SIEBENTES BUCH
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Es kommt der Tag...
Da, wo heute die alte Fabrik ihren schwarzen Rauch zum Himmel schickt, umringt von tausenden niedrigen Häusern, da wird eine nie gesehene Stadt stehen. Die Schlote werden verschwinden, denn es wird keinen Rauch geben. Das Donnern und Krachen wird verstummen, denn die lärmenden Zahnräder werden durch geräuschlose Antriebe ersetzt werden. In den Werkstätten wird es still, sauber und hell sein wie in einem Laboratorium, denn Universalautomaten mit Einzelantrieb werden die Transmissionen verdrängen und sie in die Museen verbannen.
Es kommt der Tag...
Da werden die durchsichtigen Stockwerke der sozialistischen Stadt zum Himmel ansteigen, und der alte Mochow wird von diesen Stockwerken aus verwundert Umschau halten nach den Schloten der Martinöfen, die verschwunden sind. Und sein Sohn wird ihm von dem letzten Aufstand der Marokkaner erzählen und davon, dass die rote Fahne auf dem Eiffelturm weht. Und dann wird Mochow zurückdenken an die ferne Vergangenheit, zu der der heutige Tag geworden sein wird, und viele von denen, die heute mit ihm zusammen für diese Zukunft kämpfen, wird er nicht mehr um sich haben.
Manche werden unterwegs umsinken, wenn ihr Herz aufhört zu schlagen. Andere, die den Glauben an das Gelingen des großen Werks verloren haben, werden abirren vom Wege. Wieder andere werden in grandiosen Schlachten ihr Leben lassen. Noch andere wird die Revolution Tausende von Kilometern weit hinwegschleudern — dahin, wo der Kampf am heißesten brennen wird.
Viele werden das Ziel nicht erreichen. Aber Tausende Hundertausende, Millionen und aber Millionen von Menschen, die unaufhaltsam vordringen wie eine Lawine, gewaltig wie ein Bergrutsch — die werden das Ziel erreichen.
So ist es im Gebirge: der eine stürzt in einem Abgrund, den. eine trügerische Schneedecke verhüllt, der andere erfriert langsam im heulenden, pfeifenden Schneesturm, und der dritte läuft ganz einfach zurück in die Stille des Tals. Aber die anderen erreichen den Gipfel des Berges. Und welch eine Aussicht eröffnet sich ihren Augen...
Es kommt der Tag!
Heute aber sind Mochow und Sascha und Wartanjan und Sharow und alle die Tausende, mit denen sie das Leben verbunden hat, gepackt von einer quälenden Angst um diese alte Fabrik, denn sie umfasst ihre Zukunft und die Zukunft des ganzen Landes, so wie das Ei in seiner Kalkschale den Keim des. neuen Lebens birgt.
Eine schlaflose Nacht ist dies, voll quälender Unruhe. Aufgescheucht flackern die Laternen auf dem Fabrikhof, rauchlos brennt ein Scheiterhaufen inmitten schwarzer Wälder, und hinter dem Licht scheint nichts als unendliche Wegelosigkeit zu sein, Tausende von Kilometern weit.
Unermesslich lastet der Raum auf dem Lande: im Süden unendliche, heiße Steppen, unheimliche sandverwehte Wüsten; im Osten finstere Wälder und klingende Berge voll Metall, im Norden öde, menschenleere Tundren.
Von Moskau bis an die Ostgrenze braucht man zu Fuß ein halbes Jahr unermüdlichen Marsches. Und Pjotr Kortschenko ist diesen Weg zu Fuß gegangen, mit den Ketten klirrend, nach dem Jahre 1905. Damals zogen zweihundertachtzigtausendfünfhundertundzwei Menschen auf dem Wege in die Verbannung über die Wladimirka (Anm.: Wladimirer Landstraße an der östlichen Stadtgrenze Moskaus, Ausgangspunkt der Transporte politischer Verbannter nach Sibirien.).
Und Kortschenko weiß es noch wie heute: Tausende von Kilometern weit war ein einziges Kettenklirren, unendlich die Reihen dieser in Eisen geschmiedeten Menschen, und er, ein junger und kräftiger Bursche, ging stolpernd und fallend in diesen Reihen. Die Zähne, in wildem Hass aufeinandergepresst, knirschten. Dumpf klangen die Schritte der eisenbeschwerten Füße, und schwere, dunkle Blutstropfen sickerten in den Staub. Bajonette blitzten. Und traurig stieg das Lied der Sträflinge zu dem erbarmungslosen, sengenden Himmel auf. Unter dem Dach der Zedern, in der schwarzen, schweigenden Taiga, lauerte der einsame Tod.
Da gab es Tage, an denen Pjotr Kortschenko die Augen schloss und sich still hinlegte auf die Erde : Es kommt der Tag!
Aber der junge, unverbrauchte Körper, der noch kaum gelebt hatte, besaß noch viel Kraft und heißen Lebensdurst, und Kortschenko stand wieder auf und ging weiter, begleitet vom Klirren des Eisens.
Das war schon lange her. Aber jetzt, umgeben von diesen schweigenden, regennassen Fabrikgebäuden, sieht er sich wieder im grauen Sträflingskittel, sich selbst und die vielen Tausende, die ebenso wie er in graue Kittel gekleidet, in klirrendes Eisen geschmiedet, in den Staub des endlos langen, eisenklingenden Wegs gehüllt sind. Und dieser Weg, der sich im Nebel verlor, der steht ihm jetzt plötzlich mit wunderbarer Deutlichkeit vor Augen, und er gibt sich ganz den Erinnerungen hin und sieht, wie Pjotr Kortschenko auf dem endlosen Weg des Lebens dahinschreitet Mit langsamen, schweren Schritten hinaus in die Verbannung. Zurück war es ein leichtfüßiges, freudiges Laufen durch stille Wälder. Dann der hastige, dumpfe Hufschlag des flinken kleinen Pferdes unter der leichten Gestalt des im Felde mager gewordenen Divisionskommissars Pjotr Kortschenko.
Was für ein langer Weg! Und überall steht Pjotr Kortschenko aufrecht und fest, sogar auf dem grünlich schimmernden Eis vor Kronstadt, als ihn die Kugel in die Brust traf. Bloß hier, auf diesem Fabrikhof, haben sich seine Füße verwickelt in den Metallbruch, der da herumliegt, so verwickelt, dass es eine Schande ist.
Und auf einmal begriff Kortschenko, dass der ganze Weg, den er zurückgelegt hatte, nichts anderes war als die Vorbereitung für den Feldzug, den das Land begonnen. Erst jetzt, in dieser Stille, die auf das Gewitter folgte, verstand er plötzlich die ganze Größe der ihm anvertrauten Sache und die furchtbare Schwere seines Fehlers. Das Bewusstsein, dass das Heldentum des zurückgelegten Weges hinter ihm lag, vergrößerte die Bitterkeit seiner Niederlage, aber das Bewusstsein, dass das Heldentum seines Lebens einen untrennbaren Bestandteil dieser großen Tage bildete, ermutigte ihn und gab ihm frische Kraft zu einem neuen Aufschwung. „Nein — nicht die Augen schließen und sich auf der Erde wälzen, sondern vorwärts gehen, vorwärts, ohne auch nur einen Augenblick stehenzubleiben — vorwärts, bis das Herz den Dienst versagt!"
Kortschenko war in diesen Minuten gealtert. Gelblichgrau war die Haut des Gesichts, aus dem schweres Grübeln sprach, aber der Unterkiefer hing nicht schlaff herab, wie es bei alten Leuten der Fall ist — er war wie versteinert in grausamer Hartnäckigkeit, die schärfsten Widerstand versprach.
Er irrte lange auf dem Fabrikhof umher, und die Nachtwächter blickten ihm erstaunt nach, als ihr Direktor zu dieser ungewohnten Stunde an ihnen vorüberging... Bei Tagesgrauen betrat Kortschenko seine Wohnung und nahm sofort den Telefonhörer auf.
„Wartanjan? Hallo! Wartanjan... Läuten Sie noch einmal an, bitte. Hallo? Habe ich dich geweckt, Wartanjan? Entschuldige... Weißt du, was ich denke? Morgen wollen wir darüber sprechen? Nein — ich will jetzt gleich. Die Sache ist sehr wichtig. Ich schlage folgendes vor: von morgen ab... Hörst du? Ja, ja... Höre, bitte, aufmerksam zu: also ich schlage vor..."
Von den Wänden richtete die Betriebszeitung an die Arbeiter ihren Aufruf:
Auf! Organisiert den Zusammenbau der Lokomotiven unter der Kontrolle der
Arbeitermassen!
Innerhalb von drei Tagen müssen wir die Lokomotive ,SU 10505' abliefern! Für diese Lokomotive ist jeder einzelne
Arbeiter verantwortlich!"
Mit blitzenden Augen lief Mochow durch die Abteilung. „Nun, Jungens? Werden wir's schaffen?" Die Arbeiter lachten ihm in das besorgte Gesicht. „Darüber lass dir keine grauen Haare wachsen, Makarytsch!" „Seht mal den Makarytsch — er sieht aus wie eine Hebamme, wenn's losgeht, mit aufgekrempelten Ärmeln!" „Er wird dem Bulawkin noch den Rang ablaufen!" Bulawkin warf einen finsteren Blick auf Mochow, der so tat, als wäre der Werkmeister überhaupt nicht da, und die ganze Abteilung herumkommandierte. Bulawkin fühlte eine plötzliche Schwäche in den Beinen und schlenderte mürrisch nach dem Abteilungskontor. Aber auch hier sah er ein ungewöhnliches Bild: am Tisch des Abteilungsleiters saß der Direktor, vor ihm stand Sorin mit höflich geneigtem Kopf.
„Sie wussten von der Änderung der Zeichnungen?" Die wuterfüllten Augen Kortschenkos drückten Sorin an die Wand. „Jawohl."
„Und Sie haben dazu geschwiegen?" „Ich habe dem weiter keine Bedeutung beigemessen." „Sie haben mit diesen Betrügern unter einer Decke gesteckt!" schrie Kortschenko mit zuckenden Lippen.
„Nein!" Sorin trat einen Schritt näher an Kortschenko heran, als fürchte er, dieser könne jetzt weggehen. „Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft nicht wohl, sie trauten mir nicht. Und sie hatten allen Grund dazu... Ich bin einer von den wenigen Ingenieuren, die mit den ersten in die Fabrik kamen, um an ihrem Neuaufbau zu arbeiten. Ich wurde damals bedroht, man nannte mich einen Verräter. Später gaben sie sich dann zufrieden, als ob sie es vergessen hätten. Und ich wurde, ohne dass ich es merkte, gleichgültig... Gleichgültig, aber gemeinsame Sache mit denen habe ich nie gemacht..."
„Also nicht für, nicht wider? Sie haben abgewartet, was da kommen würde?" fragte Kortschenko.
Sorin blickte ihm ruhig in die Augen.
„So mag's gewesen sein... "
„Hat Ihnen das wirklich nicht genügt, was im ganzen Lande geschieht, um Ihre Wahl zu treffen? Konnten Sie daran wirklich nicht erkennen, welcher Seite die Zukunft gehört?" fragte Kortschenko erstaunt weiter. „Sie brauchten doch nur die erste beste Zeitung aufzuschlagen..."
„Ich lese keine Zeitungen... "
Verblüfft blickte Kortschenko diesen Menschen an: er schien ihm wie ein vorgeschichtliches Ausstellungsstück, wie die primitive Zeichnung eines Höhlenmenschen — naiv, erschütternd in der Einfachheit der Linien und der nackten Offenheit.
„Ich habe mich geirrt...", sagte Sorin niedergeschlagen und heftete den trüben Blick auf den Boden.
Und Kortschenko, der einfach starr war über diese Aufrichtigkeit, fand kein Wort der Verurteilung. Er schüttelte nur den Kopf, lachte auf und schritt dann plötzlich schnell der Tür zu. Sorin starrte weiter auf die breiten Ritzen in dem dunklen Fußboden.
„Den Zusammenbau der Lokomotive ,SU 10505' werde ich selbst leiten. Sie tragen die Verantwortung für die Vorbereitung der Maschinenteile. Merken Sie sich das!"
Sorin musste an den Witz von Bruck denken: „Bei einem solchen Direktor kann man die Lokomotiven aus Ziegelsteinen bauen", und ein spöttisches Lächeln verzog die dicken Lippen. Neugierig betrat er die Montagewerkstatt. Langsam, wie ein landendes Luftschiff, ließ sich der Lokomotivkessel aus blauer Höhe nieder. Wie ein gläsernes Gehäuse, so vorsichtig setzte ihn der Kran auf dem Lokomotivrahmen ab, und sofort umringten Dutzende von Schlossern und Monteuren mit Drucklufthämmern und Bohrern die Lokomotive „SU 10505". Ein Geprassel wie von Maschinengewehrfeuer krachte durch die Halle, die Drucklufthämmer arbeiteten unter der Lokomotive, im Innern des Kessels und an den Seiten und befestigten die Lokomotivzylinder.
Links funkelten auf breiten Tischen die Lokomotivteile. Einige Schlosser waren damit beschäftigt, die in Schraubstöcke gespannten Lagerschalen zu schaben. Hell funkelte die Bronze unter den knirschenden Feilen, und der goldige Staub tanzte heiter in den schrägen Sonnenstrahlen.
Ein kahlköpfiger, bärtiger Schlosser passte die Lagerschalen auf, dann lachte er und klopfte mit ihnen mutwillig wie ein Kind gegen den Schraubstock; die Bronze gab einen reinen und hellen Klang.
„So, Brüderchen, jetzt wirst du in unseren Tönen klingen! Pjotr Petrowitsch, Direktor! Diese Lokomotive ist aus Glockenkupfer — der wird kein Teufel was anhaben können!" Und dabei lachte er dröhnend und fuhr liebkosend mit der Hand über die geschliffene Bronze.
Kortschenko trat an ihn heran. Er trug einen dunkelblauen Arbeitskittel über dem Anzug. Seine Gestalt schien in dem gegürteten Kittel straffer und geschmeidiger, die Bewegungen der Hände waren geschickt und konzentriert. Er betrachtete das Lager und schüttelte den Kopf:
„Hier muss noch nachgearbeitet werden. Bitte sorgfältiger arbeiten!" Damit trat er zu dem Arbeiter, der die Kulisse zusammenbaute.
Sorins Blick folgte Kortscjienko, immer mit demselben spöttischen Lächeln auf den Lippen. Ganz allmählich aber trat an Stelle dieses Lächelns ein tiefes Erstaunen.
„Was hast du denn da für einen Stein?" Kortschenko sah einen Arbeiter missbilligend an; er nahm eine Lehre, maß den Teil nach und rief Sorin herbei. „Was geht denn hier bei Ihnen in der Abteilung vor, Genosse Sorin? Müssen denn die Nuten etwa so gefräst werden? Oder ist es Ihnen vielleicht egal, ob Sie einen Kulissenstein oder einen Ziegelstein vor sich haben?"
Sorin drehte verlegen ein Stück Stahl zwischen den Fingern, das glänzte wie die Glatze Brucks, und sah plötzlich dessen grinsende Fratze vor sich, wie er sich über seinen eigenen „geistreichen" Witz freute. Mit welchem Vergnügen würde er dieses Stück Stahl hier Bruck an den kahlen Schädel schleudern!
„Lassen Sie sofort diesen Teil ausbessern! Sie verzögern die Montage der Lokomotive. Dem Werkmeister der Abteilung ist ein Verweis zu erteilen. Nach einer Stunde melden Sie mir, was für Maßnahmen Sie getroffen haben."
Erschrocken blickte Sorin Kortschenko an — ein ganz neuer Mensch stand da vor ihm, mit einem Unterkiefer, der hart und kantig war wie ein Bügeleisen — ein Meister seines Fachs, der in seiner Sache Bescheid wusste.
Er rannte hinüber in die Dreherei, fiel über den verdutzten Bulawkin her, hielt ihm den Kulissenstein unter die Nase und schrie:
Du blamierst meine Abteilung! Du blamierst mich vor dem Direktor, vor der ganzen Fabrik! Das lasse ich dir nicht durchgehen!" Er zitterte am ganzen Körper, sein volles, breites Gesicht war dunkelrot vor Zorn, nur die Ohren waren schneeweiß.
Die Lokomotive „SU 10505" wurde zum Barometer des Fabriklebens. Eine Schraubenmutter, die nicht den erforderlichen Durchmesser aufwies, wanderte sofort wieder in die Abteilung zurück, als Beweis von Verantwortungslosigkeit und Nachlässigkeit, und den Namen des Arbeiters, der sie gemacht, sprach die ganze Fabrik voller Empörung aus. Tags darauf standen solche Namen auf dem schwarzen Brett und in der Betriebszeitung, und noch einen Tag später konnte man sie in der Provinz- und in der Zentralpresse lesen — an diesem Tage erfuhr das ganze Land den Namen des schlechten Werkmeisters Bulawkin, den Namen Sorin, der zum ersten Mal in seinem Leben die Seiten der „Prawda" auseinanderfaltete, bleich und zitternd vor Angst, dort seinen Namen zu finden.
Sein Arbeitszimmer, das Telefon, die zahllosen Papiere — alles das schien Kortschenko vergessen zu haben; sowie der Pfiff der Sirene ertönte, erschien er in der Lokomotiv-Montagewerkstatt und verließ sie erst am Abend wieder. Er prüfte selbst jeden einzelnen Maschinenteil, ließ nicht den geringsten Fehler durchgehen, arbeitete selbst voller Leidenschaft und Hingabe. Die Kälte der Entfremdung in den Augen der Arbeiter schmolz allmählich, das drückende Schweigen der ersten Tage wurde von dem einfachen, derb-freundschaftlichen Ton verdrängt, der ein Beweis gegenseitigen Vertrauens ist. Der blaue Arbeitskittel glich ihn seiner Umgebung an — gleichzeitig aber fühlte Kortschenko, dass er, mit der Masse vereinigt, sich nicht etwa in ihr verlor, sondern vielmehr einen neuen Stützpunkt in ihr gewann.
Mitunter fühlte Kortschenko, dass die Arbeiter mit den Verfügungen, die von oben, aus der Fabrikleitung kamen, unzufrieden waren, und er musste im Büro anrufen und manches abändern. Wenn aber die Arbeiter davon sprachen, dass die Entlassung Strachows zu Unrecht erfolgt sei, schwieg er oder brachte das Gespräch auf ein anderes Thema.
„Pjotr Petrowitsch!" Der Werkmeister trat zu ihm heran. „Was sollen wir mit der Exzenterstange machen? Sie ist zu kurz, und wenn wir auf eine neue warten sollen, wird die ganze Montage verzögert."
Kortschenko zerbrach sich lange den Kopf, was zu tun sei, um einen Ausweg zu finden, aber es wollte ihm nichts einfallen.
„So etwas ist auch früher mitunter vorgekommen, aber dann hat Strachow die Keile ein bisschen nachhobeln lassen. Das Nachhobeln ist weiter keine Kunst, aber die Berechnungen dazu kann nicht jeder machen. Und das schlimmste ist: die Arbeit wird aufgehalten."
Da schickte Kortschenko Strachow einen Zettel in die Wohnung und bat ihn, in die Fabrik zu kommen. Strachow kam und trat ruhig und sachlich an die Lokomotive, als ob nichts geschehen sei. Er ließ die Triebräder in die richtige Lage drehen, schrieb ein paar Zahlen auf seinen Notizblock und reichte dem Meister die fertige Berechnungsformel.
„Dreieinhalb Millimeter abhobeln!"
„Andrej Sergejewitsch, einen Moment." Irgendein Arbeiter packte Strachow beim Ärmel und zog ihn in eine Ecke der Werkstatt: „Seien Sie mir nicht böse... Ich war etwas voreilig mit Ihrer Entlassung... Arbeiten wir wieder zusammen — so wie früher... "
Erstaunt blickte Strachow dem Arbeiter ins Gesicht und lachte plötzlich laut auf.
„Pjotr Petrowitsch! Was ist denn mit Ihnen los?! Ich habe Sie gar nicht erkannt!"
„Na schön, das macht nichts. Wenn Sie mich nur jetzt erkennen", lachte Kortschenko. „Ich habe mich selbst erst in diesen Tagen richtig erkannt. Das Leben lehrt uns manches, Andrej Sergejewitsch... " Kortschenko stieß einen tiefen Seufzer aus, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich noch mehr.
„Ja, das Leben lehrt uns manches...", bestätigte Strachow nachdenklich. „Und das ist gut so, Pjotr Petrowitsch! Sehr gut! Sehr gut!" Und diese Worte leise wiederholend, trat er an die Lokomotive und betrachtete aufmerksam den funkelnden Mechanismus.
Der Zusammenbau der Lokomotive „SU 10505" ging seiner Vollendung entgegen, aber die Spannung in den Abteilungen wurde immer größer.
Viele Stürme waren über die alte Fabrik in ihrem langen Leben dahingebraust. Mehr als einmal pfiff der Sturm des Auf-, Stands über ihre hohen Dächer und ließ die rote Fahne flattern Viele Menschenleben sind durch ihre Tore geschritten, auf die Schlachtfelder hinaus, um niemals wieder zurückzukehren.
Aber heute hatte etwas Neues, etwas Niegesehenes die Werkhallen betreten, etwas, das die Menschen stärker erschütterte als alle die Stürme der grausamen Jahrzehnte. Der Himmel war wolkenlos, hell strahlte die Augustsonne. Ruhig schickten die hohen Essen ihren Rauch zum Himmel; die Lokomotiven pfiffen, die schweren Kräne fauchten, die Erde stöhnte unter den Schlägen der Hämmer und Pressen; die Luft war geschwängert von Ruß, von Öl- und Petroleumgeruch, in den Werkstätten mischte sich der blaue Rauch mit dem zischenden Dampf und der heißen Ausdünstung der Menschen. Als Andrjuschetsdikin aber die Arbeiter betrachtete, da sah er: Auge, Hände, Füße, der ganze Organismus — alles war in fieberhafter Bewegung. Er merkte, wie Titytsch, der eine Form fertig hatte, lange den gelben Abdruck streichelte, mit dem Putzhaken darin herumstocherte und, als ob er sich auf seine eigenen Augen nicht verlassen wollte, Andrjuschetschkin heranrief.
„Sieh mal her, Grigori, es scheint alles in Ordnung zu sein, nicht? Aber ich fühl' mich doch nicht ganz sicher... "
Andrjuschetschkin wunderte sich, dass Titytsch, der sein Handwerk in- und auswendig kannte, ihn um Rat fragte.
„Ich bin Schweißer, Titytsch. Vom Formen verstehe ich nicht viel."
Titytsch schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
„Und du willst Sekretär sein! Du musst alles verstehen Du musst in jeder Sache Bescheid wissen, vielleicht habe ich hier etwas falsch gemacht? Wer wird dafür verantwortlich sein?"
„Der Meister muss verbessern, wen etwas nicht richtig ist..."
„Der Mei—ster!" sagte Titysch verächtlich. „Soll ich womöglich noch den Antonytsch herholen, was? Ach, das ist ein Leben!"
Er ließ sich auf die Knie nieder, blinzelte mit den trüben blauen Augen und holte mit dem Häkchen einen kleinen Klumpen Formsand heraus, den Andrjuschetschkin nicht bemerkt hatte.
„Auf diesem Rad wird vielleicht Kalinin fahren, und du sagst: ,Davon verstehe ich nichts... ' Auf diesem Rad, Bruder, eilt unsere Macht vorwärts, und du sagst: ,Davon versteh' ich nichts'!" brummte der Alte.
Sorgfältig glättete er die Form mit seinen schwarzen, rauen Händen, krächzte, in tiefes Nachdenken versunken, vor sich hin und zeichnete mit irgendwelchen Stäbchen und Häkchen, die Andrjuschetschkin völlig unbekannt waren, alle möglichen Muster in den feuchten graugelben Sand.
„Komischer Alter", dachte er und sah zu, wie die Hände Titytschs mit einer liebevollen Bewegung den feuchten Sand streichelten.
„Wenn das nun aber gerade das Rad ist..." Titytsch sprach den Gedanken nicht bis zu Ende aus, als jage ihm diese Annahme einen Schreck ein. „Was dann, he? Dann geht Titytsch hin und sagt allen Leuten: ,Ich verstehe nichts davon, Genossen.' Eine Scha—n—de!" Missbilligend blickte er auf seine Hände, sah dann Andrjuschetschkin an und seufzte: „Siehst du, so ist das Leben! Wie viel Jahre sitze ich da nun schon beim Formen! Ich hab' ehrlich gearbeitet, da lässt sich nichts sagen. Aber, Grigori, dabei hab' ich doch immer gewartet. Jetzt wird die Quälerei endlich bald zu Ende sein — dachte ich. Eine amerikanische Gießerei werden wir bauen, ich werde an der Maschine arbeiten... Und jetzt? Es heißt doch, es ist ein Telegramm gekommen, mit der neuen Fabrik ist es zunächst mal nichts. Da hast du nun deine amerikanische Gießerei!" Tief bedrückt schüttelte Titytsch den Kopf. „Die Sache haben wir uns versaut, Grigori. Als ob uns einer die Augen zugebunden hätte. Eine Schan—de! Siehst du, so sehen die Äpfel aus, wenn sie reif sind."
Andrjuschetschkin musste an jenen Maimorgen denken, an den Tau auf den blühenden Obstbäumen und an den vorwurfsvollen Blick Titytschs, als er den abgerissenen Apfelblüten-2weig in seiner Hand sah. Ja — damals waren es noch Blüten, heute aber sind die Äpfel reif. Und diese Äpfel sind bitter wie Wermut.
Der Alte hatte recht gehabt damals; aber er, der Zellensekretär, den der Frühling bezaubert hatte, hatte seine Worte achtlos überhört. Das Gefühl seiner Schuld drückte ihn; er wandte sich ab.
Er sah die alten, wohlbekannten Gesichter der Arbeiter und bemerkte in ihnen völlig neue, unbekannte Züge. Sogar dieser Schwätzer Wassja Trussow hatte die Brauen nachdenklich zusammengezogen, er sah düster aus wie der alte Staub der Martinöfen. Schon seit ein paar Tagen ging er schweigend herum und sah niemand an, fluchte sogar nicht einmal mehr. „Jedenfalls hat er gesoffen und nun fühlt er sich dementsprechend", dachte Andrjuschetschkin. Trübe schaute Trussow zu ihm hin.
„Was starrst du mich so an mit deinen Glotzaugen? Kannst du nicht das Maul aufmachen, wie ein vernünftiger Mensch?... Statt dessen läufst du 'rum wie der malacholnische Großvater und trampelst einem auf der Seele herum. Was willst du von mir?" fragte er Andrjuschetschkin mit leiser, vorwurfsvoller Bassstimme.
„Ach, ist das alles langweilig geworden, Wassja", lachte Andrjuschetschkin. „Früher, da hast du manchmal so losgelegt, dass es nur so durch alle Etagen gedröhnt hat, und allen hat das Spaß gemacht. Aber jetzt ist dir scheint's die Zunge abgebrochen... "
„Vielleicht ist etwas Wichtigeres abgebrochen als bloß die Zunge... Ach! Alles kaputt machen möchte man vor lauter Kummer!" rief Trussow verzweifelt, packte den Drucklufthammer und ließ ihn mit solcher Macht niedersausen, dass Andrjuschetschkin sich die Ohren zuhielt.
Ü berall sah Andrjuschetschkin Unruhe und Grübeln. Schweigend wurde hier die gestrige Versammlung fortgesetzt. Und die ganze Fabrik nahm an der Diskussion teil, obgleich man keine Reden hörte. Ein jeder war Redner und Zuhörer im Versammlungssaal seines Herzens. Platow erteilte jedem das Wort und beschränkte niemand in der Zeit; man kann doch die Redezeit von Menschen, die ihr ganzes Leben erörtern, nicht auf ein paar Minuten beschränken. Mussten sie doch ihr Leben nun herabnehmen vom Fundament vergangener Jahre, mussten sie doch jeden einzelnen Balken ihres Lebens prüfen, denn verhängnisvolle Risse durchzogen es von oben bis unten, bis tief in die Grundmauern hinein. Beharrlich starrten die Menschen auf ihre Maschinen, auf die vor ihnen liegenden wohlbekannten Maschinenteile, als ob sie eine heimliche Drohung suchten, die in ihnen verborgen sein konnte. Keine Schramme, nicht der kleinste Riss entging ihrem Auge, sie berieten darüber miteinander, liefen dann zum Meister, und der Meister betrachtete aufmerksam die Metallteile, aus denen die Lokomotive geboren werden sollte.
In allen Abteilungen gerieten Arbeiter und Meister aneinander. Zornig brummten die Maschinen, sie trugen eine Belastung, die nicht vorgesehen war, und diese Belastung wurde zu dem stummen Reifezeugnis der Klasse, von dem Platow gesprochen hatte: die Kraft der Begeisterung und des Willens, die das aufgerüttelte Fabrikkollektiv erfüllte, riss die Belastungsgrenzen der Maschinen, die vom Tage ihrer Geburt an bestanden hatten, um — an diesem Tage übertrafen die Maschinen, von den Händen der nachdenklichen Arbeiter geleitet, jede Norm. An diesem Tage zählte Platow nur acht Prozent Ausschuß, und lächelnd traute er dieser Ziffer. Stolz auf sich selbst und auf die Menschen, mit denen zusammen er alle diese Erschütterungen durchgemacht, ging er durch die Martinabteilung. Von überallher, von den nachdenklich erregten Gesichtern, aus dem Donner des Stahls und aus den Stimmen der Menschen strömte ihm Kraft zu, und zum ersten Mal in dieser ganzen Zeit fühlte er sich als Ingenieur unter diesen Menschen, die ihm das Recht auf diesen Titel schweigend zuerkannten.
„Du siehst so froh aus, Senja...", sagte Titytsch, blinzelte mit den Augen und schaute seinem ehemaligen Lehrjungen aufmerksam in das Gesicht mit der breiten Nase.
„Warum soll ich nicht froh sein? Ich bin ja noch jung, Titytsch!" lachte Platow.
„Jung, aber gescheit", sagte Titytsch stolz. „Bist du klug geworden aus der Zeichnung von Mochow, Senja?" setzte er dann gleich wieder unruhig hinzu.
„So ziemlich. Die Zeichnung ist falsch. Durch diese Art, die Achsen abzudrehen, wird die Ermüdung des Metalls künstlich hervorgerufen. Das ist das Werk von klugen und geübten Händen. Damit werden wir ohne Moskau nicht fertig."
„Wer steckt denn nun da dahinter?"
„Das ist eine schwierige Sache, Titytsch. Die sich damit zu befassen haben, werden's schon herausfinden... "
„Auf die Art, Senja... auf diese Art sind wohl alle unsere Lokomotiven zweifelhaft?"
„Ja, leider. Darum war das vielleicht nicht die letzte Katastrophe."
„So... so...", krächzte Titytsch. „Da sind wir ja weit gekommen, das muss man sagen. Direkt die Lebensader haben sie durchschnitten. Mit der neuen Fabrik ist es nichts... Aber das Schlimmste, Senja, das Schlimmste ist die Schande vor der ganzen Sowjetunion! Ach, die Pest soll sie holen! Direkt die Beine haben sie uns abgeschlagen", sagte Titytsch ganz gebrochen.
„Was für Beine denn, Titytsch?"
„Na — auf diesen Achsen da reist doch das ganze Land... Auf diesen Beinen eilt es vorwärts! Ohne Beine sollen wir also sein! Aber daraus wird nichts! Es wird schon rollen, mein Rad! Bahn frei! Oder es zermalmt euch, zum Teufel!"
Titytschs ganzer dürrer, sehniger Körper zitterte und er drohte irgend jemand mit seiner Faust, die aussah wie schwarzes Eisen.
Beruhigt und nachdenklich fuhr er fort:
„Die Hauptsache ist jetzt, Senja, dass wir uns fest zusammenschließen. Sonst sieht nämlich jeder bloß so weit seine eigene Nase reicht, und das ist nicht weit. Wir sind es nun mal so gewohnt, dass jeder vor sich hinmurkst, und was beim Nachbar geschieht, das ist ihm ganz gleich. Als ob jeder in seinem Stall sitzt, und was nebenan geschieht, davon merkt er nichts... Jetzt aber heißt's die Augen aufhalten!" Titytsch schlug die Lastkette an den Formkasten, der Kran kreischte auf, und der schwere runde Formkasten hob sich leicht von der Erde.
Da kam Sharow herbeigelaufen.
„Genosse Platow, hast du meine Bitte vergessen?"
„Nein, Genosse Sharow, das hab' ich nicht. Du wirst von nun an Schweißer sein. Geh' zu Wekschin, der wird dir alles erklären. Aber dass du mir nicht mehr trinkst, Sharow!"
„Genosse Platow! Semjon Petrowitsch! Ich... ich... "
Verlegen stockte Sharow und rannte spornstreichs ans Ende der Abteilung, wo die blaugrünen Funken der Schweißapparate sprühten.
Sharow trat an das Amperemeter und beobachtete schweigend das nervöse Zucken des Zeigers, und ebenso hastig wie dieser Zeiger liefen seine aufgeregten, erstaunten Augen umher. Dann ahmte er die Bewegung Andrjuschetschkins nach, zog eine dunkle Maske vor das Gesicht und setzte sich vor die Schweißplatte — endlich, endlich hatte er eine Maschine in die Hand bekommen! Schon lange hatte er im stillen die geheimnisvollen Zeiger beobachtet, dem Brummen des Transformators gelauscht hatte von weitem mit zusammengekniffenen Augen die grünvioletten Funkengarben bewundert, bis er schließlich, bezwungen von der Macht der Elektrizität, Platow gebeten hatte, ihn Schweißer werden zu lassen. Andrjuschetschkin erklärte ihm nun, wie er die Elektrode zu halten hatte, was Lichtbogen heißt und wie der Apparat eingestellt wird. Alles schien ganz einfach. Aber sobald Sharow die Maske über das Gesicht gezogen hatte, versank er in dichte Finsternis — als sähe er in einer dunklen Oktobernacht zu den trüben Fenstern seines Häuschens hinaus. Er hatte sofort die Fähigkeit verloren, etwas mit seinen Händen anzufangen — sie schienen weit von ihm entfernt und wollten sich seinem Willen nicht unterordnen. Er öffnete die Maske ein wenig, führte die Elektrode an die Schweißstelle, und sofort fuhr eine lodernde, knatternde Flamme in die Höhe. Geblendet und erschreckt warf er das Kabel beiseite und schob mit zitternder Hand die Maske hoch.
„Na, hast du ordentlich eins abgekriegt?" lachte Sergej Wekschin. und blickte Sharow spöttisch an, der ganz entmutigt vor sich hin starrte. „Mensch, du willst Metallarbeiter sein! Du Kuhschwanz! Du wirst dir die Augen verbrennen ... "
„Ich bin doch bloß mit dem Strom rangekommen, und gleich ging's so los!" Sharow rieb sich mit der Hand die ganz geblendeten Augen.
„,Rangekommen! Rangekommen!' äffte ihm Sergej verächtlich nach. „Du wirst dir noch die Fresse verbrennen, du Missgeburt ! Setz dich hin — ich werde dir zeigen, wie du's machen musst."
Sharow versank wieder in Finsternis. Wekschin riss mit Gewalt seine Hand irgendwohin, plötzlich zischte die Dunkelheit und eine kalte rote Flamme züngelte auf — sie sprang auf die rechte Seite hinüber und ließ einen holprigen Weg hinter sich zurück.
„Deine Hand muss ganz sicher sein. Du darfst die Elektrode nicht ganz dicht an das Metall heranhalten. Der Bogen muss gleichmäßig sein!" kommandierte Sergej, und gehorsam rückte Sharow seine vor Aufregung bleischwere Hand weiter.
„Jetzt hab' ich's verstanden! Ich hab's verstanden!" rief Sharow aufgeregt. „Jetzt werd' ich hier bleiben! Und niemand darf mich wegreißen!" Er tanzte vor lauter Vergnügen um den Apparat, fuchtelte erregt mit seinen langen Affenarmen herum und zog stolz die Maske vors Gesicht.
Andrjuschetschkin schob die Maske zurück. Aus seinen wachsamen Augen sprach tiefe Nachdenklichkeit. Er fühlte, dass sein Herz anfing, rascher zu schlagen, und sein ganzer Organismus wurde von leidenschaftlicher Ungeduld ergriffen. Es drängte ihn etwas Großes, Wichtiges zu vollbringen. Er betrachtete seine Umgebung, die Gesichter der Arbeiter, hörte aufmerksam auf den Gesang des Stahls, und sein Herz öffnete sich unter dem Druck dieser Töne. Er sah, dass in dieser morschen Fabrik, die zusammen mit ihren Tausenden von Arbeitern, von Gießern, Schweißern und Drehern gealtert war, heute ein neues, junges Leben pulsierte; die Arbeiter putzten und wuschen die letzten Rostflecken weg, die sie noch entdeckt hatten; die Gedanken an ihr eigenes Wohl und Wehe, die Angst um die Zukunft der Fabrik, die Hoffnung auf moderne Automaten — alles das war jetzt in den Hintergrund gedrängt von der Sorge um das ganze Land, um die Zukunft der Klasse, um alles das, was mit Entbehrung, Hunger und Blut erreicht worden war. Alle waren beherrscht von einem brennenden Verantwortungsgefühl für die Zukunft der Republik. Die Ereignisse hatten ihren Horizont erweitert und sie sahen das, was gestern noch der Alltag vor ihren Augen verborgen gehalten hatte.
Niemand erzählte dem anderen etwas von diesen Gefühlen, aber Andrjuschetschkin las sie im heißen Glanz der Augen, in den eiligen Bewegungen der Hände; mit hellsichtigem Blick erfasste er die Gedanken der Gießer, der Dreher, all dieser Lokomotivarbeiter, die die schweren Ereignisse wachgerüttelt hatten. Und das alles drang machtvoll in sein eigenes Herz ein. Es klopfte aufgeregt und seine Lippen bewegten sich... sie fanden den gesuchten Rhythmus in dem Donnern des Stahls; es war der seltene, zündende Augenblick gekommen, in dem die Saiten seines Herzens klingend antworteten auf den Gesang des ihn umgebenden Lebens — der Rhythmus wurde geboren. In der Furcht, der kostbare Augenblick der schöpferischen Begeisterung könne ihm entgleiten, griff er zum Bleistift und warf mit hastigen Buchstaben Worte aufs Papier — im Donnern und Krachen des Metalls, im Schein der grünvioletten elektrischen Funken wurde der Gesang von der alten, verjüngten Fabrik geboren:
Gebrechliche alte Fabrik,
Schwarze geborstene Mauern,
Ein neues Lied heute singt
Deine helle Sirene.
Gemeinsam mit allen, mit mir,
Mit dem ganzen ringenden Lande
Strebst du, die Pulse gespannt,
Kämpfend die Höhe hinan.
Vergangenes lastet auf dir,
Schmutzig sind tausende Fäuste,
Doch du, alter Riese, du schlägst
Donnernde Funkengarben.
Krachend dringen die Funken,
Dreher, bis in dein Herz,
Tragen die purpurne Flamme
Hinüber nach Ost und nach West.
Triff stärker, mein Hammer, vernichte
Mit deinem Schlage den Feind!
Verkünde dem ganzen Erdball:
Jung ist die siegreiche Klasse!
Andrjuschetschkin riss seinen Blick von dem Notizblock los und schaute sich in der Werkhalle um. Ganz anders sah alles aus, kaum wieder zu erkennen. Der sonst so dreiste Trussow blickte ängstlich und schüchtern um sich, als sähe er irgend etwas Unerwartetes, das seinen widerspenstigen Geist zähmte. Sharow näherte vorsichtig die Elektrode dem Riss im Achslager und zog die Hand heftig zurück, als habe er sich verbrannt — er war plötzlich eingehüllt in violette Blitze, in leichten blauen Rauch, unter der Maske hervor rannen schwarze Schweißtropfen über sein Gesicht, die sonst stets graubleichen Wangen röteten sich plötzlich — sein Herz war angefüllt von glühender Bewunderung für diese kraftvolle Macht des elektrischen Stroms. Er musste an das Märchen vom wunderbaren Schneiderlein denken das die Wunden des menschlichen Körpers zunähen kann; aber die Elektrode, die er in der Hand hielt, übertraf mit ihrer Kraft die Zaubernadel des wunderbaren Schneiderleins — sie nähte in einem einzigen Augenblick, ohne Nadel und Faden, die Risse und Lunker des Metalls zusammen mit einer Naht von Ewigkeitsdauer, die niemals aufging.
Sergej Wekschin ließ häufig die Arbeit ruhen und trat zu Sharow.
„Du hälst ja die Elektrode nicht richtig, du Esel!" lachte er, nachdem er eine Weile die hastigen Bewegungen Sharows beobachtet hatte.
„Ich hab’s schon verstanden, Sergej. Gleich... ", beeilte sich Sharow und zuckte bei dem unerwarteten Aufflammen der grellen Blitze zurück. Lächelnd beobachtete ihn Platow von weitem.
Plötzlich wurde das Donnern und Krachen übertönt von einer Stimme, die aus Leibeskräften schrie:
„Die Wei—ei—ehe! Stell' die Wei—ei—ehe um!"
Dieser ungeduldige, gebieterische Ruf erinnerte Platow an jenen Tag, an dem er zum ersten Mal die Kraft verspürt hatte, die sich ihm entgegenstellte, die in den Falten um die kalten, verächtlich gekrümmten Lippen Kraiskis verborgen war, — die Kraft des nie verlöschenden Hasses. Diese Kraft hatte ihn langsam umzingelt, hatte einen festen Ring um ihn geschlossen, wie die Jäger um die Höhle des Bären. Sie war ihm aus den wütenden Augen Wekschins entgegengesprüht, hatte sein Herz in Beschämung und Erniedrigung zusammengepresst. Er aber hatte die Zähne aufeinander gebissen...
Platow geht über den Hof und schaut zu den offen stehenden Werkstattoren hinein, die schwarzen Schlünden ähneln. Und wohin sein Blick fällt, überall sieht er Tausende von Händen an den Maschinen arbeiten, sieht er Tausende von Augen, aus denen ein freudiger, nie gesehener Glanz strahlt, hört er das Klopfen von Tausenden von Herzen, sieht er die Gedanken dieser Tausende fieberhaft hasten. Und das gilt der Lokomotive.
Eine nie gekannte Liebe zur Arbeit wird hier geboren, sie ist den Menschen ins Herz gedrungen und hat den jahrtausendealten Hass auf die schwere, freudlose, verfluchte Arbeit daraus verdrängt, und gleichzeitig ist in diesen Herzen der Hass auf jene eingezogen, die das Werk dieser Arbeiterhände zerstören wollten.
Und Platow ging durch die ganze Fabrik, von Abteilung zu Abteilung, er blickte prüfend auf die Tausende von Gesichtern und fühlte immer deutlicher die junge Kraft, die hier vor seinen Augen geboren wurde. Die Menschen kuppelten sich aneinander wie Lokomotivteile, sie vereinigten sich zu einem tausendköpfigen Kollektiv, das überströmte von Liebe zur Lokomotive und von Hass auf den Feind Diese Gefühle beschleunigten die Bewegung der Hände und den Schlag der Herzen, schärften die Wachsamkeit der Augen bis aufs äußerste; und der Blick der jungen Fabriklehrlinge wurde hart und strenger, als es ihrer Jugend zukam.
„Heda — pack zu!"
„Angefasst, Jungens, was steht ihr denn da und glotzt!"
„Holt mal den Bulawkin her!"
Bulawkin kam, drehte unruhig den Maschinenteil hin und her, schnäuzte sich; immer mehr Misstrauische sammelten sich um ihn.
„Aha!"
„Da haben wir den Kater mal richtig am Schwanz gepackt."
Bulawkin bemühte sich zu beweisen, dass alles in Ordnung sei und nichts weiter als Schikane vorliege; aber man glaubte ihm nicht, sondern lief zu Sorin, und dieser rannte schweißtriefend durch die Abteilung, die von Unruhe und Mißtrauen erfüllt war.
An dem Fabriktor, das auf die Hauptstraße hinausging, pfiff langgezogen und laut eine Lokomotive — sie wollte hinaus in die Freiheit, ihre erste zaghafte Probefahrt antreten.
Platow seufzte erleichtert, als er den nackten Lokomotivkörper, dem der glänzende Lack noch fehlte, betrachtete. Offen lag der Körper da, nichts an ihm blieb verborgen, und die prüfenden Augen liebkosten beruhigt jede Schraube, jede Niete. Die Flammen in der Feuerkiste übergossen das Gesicht des Lokomotivführers mit glutrotem Schein.
Mit singendem Knarren öffnete sich das Fabriktor und, eine dichte Dampfwolke ausstoßend, fuhr die Lokomotive den einladend winkenden, hellgrünen Lichtern des Signals entgegen.
2
Am Ende des zweiten Tages, den Kortschenko in angestrengter Arbeit in der Abteilung verbracht hatte, hörte er todmüde, aber von der allgemeinen Begeisterung ergriffen, im Gehen die Meldung Mochows über die Bearbeitung der Lokomotivteile an.
„Höchstens mit den Kolben kann es einen Aufenthalt geben, sonst geht alles so fix, Pjotr Petrowitsch, dass einem geradezu die Puste wegbleibt. So alt ich bin, hab' ich so was nicht gesehen. Einmal ist mir folgendes passiert: ich lag und schlief, da plötzlich merke ich: es brennt! Ich stürze auf die Tür zu, die Tür aber — eine Schraube soll ihr... — also die Tür geht nicht auf, rückt und rührt sich nicht! Wo ich da die Kraft hernahm — ich weiß es nicht, aber ich habe die schwere Eichentür — das Haus ist nämlich noch vom Großvater — direkt aus den Angeln gehoben! Der Mensch besitzt viel Kraft, Pjotr Petrowitsch, sie liegt nur im Innern fest, diese Kraft. Aber wenn sie hervorbricht, dann ist's wie im Frühling beim Hochwasser... alles schwemmt sie weg... "
Mochow, der sich in seiner Rolle als „Kommandeur" der Abteilung sehr gut gefiel, hatte sich die Ärmel aufgekrempelt und ließ die Muskeln spielen wie ein Jüngling.
„Noch nicht alle begreifen, worum es geht", entgegnete Kortschenko misstrauisch. „Da drüben rechts, da arbeitet so ein langer Kerl. Sieh mal, der rührt die Hände, als ob sie steif vor Kälte wären... so wird er nicht viel schaffen... "
„Das ist er ja gerade, der Ugolkow, der an den Kolben arbeitet. Ein gut klifizierter Dreher, aber er trödelt bei der Arbeit — nicht mitanzusehen! Der wird uns sicher noch aufhalten mit den Kolben", seufzte Mochow ärgerlich.
Als Ugolkow merkte, dass sich der Direktor ihm näherte, setzte er sich demonstrativ hin und zog seinen Tabakbeutel vor.
„Tag, Ugolkow!" Kortschenko nickte ihm zu. „Na, wie geht's mit der Arbeit?"
„Nicht hin, nicht her — gar nicht geht's", warf Ugolkow mürrisch hin.
„Warum denn nicht?"
„Darum nicht. Weil man sich für ein paar Kopeken hier abquälen muss. Ich arbeite mit festem Monatslohn und verdiene hundertfünfundzwanzig. Aber der da neben mir, der Faulpelz, der kriegt hundertvierzig raus. Woher soll da die Lust kommen, sich noch besonders anzustrengen?"
„Aber sieh dich doch mal um, wie überall gearbeitet wird! Das reine Hochwasser!" rief Mochow freudig, stolz darauf, dass er selbst mitgeholfen hatte, diesen Aufschwung zuwege zu bringen.
Ugolkow warf ihm einen spöttischen, verächtlichen Blick zu.
„Hochwasser ist einmal im Jahr — und auch dann dauert's nicht lange!"
„Das schwerste für den Gaul ist's, die Karre anzuziehen, nachher geht's schon von alleine", erwiderte Mochow hartnäckig.
„Der Teufel hat sich gerühmt, er würde ein Schwein scheren", erwiderte Ugolkow listig. „Und du weißt doch, was daraus geworden ist? ,Das Geschrei war groß, der Lärm war laut — aber Wolle, die hat keiner geschaut'!"
Da fühlte Mochow, dass er aus diesem Wortgefecht nicht als Sieger hervorgehen würde und sagte Ugolkow direkt ins Gesicht:
,Genug mit deiner Faulheit, Ugolkow, wir brauchen Kolben. Streng' dich mal etwas an."
„Das kannst du selber tun, wenn du Lust dazu hast", antwortete Ugolkow und schaltete absichtlich langsam die Maschine ein.
Kortschenko hatte sich nicht in das Gespräch eingemischt, sondern nur aufmerksam das Gesicht Ugolkows betrachtet, dem der Stempel hartnäckigen Trotzes aufgeprägt war. Mitten in dieser angespannten heißen Atmosphäre der Abteilung entströmte der ganzen Gestalt Ugolkows eine unerträgliche Kälte. So ist es, wenn im Mai die Sonne heiß vom Himmel strahlt und in der Luft der Geruch der warmen Erde hängt, während in Abgründen und Schluchten noch wochenlang der Schnee liegen bleibt und in unverschämt glitzernder Weise funkelt.
Der ärgerliche Mochow führte den Direktor beiseite.
„Ein ausgezeichneter Arbeiter. Er kennt seine Sache wie kein anderer — aber es ist ihm auf keine Weise beizukommen — eine Schraube soll ihm aus dem Mund wachsen! Jeder Mensch hat sozusagen eine Sprungfeder, aber bei dem scheint der ganze Mechanismus eingefroren zu sein. Verdammter Kerl!"
Kortschenko trat an etwa ein Dutzend Maschinen heran, durch Unterhaltungen mit den Arbeitern wollte er ihre Stimmung kennen lernen; und nirgends wurde Ugolkow verurteilt, manche Arbeiter äußerten sogar dieselbe Ansicht. Der Aufschwung war ganz offensichtlich, die meisten arbeiteten mit verdoppelter Energie; trotzdem aber sah Kortschenko: fast jeder war im Grunde seiner Seele ein Ugolkow.
Ohne ins Kontor zu gehen, begab sich Kortschenko direkt ins Raikom. Wartanjan begrüßte ihn mit einem kräftigen freundschaftlichen Händedruck.
„Nun — unsere Sachen stehen gut. Bald werden wir über den Berg sein, Kortschenko! Ich bin sehr froh!" Und mit vor Freude blitzenden Augen schüttelte er Kortschenkos Hand.
„Ja, es geht alles ganz gut; aber ich fürchte, dass dies nur ein vorübergehender Aufschwung ist, den die Ereignisse der letzten Tage hervorgerufen haben. Wenn erst die Wunde etwas vernarbt ist, wird alles wieder so sein wie früher... "
„Was sagst du da, Kortschenko? So etwas sagen, dass heißt das Wesen der neuen Etappe im Wachstum der Arbeiterklasse nicht verstehen!" fuhr Wartanjan auf.
Da erzählte Kortschenko, was er in den Abteilungen gehört und gesehen hatte.
„Ach so", lachte Wartanjan spöttisch, „jetzt ist mir alles klar! Das ist also der Nutzen, den dir deine Arbeit in der Abteilung gebracht hat... Sehr schade! Hast du wirklich nicht erkannt, dass Ugolkow den gestrigen Tag des Proletariats darstellt? Und seinen heutigen Tag die Enthusiasten der selbstlosen Arbeit bilden, die ihre Energie und ihre Kraft in den Dienst des Sozialismus stellen?"
Kortschenko rieb sich nervös die kurzen, spärlichen Bartstoppeln.
„Natürlich gehört Ugolkow nicht zu den Fortgeschrittenen, das sehe ich selbst; aber wenn, du sagst, dass er den ,gestrigen Tag des Proletariats' darstellt, Wartanjan, da bist du etwas voreilig... Glaubst du wirklich, diese Ugolkows sind nur vereinzelt in unseren Betrieben vertreten? Hast du mir nicht einmal selbst gesagt, dass die Bauern bald in Millionen ihren Einzug in unsere Fabriken halten werden, dass wir sie erziehen müssen, dass die Fabriken zu sozialistischen Universitäten für diese Bauern werden müssen? Vergiss nicht, dass diese Millionen, die da kommen werden, lauter Ugolkows sind; und dass wir zu ihren Herzen einen Weg finden müssen... "
„Ja, das habe ich gesagt, und ich bin bereit es zu wiederholen... "
„Glaubst du etwa, dass diese Millionen Ugolkows gleich zu Enthusiasten werden? Dass eine leidenschaftliche Ansprache von dir in der ,Roten Ecke' ausreichen wird, um Enthusiasten aus ihnen zu machen? Unsinn, Wartanjan, ein paar Tage dauert solch ein Aufschwung, und dann kühlen sie wieder ab... Hochwasser gibt's nur einmal im Jahr, und auch dann dauert's nicht lange!" Kortschenko bekräftigte seinen Gedanken mit diesem Vergleich, als ihm aber dann einfiel, dass er von Ugolkow stammte, schwieg er verlegen und wandte den Blick ab, dem Fenster zu.
Verwundert blickte Wartanjan auf den Direktor, betrachtete sein bestaubtes Gesicht, den zerdrückten blauen Arbeitskittel, und plötzlich stieg ein Gefühl scharfer Feindseligkeit diesem für Kortschenko ungewöhnlichen Anzug gegenüber in ihm auf. „Ach, er ist hoffnungslos... Er hat schon die Theorie fertig... ,Hochwasser gibt's einmal im Jahr'... Was für ein Mißtrauen in die Kraft der Arbeiterklasse! Wie leicht gerät er unter fremde Einflüsse! Gestern hat er den Spezialisten gegenüber kapituliert, heute kapituliert er vor den Ugolkows...", dachte Wartanjan, und seine Brauen zogen sich finster zusammen.
„Ü brigens, was ich sagen wollte... Mir scheint, es ist Zeit, dass du die Abteilung wieder verlässt und zu deiner eigentlichen Funktion zurückkehrst. Der Direktor muss weiter sehen, du aber lässt dir deinen Gesichtskreis durch die vier Wände der Abteilung einengen und betrachtest schon die ganze Welt durch diese Brille... Da rächt sich wieder dein kurzsichtiger Praktizismus, deine Verachtung der Theorie... "
„Ich brauche keine Theorien, ich brauche Kolben, verstehst du, Kolben!" Dunkelrot vor Zorn, sprang Kortschenko auf. „Ich brauche Kolben, die Ugolkow macht! Und dem Ugolkow kannst du mit der Theorie nicht beikommen, dem musst du den Rubel zeigen! Das ist seine Triebfeder!"
„Da reitest du ja schon wieder auf deinem alten Steckenpferd herum!" Wartanjan schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Soeben erst hat dich dieses Steckenpferd doch abgeworfen! Du bist ein ganz unverbesserlicher Mensch! Davon sprichst du jetzt, wo es zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit selbstlose Arbeit gibt, wo zum ersten Mal in dem Arbeiter die bisher unbekannte Triebfeder des sozialistischen Bewusstseins zu wirken beginnt! Du willst das kapitalistische Prinzip der persönlichen materiellen Interessiertheit wieder aufleben lassen. Du willst den Wagen nach rückwärts ziehen, aber das wird dir niemand erlauben!"
Nervös lief Wartanjan im Zimmer auf und ab; es betrübte und ärgerte ihn, dass Kortschenko, der die Arbeit in der Abteilung so großzügig organisiert, der den richtigen Weg gefunden und seine Fehler eingesehen hatte, nun plötzlich wieder abschwenkte.
„Höre, Kortschenko, es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du auf diese Frage nicht noch einmal zurückkommst."
Als Kortschenko Wartanjan verließ, dachte er immer noch an Ugolkow, aber nun mischte sich in seine Gedanken noch ein Gefühl des Ärgers, das das Gespräch mit Wartanjan ihn ihm geweckt hatte. Wartanjan bevormundete ihn wie einen kleinen Jungen, und Kortschenko sah ein, dass er das Recht dazu besaß.
„Vielleicht irre ich mich tatsächlich?" dachte er, als er die Straße überquerte.
„So spät von der Arbeit?" rief ihn plötzlich jemand von oben her an. Kortschenko hob den Kopf: auf dem Dach eines einstöckigen Häuschens saß Ugolkow und lächelte gutmütig auf ihn herab. Er hielt Schindeln in der Hand, die sich wie weiße Flicken auf das bucklige, verwitterte Dach legten. Den Mund hatte er voller Nägel. Mit einer flinken Bewegung zog er einen Nagel nach dem anderen zwischen seinen dicken Lippen heraus und trieb ihn mit drei Schlägen in das morsche Dach.
„Ich hab nach Feierabend schon mein ganzes Dach ausgebessert!" stieß er undeutlich zwischen den Zähnen hervor, denn die Nägel behinderten ihn am Sprechen; auf dem Dach klang sein dumpfer, eiliger Hammerschlag.
Ugolkow war nicht wieder zu erkennen: sein Gesicht glänzte zufrieden, er hantierte flott und geschickt mit dem Hammer, seine ganze Gestalt war in Bewegung, und Kortschenko wunderte sich, wie er sich auf dem steilen Dach halten konnte.
„Da ist sie ja, die Triebfeder!" dachte Kortschenko erfreut.
„Die große Kraft, die seit Jahrtausenden in den Menschen steckt und ihn antreibt — die Liebe zu der Arbeit für sich selbst. Die kennt keine Normen, keine körperliche Ermüdung, und wenn der Uhrzeiger noch so weit vorgerückt ist, sie kennt keine Grenze in ihrem Streben, ist unersättlich in ihrer Gier..."
„Ugolkow!" rief er in einem plötzlichen Entschluss. „Von morgen an kriegst du Stücklohn bezahlt. Soviel Kolben du machst, soviel bekommst du bezahlt."
Ugolkow hielt einen Augenblick in seiner Arbeit inne und rieb sich nachdenklich den Nasenrücken.
„Gut — bloß ohne alle eure Stoppuhren. Sonst steht so eine Maschine da hinter einem und rechnet jedes Niesen für eine Sekunde an."
„Gut", lachte Kortschenko. „Meinetwegen auch ohne Stoppuhr."
Kortschenko ging weiter, das geschäftige Hämmern in den Ohren. Als er den Beschluss gefasst hatte, gegen Wartanjan zu gehen, war er noch nicht fest davon überzeugt gewesen, dass er im Recht war, — aber er war sich dessen wohl bewusst, dass zwischen ihnen in allerkürzester Frist der Kampf entbrennen musste.
3
Die Straßen waren still und menschenleer, als Saizew nach zweimonatiger Unterbrechung wieder zur Arbeit ging.
Die tote Ruhe der breiten Straßen bedrückte ihn, sie erinnerte ihn durch den Gegensatz an die Zeit, als er zusammen mit Tausenden von Genossen nach der Fabrik geeilt war. Damals hatte er sich aufgelöst in dem allgemeinen Strom, hatte seine eigenen Schritte nicht gehört, die in dem Gleichschritt der anderen untergingen. Jetzt aber war sein Gang schwankend und unsicher, wie bei denen, die er verachtete, weil sie keine Liebe für die Maschine fühlten. Er empfand schwer die Einsamkeit und die Schlaffheit seines Körpers, der die gesunde Elastizität eingebüßt hatte. Und wütend auf sich selbst, auf seinen geschwächten Körper, ballte er seine Fäuste, die die Untätigkeit hatte blass und kraftlos werden lassen.
In der Dreherei herrschte eine erwartungsvolle Stille. Saizew lauschte auf das hallende Echo seiner Schritte und betrachtete die in Reihen aufgestellten Maschinen, als ob er sie 2um ersten Mal im Leben sähe. Er war allein mit dieser strengen, schweigenden Welt der Maschinen, die er in jeder Einzelheit, bis auf das letzte kleinste Schräubchen kannte. Die riesigen altmodischen Drehbänke grüßten ihn mit ihren breiten, gutmütigen Planscheiben. Die einfachen, unkomplizierten Drehbänke zwinkerten den nachdenklichen, soliden amerikanischen Banken zu, deren ausländische Instruktionsschilder aussahen, als ob sie sich mit einem Orden geschmückt hätten. Schwer, wie stählerne Türme standen die Karusselldrehbänke stolz auf ihren Fundamenten. Weiter hinten schimmerten durch das Spinngewebe der Riemen Hunderte von Maschinen, die auf das Anlaufen der Transmissionen harrten.
Von oben her drang durch das gläserne Dach die Sonne herein und entzündete in den schweren Öltropfen gelbgrüne Funken. Mit gierigen Nüstern zog Saizew den Geruch der Arbeit ein, den die Wände ausströmten, und gab sich wieder dieser Welt der Maschinen hin, die er verlassen hatte.
Ungeduldig trat er an seine Maschine, fest davon überzeugt, dass man sie während seiner Abwesenheit vernachlässigt und verschmutzt hatte. Er malte sich schon aus, mit welchem Vergnügen er sich an ihre Säuberung und Prüfung machen würde. Aber das, was er nun sah, wunderte ihn mehr als alles, was er in der letzten Zeit erlebt hatte: funkelnd und glänzend vor Sauberkeit stand seine Maschine da; an jedem einzelnen Teil konnte man erkennen, dass hier eine sorgfältige Hand gewaltet hatte — die Maschine sah aus wie neu. Saizew schaute in den Schrank hinein — auch hier herrschte größte Sauberkeit, alle Werkzeuge waren sauber und an ihrem Platz.
Aufgeregt bewegte er den Support, prüfte die Leitspindel — alles war in bester Ordnung. Ein durchdringendes Pfeifen ertönte, die Türen wurden auf- und zugeschlagen, die Arbeiter strömten in die Abteilung. Saizew drehte den Genossen den Rücken zu und hantierte verwirrt in dem Werkzeugschränkchen herum. Und als er das gewohnte Surren der Transmissionen über seinem Kopf hörte, schaltete er die Maschine ein: langsam begann sich die Achse zu drehen. Aber sofort schien es ihm als mische sich in das gleichmäßige Surren der Maschine ein anderer knarrender Klang. Er wechselte den Drehstahl, prüfte die Einspannung, aber das Knarren ließ sich noch immer vernehmen. Saizew wurde unruhig, hantierte mit dem Schlüssel herum, zog unnötigerweise den Support an, lockerte ihn wieder
— seine nervösen, unsicheren Bewegungen passten nicht zu dem gleichmäßigen Rhythmus der Maschine — er hatte das Gefühl für die Maschine verloren. Und je aufgeregter er herumwirtschaftete, um so schlechter arbeitete die Maschine, sie ordnete sich seinem Willen nicht unter: er hatte die Macht über die Maschine verloren, hatte die Macht über sich selbst, ja sogar über diese dummen Schrauben verloren, die seinem Schlüssel hartnäckigen Widerstand entgegensetzten.
Er schaltete die Maschine aus, und der Riemen klatschte kraftlos auf der Leerscheibe auf. Verlegen sah sich Saizew um
— er sah die Gestalt Mochows, sah Hunderte von Köpfen, die über ihre Arbeit gebeugt waren, und spürte zum ersten Mal nicht mehr die alte Kraft in sich, die ihn hoch über die ganze Abteilung erhoben hatte.
Mochow hatte die Brille auf die äußerste Nasenspitze heruntergezogen und den Kopf tief hinabgeneigt; er ließ kein Auge von der Maschine und von der Achse, als fürchte er, jeden Augenblick wieder Risse und Lunker zu entdecken. Aber die Oberfläche der Achse kam rein und glatt unter dem Drehstahl hervor.
Beruhigt riss er seinen Blick endlich einen Moment von der Maschine los. Der magere, finstere Saizew befestigte einen Radsatz auf der Drehbank und ließ sich dabei ganz außer Atem auf die Knie nieder.
„Mochow, hilf mal dem Saizew!" rief Olga aus der Kabine des Krans herunter.
Mochow ging gehorsam zu Saizew.
„Na, wollen's mal zusammen versuchen. Hoppla! So. Früher, da war's für dich allein eine Kleinigkeit. Sieh mal, wie's dich angestrengt hat, eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Du hättest noch ein, zwei Wochen zu Hause bleiben sollen, bis du wieder ganz auf dem Posten bist."
„Macht nichts! Es wird schon wieder werden. Ich hab' genug ausgeruht — manchmal dachte ich, dass ich wirklich verrückt werde." Saizew, den die Teilnahme Olgas und Mochows rührte, wurde lebhafter. „Ich erzähle da dem Doktor alles von den Zeichnungen, richtig der Reihe nach, wie's angefangen hat. Der aber sitzt da und lacht schlau in sich hinein: ,Wir wissen schon, was das für Zeichnungen sind bei den Verrückten!' Weißt du, Mochow, ich hätte ihm beinahe eine 'runtergehauen! Und weißt du, womit ich's ihm schließlich bewiesen habe? Das ist direkt zum Lachen! Da sitzt er eines Abends bei mir und unterhält sich mit mir. Auf einmal — knacks — geht das elektrische Licht aus! Er wurde ganz aufgeregt, bekam's mit der Angst, lief hierhin und dorthin — kannst dir ja vorstellen: in der Dunkelheit mit einem Verrückten allein im Zimmer, das ist gefährlich. Er schraubt die Birne hin und her, dreht den Schalter immer wieder herum, aber es hilft alles nichts, es bleibt dunkel. Und ich höre, er keucht ordentlich vor Angst. Wirklich, denke ich, man müsste ihm eins versetzen! Aber dann hab' ich zu ihm gesagt: ,Auf soviel Universitäten haben Sie sich nun rumgetrieben, aber die einfachste Sache, das verstehen Sie nicht!' Ich hab' ruhig die Sicherung herausgeschraubt, einen neuen Draht eingelegt und — bitte sehr: das Licht brennt! Er lachte direkt vor Freude, der Doktor, und dann sagte er: ,Ich sehe, dass Sie ein ganz normaler Mensch sind. Ein richtiger ,Psych' hätte mir einfach ein paar heruntergehauen. Gehen Sie nach Hause, Genosse!' sagt er. Schwach fühle ich mich noch sehr. Ich könnte mich hinlegen und liegen bleiben, wo ich geh' und stehe. Aber es hat mich in die Fabrik gezogen... Es geht heiß her jetzt in der
Fabrik..."
Saizew trat von der Maschine weg und setzte sich matt hin. Er betrachtete alles rund herum so genau, als sei er zum ersten Mal im Betrieb. Aber es war alles wie sonst. Da hing auch seine Jacke am Nagel, und ebenso appetitlich wie früher schaute die weiße Milchflasche aus der Tasche heraus.
„Ich hab' was durchgemacht, kann ich dir sagen... Da sitze ich in meiner Krankenstube und denke nach über alles das... Der Wärterin habe ich eine Zeitung gestohlen, und die lese ich nun.,... und fange an, am ganzen Körper zu zittern... aus der Gewerkschaft haben sie mich ausgeschlossen... Wie kann das sein? denke ich bei mir... Ich habe doch für meine Zeichnungen gekämpft, dafür, dass die Fabrik Nutzen haben soll. Und das habe ich nun davon! Die Fabrik setzt mich vor die Tür! Da ging mir alles im Kopf wirr durcheinander, als ob ich wirklich anfinge verrückt zu werden. Weshalb, denke ich, hat das Leben eine solche Wendung genommen?" Erregt erhob sich Saizew und schaltete die erste Geschwindigkeit ein. „Ich hatte mich isoliert... ich wollte mit dem Kopf durch die Wand rennen — statt dessen hätte ich die ganze Abteilung mobil machen müssen, dann wäre alles anders gekommen...", bekannte Saizew und senkte schuldbewusst den Kopf; ganz plötzlich war ihm klar geworden, dass er den Grund für seine Niederlage in der selbstsicheren Abgeschlossenheit seiner einsamen Gedanken zu suchen hatte, dass er sich selbst, wie eine Maschine, aus dem gemeinsamen Leben der Fabrik ausgeschaltet hatte, den Treibrieben seines Lebens hatte leer laufen lassen...
„Das heißt also, die ganze Geschichte kommt daher, weil du ein zu helles Köpfchen hast", lachte Mochow und trat rasch zu seiner Drehbank. Wie Korkenzieherlocken rannen die Stahlspäne unter dem Drehstahl hervor und erinnerten Mochow an Saschas Lockenkopf.
„Fünfzig Pud Stahl haben sie da herangeschafft", dachte er bei sich. Und Mochow stellte sich vor, wie diese fünfzig Fud Metall in den Martinofen gelangen, wie sie sich als feuriger Strom in die Kokille ergießen, wie sie sich — funkelnde Sterne nach allen Seiten spritzend — unter den wuchtigen Schlägen des Hammers krümmen, bis sie schließlich als bläulich schimmernde Achse auf dieser Bank liegen. Vielleicht ist das hier tatsächlich gerade die Triebachse Saschas?
Vorsichtig strich Mochow über den kühlen Stahl. Er nahm einen unter dem Drehstahl hervorrinnenden heißen Stahlspan in die Hand und musterte ihn unverwandt. Und er dachte, wie man Saschas kostbaren Stahl in acht nehmen könne, wie man es anfangen müsse, damit jedes Krümel dieses Metalls zu einem nützlichen Bestandteil des Lokomotivkörpers würde... Da dreht sich Saschas Achse vor ihm auf der Drehbank. Aber sie war schon in anderen Abteilungen gewesen, ehe sie zu ihm, Mochow, gekommen war: sie war gegossen, geschmiedet, markiert worden, Hunderte von Arbeitern, Werkmeistern, Ingenieuren hatten an ihr gearbeitet. Und vielleicht hatte irgend jemand, ein Borezki oder Kraiski, Saschas Achse im geheimen verdorben... vielleicht ist sie auf dem Wege zu seiner Maschine ebenfalls von dieser unheilbarem Krankheit — der Ermüdung des Metalls — ergriffen worden? Wie soll man es anstellen, um sie auf dem ganzen Wege vom Martinofen bis in die Lokomotive vor allen Beschädigungen zu schützen?
Mochow drehte die Stahlspäne nachdenklich in der Hand. Saizew sah das von wühlenden Gedanken erregte Gesicht Mochows, sah die zärtliche Bewegung von Mochows Händen und lächelte. Und Mochow wusste nicht, dass sich in diesem Moment die dritte der Saizewschen Kategorien, die allerhöchste Kategorie der Menschen, um eine Person bereichert hatte....
Erst der Pfiff der Sirene riss Mochow aus seinen Gedanken: und erinnerte ihn daran, dass er jetzt am Tore der ganzen Fabrik verantwortungsvolle Worte sagen müsste.
Auf der Tribüne stand Wartanjan und beobachtete, wie das Gewirr der menschlichen Körper, die die Tribüne mit einem festen Ring umgaben, immer dichter wurde, wie die Menge immer aufgeregter redete und gestikulierte.
Der Wind, der durch den Menschenhaufen fuhr, trieb Wartanjan einen schweren Geruch von Schmieröl, Petroleum und verbrannter Kohle in die Nase. Auf Wartanjan blickten alle diese schmierigen, von Schweiß und Erde beschmutzten Gesichter. Und Wartanjan, der wusste, dass alle diese Menschen hungrig und müde waren, dass er mit der Kraft und Zeit dieser Tausende von Menschen vorsichtig umgehen musste, beeilte sich und rief:
„Genossen!"
Die bekannte Stimme durchschnitt die Luft, und die Menschen verstummten.
„Tagaus, tagein bauen wir, mit Überwindung der größten Schwierigkeiten, ohne unsere Kräfte zu schonen, Lokomotiven für die Sowjetunion. Die Lokomotive — das ist unser Herz. Und an dieses Herz hat sich der Klassenfeind mit dem Messer in der Hand heimlich und hinterlistig herangeschlichen. Er hat uns eine schwere Wunde beigebracht. Er wollte den Blutkreislauf in den Adern der Sowjetunion zum Stillstand bringen, damit unser riesiges Land ebenso von einer Katastrophe ereilt würde wie unsere Lokomotive. Er wollte die Lokomotive der Revolution die Böschung hinuntersausen lassen und wollte auf ihren Trümmern das frühere verfluchte Regime wieder aufrichten. Aber es ist ihm nicht gelungen! Wir haben dem Feind das Messer aus der Hand geschlagen! Und wir verlangen die rücksichtslosesten, strengsten Maßnahmen denen gegenüber, die die Arbeiterklasse, die Partei und die ganze Sowjetunion betrogen haben..."
Die Menge geriet in Bewegung, in Aufruhr. Schwarze Fäuste flogen in die Höhe, und wütende Schreie wogten wie stürmische Wellen über die Köpfe der Menge:
„Erschießt sie, die Hunde!"
„An die Wand mit ihnen!"
„Wozu noch lange Umstände... "
„Tod den Banditen!"
„Genossen!" Wartanjan strengte seine Lungen an. „Sie haben riesige Verluste verursacht. Diese Sache kommt uns nicht billig zu stehen. Aber wir werden unseren Nutzen aus dieser Lehre ziehen. Der Feind schlägt uns mit der Waffe des Wissens, mit der Waffe der Wissenschaft und Technik. Diese Waffe müssen wir uns unverzüglich aneignen. Eine Verzögerung ist hier gleichbedeutend mit Tod! Der Feind nutzt unsere Schwäche aus und schlägt uns. Wir haben eine Menge Fehler gemacht. Aber wir werden aus diesen Fehlern lernen! Und wir werden das Vertrauen des Landes nicht täuschen. Wir werden den Feind besiegen! Warum? Einfach darum, weil es keine Kraft gibt, die die Triebachse der Revolution — die Arbeiterklasse und ihre Partei — zerbrechen könnte! Warum nicht? Einfach darum nicht, weil sie aus dem besten Stahl hergestellt sind, den es in der Welt gibt — aus dem unzerbrechlichen bolschewistischen Stahl!"
„Tod den Halunken!"
„Er—schie—ßen!"
Die Schreie verschmolzen zu einem einzigen tausendstimmigen! Geheul, das die Luft erschütterte — der Hass dieser Tausende war zum Ausbruch gekommen. Der Ring um die Tribüne schloss sich immer fester, es schien, als verwüchsen die Menschen zu einem einzigen gigantischen, zornerfüllten Riesenkörper, und Wartanjan fühlte, wie die Tribüne unter ihm bebte.
Und plötzlich fiel der Ring, der die Tribüne umgab, auseinander. Über die Köpfe der Menge, über die still gewordene Fabrik, zogen feierliche Klänge. Sie schwebten über die Menge, vereinigten sich zu hallenden Akkorden und erstarben langsam, verloren sich in dem wirren Laub der schweigenden Birken. Die Menschen entblößten ihre Köpfe, sie öffneten den Ring und bildeten einen breiten Korridor vom Krankenhaus zur Tribüne.
Als erster betrat diesen von dem heißen Atem der Menge angefüllten Gang Sharow.
Feierlich schritt er vorwärts, das grünlichgraue Gesicht der Sonne zugewandt. In den ausgestreckten Händen hielt er behutsam einen Kranz von Georginen. Sharow war vollkommen nüchtern, trotzdem zitterten seine Hände heftig. Die roten Georginenblätter rieselten langsam zur Erde. Die Sonne fing sie auf, durchleuchtete sie, und es sah aus, als rannen rote Blutstropfen in den Sand.
Und über diese roten Blütenblätter hinweg trug man den alten „Chef". Mochow trug den Sarg leicht und geübt, als sei er irgendein Maschinenteil aus seiner Abteilung; sein Gesicht hatte einen besorgten, sachlichen Ausdruck. Neben Mochow ging Platow — es schien als drücke mit dem Sarg die Last der letzten Tage auf ihn. Dahinter kam Wassja Trussow, unbeholfen und schwer, seine riesigen Füße versuchten kleine Schritte zu machen, die ungeschickt und unregelmäßig ausfielen. Um seine Lippen spielte ein kleines schuldbewusstes Lächeln. Rechts neben ihm schaukelte sich der kugelrunde Kopf Andrjuschetschkins.
Hinter dem Sarg gingen Olga, die alte Pylaicha, die irgend etwas vor sich hinmurmelte, und Sascha Mochow mit seiner blitzenden Kupfertrompete.
Die Kapelle schwieg, ihre letzten Klänge verloren sich in der heißen Luft. Die Menge rührte sich nicht. Der dichte schwarze Rauch der Fabrik hing wie ein Trauerband über den gesenkten Köpfen und ließ schwarzen Schnee auf die starren Hände des „Chefs" niederrieseln, die aussahen, als seien sie erfroren.
„Genossen!" Von neuem erscholl Wartanjans erregte Stimme. „In diesem Kampf für die Sowjetfabrik, in diesem Kampf für ihre sozialistische Zukunft haben wir einen der besten aus unseren Reihen verloren — den alten Kusmitsch... Er hat noch die Leibeigenschaft gekannt. Vom ersten Aufflammen der Arbeiterbewegung an ist er mit dem Proletariat marschiert. Zusammen mit der ganzen Klasse hat er für ihre Zukunft gekämpft. Er hat seine Familie dem Moloch des imperialistischen Krieges opfern müssen. Als Greis hat er die Revolution erlebt, und bis an das Ende seiner Tage hat er die Fabrik nicht verlassen. Und Kusmitsch ist gefallen wie ein Soldat, der seiner proletarischen Armee bis ans Ende treu geblieben ist, der bis ans Ende auf seinem Posten im Kampfe gegen den Klassenfeind ausharrte. Er hat den Sozialismus nicht mehr gesehen, aber er ist am Vorabend des Sozialismus gestorben, beim Aufbau des sozialistischen Fundaments — als unzerstörbarer Pfeiler hat er sein kostbares Leben dafür hingegeben.
Genossen! Unsere Fabrik war krank. Sie hat eine Krise durchgemacht. Schon beginnt eine mächtige Bewegung unter den Massen zu wachsen und sich zu erweitern. Die stärksten Kräfte der Arbeiterklasse treten in dieser Bewegung zutage. Sie fegt die letzten Schranken auf unserem Wege hinweg. Und wir werden uns stets an den alten Kusmitsch erinnern als an den der Sache unserer Klasse treu ergebenen ersten Stoßbrigadier. Leben und kämpfen, wie dieser Alte gekämpft hat! Das Leben hingeben, wenn es nötig ist, ohne zu zittern! Denkt daran, dass wir am Vorabend großer Kämpfe stehen. Bald ist die letzte Frist abgelaufen. Wir sind unterwegs. Unser Zug rast unaufhaltsam vorwärts. Und er wird weiter vorwärtsstürmen — das Pfand dafür ist der heldenhafte Tod Kusmitschs, der die Räder unseres Zugs so unvergleichlich geölt hat.
Es lebe die Arbeiterklasse!"
Und wieder griff der Wind die Schreie auf, das trocken knatternde Händeklatschen, und die Klänge der „Internationale" zogen sieghaft über die Köpfe der zahllosen Menge, über die alte, schweigende Fabrik. Sie drangen in das stille Zimmer des Krankenhauses und zerrissen die weiße Stille. Wera öffnete die Augen und erzitterte... irgendwo dicht in ihrer Nähe brandet die Meeresflut. Donnernd rasen die Wellen und brechen sich am Ufer. Sie schreitet über die Mole und betritt den schwankenden Laufsteg der Lokomotive. Wohin fährt sie? Die Wellen lassen das Deck schwanken. Alles scheint sich zur Seite zu neigen, scheint zu fallen. Die Siegesklänge der Kapelle schlagen gegen die Scheiben...
„Weshalb ist man da froh? Weshalb?! Ich will nicht sterben!" rief sie mit freudig erschrockener Stimme und richtete sich im Bett hoch auf.
4
Mit leisen, raschelnden Schritten kam der Herbst. Er warf den Birken, die nachdenklich ihre Köpfe senkten, eine gelblich bunte Kappe über, färbte den Ahorn und rollte die harten Pappelblätter zusammen. Er fegte über den dürren Grasteppich im Garten und füllte die Straßen mit scharfem Wermutgeruch. Er riss die Äpfel von den Bäumen, die schwer auf den trockenen Boden niederklatschten. Die Georginen flammten hellgelb und brennend rot und entfachten die letzten Feuer zwischen den Latten der Zäune.
Platow und Olga gingen die Straße entlang. Der trockene Sand raschelte kaum hörbar unter ihren Füßen — vielleicht waren es auch die unermüdlichen Grillen, die den Sommer bei seinem Scheiden begleiteten.
An der Straßenkreuzung reckte sich eine neue, glattgehobelte Telegrafenstange empor. Sie sandte viele Drähte aus und fing sie wieder auf, indem sie die straff gespannten Fäden mit den weißen blitzenden Fingern der Porzellanisolatoren fest zusammenpresste.
Platow hob seinen Blick zu den Drähten und musste an vergangene Tage denken.
„Olga, ich besinne mich darauf, wie du ein kleines Mädchen warst und ein rosa Kleid anhattest. Du hocktest auf einem Lastauto. Und eine tausendköpfige Menge folgte dir... Weißt du noch?"
Nachdenklich nickte Olga mit dem Kopf.
„Ich sehe dein Gesicht noch vor mir. Es war ein richtiges Kindergesicht, das ganz verwundert war über die Ereignisse. Und jetzt sieht dein Gesicht genau ebenso aus."
„Ja, Senja... Ich wundere mich auch jetzt noch über vieles. Wie schwer, und wie wunderschön dabei ist das Leben! Ich bin noch ein junges Mädel. Aber mir scheint, als hätte ich schon die fünfundachtzig Jahre von Kusmitschs Leben hinter mir. Was soll aus mir werden, wenn ich wirklich einmal alt bin? Da werde ich ja allwissend und allmächtig sein, wie der kahlköpfige Gott der Bibel!" Und Olga lachte laut und klingend, wie Kinder lachen, ihr Lachen hallte durch die stillen Straßen, über die herbstlichen Gärten und die roten Georginen.
Sie ließen die Stadt hinter sich und erreichten den Wald. Die Erde war umgewühlt, Gruben und Gräben waren ausgeschachtet, aber es war alles still hier an dem Platz der neuen Fabrik.
Platow und Olga setzten sich auf einen trockenen Abhang und blickten nachdenklich auf die aufgewühlte Erde. Eins zottige Hummel brummte um eine Blume und stieß sie mit ihren summenden Flügeln an, so dass sie leise schaukelte. Schwärme glänzender Libellen surrten durch die Abendluft... Aus der Tiefe des Kiefernwaldes kam ein starker Pilzgeruch.
„So, Senja, nun ist alles zu Ende..."
„Zu Ende? Nein, ich denke, dass alles noch weitergeht. Siehst du — Gruben, aufgerissener Erdboden, — und tiefe Stille. Da heißt es noch viel und lange kämpfen, damit hier pochendes Leben die Stille vertreibt. Das ist mein Traum, Olga. Wir werden hier eine riesige Fabrik hinbauen und sie ganz nach ausländischem Muster einrichten. Weißt du, Olga, was für unverschämte Gedanken mir jetzt in den Kopf kommen? Ich werde diese Fabrik bauen. Ich habe ein Anrecht darauf! Ich habe mir dies Recht verdient... In unserer alten Fabrik dort bin ich aufgewachsen, da habe ich meine Feuertaufe erhalten. Vom Formen der Räder habe ich mich hinaufgeschwungen zum Formen unseres Lebens. Mit meinen Händen will ich unsere Epoche formen. Mehr als einmal habe ich Erniedrigung und Schande erlebt. Ich war in den Augen der Arbeiter gesunken... du hast keine Ahnung, wie schwer das damals für mich war. Aber jetzt fühle ich eine unüberwindliche Kraft in mir und ich bin bereit, mich an alles zu wagen. Zum Teufel mit der Vergangenheit! Hier auf diesen Baumstümpfen, Olga, werden wir eine wunderbare Fabrik bauen! Dann wird man die Gegend hier nicht wieder erkennen. Eine sozialistische Stadt wird aus dem Boden wachsen. Und unser Mochow wird endlich in ein Haus mit breiten Fenstern einziehen."
„Und wir auch. Und wir werden unser Leben auf neue Weise führen, nicht wahr? Du wirst dein eigenes Zimmer haben, ich mein eigenes Zimmer. Nichts von dem alten Haushaltskram!"
„Was du dir da alles ausmalst!" lachte Platow. „Ich denke an etwas ganz anderes... Da richten wir nun die neue Lokomotivfabrik ein, und bald müssen wir alles wieder umbauen."
„Warum denn? Wieder konterrevolutionäre Schädlinge?"
„Sieh mal an, wie flink du bei der Hand bist! Nein — sondern darum, weil wir die Lokomotiven dann ins Museum befördern!"
„Wa—rum?" fragte Olga verwundert.
„Ach, du unwissende Komsomolka du! Weil die Lokomotive die gefräßigste, unrentabelste Maschine ist. Der Gesamtwirkungsgrad ist bei der Lokomotive 10 Prozent. Verstehst du?"
„Was ist das für ein Ding: ,Gesamtwirkungsgrad'? Drücken Sie sich gefälligst etwas populärer aus, Genosse Ingenieur!"
„Das heißt, dass die Lokomotive 90 Prozent der Energie, die in dem Dampf enthalten ist, zu ihrem hübschen Schornstein hinausjagt. Und nur 10 Prozent verwandeln sich in mechanische Energie."
„Neun Zehntel verpufft sie also in die Luft? Das ist ja allerhand! Das ist ja einfach unerhört, Senja!"
„Ja, es ist eine Schande! Und unsere sozialistische Wirtschaft kann sich damit nicht zufrieden geben. Sie muss dieses Raubtier unter den Maschinen durch eine andere ersetzen. Die Dampflokomotive stirbt langsam, Olga, an ihre Stelle tritt die Diesellokomotive und die elektrische Lokomotive."
„Was sind das nun wieder für Tiere?"
„Das sind solche Tiere, die billiger sind und stärker. Und ich träume davon, solche Tiere zu machen. Denk' nur mal: tausende Kilometer von hier entfernt, in der sibirischen Taiga, im Ural beginnen wir, die größten Fabriken der Welt zu bauen. Nach ein paar Jahren werden wir das alte Russland nicht wieder erkennen. Menschen und Waren werden auf diesen viele tausend Kilometer langen Strecken in ununterbrochenem Strom hin- und herziehen. Wir heben die Schätze, die die Erde unseres Landes in ihrem Schoße birgt. Wir führen den stählernen Schienenweg über die unendlichen Wiesen, Wälder und Sümpfe. Und auf diesen Schienensträngen werden die elektrischen und die Diesellokomotiven lange, schwere Züge hinter sich herschleppen, mit einer Geschwindigkeit, die diejenige des ,Pacific' bei weitem übertrifft. Ich will diesen von Dichtern und Komponisten besungenen amerikanischen ,Pacific' überholen — jawohl, das will ich!"
„Ach, was du da zusammenphantasierst! Dürfen denn Ingenieure überhaupt so träumen? Überholen! Erst überhole mich einmal!" Und Olga stürmte von der Anhöhe hinunter und war gleich darauf in den Büschen verschwunden.
Platow lief ihr nach, sprang mit großen Sätzen über die Gräben. Vor ihm, zwischen den schlanken Kiefern, schimmerte ein roter Fleck, der bald rechts, bald links irgendwo in dem Gebüsch verschwand, um gleich wieder aufzutauchen, als ob hier und da im Walde die roten Feuer der Georginen aufglühten. Und diesen roten Feuern stürmte Platow nach, durch die Büsche hindurch, so dass die trockenen Blätter raschelnd zur Erde herabfielen.
Draußen fielen die Strahlen der Abendsonne auf die herbstlich welken Gräser, die langsam ihre reifen Samenkörner zur Erde rieseln ließen. Eine hohe Tanne streckte behutsam ihre Tatzen aus und ließ ihre glatten dunkelgrünen Nadeln funkeln. Sie saß mit ihrem harzigen rauen Stamm fest in dem Erdreich und dehnte ihren wuchtigen langen Schatten über die ganze Straße aus. Aus dem Gewirr der trockenen Gräser ragte eine einsame Aster. Wartanjan war es, als habe er alles dies — die Tanne und die herbstlich welken Blumen — schon einmal in der gleichen Zusammenstellung, in derselben abendlichen Beleuchtung gesehen. Erstaunt betrachtete er die regelmäßig angeordneten Zweige der Tanne, das Gewirr der namenlosen, dürren Gräser, die zufällige Aster — aber alles war ganz gewöhnlich und ohne eine besondere Beziehung. Wartanjan musste lachen über seine Angewohnheit, die ihn umgebende Welt allzu aufmerksam zu betrachten. Es wurde ihm klar, dass er unter der drückenden Last dieser unruhigen Tage schon lange die Natur nicht mehr gesehen hatte, und nun reizte ihn sein Gedächtnis, indem es ihm längst vergessene Eindrücke vor Augen hielt und seine Aufmerksamkeit für einen Augenblick von dem ablenkte, was ihn bedrückte; er fühlte, wie sein müdes Gehirn die schwere Last der unruhigen Gedanken von sich warf.
Und es war, als ob er sich weit von dem Heute entfernte, um von der Ferne mit Ruhe das zu betrachten, was in der Nähe seinen Geist so beschwerte.
Dort, am Grabe Kusmitschs, war es ihm schwer gefallen, die ganze Tragweite der Ereignisse, ihre tragische Entwicklung zu erfassen — seine überreizten Nerven hatten schließlich allzu stark auf die erregenden Klänge der Musik reagiert, und das Leid, das aus den Tausenden von Augen sprach, hatte sein Hetz verbrannt, seine Gedanken verwirrt.
Nachdenklich sah Wartanjan auf die von der untergehenden Sonne beleuchtete sandige Straße. Der von dem Regen der vergangenen Nacht feuchte Sand schimmerte goldig, nur da, wo der tiefe Schatten der Tanne hinreichte, war er dunkel, bräunlich überhaucht...
Und Wartanjan fühlte, dass die Scham, die er soeben vorübergehend gespürt hat, weggewischt wurde von der Freude über das Bewusstsein, dass er da lebt und arbeitet, dort, wo das wirkliche, pulsierende Leben herrscht, und zum ersten Mal, seit er hier lebte, fühlte er seine Seele frei von dem dumpfen Druck, den er aus Moskau mitgebracht hatte... Dieser Tage wird er nach Moskau fahren, um den Bau der neuen Fabrik durchzusetzen. Mit festem, sicherem Schritt wird er aus dem Waggon aussteigen und den Fuß auf den Bahnsteig setzen, wie ein Mensch, der das Recht besitzt, jedem frei ins Auge zu schauen.
Er schrieb einen Artikel für die „Prawda". Ehrlich und ausführlich erzählte er dem Lande von den Lehren dieser Niederlage. Er schrieb, dass die Arbeitermassen, die der Kampf für die Fabrik auf die höchste Stufe gehoben hat, nunmehr eine neue Etappe ihres revolutionären Seins betreten und in ungeahntem Umfang das entfalten, was der alte, so tragisch ums Leben gekommene Kusmitsch als Keim in sich trug...
Aus den Zeilen sprach heiße Erregung, rastlose Unruhe und die feste Überzeugung einer sicheren Zukunft — plötzlich aber zitterte seine Hand, und ein großer Klecks fiel auf das Papier: über den weichen, goldenen Teppich der sandigen Straße schritten, dicht aneinander geschmiegt, Platow und Olga. Platow sprach auf Olga ein und gestikulierte heftig mit der energischen Hand. Olga fächelte ihren heißen Wangen mit einem grellroten Tuch Kühlung zu und lachte leise. Sie betraten den tiefen Schatten der hohen Tanne, und sofort war das brennende Rot des Tuchs erloschen.
Wartanjan fühlte, wie sich ein dunkles Gefühl in seinem Herzen rührte, und wieder ergriff ihn eine unbestimmte Unruhe. Ja — sie gehörte zu Platow, und das, was Wartanjan so beunruhigte, war völlig unangebracht; aber es saß hartnäckig fest, wurde stärker von Tag zu Tag, wuchs mit jeder zufälligen Begegnung mit Olga. Olga... Sollte aus der unbestimmten Erregung, die ihn ergriff, so oft er sie sah, wirklich etwas anderes, Größeres geworden sein?
Nachdenklich schritt er im Zimmer auf und ab. Draußen herrschte eine kühle Finsternis, der schwarze, spitze Pfeil des Tannenwipfels bohrte sich in das schwarzblaue Himmelsgewölbe. Im Schein des elektrischen Lichts, das die Dunkelheit durchbrach, schimmerte verschwommen das weiße Sternchen der Aster, und oben waren Milliarden dieser Astern über die schwarze Kuppel des Augusthimmels verstreut. Und Wartanjan dachte, dass diese Annäherung zwischen Platow und Olga ebenso natürlich war wie die Tatsache, dass in dem verwilderten Gärtchen da unter seinem Fenster der stille traurige Herbst in seine Rechte trat.
Das einsame weiße Sternchen der Aster erinnerte ihn an seinen kleinen Laso. Wartanjan holte einen hellblauen, zerknüllten Briefbogen aus seiner Aktentasche und fing wieder an, seinem Sohn einen Brief zu schreiben.
„Mein geliebter kleiner Laso! Endlich werde ich mein kleines Äffchen bald umarmen können: in den nächsten Tagen muss ich geschäftlich nach Moskau. Wir wollen eine neue, riesige Fabrik bauen, die so groß sein wird wie Moskau. Da werden wir wunderschöne, flinke Lokomotiven machen, und jede wird vorn an ihrer Brust einen funkelnden goldenen Stern tragen. Und wir beide, Du und ich, werden mit so einer blitzenden Lokomotive fahren. Sie wird pfeifen wie tausend Pionierpfeifen und so schnell fliegen wie ein Vogel. Also erwarte Deinen schlimmen Papa, mein Laso. Ich bin schon ganz reisefertig, meine Lokomotive steht unter Dampf..."
Eine frische, kühle Augustnacht lag über der Stadt. Dort hinten bei der Fabrik ließ der weiße Schein des elektrischen Lichts das tiefe nächtliche Dunkel des Himmels verblassen — da arbeitete angestrengt eine Handvoll hartnäckiger Menschen — die „Erste Stoßbrigade Kusmitsch", die heute an der traurigen Tribüne gegründet wurde: der Weg der Triebachse vom Martinofen bis zur Lokomotive hatte diese Menschen zu einer Brigade vereint. Im Namen der Brigade hatte es Mochow verkündet, hatte angesichts der tausendköpfigen Menge das kurze Versprechen gegeben:
„Wir werden die Triebachse überwachen. Scharf überwachen: — eine Schraube soll ihnen aus dem Mund wachsen!"
„Ja — der Weg der Triebachse ist schwer", dachte Wartanjan und betrachtete die flimmernden Lichter der Fabrik. „Erst die erste Etappe haben wir hinter uns ... Morgen, mit dem trüben, feuchten Herbst, beginnt die zweite Etappe. Wird sie leichter sein als die vergangenen Tage?" Er dachte daran, dass Morgen Hunderte von roten Proletariern die Maschinen stehen lassen und auf den aufgeweichten Feldwegen und den ungangbaren Waldpfaden sich verstreuen würden, um die jahrhundertealten: Grenzraine zu beseitigen, die Grenzpfähle der Gehöfte auszureißen und der Bauernschaft des Gebiets ein neues Leben zu bringen. Morgen wird die Energie der Klasse, die die Triebachse der Industrie in eiligem Lauf dreht, das knarrende Rad des Bauernwagens vorwärts schieben. Morgen wird die Prüfung stattfinden. Die Fristen dieser Epoche sind hart und unabänderlich...
Auf dem Feuerwehrturm schlug es zwölf. Wartanjan schaltete das Radio ein. Die schwarze Scheibe des Lautsprechers wurde lebendig, knatterte und surrte. Einander jagend kamen ferne melodische Klänge. Dreimal kletterten sie in die Höhe und stürzten in unaufhaltsamen, klingenden Trillern die uralten steinernen Stufen des Kreml wieder hinab. Dann folgten dumpfe, zitternde Schläge, unterbrochen von den schlaflosen Autohupen, dem Räderdröhnen der Straßenbahnen. Die Schläge fielen langsam, heiser und dumpf, die zitternden Klänge verhallten klingend im Äther — es war das uralte Moskau, das seine Kremluhr die Mitternachtsstunde schlagen ließ. Und diese Klänge weckten in Wartanjans Seele die ganze Geschichte dieses Landes, erregend wie Menschenblut, seinen ganzen Weg von den verrosteten Ketten der „Schädelstätte", von den naiven, bunten Kuppeln der alten Basiliuskirche bis zu der strengen Architektur des granitenen Lenin-Mausoleums. Dutzende von Epochen vereinigten sich hier auf der schmalen Fläche des Roten Platzes, liegen gefesselt auf dem steinernen Pflaster, über das Millionen von Füßen hinweggeschritten sind. Die grün angelaufenen, gutmütig-dumm dreinschauenden Kanonen, die vereinzelten wilden, vergoldeten Adler sehen stumm und verwundert auf ein nie erlebtes Schauspiel, — und Millionen von Augen, die jahrhundertelang vor ihrer Macht gezittert haben, schauen jetzt gleichgültig an ihnen vorbei — nach dem roten, spiegelblanken Granit des Mausoleums.
Der letzte Schlag der alten Glockenuhr ist verklungen. Und gleich nach ihm tönen nach allen Richtungen — nach Berlin, New York, nach London und Bombay — feurige, triumphierende Orchesterklänge. Singend durchstürmen sie den Äther, löschen die knarrenden Töne der Foxtrotts, dringen ein in die Villen, Schlösser und Paläste — und da schaltet man schnell das Radio aus. Siegreich aber behaupten sich die Klänge in den Proletariervierteln von Berlin und Paris, in den niedrigen Hütten der Kolonialsklaven, und überallhin tragen sie den Ruf zum Aufstand.
In dieser Stunde gerät die ganze Welt in Erregung, bebt, wird erschüttert. Und vor den Mauern des Père Lachaise erheben sich die drohenden Schatten der Pariser Kommunarden — es zieht sie hin zu ihrer alten Kampffahne, die sich über Lenin neigt.
Und in dieser Stunde schreitet die „Brigade Kusmitsch" unter der Führung Mochows durch die Fabrik und überwacht den Weg der Triebachse.
Wartanjan blickte zum Fenster hinaus, aufgewühlt von der Schau künftiger Tage. Seine dunklen Augen funkelten in zitterndem Glanz. Vom dunkelblauen Augusthimmel fielen Sterne lautlos und schwer, wie reife Äpfel, zur Erde nieder. |
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