigt?"
„Erbärmliches Pack! und feiges Pack! - ist das etwa keine Beleidigung?"
„Und Sie haben den Leutnant der Stube verwiesen, damit es zu keinen Tätlichkeiten gegen ihn kommt?"
„Nein, daran habe ich nicht gedacht. Für einen wie den kann man wohl keine Sympathie haben! - Ich habe so gehandelt, damit meine Kameraden sich nicht schuldig machen und dann reinfliegen!"
„Na, da ist kein großer Unterschied! Lassen Sie mal jetzt Ihren Bericht und schreiben Sie den Vorgang mit dem Leutnant auf! Und vergessen Sie ja nicht, zu sagen, dass Sie so handeln mussten, um Schlimmeres zu verhindern! - Sie begreifen noch nicht, warum?"
„Sie wollen mich retten. Das verstehe ich schon. Aber ich habe gekündigt."
„Gekündigt? Das war nicht richtig. Heute waren zwei der Polizeilehrer in Zivil in der Stadt. Es ist festgestellt, Sie wären zusammengeschossen worden, wenn Sie versucht hätten, den Brückenübergang zu erzwingen. Ihnen gegenüber, auf den Dächern, standen zwei Maschinengewehre, und außerdem soll eins auf dem Fluss gewesen sein. Auch Ihr Hauptmann hat mir eben gesagt, dass Sie, nach seiner jetzigen Kenntnis der Lage, richtig gehandelt haben. Und Sie haben der Menge dadurch imponiert, dass Sie allein durch sie durchgegangen sind."
„Das mag alles sein. Aber ich will fort von der Polizei! Ich gehöre nicht mehr hierher. Ich kann das auch nicht mehr mitmachen! Und was die Offiziere eigentlich vertreten, das wissen Sie doch selbst!"
„Schreiben Sie nur Ihren Bericht. Das übrige wird sich finden."
Am Morgen gab ich meine Meldung über den Leutnant dem Hauptwachtmeister. Dann ging ich zu Rockstroh, um weiterzuschreiben. Aber bald klopfte es. Ein Unterwachtmeister meiner Stube kam herein, ein zweiter stellte sich daneben. Fünf kamen herein.
„Wir kommen als Beamtenausschuss zu dir. Die Hundertschaft hat erfahren, dass du deine Kündigung eingereicht hast, und schickt uns, um zu erfahren, ob das stimmt und warum du das getan hast."
„Ja, es stimmt. Ich habe es getan, weil ich als Führer die Verantwortung für die Entwaffnung trage."
„Das ist alte Militärauffassung. Die erkennen wir nicht an! Damals haftete der Vorgesetzte für seine Untergebenen. Jetzt, nach der Revolution, haftet jeder nur dafür, was er selbst getan hat. Und wir sind entwaffnet worden, während du nicht da warst. Wir sind selbst schuldig und werden dafür eintreten."
„Die Offiziere wollen aber ein Opfer haben, um sagen zu können, der Schuldige ist bestraft worden."
„Richtig, die Offiziere wollen dich fort haben, weil du zuviel von ihren Schiebungen weißt. Und da nehmen sie diesen Vorwand. Die ganze Hundertschaft sagt das und fordert von dir, dass du deine Kündigung zurückziehst. Sonst wird sie geschlossen kündigen, um mit dir fortzugehen. Das ist eben beschlossen worden."
„Ihr tut etwas Falsches! Ihr dürft nicht das Los der Hundertschaft von einer einzelnen Person abhängig machen. Einige von euch sind verheiratet."
„Das ist ja nicht wegen deiner Person, sondern weil es grundsätzlich wichtig ist. Die Offiziere wollen dich hinausdrängen, weil du ihnen politisch nicht passt. Wenn wir ihnen das durchgehen lassen, dann werden sie bald alle entlassen, die nicht deutschnational sind wie sie."
„Aber was soll ich machen? Die Kündigung ist sicher schon beim Abteilungskommandeur. Wie soll ich die denn zurückziehen?"
„Wir gehen selbst zu ihm. Können wir von dir erklären, dass du deine Kündigung zurückziehst?"
„Ja."
„Wir werden außerdem fordern, dass der Leutnant, den du rausgeworfen hast, sich vor der Hundertschaft wegen der Ausdrücke Feiglinge und jämmerliches Pack entschuldigt."
Sie gingen hinaus.
Nach einer Weile klopfte es wieder. „Sofort zu Herrn Major!"
Ich ging langsam und versuchte mir klarzumachen, was er mir sagen würde und was ich antworten sollte. Aber ich war verwirrt, und die Gedanken liefen mir immer davon.
Sofort ließ man mich bei ihm ein. Niemand war sonst da. Er lächelte etwas. „Der Beamtenausschuss war bei mir. Sie wollen also Ihre Kündigung zurückziehen? Ich muss Sie auch darum bitten, weil wir bei den äußerst zugespitzten innerpolitischen Verhältnissen keine Erschütterung innerhalb der Polizei brauchen können. Sie werden also im Dienste bleiben. Im übrigen warte ich auf Ihren Bericht über die Entwaffnung."
„Ich kann ihn in einer Stunde abliefern."
„Gut. Wir werden heute Nachmittag mit der Vernehmung der übrigen Teilnehmer beginnen. - In Bezug auf Ihre persönliche Angelegenheit stehe ich natürlich nach wie vor auf dem Standpunkt, dass der Führer für seine Abteilung haftet, auch wenn er bei der eigentlichen Entwaffnung nicht unmittelbar dabei war."
In der Zeitung stand: „In Leipzig ist die Empörung über das brutale Vorgehen der Zeitfreiwilligen ungeheuer. Es ist erwiesen, dass sie auf waffenlose Menschen aus dem sicheren Hinterhalt geschossen haben. Viele Frauen und Kinder sind unter den Opfern des grundlosen Gemetzels. Einer der Hauptorganisatoren der Zeitfreiwilligen, die hauptsächlich aus Korpsstudenten bestehen, ist ein Privatdozent der Universität, der als Monarchist und Judenfresser bekannt ist. Die Reichswehr hat einen Angriff auf das Volkshaus gemacht, es zerschossen und schließlich niedergebrannt. Unzweifelhaft liegt planmäßige Brandstiftung durch die Reichswehr vor. Arbeiter, die in die Hände der verhetzten Soldateska fielen, wurden verprügelt und auf jede Weise misshandelt. In Dresden rückten Reichswehr und Zeitfreiwillige mit Panzerautos und Maschinengewehren auf den Postplatz und richteten dort ein Blutbad an, das über fünfzig Tote und eine große Zahl Verletzte kostete."
Am Nachmittag ging ich in Zivil mit einem der Polizeilehrer nach Riesa. Wir sollten feststellen, wie man die Waffen wiederbekommen könnte. Wir gingen über die Brücke, die jetzt unbesetzt war, nach dem Rathaus. Dort mussten wir eine Zeit warten, bis wir von dem Polizeiwachtmeister, oder was er war, vorgelassen wurden. Der saß in einem kleinen Zimmer und tat, als wären wir für ihn vollkommen Luft. In seiner breiten Brust rasselte es bei jedem Atemzuge.
„Die Waffen?" sagte er. „Die werden Sie jetzt nicht so leicht bekommen. Aber warten Sie doch ein paar Tage, bis sich das beruhigt hat. Dann werden wir mit der Sozialdemokratie verhandeln. - Sehen Sie, da draußen läuft so 'ne SPD-Gurke!" Er deutete zum Fenster hinaus. Über den Platz kamen zwei Männer in Mänteln. „Das sind zwei von den Führern, Lehrer, eine falsche Bande. Schade, dass Sie vorgestern auf der Brücke nicht hineingeschossen haben!" Das sagte er gönnerhaft mit höhnisch zugekniffenen Augen.
Das Benehmen dieses vollgefressenen Kerls ärgerte wohl auch den Polizeilehrer, und er fragte: „Wo war eigentlich die städtische Polizei an diesem Tage?"
„Wo die war?" erwiderte er boshaft. „Warum haben Sie uns denn nicht verständigt? Mit landfremdem Gesindel, was da angereist gekommen ist, lassen wir uns nicht ein!" Das war wieder die Redensart von dem landfremden Gesindel! Die schien ja nur dazu zu dienen, um damit eigene Fehler zu entschuldigen.
Auf dem Wege zur Reichswehrkaserne fanden wir eine Straße ganz leer. Das fiel uns auf. Weil wir es uns aber nicht erklären konnten, gingen wir weiter. An der nächsten Ecke kam von rechts in Schützenlinie Reichswehr, das Gewehr schussbereit. Einige riefen immer wieder: „Fenster zu!"
Wir wollten weiter. Aber mehrere Soldaten hoben einfach ihre Gewehre in Anschlag. Da verschwanden wir eilig um die Ecke und mussten einen Umweg machen.
Vor der Kaserne waren an den Häusermauern die Geschoßeinschläge zu sehen. Im übrigen war natürlich aufgeräumt
Hier ließen sie uns noch viel länger warten. Dann kam ein Offizier. „Wir werden eine Unternehmung gegen das Volkshaus machen. Wenn wir dabei Ihre Waffen bekommen sollten, teilen wir es Ihnen mit." Das sagte er schroff, drehte sich um und verschwand hinter einer Tür.
Am nächsten Tage stand der Rücktritt von Kapp und Lüttwitz in der Zeitung.
„Kapp geflohen. Die Baltikumtruppen ziehen ab. Noske bleibt."
Die Sozialdemokratie brach den Generalstreik ab, ohne die aufständischen Truppen zu entwaffnen und die Offiziere abzusetzen.
Jetzt zog ein Hauptmann mit einer Abteilung nach dem Riesaer Hafen. Das war nicht mehr schwer, denn die Brücke war nicht besetzt.
Gegen Abend kam der Leutnant, den ich hinausgeworfen hatte, in unsere Stube, zusammen mit unserem Major, und musste sich entschuldigen. Wir waren angetreten. Der Leutnant sprach vor sich hin und sah dabei zu Boden. Ich erwartete jeden Augenblick, dass er wieder etwas sagen würde, was einen neuen Streit hervorriefe. Aber der Major war wohl mitgekommen, um das zu verhindern. Sie gingen wieder hinaus.
„Ich hatte gedacht", sagte ich zu Müller, „sie würden auch von dem Rausschmiss des Leutnants etwas sagen." „Die werden sich hüten!" „Warum?"
„Denkst du, die wollen noch so einen Fall haben wie mit der Verantwortung wegen der Entwaffnung? Heute haben mehrere Hundertschaften erklärt, dass sie in den Polizeistreik treten wollen, wenn du entlassen wirst. Wenn sie dir jetzt mit dem andern Fall kommen, dass du den Leutnant rausgeschmissen hast, dann kannst du mit Bestimmtheit rechnen, dass die Aufregung noch viel größer wird! Dann heißt es: Seht ihr, wie sie's machen, wenn sie ihn auf die eine Weise nicht hinauskriegen, dann machen sie's auf die andere! Diese Sache, mein Lieber, werden sie nicht wieder anrühren!"
Ein fremder Unterwachtmeister war in die Stube gekommen. Ich ging auf ihn zu. „Was möchtest du?"
„Ich möchte dich sprechen. - Und nimm deine Mütze mit!"
Was hat der vor, dachte ich. Na, wir werden ja sehen.
Ich setzte die Mütze auf und ging hinaus.
Er ging die Straße entlang, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Norden des Lagers, wo die Zivilisten wohnten. Dort trat er in eine Kantine. Viele Leute saßen darin und qualmten.
„Der dort will dich sprechen", deutete der Unterwachtmeister auf einen, der allein an einem Tisch saß. Sein Gesicht kannte ich irgendwoher.
Ich setzte mich zu ihm an den Tisch.
„Kennen Sie mich noch? Vom Arbeiterrat im Schloss. -Heute bin ich mit dem Polizeioberst herübergekommen -ich bin der Regierungskommissar bei der Polizeigruppe. Hier ist vielleicht der beste Ort, um allein mit Ihnen zu sprechen. Sie wissen vielleicht, dass die Offiziere Sie forthaben wollen. Aber wir in der Regierung wollen Sie halten."
Er machte eine Pause und beobachtete mich. Dieses ganze Hintenherum gefiel mir nicht. Und wozu wollten sie mich halten? Da steckte etwas dahinter!
„Ich möchte nicht von Ihnen gehalten sein", sagte ich.
„Warum nicht?"
„Weil ich mit Ihnen..." Wie sollte ich das sagen? Vor diesen Füchsen muss man sehr vorsichtig sein. „Weil ich mit Ihnen nicht übereinstimme."
„Aber das hindert Sie doch nicht, unsere Hilfe anzunehmen?"
„Ich wünsche mich Ihnen nicht zu verpflichten!" „Dann werden Sie entlassen werden." „Nu, gut!"
„Sie könnten aber etwas in unsern Reihen werden!" Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. „Ich verkaufe mich nicht!"
Er blieb vollkommen ruhig.
„Sie weisen also unsere Hilfe strikt zurück?"
„Ja."
„Wir werden uns trotzdem für Sie einsetzen."
Ich stand auf, grüßte kurz und ging hinaus. Ich hatte eine solche Wut, dass ich den ganzen Weg über laut vor mich hin schimpfte.
Als ich zu unserer Stube zurückkam, erzählten sie eben von unserm Polizeioberst, der heute angekommen war.
„'ne ulkige Nummer!" sagte einer. „Die Stiefel hat er von meinem Großvater geerbt!"
„Wie der hat von Chemnitz hier herfahren wollen, um seine Gruppe zu übernehmen, ist er in Uniform auf den
Bahnhof. Das war aber am zweiten Tag des Putsches. Alles war schon von den Arbeitern besetzt. Die haben ihn gleich festgenommen, in ein Hotel gebracht und ihm einen Bewaffneten vor die Tür gestellt. So hat der einige Tage im besten Zimmer des Hotels umsonst gewohnt."
„Die Arbeiterschaft muss noch vieles lernen!" sagte Müller. „Die Offiziere gehen nicht so rücksichtsvoll mit den Arbeiterführern um. Die stellen sie an die Wand und erschießen sie!"
„Achtung!" Die Tür hatte sich geöffnet, und ein Mann mit einer braunen Strickweste und einem blauen Rock kam herein, hinter ihm ehrerbietig der Oberstleutnant, der Major und eine Menge anderer Offiziere. War das ein Minister? Unglaublich ruppig war er angezogen.
„Bitte, meine Herren!" sagte der Mann und machte eine halbe Verbeugung. „Ich bin der Oberst von Migliotti, Ihr Gruppenkommandeur. Wir sind nicht beim Militär, sondern bei der Polizei. Wir müssen uns das militärische Achtungrufen und Strammstehen abgewöhnen. Wir machen Verbeugungen. Sehen Sie, so!" Er verbeugte sich ziemlich tief vor uns. „Wo ist der Wachtmeister Renn?"
„Hier!"
Er sah mich mit kleinen grauen Augen durch seinen schiefsitzenden Klemmer an. Übrigens war er unrasiert und sah auch ungewaschen aus.
„So? Ich habe Ihren Bericht zum Landesamt geschickt Das wird darüber zu sprechen haben. - Gute Nacht, meine Herren!" Er machte wieder eine Verbeugung und ging hinaus. Die Offiziere hinter ihm standen steif. Ich sah noch die Hosen des Obersten, als er hinausging. Die hingen um ihn herum wie Pumphosen und waren in ungeputzte Ledergamaschen hineingewürgt
Einen Augenblick war Stille.
„He! Habt ihr den schmutzigen Kragen gesehen? Und keinen Schlips, sondern nur ein altes Halstuch!"
„Und an der braunen Strickweste die Knopflöcher ausgerissen!"
„Mein Schwager sieht so aus, wenn er Rüben fährt!" „Mit der Verbeugung, das ist doch Mist! Da stelle ich mich vor den Hauptmann hin und mache ihm eine Verbeugung. Und er macht mir 'ne Verbeugung. Ich sage: ,Wie geruhten Sie zu schlafen, Herr Hauptmann?' - Er sagt: ,Ich hoffe dasselbe von Ihnen.' Und schließlich will ich ihm weiter nichts sagen, als dass im Scheißhaus das Rohr geplatzt ist! - Wenn das die Errungenschaften der Revolution sein sollen, dann weiß ich ja nicht!"
„Wisst ihr was? Wir fragen mal den alten Rockstroh, was der von den Verbeugungen denkt."
Der alte Rockstroh kam bald darauf zu uns in die Stube. „Kinder, die ganze Polizeigruppe regt sich über die Verbeugungen auf. Macht doch welche, wenn man es von euch verlangt! Ist das so eine wichtige Frage?"
„Aber wir können das nicht! Das passt nicht zu uns, Verbeugungen zu machen! Ist das schon je bei der Polizei üblich gewesen?"
Er lachte. „Regt euch doch nicht auf! Der Oberst will das nun mal so! Seine Offiziere werden ihm sagen, dass es nicht geht. Warum kümmert ihr euch um Sachen, die schon von andern gemacht werden?"
„Also, Sie halten es auch nicht für richtig?" fragte Müller.
„Natürlich passt das nicht zur Polizei."
„Das haben wir ja nur wissen wollen."
„Sollten wir nicht mal zusammenlegen und dem Oberst eine neue Strickweste schenken?" sagte einer.
„Pst! Pst, Kinder! Der Oberst gibt nichts auf seinen Anzug. Aber vielleicht ist er besser als einer, der Lackstiefel trägt."
Der Dienstunterricht wurde jetzt wieder regelmäßig gegeben. Mein Bericht über die Entwaffnung kam vom Landesamt zurück mit einigen nebensächlichen Bemerkungen. Als Fehler wurde mir nur vorgeworfen, dass ich dem Müller die Abteilung nicht ausdrücklich übergeben hätte, als ich durch die Menge zum Bahnhof ging. Da aber Müller schon vor der Front stand, so war es selbstverständlich, dass er mein Vertreter war. Ich fasste diese Bemerkung so auf, dass das Landesamt etwas aussetzen wollte. Die Vorgesetzten pflegen ja der Meinung zu sein, dass sie immer etwas aussetzen müssen, und wenn es nur eine Ausrede ist
Am nächsten Tage trat die ganze Polizeigruppe an. Sie stand in großem Viereck. Der Oberst kam diesmal in Uniform. Er begrüßte uns und sprach dann über die Vorfälle der letzten Zeit. „Dass sich eine Abteilung entwaffnen ließ, ist natürlich für eine gute Polizei unmöglich." Was? Wir schlechte Polizei? „Die Entwaffnung muss nicht nur missbilligt, sondern aufs schärfste verurteilt werden!"
So? Dafür wirst du die Quittung kriegen!
Er sprach weiter und entließ uns dann. Ich lief in die Stube. Das Herz klopfte mir. Ich sah nicht rechts noch links. Ich riss aus meinem Schrank einen Bogen Papier.
„Ich fordere meine sofortige Entlassung. Das Landesamt hat meinen Bericht über die Entwaffnung der Polizeiabteilung auf der Riesaer Brücke zurückgeschickt, ohne eine Möglichkeit anzugeben, wie die Abteilung hätte anders handeln können. Trotzdem hat Herr Oberst von Migliotti bei seiner heutigen Ansprache an die Polizeigruppe die Entwaffnung nicht nur missbilligt, sondern aufs schärfste verurteilt, ohne anzugeben, wie die Entwaffnung zu vermeiden war. Er hat uns also verurteilt, ohne unsere Schuld nachzuweisen. Nach dieser unbegründeten öffentlichen Verurteilung kann ich nicht bei der Sicherheitstruppe bleiben und fordere meine sofortige Entlassung.
Ludwig Renn, Wachtmeister."
Ich faltete das Blatt zusammen, steckte es in einen Briefumschlag und trug es ins Geschäftszimmer, wo eben der Hauptmann Unterschriften leistete. Dann ging ich - ja wohin? Ich wollte niemand sehen, von niemand ausgefragt werden! Ich ging auf der Straße auf und ab. Die Sonne schien. Das ärgerte mich fast. Jeden Menschen betrachtete ich, ob er mich nicht von meinem Plan abbringen wollte. Rache wollte ich nehmen und mich von niemand dabei stören lassen! Dabei fühlte ich mich nicht wohl. Ich hatte einen heißen Kopf und kam immerfort in Wut. Wenn mich der Hauptmann kommen ließe? Sicher wird er versuchen, mich einzuschüchtern. Die Wut packte mich bei dem Gedanken. Oder der Major versuchte zu vermitteln. Nein, ich will mit dem Oberst selbst sprechen! Aber was soll ich ihm sagen?
Ich fühlte, dass meine Lage nicht günstig war. Die Sozialdemokratie hatte nach dem Kapp-Putsch nachgegeben und auf alle Machtstellungen verzichtet! Jetzt konnten die Offiziere wieder frech werden! Ein Beamtenstreik jetzt nützte nichts. Man würde die Beamten entlassen und neue einstellen!
„Wachtmeister Renn!" Ein Hilfswachtmeister kam angerannt. „Herr Oberst will Sie sofort sprechen!"
Ich war nicht vorbereitet, dass es so schnell kam, was ich gewollt hatte, und fühlte mich unsicher. Aber wenigstens nach außen musste ich Ruhe zeigen!
Er führte mich ins Geschäftszimmer und ließ mich zum Oberst hinein. Der saß an seinem Schreibtisch und drehte sich mit seinem Stuhl herum. „Setzen Sie sich! - Aber, lieber Renn, wie kann man gleich so wild werden!" Er lächelte nicht, sondern sah mich eigentümlich gerade durch seinen schiefen Klemmer an. Beim Sprechen leckte er sich die Lippen und seinen verwilderten Schnurrbart. „Wir alten Soldaten haben so oft etwas einstecken müssen und waren überzeugt, dass der Vorgesetzte ein Esel war. Das ist so beim Militär und bei der Polizei auch." Er lächelte aus seinem dunklen Gesicht mit der riesigen schmalen Nase. „Ich musste Sie verurteilen, nicht weil Sie schuldig sind, sondern weil ich verhindern muss, dass Entwaffnungen zur Gewohnheit werden. Sehen Sie das ein?"
„Nein, Herr Oberst. Entwaffnungen werden nicht zur Gewohnheit, kein Polizist will sich entwaffnen lassen!"
„Aber wenn sie glauben, dass es straflos abgeht, dann geben sie bei jeder Schwierigkeit gleich die Waffen ab."
„Wir haben die Waffen nicht gleich abgegeben! Herr Oberst haben das nicht erlebt! Es handelte sich darum, ein Blutbad zu vermeiden, das die Wut der Massen aufs höchste gesteigert hätte. Was hätten Sie gesagt, wenn mein Verhalten die gesamte Linkspresse in Wut gebracht hätte?"
„Natürlich durften Sie das nicht. Aber Sie sind nun einmal der Mann, der die Abteilung kommandierte. Wer Vorgesetzter ist, muss die Verantwortung tragen."
„Ich trage die Verantwortung dafür, was ich verschuldet habe. Das Landesamt hat mir keine Schuld nachweisen können."
„Das ist ein Zivilstandpunkt. Aber sehen Sie sich einmal an, was Sie anzurichten im Begriff sind! Sie wissen selbst, wie neulich der Beamtenausschuss bei Herrn Major war. Glauben Sie nicht auch, dass Ihre Hundertschaft geschlossen kündigt, wenn Sie jetzt fortgehen?"
Darauf war ich nicht vorbereitet. „Ja, vielleicht", sagte ich und war mir nicht klar darüber.
„Sie wollen also deswegen, weil Sie sich persönlich beleidigt fühlen, Ihre Hundertschaft zu einem so weittragenden Schritt bewegen? Ihre Hundertschaft könnte sich noch viel mehr beleidigt fühlen als Sie, da Sie doch bei der Entwaffnung gar nicht da waren! Sie zu bestrafen, daran denkt gar niemand! Was wollen Sie also?"
Er will mich zum Zurückziehen meiner Kündigung bewegen? Und ich soll hier bleiben? Und immer noch von diesen Offizieren abhängig sein? „Ich muss fort!" sagte ich. „Wenn ich wieder in so eine Lage komme wie auf der Riesaer Brücke, da kann es mir wieder geschehen, dass ich entwaffnet werde." Ich erschrak. Wie hatte ich das sagen können!
„Ach so!" sagte er freundlich. „Sie haben ein - nun sagen wir, ein kommunistisches Herz und sympathisieren mit den Massen. Da will ich Ihnen einen Vorschlag machen. Hier zerreißen Sie Ihre Kündigung, die so unübersehbare Folgen haben kann. Und ich werde Sie in eine Stellung bringen, wo Sie nach Beruhigung der Verhältnisse fortgehen können und wo Sie nicht in solche Lagen kommen können wie auf der Riesaer Brücke." Er hielt mir meine Kündigung hin. Ich hatte ihm eine Schwäche gezeigt. Was sollte ich nun machen? Ich nahm das Papier und zerriss es. Ich zerriss es immer weiter, so elend war mir zumute.
Er schlug mich auf die Schulter. „Also ich werde Sie von der Hundertschaft wegnehmen und Ihnen einen anderen Posten geben."
Ich schlich hinaus. Wie sollte ich vor die Kameraden treten? Zuerst hatte ich in meiner Wut nicht bedacht, was ich tat. Und dann hatte ich meinen Feinden die Möglichkeit gegeben, mich von da fortzunehmen, wo ich gefährlich war, und konnte nichts dagegen machen. Das alles durch meine Schuld. Ich hätte zuerst mit den Kameraden sprechen müssen! Nicht als Einzelperson handeln, sondern organisiert!
Das hatte ich wieder vergessen. Was sollte ich nun den Kameraden sagen? Sie mussten mich verachten!
Ich ging die Straße entlang und aus dem Lager hinaus.
Als ich nach längerem Umherirren zur Hundertschaft zurückkam, wusste niemand etwas. Meine Kündigung hatte nur der Hauptmann, der Major und der Oberst gesehen. Aber ich konnte trotzdem niemand ins Gesicht schauen.
An diesem Abend setzte sich der Müller zu mir und legte mir den Arm um den Nacken. „Lass dir die Sache nicht so zu Herzen gehen. Wir werden es dem Oberst schon noch zeigen."
„Jetzt habt ihr keine Mittel mehr dazu." „Warum keine Mittel mehr?"
Weil ich euch verraten habe, dachte ich, und der Kummer kam so gewaltig über mich, dass mir die Tränen auf das Buch fielen, in dem ich las. „Seit die Sozialdemokraten den Generalstreik abgebrochen haben, nützt euch die Massenkündigung nichts mehr, sondern die Offiziere sind froh, wenn sie euch so billig loswerden."
„Die andern Hundertschaften erklären sich mit uns solidarisch!"
Ich versuchte mir die Tränen abzuwischen, ohne dass er es sähe. Aber er sah es und streichelte mir den Rücken.
„Während des Kapp-Putsches", sagte ich, „hat die Werbung für die Sipo gestockt, weil die Arbeitslosen nicht zur Polizei gehen, wenn es zu Zusammenstößen mit der Arbeiterschaft kommen kann. Aber jetzt strömen sie nur so zur Polizei. Es ist schon wieder ein großer Schub angemeldet. Glaubst du, dass die Neuen sofort wieder mit uns zusammen kündigen werden, wo sie vielleicht mit dem ersten Geld angefangen haben, ihre Schulden zu bezahlen?"
„Da unterschätzt du die proletarische Solidarität!"
„Du vergisst, dass die Offiziere jetzt wieder freie Hand haben. Hast du nicht gehört, wie bei allen Hundertschaften auf einmal ein ganz scharfer Kurs losgegangen ist? Unser Hauptmann hat heute auch nicht umsonst über schlappes Benehmen gewettert!"
Erst nach einer Woche fand ich mich so weit wieder, dass ich nicht mehr ununterbrochen daran dachte, wie ich vor dem Oberst zusammengebrochen war. Müller sprach oft mit mir. Er sah auch, wie die Reaktion Oberhand gewann und wie die Offiziere versuchten, alle zu entlassen oder durch militärischen Bims hinauszuekeln, die gewagt hatten, sich als Beamtenausschüsse und sonst ihnen zu widersetzen. |
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