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Wassili Iljenkow - Die Triebachse (1931)
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SECHSTES BUCH


1

Mochow erwachte heute lange bevor die Sirene heulte, von dem Wecker einer unbestimmten Unruhe aufgescheucht. Die Astlöcher der im Laufe der Jahre schwarz gewordenen Wände blickten ihn mit ihren alten, halberblindeten Augen an und erinnerten ihn an die Jahre, da er, noch ein Kind, in diesem Zimmer herumgelaufen war, den frischen Harzduft einatmend, der von den durchsichtigen gelben Tropfen herkam, die an den Balken hingen. Er freute sich damals immer darüber, dass die Fliegen, die sich auf den Harztropfen niedergelassen hatten, nicht mehr von ihnen loskamen und ihr Leben lassen mussten.
Jetzt strömten die Wände einen feuchten Modergeruch aus. Mochow hatte die Löcher ausgeflickt und verstopft, aber das half nur wenig. In der Nachbarschaft wurden andere dreifenstrige Häuschen gebaut, die Straße wurde länger, schon langte sie bis zu den Feldern hin. Oft betrachtete Mochow die schmalen, kleinen Fenster, spuckte aus und ging an das andere Ende der Stadt, wo die neuen Steinhäuser aus dem Boden hervorwuchsen. Besonders die Fenster überraschten ihn. Die breiten Spiegelscheiben luden die Sonne geradezu ein, sie hatte freien Zutritt in das Innere dieser Häuser und fiel prall auf die blendend gekalkten Wände. Die Menschen, die hier wohnten, konnten doch keine Geheimnisse mehr haben, sie boten allen ihr offenes Leben dar. Und voll Bitterkeit dachte Mochow dabei stets an die kleinen Löcher, die sein Haus statt der Fenster hatte.
Auch heute war draußen doch sicher schon heller Morgen, hier im Zimmer aber herrschte trübes Dämmerlicht. Mit Mühe und Not bahnte sich das Licht seinen Weg durch die schmalen Fenster und erhellte nur schwach das kleine Zimmer. Daher kam auch die Feuchtigkeit. Mochow erwartete, dass man bald zu ihm kommen und ihm sagen würde: „Mochow, ziehe hinüber in die Siedlung." Das wäre die beste Belohnung für seine langjährige, unermüdliche Arbeit. Er dachte dabei nicht einmal an sich selbst. Aber da lag Sascha und schlief, leise schnarchend. Ein ganzes Heer von Fliegen saß ihm auf Mund, Nase und Augen. Sascha warf sich unruhig hin und her, brummte etwas dabei und fiel dann erneut in tiefen Schlaf. Nein — Sascha, musste unbedingt in so einem Haus mit breiten Fenstern wohnen. Dann wird er auch den Vater nicht verlassen...
Und plötzlich fühlte Mochow eine unbestimmte Unruhe. Die erträumten breiten, hellen Fenster der sozialistischen Stadt verfinsterten sich und schrumpften zusammen, bis sie so klein waren wie die Fenster seines Hauses. Ohne sich recht darüber klar zu sein, woher diese Unruhe kam, fiel ihm der gestrige Tag ein. Ja — die sozialistische Stadt, die war mit der neuen mechanisierten Fabrik verknüpft. Aber der Bau war ja doch eingestellt Moskau traute der Fabrik nicht. Der „Krassny Proletari" machte schlechte Lokomotiven... Die Eisenbahnkatastrophe. Die. Achse. Nun wird die sozialistische Stadt nicht gebaut werden... Die hellen, sonnigen Fenster waren trübe geworden, mit denen war es nichts. Mochow sprang vom Bett.
„Saschka! Steh auf, Kontrolleur! Eine Schraube soll 'dir... Verschläfst die Zeit."
Er zog Sascha an den Beinen, aber Sascha riss sich los, drehte sich um und schlief ruhig weiter.
„Wenn du mich am Fabriktor abfangen willst, dann findest du raus aus dem Bett, aber wenn es heißt, der Fabrik helfen, da kriegst du nicht die Augen auf. Los! Steh auf!" Mochow zog Sascha aus dem Bett, der sich schließlich dazu entschloss, die schläfrigen Augen zu reiben und sich langsam anzuziehen.
„Saschka!" Mochow ließ nicht ab. „In der Fabrik ist der Teufel los, und du pennst!"
„Was für Teufel? Teufel gibt's jetzt nicht mehr", brummte Sascha finster als Antwort auf den unangebrachten Witz seines Alten.
„Doch, Junge. Der Teufel ist los. Er schmeißt die Lokomotiven die Böschung hinunter, lässt die Achsen auseinander brechen, und der ganze Zug ist geliefert! Und du liegst da und schnarchst, du passt nicht auf die Fabrik auf, du Pi—o—nier! Auf die müsstest du aufpassen, und nicht auf deinen alten Vater", sagte Mochow vorwurfsvoll, während er die Fußlappen festwickelte.
„Das sind keine Teufel, sondern das Metall ist müde geworden und gebrochen", sagte Sascha in belehrendem Tone.
„Mü—de geworden!" Mochow blickte verwundert auf seinen Sohn. Der Fußlappen lockerte sich wieder und fiel auf die Erde, und Mochow steckte den nackten Fuß in den Stiefel.
„Na ja, so wie ein Mensch müde wird. Und dann ist sie vor Müdigkeit gebrochen ... Das hat mir gestern Wanka, der ,Direktor' erzählt, und ihm hat's sein Vater gesagt."
„Na, diese beiden Direktoren! Die müsste man nehmen und dahin bringen... Da würden sie sehen... Eine Schraube soll ihnen... Mü—digkeit! Da sind Teufel an Werk, Saschka! Es nimmt einer eine Geige, setzt sich unter die Brücke und fiedelt dann ein, zwei Jahre lang auf seiner Geige: ,So gehe ich ans Flüsschen", und auf einmal — schwupp — da liegt die Brücke im Wasser! Siehst du wohl, mein Junge, was das für schlaue Teufel sind?... Was ist denn das?" Mochow hob den Fußlappen vom Boden und lachte: „Aha, da hat sich die Danilowna verzählt, unsere Mutter. Bei der stimmt's wohl nicht ganz da oben... legt sie mir da drei Fußlappen hin! Die Gehirne werden bei allen weich... Gott allein weiß, was er hier für ein Durcheinander angerichtet hat!" Mochow spuckte voller Verachtung aus.
Sascha hatte sich auf das Bett niedergehockt, und beim Geraunze des Vaters fielen ihm die Augen von neuem zu.
„Sascha, du musst doch zum Direktor! Du hast doch gesagt, dass ich dich wecken soll! Nun zieh dich schon endlich an!"
Da fiel Sascha ein, dass er heute im Auftrag der Pionierabteilung zum Direktor gehen und das Geld für das alte Metall holen musste. Schnell zog er die Hosen an und lief auf den Hof hinaus an den Waschständer.
Dann gehen sie beide durch die gelben sandigen Straßen, die feucht sind vom Tau. Die nackten Füße Saschas lassen im feuchten Sande deutliche Spuren zurück. Mochow schreitet weit aus, von Unruhe getrieben, und Sascha hüpft wie ein Sperling neben ihm her.
„Vater, ich habe Angst, zum Direktor zu gehen. Wenn er mich nun anbrüllt?"
„Warum soll er dich denn anbrüllen? Er ist doch kein wildes Tier. Und du hast ja doch geschäftlich mit ihm zu tun."
Sascha fühlt, wie sein Herz galoppiert, und das Bewusstsein, dass er mit einem wichtigen Auftrag zum Fabrikdirektor selbst muss, lässt es immer schneller pochen. Und wichtig ist die Sache Wenn sie gelingt, dann wird Saschas Abteilung die beste in der ganzen Fabrik sein... Und er eilt weiter, leise erschauernd in der Kühle des frühen Morgens und von den Tautropfen, die auf seine Füße spritzen, wenn er beim Überholen der anderen Arbeiter seitwärts durch das hohe Gras springt.
„Vater! Wenn wir das Geld kriegen, dann bringen wir in unserer Straße einen Lautsprecher an."
„Wenn du doch zu Hause ein Radio einrichten könntest, Saschka. Das wäre doch lustig, da würdest du auch hin und wieder mal zu Hause sitzen; so strolchst du den ganzen Tag herum. Und mir wäre es auch angenehm, so ein bisschen Musik..."
„Erst müssen wir auf der Straße einen Lautsprecher haben, damit alle hören können. Warum zu Hause? Sieh mal, wieviel Häuser! Soviel Geld haben wir nicht, um in jedem Hause ein Radio anzubringen. Erst müssen wir für die Straße einen Lautsprecher haben", erklärte Sascha gewichtig, ohne die naive List des Vaters zu merken.
Das moosbewachsene Dach lastet schwer auf den vom Alter schwarzen Pfählen von Großvater Kusmitschs Haus, so dass sie tief in den lockeren Sand einsinken. In den Brettern und Balken der Wände klaffen Risse. Die kleine, ein paar Stufen hohe Treppe hängt auf schiefen, halbverfaulten Pfählen.
Mochow seufzte schwer, als er an den „Chef" dachte. Sascha sah aufmerksam in das von Runzeln überzogene Gesicht und bemerkte plötzlich eine starke Veränderung an ihm. Gewöhnlich stumpf und trübe, blickte der Vater jetzt nachdenklich und unruhig vor sich hin.
„Vater, wird der „Chef" sterben?" frage Sascha und freute sich über die goldiggrüne Moosdecke des alten Daches.
„Der ,Chef?" wiederholte Mochow nachdenklich. „Der ist zäh, der Alte, der wird schon durchkommen... Dem kann der Tod nichts anhaben, als ob er gefeit wäre gegen ihn. Siehst du, Junge, wie kräftig wir Alten sind. Damit könnt ihr euch gar nicht messen!' Und dabei reckte Mochow seine breiten Schultern, als schüttle er die Last der Jahre von sich.
„Ich werde auch lange leben!" rief Sascha aus. „Bis zum Kommunismus... Dann wird alles anders sein... Ganz anders. Dann werden die Menschen nach ihrer Fabrik fliegen und nicht gehen wie jetzt. Dann werden soviel Flugzeuge herumsurren, wie im Sommer Libellen."
Mochow stellte sich vor, "wie er auf einer Libelle reiten würde, und musste lachen.
„Das kannst schon du besorgen, Brüderchen, das Fliegen. Ich lasse mir's mit meinen zwei Beinen genügen. Das tüftelt wohl alles dein Zeitlin aus, was?"
Sascha nickte bestätigend mit dem Kopf und lachte.
„Das ist ja ein ganz Gerissener, dieser kleine Itz... " Mochow wandte sich um und schritt schnell dem Hause von Kusmitsch zu: „Geh voraus, ich muss mal zu Platow heran... "
„Da hätte ich ja beinahe wieder was Schönes gesagt", dachte er verwirrt und klopfte bei Platow ans Fenster.
Niemand meldete sich. Mochow schaute zum Fenster hinein. Angekleidet, die Hände in der Tasche seines Kittels, lag Platow auf dem Bett. Man hörte sein Schnarchen durch das geschlossene Fenster.
„Der hat sich ordentlich abgequält... Na, soll er weiter schlafen", entschied Mochow und eilte nach der Fabrik.
Er war fast der erste in der Abteilung und benutzte den freien Augenblick, um die neue Nummer der Zeitung zu entfalten, die bei seiner Maschine lag. Zuerst überflog er die vierte Seite, dann die erste. Auf diesen beiden Seiten stand stets das Interessanteste, die Neuigkeiten aus der Stadt und von überall her; in der Mitte der Zeitung wurden lange Artikel abgedruckt, die kaum zu lesen waren.
Auf der vierten Seite stand die Mitteilung, dass der Stadtsowjet die Versorgung der Vorstadtviertel mit elektrischem Licht in seinen Bauplan aufgenommen habe, und Mochow billigte dies. Dann ersah er aus der Zeitung, dass in der „Hinteren Straße" in der Nähe des Flusses ein sechsstöckiges Haus mit Arbeiterwohnungen gebaut werden sollte. Weshalb in der Hinteren Straße? Das war ja fast drei Kilometer von der Fabrik entfernt. Das konnte Mochow keineswegs gutheißen. Er schüttelte den Kopf, riss ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb mit Blei:
„Aß die Redaktion
Was für ein Esel ist auf den Gedanken gekommen, das neue Wohnhaus in der Hinteren Straße zu bauen? Vielleicht hat er dabei mit seinem Hintern gedacht?! Das kann ich nicht billigen. Diese Sache muss geregelt werden. Im Stadtinnern ist genug Platz, und es wird näher und zugleich auch hübscher sein. Und dass die Fenster unbedingt breit sind.
Mochow aus der Dreherei."
Auf der ersten Seite wurde berichtet, dass die Berliner Metallarbeiter streikten und Lohnerhöhung verlangten. Damit war Mochow einverstanden und auch wieder nicht einverstanden. Lohnerhöhung — das ist natürlich eine gute Sache, aber besser wäre es, die Bourgeoisie überhaupt ganz und gar zu des Teufels Großmutter zu jagen und ein Sowjetland einzurichten. Was halten sie sich denn da solange bei der Vorrede auf! Weiter unten stand dann, „dass der Krieg in Marokko mit dem endgültigen Sieg des französischen Imperialismus geendet habe, der den Aufstand der Marokkaner in einem Meer von Blut ertränkte". Mochow wusste nicht, wo Marokko liegt und warum dieser Krieg geführt wurde. Er konnte sich die Marokkaner nicht vorstellen, aber er entsann sich des Haufens von Leichen, die er im Bürgerkrieg gesehen hatte, und stieß einen schweren Seufzer aus, in dem sein Mitgefühl mit den unbekannten marokkanischen Menschen Zum Ausdruck kam. Da gellte der kurze und strenge Pfiff der Fabriksirene unter dem Glasdach der Abteilung hin.
Die Transmissionen surrten, die Riemen klatschten und sprangen. Mochow spannte die Lokomotivachse auf die Drehbank, zog den Stahlhalter mit dem Schlüssel fest und schaltete ein - -die Achse begann sich langsam zu drehen, die Stahlspäne rannen spiralförmig herab. Der Stahl fraß die rostrote Umhüllung der Achse und ihre Oberfläche bekam einen matten, weißlichen Glanz und bedeckte sich mit schmalen Rillen. Plötzlich aber kamen immer häufiger kleine schwarze Blasen zum Vorschein. Mochow stellte die Maschine ab und ging, den Werkmeister Zu suchen.
„Bulawkin, komm mal her und sieh, was da für ein Dreck zum Vorschein kommt..."
Der Werkmeister neigte sich über die Achse, strich mit der Handfläche über das Metall und sagte dann ganz ruhig:
„Ganz gewöhnliche Sache... Beim Schweißen verschwindet das. Ist nicht die erste solche Achse."
Die blaue Warze thronte sicher und ruhig auf der Wange Bulawkins, wie alle die vorhergehenden Jahre lang. Und genau so wie stets drehte sich Bulawkin ohne Eile eine Zigarette.
Mochow blickte starr auf die blaugraue Warze — sie schien die Stabilität der Ordnung, die die ganzen Jahre hindurch geherrscht hatte, hervorzuheben, erinnerte an die häufig mit Bulawkin bei einem Glas Wodka verbrachten Abende und bildete gewissermaßen einen Bestandteil seines eigenen Lebens. In diesem Augenblick aber glotzte die Warze Mochow ganz unverschämt an, und die schwarzen Haare, die aus ihr hervorstarrten, waren ihm geradezu verhasst. Und ganz plötzlich fühlte Mochow jene kühne Verwegenheit in sich, die aus Saschas Augen gefunkelt, jene Kraft, die die Leitersprossen des Lebens durcheinander geworfen hatte.
„Ich werde aber diesen Dreck auf meiner Bank nicht abdrehen", sagte Mochow fest und entschlossen. „Du hast wohl was getrunken, ha?"
„Ich bin sogar sehr nüchtern. Wenn ich besoffen wäre, dann würde ich nicht bloß diesen Dreck da abdrehen, sondern womöglich noch deine Warze."
Bulawkin strich ruhig ein Streichholz an und sagte: „Dann wird sie eben ein anderer abdrehen." „Ich werd' sie auch keinen anderen abdrehen lassen, eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Du denkst wohl, ich bin für dich ein Eisenklotz, was?"
„Was ist dir denn bloß auf einmal in die Krone gefahren, -Mochow?" sagte der Meister überredend, mit halber Stimme. „Jahrelang arbeitest da hier, und nun auf einmal heißt es ,ich werde diesen Dreck nicht abdrehen". Was ist denn los? Du willst wohl den Ingenieur spielen, was? Bist auf einmal weise geworden, was? Wenn der Meister befiehlt, hast du zu gehorchen, und damit basta!" schloss er streng, im Tone des Vorgesetzten.
„Na, brüll' man ein bisschen leiser, du hast hier keinen dummen Jungen vor dir! Ich drehe die Achse doch nicht ab, ich hab's dir gesagt und damit Schluss. Gib' ein anderes Stück her."
Der Meister schaute sich verwirrt um, sein Blick fiel auf ein pockennarbiges Gesicht.
„Koschkin! Du gehst zu dieser Bank über."
Koschkin kam heran.
Mochow stellte sich drohend zwischen seine Bank und Koschkin.
„Scher dich weg! Ich lasse dich nicht ran!"
„Was soll das heißen? Streik? Arbeitest selbst nicht und lässt auch andre nicht arbeiten! Du wirst aufsässig? Du fliegst raus!!" Bulawkin zitterte vor Wut.
„Ich lasse keinen an die Bank ran — hast du verstanden?" brüllte Mochow heiser.
Die Arbeiter ließen ihre Drehbänke stehen und kamen von allen Seiten herbeigelaufen. Der Meister holte den Abteilungsleiter. Sorin kam langsam heran und machte sich schweigend daran, die Achse zu prüfen.
„Defekte sind vorhanden. Aber erstens sind sie zu beseitigen, zweitens ist das überhaupt nicht Sache des Drehers. Sie haben die Pflicht, die Achse auf das richtige Maß abzudrehen, und weiter nichts. Arbeiten Sie!" Sorin sprach ruhig und gemessen.
„Richtig! Dazu sind die Chefs da, um das zu verstehen."
„Kann man denn so etwas zulassen, Simon Petrowitsch? Wenn hier jeder seine eigene Ordnung einführen wird, wozu brauchen wir dann Werkmeister in den Abteilungen? Ich sage: mach's so, und er macht mir gerade das Gegenteil! Als ob er verrückt geworden wäre. Wenn's der Meister befohlen hat, so hat er eben zu gehorchen! Basta!" Bulawkin drückte würdevoll die Brust heraus.
„Ich werde sie nicht abdrehen. Weiter habe ich nichts zu sagen. Und du, Hundesohn, mach dich hier nicht so mausig!" Dabei spuckte Mochow dem Werkmeister voller Verachtung auf die Stiefel.
„Mochow, als Abteilungsleiter fordere ich Sie hiermit auf zu arbeiten", sagte Sorin scharf. „Ich weigere mich!"
„Auf Grund der Betriebsvorschriften muss ich Sie entlassen, wenn Sie sich weigern, den Anordnungen des Abteilungsleiters Folge zu leisten!" schrie Sorin, der die Ruhe verloren hatte. Die Arbeiter waren ganz still geworden und sahen auf das eigensinnige Gesicht Mochows.
„Weiß Gott, du bist betrunken, Makarytsch." „Der ist noch von der gestrigen Versammlung her aufgekratzt."
„Kinder, lasst mal, der Alte regt sich sicherlich nicht umsonst auf."
„Sieh' mal einer an, unser Mochow! Was der sich da leistet! Soviel Jahre lang hat er still und leise seine Achsen gemacht, und nun auf einmal..."
Sorin wartete auf eine Antwort. Seine Lippen zuckten nervös. Er zerdrückte eine Zigarette zwischen den Fingern, der Tabak rieselte auf die Erde.
„Ich verlange, dass der Inspektor herkommt. Mag der sagen, ob eine Lokomotive mit einer solchen Achse laufen kann." Mochow stützte sich mit der einen Hand auf der Drehbank, als ob er sie den Blicken Sorins entziehen wollte.
„Das ist ganz überflüssig. Hier ist das Prüfzeichen des Inspektors. Die Achse ist von der Inspektion abgenommen."
Hammer und Sichel blickten Mochow deutlich an — einen Augenblick wurde er schwankend, aber dann tauchte vor seinen Augen ein Trümmerfeld auf — zerschlagene Waggons, Maschinen... Und in den grünlichen Augen flackerte von neuem Unruhe.
„Ich verlange, dass der alleroberste Chef hierherkommt. Er soll sich die Achse ansehen. Ich drehe sie nicht ab."
Von allen Seiten wurden Rufe laut:
„Mochow hat zu tief in die Flasche geguckt!"
„Du hast dir wohl ein Prinzip angeschafft?"
„Wegen der Tarifsätze macht er das jedenfalls ..," sagte Bulawkin boshaft.
Wütend rollte Mochow die grünen Augen.
„Wegen der Tarifsätze? Verfluchter Kriecher du! Das wagt mir einer nachzusagen? Mochow hat umsonst gearbeitet, als es sein musste, als du noch auf dem Dorf deinen Bauch gemästet hast! Und Mochow würde wieder umsonst arbeiten, wenn es nötig wäre... ,Tarifsätze'! Du blöder Hund! Du denkst, alle sind so wie du, was? Es stimmt, früher hab' ich das gemacht: hab' abgedreht, was ihr mir hingelegt habt, ganz egal, was für'n Dreck. Blind war ich, das stimmt! Aber jetzt bin ich sehend geworden. Bei Koslowka habe ich mein ganzes Leben überblickt, Jungens! Ich war der beste Dreher der Abteilung... "
„Wer sagt denn, dass du nicht der beste Dreher bist? Nicht bloß in der Abteilung, in der ganzen Fabrik!"
Aber Mochow hörte nichts, er schrie und fuchtelte dabei mit der ölbeschmierten rechten Faust herum:
„Ich dachte, weiter ist nichts nötig. Abgedreht, abgeliefert, mein Geld verdient, Schluss. Alles andere ist nicht meine Sache. Aber jetzt will ich nicht mehr so arbeiten! Was schielst du da mit deiner Fratze zur Seite, Bulawkin? Sieh mir gerade in die Augen: Was habe ich abgedreht? Was abgeliefert? Was ist draus geworden? Der Leiter?? Ich glaube keinem Leiter!" Mochows Stimme überschlug sich. Er fühlte, dass die Kraft, die die Lebenssprossen durcheinander geschüttelt hatte, bis direkt an sein Herz vorgedrungen war.
Die Transmissionen brummten, die Motoren surrten, der Drehstahl bohrte seinen Zahn knirschend in den Guss — aber keiner hörte ein anderes Geräusch in der Dreherei als Mochows wildes Geschrei.
„Ich glaube euch nicht mehr! Dem Bulawkin glaub' ich nicht, Ihnen glaub' ich nicht" — dabei tippte er Sorin auf die Brust, der verwirrt einen Schritt zurückwich. „Diesem Hammer und dieser Sichel glaube ich nicht. Alles ist falsch, Jungens! Ich glaube nur noch mir selber. Der Zeitung glaube ich. Das von den Marokkanern glaube ich. Aber deiner Warze glaube ich nicht, du kahlköpfiger Teufel, du Kriecher du! Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!"
„Richtig! Die Sache muss untersucht werden!" „Gib's ihm, Makarytsch! Die haben uns genug den Kopf verdreht."
Und Mochow schrie weiter:
„Den Saizew haben sie wegen seiner Zeichnungen ins Irrenhaus gesteckt! Bis zum Hungerstreik haben sie den Menschen getrieben! Ihr Schweine! Jungens, holt mal den Parteisekretär her. Lauft mal zu dem Martemjan!"
Aus der Verwirrung, die in den Lebenssprossen angerichtet worden war, war nur eine einzige heil hervorgegangen — die alleroberste, die, auf der „Martemjan" stand. „Wartanjan heißt er."
„Holt den Martemjan her! Dem werde ich glauben... Martemjan soll kommen. Der war mit Lenin bekannt." Er schrie eigensinnig und gebieterisch: „Martemjan holt her!" Und alle griffen es auf: „Wartanjan holt her!" „Martemjan!!"
„Ins Raikom — los, ins Raikom!" „Die Partei soll's untersuchen!" „Wartan—ja—a—n!"
Die Dreherei hallte wider von dem ohrenbetäubenden Ge schrei, das mit dem Donnern und Krachen des Metalls verschmolz — die Wände brüllten und das Metall schrie, erfüllt vom Zorn der Menschen.
Wartanjan kam hastig in die Dreherei gerannt und wischte sich den Schweiß von dem erregten Gesicht.
„Du musst diese Sache hier aufklären, Genosse Martemjan!" Aufgeregt schlug Mochow mit der Hand auf die Achse.
Wartanjan blickte verwirrt auf die Achse und begriff nichts. Er sah nicht einmal die kleinen Narben, die aussahen, als wären sie mit einer Nadel eingekratzt. Er fühlte sich völlig ohnmächtig diesem sonderbaren Stück Metall gegenüber, das die ganze Abteilung in Aufruhr gebracht hatte, und rief Kortschenko telefonisch herbei.
Kortschenko lief um die Maschine herum, betrachtete den glänzenden Stahl von vorn, von der Seite, fuhr mit der Hand darüber hin und zögerte mit der Antwort. Er sah auf einmal unklar das Gesicht Wekschins vor sich, hörte seine wirren Worte über das Flicken von Ausschuß durch Borezki, und sein Herz begann schneller zu schlagen.
„Nun, was ist deine Meinung?" drängte ihn Wartanjan.
„Der Stahl weist Defekte auf... Aber das Prüfzeichen des. Inspektors ist doch vorhanden?" fügte Kortschenko verwundert hinzu. „Demnach scheint die Achse wohl den technischen Anforderungen zu genügen?!"
„Holt Akatujew her!" befahl Wartanjan. „Und Turtschaninow! Bruck! Platow! Borezki! Diese Sache muss sofort an Ort und Stelle aufgeklärt werden!"
Bruck kam zufällig von selbst. Er besichtigte die Achse lange und eingehend, er neigte sich so dicht über sie, dass sich der glänzende Stahl in seinem kahlen Schädel spiegelte.
„Ich die Meinung, dass man auf eine solche Achse um der ganzen Erdkugel herumreisen kann", sagte er sorglos lächelnd1 und wischte sich seine kahle Platte mit dem Ärmel ab.
Dann kam Turtschaninow. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Umstehenden und bohrte seine Raubvogelaugen in den Stahl.
„Jawohl — diese Achse taugt nichts. Das kann überhaupt nicht verschweißt werden. Sonderbar, wie sie in die Dreherei gelangen konnte", fügte er hinzu, mit einem Blick auf Sorin.
Sorin schwieg und zerdrückte einen Zigarettenstummel zwischen den Fingern. Finsteren Gesichts trat Bulawkin hinzu.
„Genosse Kortschenko, Platow ist noch nicht gekommen. Kraiski auch nicht... Wir haben in seine Wohnung telefoniert, da hat man geantwortet, dass ihn die GPU in der Nacht verhaftet hat."
„Die GPU?" Kortschenko riss erstaunt die Augen auf und stützte sich verwirrt auf die Drehbank. Wartanjan betrachtete misstrauisch sein bleiches Gesicht, wandte dann den Blick Turtschaninow zu, dann Bruck, dann den stumm gewordenen Arbeitern und trat zu Mochow.
„Werden oft solche Achsen zum Abdrehen gegeben?"
„Andauernd, Genosse Martemjan. Nur früher habe ich selber nicht darauf geachtet, hab' sie stumpfsinnig abgedreht und gut."
Mit schweren, ungleichmäßigen Schritten näherte sich Akatujew. In den zerzausten, silberweißen Haaren hingen ein paar dürre Grashalme. Die welken, gelben Wangen schienen die eines Toten. Die Augen waren leer und kalt, sie ruhten gleichgültig auf dem glänzenden Metall der Lokomotivachse.
„Was ist Ihnen, Pawel Jakowlewitsch?" flüsterte Turtschaninow, erschrocken über das furchtbare Aussehen Akatujews.
Akatujew betastete die Achse und sagte leise:
„Das ist nicht mein Stempel."
„Wessen Stempel ist es denn?" fragte Kortschenko mit einem schiefen Lächeln.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Mein Stempel gibt die Zeichen deutlich wieder. Die Sichel hier auf diesem Stempel hat keinen Griff."
Er nahm seinen Stempel aus der Tasche und prägte ihn mit einem Hammerschlag auf dem Gestell ein. Alle sahen, dass Akatujew recht hatte.
„Das ist ein gefälschter Stempel", erklärte Akatujew müde. „Ich muss gehen.... Ich gehe ins Krankenhaus... Da liegt meine Tochter... im Sterben ... " Und langsam ging er dem Ausgang zu — langsam verschwand dieser fürchterliche Kopf, der aussah wie ein Schneeklumpen.
Platow kam ihm entgegen und lächelte. Ihre Augen trafen sich. Akatujew wich zurück, sein ganzer Körper schien plötzlich zusammenzuschrumpfen.
Platow, der nach der ruhig durchschlafenen Nacht wieder ein frisches Aussehen hatte, umfing Akatujews Gestalt mit einem heiteren Blick seiner blinzelnden Augen.
„Was ist denn geschehen, Platow? Warum ist Kraiski verhaftet?" fragte Wartanjan, der Platow entgegengegangen war, unruhig. „Es geschehen geradezu unglaubliche Dinge. Ich begreife gar nichts mehr..."
Platow gähnte breit und zufrieden und erzählte ihm von seinen gestrigen Erfolgen. Wartanjan hörte ihm starr vor Verwunderung zu; er blickte ganz bestürzt in Platows zufriedenes Gesicht und konnte nicht begreifen, wie man in einer solchen Minute lächeln konnte.
„Komm, Wartanjan, komm und sag' den Arbeitern dass der Stempel auf der Achse gefälscht ist, dass mit falschen Stempeln gearbeitet wurde und dass die Betrüger verhaftet sind", schlug Platow vor, immer noch lächelnd.
Ohne den Leuten ins Gesicht zu sehen, die den feierlich schweigenden Mochow umstanden, trat Wartanjan an ihn heran und sagte, jedes Wort ausdrücklich betonend:
„Du hast recht, Mochow. Das ist eine Achse von Schurken." Mochow warf einen vernichtenden Blick auf den finster dreinblickenden Kortschenko und streckte Wartanjan die ölbeschmierte Hand hin:
„Danke, Genosse Martemjan. Ich hab' ja gewusst, dass du die Geschichte ans Licht bringen würdest." Er drückte fest die schlanken Finger Wartanjans und blinzelte vor Aufregung mit den Augen. Die höchste Sprosse, die einzige, der das Durcheinander nichts hatte anhaben können, die thronte fest und unerschütterlich über allen anderen Leitersprossen des Mochowschen Lebens. Blickte er in diesem Augenblick nicht selbst von irgendeiner Erhöhung herab auf die ihn umringenden Menschen, auf die Maschinen, auf die ganze Dreherei, der er vierzig Jahre seines Lebens geweiht hatte? Und von dieser schwindelnden Höhe aus sah er sein ganzes Leben und sich selbst, erdrückt von der Last der verfluchten Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit seiner Arbeit gegenüber, und er sah auch seinen Saschka, der dieses ganze wunderliche und verzwickte Durcheinander eigentlich angerichtet hatte, und den Zeitlin, diesen schlauen Bengel, den Anführer der ganzen Gesellschaft... Ja, und er wird auch unbedingt zu diesen Taugenichtsen hingehen und ihnen erzählen, was er von der allerhöchsten, der Martemjanschen Lebenssprosse aus gesehen hat...
Seine Augen glänzten, er schien wie verjüngt, erneuert durch dieses heiße, jugendliche Blut, das ihm da plötzlich zum Herzen strömte.
Und als Wartanjan schon beim Ausgang war, da kam ihm Mochow nachgerannt und hielt ihn an:
„Du, Genosse Martemjan, schreib' mir jetzt ein Parteimitgliedsbuch aus... So ohne Mitgliedsbuch kann ich jetzt nicht mehr weiter arbeiten..."
Und das sagte Mochow in einem Tone, als sei Wartanjan der Lagerverwalter, und als verlangte er, Mochow, von ihm ein wertvolles und seltenes Werkzeug, das er unter allen Umständen brauchte.
Dann ging er wieder an die Maschine, ruhig und zufrieden. Er dachte an Sascha: „Prügeln gibt's nicht mehr — einverstanden !... Na, warte mal, ich werde dich schon anders rankriegen — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! ... " Dabei rückten seine Finger, die vor angenehmer Aufregung ganz heiß waren, die Brille zurecht, die auf die Nasenspitze hinabgerutscht war.
Wartanjan hatte sich mit Platow in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und den Befehl gegeben, niemand vorzulassen. Mit strahlenden Augen erzählte Platow noch einmal, wie er sich gestern auf die Suche gemacht habe nach dem verlorenen Glück des alten Kusmitsch. Wartanjan ging rasch im Zimmer auf und ab, mit nervösen Fingern drehte er an den Enden seines kaukasischen Gürtels. Auf einmal wurde mehrere Male hintereinander heftig geklopft.
„Da findet eine Sitzung statt! Niemand darf hinein!" rief eine Männerstimme streng.
„Ich muss aber! Ich muss hinein, ich muss!" übertönte sie eine aufgeregte, helle Frauenstimme.
Wartanjan öffnete die Tür und sofort sprang irgendein buntes, aufgeregtes Etwas ins Zimmer.
„Wo ist hier der Oberste? Den Obersten muss ich haben!!"
Erstaunt betrachtete Wartanjan die zerzaust und verwildert aussehende Frau. Sie tobte im Zimmer umher, als ob ihre Füße absolut nicht auf einem Fleck bleiben wollten, und schrie dabei:
„Den Allerobersten muss ich sprechen!"
Irgend etwas in dem Gesicht dieser Frau kam Wartanjan bekannt vor, er packte sie am Arm und drückte sie auf einen Stuhl.
Da beruhigte sie sich einigermaßen.
„Sagen Sie, was ist passiert?"
„Lassen Sie sofort meinen Mitja heraus!" rief die Frau befehlend. „Er fängt schon an, wirklich verrückt zu werden!"
„Welchen Mitja?"
„Ganz verwundert schaute sie Wartanjan an.
„Na, meinen Mann natürlich! Den Saizew! Ich bin die Nastja. Seine Frau. Na, du bist ja ein komischer Kauz, dass du das nicht begreifst! Du warst ja doch bei uns damals!"
Da plötzlich fiel Wartanjan alles wieder ein: das Mißtrauen dieser Frau damals bei seinem Besuch und der Hass, mit dem sie das fauchende Automobil betrachtet hatte.
„Sofort haben Sie ihn freizulassen! Sonst schlage ich alle Fensterscheiben im Krankenhaus kaputt. Sie stellen da alles mögliche mit ihm an. Jetzt läuft er rum und lacht wie ein Wahnsinniger. »Meinen Quälgeist haben Sie jetzt verhaftet', brüllt er, ,diesen Ingenieur, den..' wie heißt er doch gleich ... " Nastja konnte vor Aufregung nicht weitersprechen.
Wartanjan lief zum Telefon:
„Den Chefarzt des Krankenhauses, bitte. Genosse Rumjanzew? Bitte, sorgen Sie dafür, dass der Arbeiter Saizew unverzüglich aus dem Krankenhaus entlassen wird. Aus der Psychiatrischen Abteilung... So ? Wann denn? Soeben? Gut... Hören Sie, Nastja, Ihr Mann ist schon zu Hause."
Der Stuhl, auf dem Nastja gegessen hatte, kippte plötzlich nach hinten, und in einem Nu war das bunte Knäuel zur Tür hinaus. Kaum hatte der lächelnde Platow den Stuhl aufgehoben, als Walja wie ein schwarzer Schatten ins Zimmer huschte. An ihren dichten Wimpern hingen zitternde Tränen. Aus ihren großen braunen Augen, die von breiten schwarzen Ringen umzogen waren, sprach tiefer Kummer. Ihre drollige Nase zitterte krampfhaft.
Walja presste ihr Taschentuch an die Augen und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken.
„Senja... was soll das bedeuten?" Ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren Körper, sie ließ den Kopf sinken, und das flüssige Kupfer ihrer Haare floss in dichten Wellen über das Gesicht, auf die weißseidene Bluse nieder.
Fragend blickte Wartanjan von Platow, dessen Gesicht eine dunkle Röte überzog, zu dem unbekannten, weinenden Mädchen, und er begann nervös im Zimmer auf und ab zu gehen.
„Warum hat man ihn denn verhaftet? Alle Zimmer sind versiegelt... In der Nacht haben sie ihn geholt... Er hat sich nicht einmal von mir verabschieden können. Waru—u—m? Er hat ja doch gearbeitet wie alle anderen! Und lange Jahre hindurch war er einfacher Arbeiter. Du kennst ihn ja, Senja. Und mich kennst du auch ... " sagte Walja jammernd und rang die Hände.
„Ja, ich kenne deine Familie. Ihn. Dich... Nur allzu gut kenne ich euch, leider..." Platow runzelte die Stirn. „Aber ich kann dir hier in keiner Weise helfen. Das war zu erwarten, Walja... Weine nicht um deinen Vater. Er verdient es nicht."
„Er hat mich doch aber so geliebt, Senja... Ich war der einzige Mensch, der ihm nahe stand. Er hat alles getan, was er nur konnte, um mir jeden Wunsch zu erfüllen... " Dabei rannen ihr die Tränen durch die Finger.
Platow betrachtete die zusammengesunkene Gestalt und sah zum ersten Mal, dass dieses stets lachende und lebensfrohe Mädchen auch bitterlich weinen konnte.
„Deinem Vater, Walja, geschieht ganz nach Verdienst. Du wirst später alles erfahren."
„Ich weiß, das Sergej Wekschin ihn verleumdet... Der ist zu allem fähig — er hat meinen Vater damals nach der Gerichtsverhandlung beinahe totgeschlagen ... "
„Davon weiß ich nichts. Aber ich weiß, Walja, dass dein Vater durchaus imstande ist, einen Mord zu verüben..." sagte Platow langsam, in Gedanken an den alten Kusmitsch.
„Was sagst du da, Senja!" Walja sprang auf. „Das ist gemein! Ihr habt euch alle verabredet, meinen Vater zu vernichten. Was hat er euch denn getan?" Ihre Augen funkelten vor Wut.
Wieder wurden draußen hinter der Tür Stimmen laut, diesmal jedoch zwei strenge, scharfe Männerstimmen.
„Fort, niemand darf hinein!"
„Ich darf überall hinein!"
„Wer bist du denn?"
„Und wer bist denn du?"
„Schrei' nicht so!"
„Und du bell' nicht so laut!"
Krachend flog die Tür auf, und auf der Schwelle erschien Sharow. Sein Gesicht war erregt und besorgt.
„Ich hab' etwas mit dir zu reden." Er tippte Wartanjan mit einem Finger auf den Arm. „Du hast mich damals ordentlich geärgert mit deiner ewigen Fragerei. Weißt du noch, wie wir die Eisenbarre zusammen zerschlagen haben? Jetzt ist die Sache ein bisschen schwerer wie eine Eisenbarre... Was sind das hier für Leute?" Er warf einen misstrauischen Blick auf Walja. „Ich habe eine wichtige Sache. Eine geheime Angelegenheit..." Er senkte mit geheimnisvoller Miene die Stimme.
„Sprich, Sharow. Um was handelt es sich?" Platow trat näher an ihn heran.
Sharow warf seinen struppigen Kopf zurück und sagte feierlich:
„Ich weiß, wer den ,Chef' umgebracht hat. Antonytsch!"
„Was?" schrie Walja erschrocken auf. „Mein Vater? Und
ihr glaubt diesem Trunkenbold? Der verkauft seine Seele für
eine Flasche Wodka. Ach, was ist das bloß alles?!" Matt ließ
sie sich auf einen Stuhl fallen.
„Beruhigen Sie sich nur, Bürgerin. Sie geht das gar nichts an. Das ist eine geheime Angelegenheit. Antonytsch hat ihn umgebracht. Er hat seinen Lebensfaden abgerissen. Ein guter alter Mann war er, der Kusmitsch. Als ich ihn ins Krankenhaus schleppte, da kam er auf einmal zu sich und sagte: ,Stassik hat mich ums Leben gebracht.' ,Was für ein Stassik?' dachte ich damals. ,Er phantasiert, der Alte!' Bitte, beruhigen Sie sich. Bürgerin. Stören Sie uns hier bei der geheimen Sache nicht!" Er schüttelte unwillig Walja ab, die mit zitternden Händen seinen Arm umklammerte. „Jetzt eben aber, da redet auf einmal die ganze Martinabteilung: ,Den Antonytsch haben sie eingesteckt.' Und der Titytsch, der schüttelt den Kopf, und sagt: ,Soweit hat er's also gebracht, der Stassik.' Wie Elektrizität ist mir's da durch den Leib gegangen! Im Nu war ich hier. Darum hat er mich auch damals eine ganze Stunde nach der Bahre in der Fabrik 'rumsuchen lassen, damit der Alte erst verblutet! Bürgerin, ich ersuche Sie, bringen Sie mich nicht auf!" rief Sharow erregt, in unaussprechlichem Kummer. „Ich bin kein Trunkenbold. Ein verbitterter Mensch bin ich! Mich verfolgt das Leben. Aber ich will Wurzeln fassen! Ich will mich festhalten im Leben!"
Wartanjan fuhrwerkte wie ein Wilder im Zimmer hin und her und biss sich die Lippen fast blutig. Platow schrieb schnell ein paar Worte auf ein Papier.
„Hier, Sharow, geh da hin und erzähl' alles, was du weißt. Aber schnell!" kommandierte Platow.
„Genosse Platow... " Sharow zupfte ihn bittend am Ärmel. „Ich habe doch nun schon soviel zustande gebracht. Denken Sie mal an alle meine Verdienste. Stellen Sie mich an eine Maschine... Wie mein Kind werde ich sie pflegen... "
„Schnell, schnell, geh' los! Das erledigen wir nachher", mahnte ihn Platow zur Eile.
Sharow lief eilig davon. Walja stand weinend am Fenster. Platow sah sie an, dann schien er sich an irgend etwas zu erinnern und fasste sie bei der Hand.
Unten auf dem Fabrikgeleise kam, in wütenden, zischenden Dampf gehüllt, eine Lokomotive vorbei. Auf ihrer Brust glühte in feurigen Strahlen der rote Stern.
„Walja, dein Vater wollte diese Lokomotive da zum Stehen bringen, aber die Lokomotive hat ihn zermalmt. Und sie wird auch dich zermalmen, wenn du es wagen wirst, dich ihr in den Weg zu stellen. Vergiss deinen Vater. Dein gemütliches Leben hat er mit dem Blute anderer erkauft. Fange an so zu leben, wie alle diese ölgetränkten und rußgeschwärzten Menschen da unten leben. Dann wirst du dein wahres Glück finden."
Mit langsamen Schlitten ging Walja zur Tür, während sie ihre zerknüllte Bluse glatt strich.
„Was machen die Menschen bloß aus dem Raikom?" rief der ganz erschütterte Wartanjan. „Was war das für ein Mädchen? Von was für einem gemütlichen Leben hast du zu ihr gesprochen, Platow? Ich verstehe überhaupt nichts mehr!" Platow lachte müde.
„Ich will dir mit den Worten deines Lieblingsdichters antworten, Wartanjan. Über dieses Mädchen und ihren Vater hat dein Lieblingsdichter sehr treffend gesagt:
„... Ein solches Behagen ist derer Los, Die nicht mehr kämpfen zum Besten aller Die sich bereiten im häuslichen Schoß Nur sich selbst Kanarienvogelbehagen ... "
Ja — die Frage des persönlichen Glücks ist nicht so einfach. „Ach was — scher dich zum Teufel mit deinen Poeten!"' sagte Wartanjan zähneknirschend.


2

Aus den Werkstätten drang der Klang von aufschlagenden Eisenteilen und das Getöse der Maschinen. Blauer Rauch entströmte den riesigen Toren der Eisenkonstruktionswerkstatt und zog in dünnen Strähnen über den ganzen Hof. Unter freiem Himmel bauten die Arbeiter einen Kran für Dnjeprostroi zusammen. In einer Länge von etwa dreißig Metern lastete er mit seinem schweren Körper auf der Erde. Solche Kräne hatte die Fabrik noch niemals hergestellt, die Halle der Eisenkonstruktionswerkstatt konnte ihn gar nicht aufnehmen, er musste draußen auf dem Hof zusammengebaut werden.
„Er wird zweihundertvierzig Tonnen heben können!" Stolz klopfte Platow auf das Eisengerippe. „Hat diese alte Fabrik auch nur geträumt, solche Giganten zu bauen? Alles ist möglich — wie es ja auch möglich war, dass uns diese Kraiskis, Borezkis und wie die Betrüger alle heißen, fünf Jahre lang an der Nase herumführen konnten."
„Wie?" unterbrach ihn Wartanjan aufgeregt. „Haben sie es denn schon lange so getrieben? Was hat das unserer Fabrik für Schaden gebracht! Dem ganzen Lande! Dem Transportwesen!"
„Es war eine Erschütterung des gesamten Organismus der Fabrik. Seine langsame Vergiftung. Für das Land bedeutet es Millionenverluste, eine Hemmung der Entwicklung des Transportwesens um Jahre, ein Durchkreuzen aller unserer Pläne."
Wartanjan musterte im Gehen aufgeregt jedes einzelne Fabrikgebäude, als suche er an den verrußten Wänden Risse zu entdecken.
„Was für eine Schande! Was für eine Schande!" wiederholte er unablässig.
„Aber was wäre erst geworden, wenn es uns jetzt nicht gelungen wäre, alles aufzudecken?" fragte Platow.
„Ja, Platow, du hast recht. Wir... das heißt, du hast hier einen unschätzbaren Dienst geleistet."
„Ich bin nur einer von vielen... Die da sind es, die diese Sache zuwege gebracht haben... " Dabei wies Platow mit der Hand über den Fabrikhof.
Auf dem Bahnkörper der Fabrikbahn waren Arbeiter damit beschäftigt, Eisen und Kohle auszuladen; man hörte das Klingen und Schrillen des auf den Boden hinkrachenden Metalls, begleitet von den lauten Pfiffen der auf den Geleisen manövrierenden Lokomotiven; mit Kränen hoben die Arbeiter das schwarze Metall und stapelten es zu ordentlichen Haufen; bedeckt von Schweiß und schwarzem Staub, entluden sie die Kohlenwaggons. Wie ein Geier sauste von der Kranbrücke des Elektrizitätswerkes der Greifer nieder, bohrte sich in die Berge von schwarzer Kohle und trug sie knirschend in die unersättlichen Bunker der heulenden Kessel. Die Arbeiter zerschlugen und zerkleinerten das Roheisen mit der Hand, um die Beschickung für die Martinöfen vorzubereiten. Mühsam, hochrot im Gesicht, schleppten sie an einem Seil eine riesige Glocke unter das Fallwerk — sie widersetzte sich wie ein Ochse, der zur Schlachtbank geführt wird, jammerte dumpf und zerkratzte die Erde mit ihrem weit aufgerissenen, schwarzen Rachen.
Wartanjan hielt Platow am Ärmel fest.
„Warte einen Augenblick."
Die Glocke war unter dem Fallwerk angelangt. Von der Höhe des Turms sauste der Bär herab. Die Glocke erdröhnte und spritzte ihre klingenden bronzenen Splitter nach allen Seiten auseinander; dann war alles still.
„Wollen wir sie ganz zerschlagen, Wartanjan?" fragte Platow den nachdenklichen Wartanjan.
„Ja, Platow, los!" lächelte Wartanjan plötzlich lebhaft.
In der Martinabteilung mussten sie sich ihren Weg zwischen Formkästen und Modellen bahnen, die überall herumstanden. Würgender Staub, Hitze, Enge. Die Kräne, die die Formkästen über den Köpfen der Menschen wegtrugen, stießen durchdringende Warnungsschreie aus. Gespannt, mit suchenden Augen musterte Wartanjan die mit Erde beschmierten Gesichter der Former.
„Guten Tag, Titytsch."
Wie blasse, verblühende Kornblumen blickten die alten Augen vom Boden herauf.
„Ach, du bist es, Senja. Und der Genosse Wartanjan selbst. Seht mal, da könnt ihr euch dran freuen... Du siehst ja so schlecht aus, Wartanjan, bist du krank?" Teilnehmend blickte Titytsch in Wartanjans dunkles Gesicht: die flinken schwarzen Augen saßen tief in ihren Höhlen; auf den blassen Wangen ragten die Backenknochen spitz hervor.
„Mein Herz ist nicht in Ordnung, Titytsch... "
„Na also, da habe ich doch recht gesehen; du bist ordentlich mager geworden... Siehst du, wie das Leben ist! Sogar die Jungen will es zerbrechen... Was sollen wir Alten da sagen? Das kommt von der Unruhe, Wartanjan. Bei Lenin, hab' ich gehört, ist das Herz auch vor Unruhe zerrissen. Und es ist ja auch wahr: Tag und Nacht diese Unruhe, das ist schwer auszuhalten. Aber man muss es aushalten."
Titytsch steckte einen Stift in den Formsand und sagte nachdenklich :
„Du, Wartanjan, und auch du, Senja, ihr brennt wie diese Stifte. Und jeder Kommunist muss so sein, wie diese Stifte. Die Partei benutzt ihn, um die Verbindung mit den Massen zu festigen. Und da muss er eben brennen. Wie kann es denn anders sein?!" Fragend schaute Titytsch Wartanjan an und steckte den letzten Stift in die Felgenleiste des Rads.
„Du sprichst gut, Alter, du sprichst gut!" lächelte Wartanjan. „Brennen muss man; aber verbrennen darf man nicht, das ist das Geheimnis. Was, Alter?"
Die Hand fest um den Elektrodenhalter gepresst, sah Sergej von weitem den Abteilungsleiter, den Genossen Platow herankommen. Und von neuem kehrten die Tage in sein Gedächtnis zurück, die seiner Freundschaft mit diesem Menschen ein Ende gemacht hatten. Zu drei Jahren verurteilt, sitzt er nun hier am Schweißapparat, klein und gedemütigt, und noch gar nicht lange ist es her, da hatte er hier wutschnaubend gebrüllt.
Er dachte an sich, an Antonytsch, an Walja. Jetzt war Mitte August. Es waren also seitdem vier Monate vergangen; damals hatte der Frühling gestürmt, er hatte an den Zweigen die Knospen hervorgetrieben und das Blut in Wallung gebracht. Sogar die schlanke Birke bei der Werkstatt, die ihre Zweige durch Berge von Metall zwängen muss, schien damals zu triumphieren über ihren Sieg über diese Welt der Maschinen und des Stahls, die sie verachtet, über die sie sich mit unverwüstlicher Lebenskraft erhebt.
Aber das Leben verläuft nicht wie ein gerade gezogener Telegrafendraht — es windet sich wie eine Sprungfeder, die bald elastisch emporschnellt, bald sich dreht und krümmt unter der Last schwerer Tage. Antonytsch... Was mochte er wohl denken, nun, da er hinter Schloss und Riegel saß? Sergej stellte sich das trockene, von roten Adern durchzogene Gesicht vor. Da sitzt er nun, blinzelt mit den Augenlidern wie ein Geier und betrachtet die Welt durch vergitterte Fenster.
„Für jeden gibt's eine Grenze, alles hat seinen bestimmten Plafz... " Ja, das hatte Antonytsch einmal gesagt. Dabei hatte er jedenfalls an sich selber gedacht. Auch er, Sergej, kann diese Grenze nicht umstoßen. Ihm wurde schwül. Er warf die Maske ab und trat vor die Tür.
Im Hof tollte der Wind und lärmte auf den Dächern der Fabrikgebäude; aber die von den Metallhaufen bedrängte Birke beugte sich nicht, nur ihre gelben verstaubten Blätter zitterten raschelnd. Sergej betrachtete die ihn umgebenden Werkstätten, ihre Fundamente drangen tief in die Erde ein, wuchtig und unerschütterlich standen sie da. Ihr heißer Hauch traf Sergej — das war der Atem der Fabrik. Wieder ruhig ging er zu seinem Apparat zurück.
Nun also... Alles war vorbei... Ihm war leichter, wie nach einem kühlen Bad. Die lodernde Glut war ausgebrannt — nur etwas wie leichte Asche war von den Erlebnissen auf dem Grund der Seele zurückgeblieben. Er brachte die Elektrode näher an das Werkstück heran, und das Metall knatterte heftiger.
Blaue Funken sprangen auf und huschten zitternd durch die Luft.
„Je kürzer der Lichtbogen, desto fester die Schweißung.'* Wie kam er darauf? Hatte er das aus irgendeinem Lehrbuch oder hatten es die eigenen Beobachtungen, ohne dass er es merkte, dem Gehirn eingeprägt? Wie er die Elektrode dem Metall näherte, so hatte er auch seine Augen der Wirklichkeit nahegebracht, dem was um ihm, was in ihm selbst geschah. Darum trat auch das bisher Verborgene so klar und deutlich zutage. Die Torheiten, der Ungestüm seiner Jugend sind von seiner Schande hinweggeschmolzen worden... werden dabei die Menschen nicht fester, stärker?
Die ultravioletten und die infraroten Strahlen, die bei der Schmelzhitze entstanden, sprühten frei und leicht umher, Sergej weiß, dass ihnen starke schöpferische Kräfte innewohnen, aber auch Zerstörung und Vernichtung; deshalb muss Sergej seine Hände so sorgfältig durch Lederfäustlinge schützen, und die Strahlen, die die blauen Gläser der Maske nicht durchdringen können, treten den Rückzug an vor dem ihnen so bewaffnet entgegentretenden Menschen. Vielleicht ist's auch im Leben so? Vielleicht kämpfen auch in ihm, in Sergej Wekschin, die schädlichen und die schöpferischen Strahlen miteinander einen erbitterten Kampf? „Guten Tag, Sergej. Wie geht's?"
Sergej schob die Maske hoch und sah in Platows lachende Augen. Er zuckte zusammen und griff sich an die Stirn, um die Maske wieder vor das verlegene Gesicht zu ziehen, aber Platow nahm sie ihm fort und schüttelte den Kopf.
„Wie kannst du nur mit so einer Maske arbeiten? Sieh mal, sie hat ja Sprünge. Du wirst dir die Augen verderben. Geh sofort und hol' dir eine neue!" Und damit ging er weiter.
Und wie, Platow fragte nicht nach dem Gerichtsverfahren? Einfach und ohne Hintergedanken hatte er nur über diese Kleinigkeit gesprochen, die Sergej beim Arbeiten störte — das entfesselte einen Sturm in Sergej. Die Elektrode zitterte in den nervösen Fingern. Der Bogen sprühte wilde Funken. Unzufrieden brummte der Transformator.
„Komm weiter, Wartanjan", mahnte Platow zur Eile. „Übrigens, weißt du, dass mir Jusow mit seinem Feuilleton geholfen hat? Er hat da den Guss Nr. 1007 erwähnt. Ich hab mich gewundert: wie kann der Stahl dieses Gusses jetzt noch in der Produktion sein, wo die Gussnummer längst schon 2000 überschritten hat? Ich prüfte nach, und dabei entdeckte ich, dass aus der Luppe Nr. 1007 die falschen Proben hergestellt wurden."
Sie betraten die kleine Werkstatt der Martinabteilung, dem zweiten Schornstein gegenüber. Einige Arbeiter waren an den Drehbänken tätig, die die kleine Werkstatt mit dem surrenden Geräusch von Zahnrädern anfüllten.
„Da in der Ecke, auf dem Schrotthaufen... Sieh nur, sie sind ganz verrostet... Komm! Es fällt mir schwer hier zu stehen", sagte Platow leise.
Mit langsamen, schweren Schritten gingen sie weiter. Wartanjan erinnerte sich an das kurze Gespräch mit Kusmitsch bei den Martinöfen. Der Alte hatte damals etwas von Särgen gesprochen und ihm etwas erzählen wollen. Irgend jemand war dazwischen gekommen... ach ja, Turtschaninow, der hatte die Aufmerksamkeit Wartanjans abgelenkt. „Sollte das auch einer von denen sein? Nein, unmöglich ... unmöglich... "
Sie gingen in die Dreherei. Wartanjans Augen flimmerten beim Anblick der zahllosen, blitzenden Riemen. Sein Kopf dröhnte vom Donnern der Maschinen, vom Knirschen und Klingen des Stahls.
„Olga, guten Tag!" Lächelnd winkte Platow mit der Mütze nach oben. Aus dem Kranhäuschen blickte Olga finster und trübe herunter. Sie lächelte nicht einmal auf den Gruß Platows zurück. Was war los?
Platow sah ihren traurigen Blick.
„Senja!" rief sie leise hinunter. „Weißt du schon... Kusmitsch wird wohl heute sterben... Es ist eine Blutvergiftung hinzugetreten... Ach, Senja!" Ihre Stimme flatterte an das gläserne Dach der Dreherei und verstummte.
„Olga! Teile her!" rief Mochow, der mit dem Abdrehen einer Achse fertig war, und Olga schwebte in dem polternden Kranhäuschen davon. Wartanjan begleitete sie mit einem langen, nachdenklichen Blick, und sah dann Platow an.
Der stand unbeweglich da, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und dachte über irgend etwas angestrengt nach. Wartanjan fasste ihn unter den Arm und führte ihn hinaus. Der Weg der Triebachse war allzu schwer...
„Weißt du, Platow, wie einfach das alles ist, jetzt, wo wir es wissen, und wie schwierig ist es trotzdem! Ich kann es mit nicht verzeihen, dass ich damals nicht mit dem Alten gesprochen habe. Wir hätten alles viel leichter und schneller entdeckt, wenn jeder von uns neun Zehntel seiner Zeit solchen Gesprächen mit den Arbeitern gewidmet hätte und ein Zehntel den Resolutionen!" Wartanjan machte eine energische Geste mit der Hand.
„Das stimmt, aber es reicht noch nicht, Wartanjan. Auch mit der Lokomotive müssen wir sprechen. Und das ist schwerer. Man muss die Sprache der Lokomotive kennen. Und unser ganzes Unglück — meines, deines, Kortschenkos und das aller Zellensekretäre und aller unserer Arbeiter liegt darin, dass wir diese Sprache nicht gelernt haben. Aber unsere Feinde, die beherrschen sie vollkommen. Wenn du es wissen willst — den wahren Grund der Katastrophe wissen wir auch heute noch nicht... Es ist jetzt zwölf Uhr. Wir haben noch Zeit, einen Ort zu besuchen... Den, an dem der Weg der Triebachse vorläufig zu Ende ist. Ja, vorläufig..."
Sie verließen den Fabrikhof durch den Hinterausgang, überschritten die Straße und standen vor dem Fabrikkrankenhaus. Der Chefarzt, ein hochgewachsener, hübscher Mensch empfing sie und führte sie durch die Krankensäle.
„Es hat in den letzten Tagen eine zu reiche Ernte bei uns gegeben. Für den Alten besteht keine Hoffnung. Es ist direkt ein Wunder, dass er in diesem Zustand, bewusstlos, immer noch lebt. Ein kräftiger Organismus... Da drüben liegt die Tochter des Ingenieurs Akatujew. Sie ist gestern in sehr bedenklichem Zustand mit Anzeichen einer schweren Vergiftung eingeliefert worden. Vielleicht gelingt es uns noch, sie zu retten. Sie phantasiert, sie schreit: ,Hier... nehmen Sie meine Fahrkarte!' Wohl irgendeine Liebesgeschichte."
Platow fühlte, wie seine Kehle ganz trocken wurde. Er war kaum imstande, sich auf den Füßen zu halten, und lehnte sich gegen die Wand.
„Platow... was ist mit dir?" Wartanjan schaute ihm fragend ins Gesicht.
„Ich weiß nicht... Mir ist schwindlig... Vielleicht bin ich überarbeitet..." murmelte Platow, der kein Auge von den schwarzen Lippen Weras ließ. Unbeweglich, sonderbar lang und dünn, wie sie dalag, ähnelte sie weder der ersten noch der zweiten Wera, die er zurückgewiesen hatte. Das war ein andres Mädchen, mit schwarzen, vom Gift versengten Lippen.
Es war still in den Krankenräumen. Man hörte nur heiseres Atmen. Platow trat an das Bett des Alten und berührte die gelbe Hand. Sie war kalt. Ohne sich umzublicken, trat er auf den Korridor hinaus. Vor ihm, auf den hellen Steinfliesen hüpften die Strahlen der schnell sinkenden Sonne.


3

Ein kurzer, müder Pfiff der Sirene verkündete das Ende des Arbeitstages. Der Klang schwoll an, dann nahm er Anlauf zu einem gellenden Schrei und fiel schließlich, ohne seine volle Schärfe erreicht zu haben, auf die Dächer der Fabrik.
Die Wächter öffneten das knarrende Tor, das breit war wie eine Gasse, um dem Menschenstrom den Weg freizugeben, aber nur ein Dutzend Arbeiter schritten hindurch — der Hof war leer. Das Donnern der Werkstätten verstummte; die Drucklufthämmer sausten nicht mehr krachend herunter; unbeweglich verharrten die Transmissionen; zum letzten Mal heulte irgendwo kreischend eine Säge; die Kräne hatten ihre Giraffenhälse weit vorgestreckt, als seien sie erstaunt über die sonderbare Stille — leise zischend nur strömten dünne Dampffontänen aus.
Wartanjan lief unruhig über den Fabrikhof. Er betrat irgendeine Abteilung, hörte die verschiedenen Äußerungen einiger Arbeiter mit an, betrachtete aufmerksam die schweißglänzenden, rußigen Gesichter, blieb einen Augenblick sinnend stehen und lief dann wieder hinaus, in eine andere Abteilung.
Und überall sah er wachsame Gesichter, die eingehüllt waren in die Schatten der gestrigen Erregung. Die Arbeiter standen Wartanjan heute anders gegenüber als früher, und er fühlte, wie der Abstand zwischen ihm und diesen erregten Menschen, den er früher nicht empfunden hatte, unaufhaltsam wuchs. Und diese Erkenntnis drückte ihn nieder. Was war geschehen? Ja, er war nicht imstande, den wahren Grund der Katastrophe aufzudecken, der irgendwo in den Gesetzen der Festigkeit der Metalle verborgen lag und den nur ein Mensch aus dem feinmaschigen Netz aller dieser Gesetze zu lösen imstande war, der die unerschütterliche Kraft dieser Gesetze genau kannte.
Ü ber diese Macht verfügten die Turtschaninow, die Bruck, die Akatujew und Strachow. Platow war auf dem Wege, sich diese Macht anzueignen. Doch auch er machte eine ratlose Gebärde. Was sollte er, Wartanjan, da sagen, für den das Rätsel dieser Ereignisse von der undurchdringlichen Weisheit der Technik verhüllt war?! Verwirrung und Erregung überkamen ihn und schienen sein Gehirn völlig zu entleeren. Sein Herz kochte in wilder Hast und die Finger verkrampften sich in nervösem Zucken.
Aufgeregt öffnete Wartanjan das Tor zur Lokomotiv-Montagehalle. Die Wellblechwände stiegen schroff an und verloren sich in bläulich schimmernder Höhe, über der ein Gespinst von eisernen Dachbindern schwebte. Die elektrischen Kräne hingen wie leichte Schwebebrücken über dem tiefen Abgrund der Halle. Unten standen, zerbrochenem Kinderspielzeug ähnlich, halbzusammengebaute Lokomotiven herum.
Auf dem Boden, auf den Lokomotivteilen, auf den Radsätzen saßen schweigend, eng zusammengedrängt, Hunderte von Gießern, Schmieden, Drehern — lauter Menschen, die an der Herstellung der Achsen teilhatten. Von einem Tender, der als Rednertribüne hergerichtet war, sprach Turtschaninow. Seine schwache Stimme verlor sich in dem unermesslichen Raum dieses gigantischen Gebäudes, und Turtschaninow selbst sah aus wie ein kleines, vom Druck der blauen Höhe an den Boden gepresstes Wesen.
„Ich bin zu Ende, Genossen. Es war für mich in diesem Moment sehr schwer zu sprechen, denn im Zusammenhang mit den Verhaftungen sind Sie jedenfalls den Erklärungen von uns Spezialisten gegenüber nicht sehr wohlwollend gestimmt. Das sehe ich. Aber ich frage Sie: wenn auch Kraiski für seine betrügerischen. Manipulationen, für die Fälschungen und Schädigungen zu verurteilen ist, weshalb soll denn aber unseren ,Krassny Proletari' für die Eisenbahnkatastrophe verantwortlich gemacht werden, an der er keine Schuld trägt? War doch die Achse in ihrer Qualität tadellos! Vor ganz kurzer Zeit ist hier in dieser Abteilung beim Anheben einer Lokomotive die Kette gerissen, und alle, die hier arbeiten, konnten sich davon überzeugen, dass das Glied, das gerissen war, Ermüdungsflecken aufwies."
„Richtig! Die Kette war ganz in Ordnung. An der Bruchstelle wie abgehackt! Hat keine Risse gehabt", ertönten verschiedene Stimmen.
Turtschaninow wurde von Kortschenko abgelöst, und sofort hallte der Raum wider von seiner tiefen, mächtigen Stimme. Er sprach über die betrügerischen Ingenieure, denen er vertraut und die sein Vertrauen missbraucht hatten, er drohte, dass er noch ein Dutzend Ingenieure und Werkmeister vor Gericht stellen würde, er schrie, Schaum stand ihm vor dem Munde, er warf sich auf dem Tender hin und her, sein schwerer Körper drohte jeden Augenblick von dem schwarzen Bord des Tenders hinunterzustürzen. Wartanjan musste lächeln, aber Kortschenko, der sein Lächeln sah, fuchtelte nur noch heftiger mit den Armen, erschütterte die Luft mit zornigem, drohendem Geschrei. Er spottete über die Ermüdung des Metalls und all die komplizierten Theorien. Aus seiner ganzen schweren Gestalt sprach eine wilde Panik — sichtlich traute er niemand mehr, weder den Arbeitern noch den Ingenieuren noch sich selbst; ohnmächtige Erbitterung hatte sich seiner bemächtigt. Ohne Schmerz zu verspüren, schlug er mit aller Macht auf die Eisenverkleidung des Tenders, und als er mit seiner Rede fertig war, sah er erstaunt, dass seine Hand blutete.
Wartanjan rief Strachow beiseite.
„Wir kennen Sie, Genosse Strachow, als einen ehrlichen Sowjetingenieur. Sie wissen in Ihrer Sache gut Bescheid. Sie müssen uns behilflich sein, diese dunkle Angelegenheit zu klären. Sie halten die Macht des Wissens in der Hand. Sie müssen uns helfen. Es ist unmöglich, dass Sie den Grund nicht finden. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich äußeren."
Strachow blickte in die strengen Augen Wartanjans, die eine unbekannte Macht ausstrahlten, der er, Strachow, sich unterordnen musste.
„Jawohl, ich werde sprechen. Ich habe mir ein bestimmtes Urteil gebildet."
Er bestieg den Tender.
„Ich bin Ingenieur. Ich habe diese unglückselige Lokomotive gebaut. Ich habe lange über die Ursache dieser Katastrophe nachgedacht. Und ich habe sie gefunden!" In dem Riesenraum wurde es plötzlich still. „Die Sache ist die, dass der Anlauf beim Übergang vom Radsitz zum Achshals zu scharf eingedreht war. Dadurch wurde die Spannung auf einen Punkt konzentriert, und die Achse brach. Sie müsste brechen. Jedenfalls ist dies durch eine Unaufmerksamkeit des Drehers hervorgerufen worden."
„Ein Arbeiter soll also dran Schuld sein?" rief Mochow mit schriller Stimme und sprang auf den Tender. „Ich drehe die Achsen ab! Also soll ich an dem Eisenbahnunglück die Schuld tragen? Das habt ihr euch fein ausgedacht — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Ich habe in meinem ganzen Leben nicht eine einzige Achse verpatzt. Ich lasse mir hier den Kopf abhacken, wenn ich das getan habe! Das gelingt euch aber nicht, die Schuld auf die Arbeiter abzuwälzen. Wir wissen, wer uns den Bruch unterschoben hat. Sie sitzen schon, die das getan haben. Und Sie brauchen sie nicht noch in Schutz zu nehmen!" Mochows zorniges Gesicht bedeckte sich mit dunkelroten Flecken.
„Jawohl — ich wiederhole, der Anlauf war zu scharf eingedreht, und der ist schuld, der die Achse abgedreht hat. Aber damit will ich nicht sagen, dass ich selbst keine Schuld trage. Ich habe es übersehen. Auch Sorin hat es übersehen", sagte Strachow zögernd. „Wir alle sind schuld daran."
„Du willst bloß was vertuschen!" kreischte Andrjuschetschkin. „Nun auf einmal, wo die Halunken hinter Schloss und Riegel sitzen, sind alle schuld. Ihr seid ja alle miteinander solche Halunken!"
„Richtig!"
„Wieder wollt ihr uns bloß den Kopf verdrehen!"
„Richtig—, g—e—n—u—ug damit!"
Strachow sah, wie in Hunderten von drohenden, furchtbaren Augen plötzlich der Hass aufblitzte. Die Arbeiter schrieen, fuchtelten wild mit den Armen, sprangen von ihren Sitzen auf. Mitten in dem Haufen schmutziger, ölbeschmierter Kittel hüpfte der Kopf Andrjuschetschkins umher wie ein Faustball.
„Genossen! Ich verteidige weder mich noch die Verhafteten. Kann sein, dass sie es nicht anders verdienen. Wenngleich ich den Gedanken, dass ein Spezialist, der sich selbst achtet, absichtlich eine" Maschine verdirbt, einfach nicht fassen kann... Solchen Ingenieuren bin ich niemals begegnet. Wenn es aber irgendwo solche Ingenieure geben sollte, so sind das keine Ingenieure, sondern Ungeheuer, die ihre eigenen Kinder verschlingen... " rief Strachow, aber seine Stimme ging unter in dem unbeschreiblichen Wirrwarr wütender Schreie. „Du kannst uns nicht mehr dumm machen!" „Ge—nu—ug!"
„Seht mal an, was sich da für ein Verteidiger gefunden hat!" Strachow wollte noch hinzufügen, dass er nicht erst seit gestern in der Fabrik arbeite, dass man ihn kenne, dass er ehrlich gearbeitet und mit allen Arbeitern zusammen um das Schicksal der Lokomotiven gebangt habe. Aber seine Kehle war auf einmal zugeschnürt, so dass er nur ein leises, heiseres Flüstern hervorpressen konnte. Er stieg vom Tender und schritt, von den wütenden Schreien der Arbeiter begleitet, dem Ausgang zu. Wartanjan lief zu Platow hin:
„Platow! Los! Du musst helfen! Du musst diesen verfluchten Knoten zerhauen. Du musst die Arbeiter beruhigen! Rette die Fabrik!"
Platow kniff die unruhig irrenden Augen zusammen, zog die Hosen hoch, sein Gesicht war auf einmal voller Falten, um Jahre gealtert. Er hob die Hand, und der Lärm flaute langsam ab.
„Genossen! Ich bin auch Ingenieur. Aber ich bin noch ein schlechter Spezialist. Und ich gebe offen zu: ich kenne den wahren Grund des Unglücks nicht. Ich schäme mich dessen, aber es ist besser, die Wahrheit zu bekennen, als andere an der Nase herumzuführen. Es ist durchaus keine Schande. Viel eher ist es eine Schande, die Miene des allwissenden Direktors aufzusetzen, um dann in wilde Panik zu geraten und allen Drohungen an den Kopf zu werfen... Lasst uns nachdenken! Wir wollen gemeinsam an der Lösung dieser schwierigen Aufgabe arbeiten, aber wir wollen dabei die Ruhe bewahren und die Wachsamkeit, die in euren Augen glänzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Sache mit Hilfe unserer Ingenieure, darunter mit Hilfe Strachows, aufklären werden. Jawohl — die Spezialisten haben die Macht des Wissens in der Hand. Aber wir müssen uns diese Macht unterordnen — nicht mit Geschrei oder mit Drohungen, wie das Kortschenko tun will, sondern mit unserer ganzen Reife, mit der Reife der siegreichen Klasse, die — wie Lenin gesagt hat — nicht Stempel und Unterschriften bestätigen, sondern die Erfahrung und die Praxis der Klasse. Wir werden uns diese Macht aneignen. Wir werden sie uns unterordnen durch das moralische Gewicht der siegreichen Klasse..."
Durch den ruhigen und überzeugten Ton seiner Rede unterwarf sich Platow die Zuhörer, er weckte ihr Nachdenken und., seine eigene Schwäche zugebend, steckte er die Menschen im nächsten Augenblick mit seiner Überzeugungskraft an, mit dem kühnen Schwung seiner Gedanken, er zeigte ihnen die ferne Perspektive, führte sie mutig vorwärts wie ein erfahrener Führer auf einem sicheren Pfad, den er allein sah.
„Genossen! Ich bin vor euren Augen aufgewachsen. Ich habe das Recht, offen und rückhaltlos mit euch zu sprechen. Wir Arbeiter sind in den Jahren der Revolution ganz bedeutend gewachsen, aber viele von uns stecken noch bis über die Ohren im klebrigen Dreck der Vergangenheit. Die alten Gewohnheiten halten uns noch immer fest, den Gesichtskreis nur auf die Maschine, den Maschinenteil, die Werkstatt zu beschränken. Und dieser Dreck deckt die gefährlichen Risse und Schrammen zu, die unsere Lokomotiven die Böschung hinunterreißen. Ist es vielleicht das einzige Unglück, dass wir in unserer Fabrik Feinde haben? Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir werden noch viele Feinde treffen auf unserem Wege. Aber durch wessen Hände sind die schlechten Achsen gegangen? Durch eure Hände, durch eure Arbeiterhände. Versteht ihr? Vielleicht hatte die dem Aussehen nach gesunde Achse einen Fehler, der die Katastrophe herbeiführte, einen Fehler, den ihr übersehen habt?"
Mochow lauschte aufmerksam Platows Worten, man sah seinen grünlichen Augen an, dass er angestrengt nachdachte, und eine ebenso tiefe Nachdenklichkeit lag auf den Gesichtern der anderen Arbeiter. Jeder besann sich und prüfte in seinem Gedächtnis schweigend die vergangenen Tage.
Und Mochow prüfte sein ganzes Leben — Tag für Tag, die Glieder einer einzigen Kette. Heute brach der Aufstand aus. Aber die Schrammen und Risse waren doch gestern schon da gewesen und im vergangenen Monat... Er aber hatte geschwiegen, hatte dem keine Bedeutung beigemessen. Wie ein Glied an das andere reihten sich die vergangenen Tage. Er strengte, das Gedächtnis an, versuchte sich krampfhaft wieder auf das zu besinnen, was der Alltag ausgelöscht hatte.
Und plötzlich fühlt er, wie sein altes Herz heftiger zu schlagen beginnt unter dem Aufspringen einer heißen Erinnerung, die ihn unerwartet überfällt.
„Halt! Halt!" ruft er, läuft hinüber in die Dreherei, springt vor den Augen der verwunderten Arbeiter behände wie ein Jüngling über einen Radsatz, über eine Arbeitsgrube und verschwindet mit dem Schrei: „Der Anlauf! Der Anlauf!" hinter den schweigenden Lokomotiven.
„Bei dem ist eine Schraube los!" lachte Andrjuschetschkin. „Über den Radsatz — ho—o—opp! Über die Grube — hopp! Wie ein Ziegenbock!"
Sogar Platow musste lachen.
„Der hätt' ja beinahe die Lokomotive da umgeworfen!"
„Brü—ü—der! Die Brille! Die Brille ist hin!" schrie Sharow bedauernd und hielt mit zwei Fingern Mochows Brille wie eine Heuschrecke der Menge hin.
Auf einmal kam Mochow wieder hinter den Lokomotiven zum Vorschein. Er hatte ein so ungewöhnliches und geradezu erschütterndes Aussehen, dass Titytsch dachte: „Sollte es der Mochow gewesen sein, der mich gestern Nacht mit dem verrückten Schrei ,Ai, Grai! So ist das Leben!' erschreckt hat!" und er stieß einen langen Seufzer aus und blickte Mochow mit tiefem Mitleid an: „Wie schade, dass noch ein so tüchtiger Dreher dabei den Verstand verloren hat!"
Mochow stieg auf den Tender — seine Augen wollten vor lauter Aufregung aus den Höhlen treten.
„Da! Sieh' dir das an!" Mit diesen Worten steckte er, ganz außer Atem, Platow ein gelbes Stück Papier in die Hand. „Das sind die Zeichnungen... für die Achse... Vor drei Monaten haben sie neue gegeben. Ich habe noch geschimpft damals... Der Anlauf sah wirklich ganz sonderbar aus nach dem Abdrehen ... "
Alle stürzten auf den Tender zu, klebten an ihm wie Fliegen an einem Stück Kuchen. Die Ungeduldigsten und Neugierigsten kletterten auf den Tender und starrten mit misstrauischen Augen auf das Stück Papier in Platows Hand. Auch Mochow kniff die Augen zusammen und suchte in den sich kreuzenden Linien etwas zu entdecken — dann strich er mit der Hand über die Stirn, tastete nach seiner Brille und sah sich verwirrt um. Sharow drängte sich an ihn heran.
„Bitte sehr, Genosse, Ihre Fenstergläser! In tausend Splitter! Nur das Bedauern ist übrig geblieben!"
Verlegen drehte Mochow sein erblindetes, zerbrochenes „zweites Augenpaar" zwischen den Fingern.
„Siehst du, Genosse Platow, wie komisch der Anlauf ausschaut?" Er tippte mit dem Finger auf die Zeichnung. „Fast wie abgeschnitten, gar keine Abrundung, kein Übergang. Ist das richtig so?"
Platow zog angestrengt die Stirn kraus bei dem Bemühen, sich in dieser fremden Zeichnung zurechtzufinden.
„Weshalb wurden die Zeichnungen für die Lokomotivachsen geändert?" fragte er dabei Sorin, dessen Augen verlegen irgend etwas in der Menge zu suchen schienen.
„Ich weiß nicht... Diese Zeichnung wurde mir aus der Lokomotivkonstruktionsabteilung geschickt. Das ist nicht meine Sache... ", murmelte er.
„Wo ist Turtschaninow?" Platow blickte sich um:„Benjamin Pawlowitsch!" rief er, aber Turtschaninow war plötzlich verschwunden. „Hier ist irgend etwas nicht in Ordnung", sagte Platow in nachdrücklichem Ton und steckte die Zeichnung in die Tasche. „Recht so, Alter!" Dabei klopfte er Mochow auf den heißen, feuchten Rücken.
Mochow schüttelte traurig den Kopf und versuchte seiner alten, ganz verbogenen Brille wieder ihr früheres Aussehen zu geben. Da trat Titytsch auf ihn zu und steckte ihm voller Mitgefühl ein schwarzes abgegriffenes Futteral in die Hand.
„Hier, probier's mal mit meiner... Vielleicht passt sie für deine Augen. Ich hab' zu Hause noch eine. Wir sind ja aus demselben Jahrgang, Makarytsch, meine Augen müssen den deinen wohl ähneln. Und den ganzen Weg haben wir zusammen zurückgelegt... Noch ein paar Jährchen, und wir werden Pension kriegen..." Titytsch ließ einen schweren Seufzer hören, als ob er zum ersten Mal alle diese neuen, jungen Gesichter in der Menge sähe. Achtung und Vertrauen sprachen aus den Augen der Arbeitermasse, die Platow umringte.
„Unser Senja... Das ist aber ein Adler!" Zärtlich ruhten Titytschs Augen auf dem Gesicht seines früheren Formerjungen. „Der wird hoch fliegen!" rief er nachdenklich aus und fühlte in ihm den besten Teil der Sonne seines Lebens, die sich zum Untergehen neigte.


4

Strachow ruhte sich von den Aufregungen in seinem Arbeitszimmer aus. Nach dem ermüdenden Herumlaufen in der Fabrik war es angenehm, hier in dem weichen Ledersessel zu sitzen, eine eben eingetroffene ausländische Zeitschrift in der Hand.
Von der Wand her blickten ihn die Augen Stephensons, des Vaters der Lokomotive, prüfend an. Das war das einzige Bild in Strachows Zimmer. Mehr als die Hälfte dieser Wände war mit riesigen Bücherschränken bedeckt. Auf seine Bibliothek war Strachow mit Recht stolz: man konnte hier die gesamte Literatur über Lokomotivbau finden, für den er sich ganz besonders interessierte; viel Platz war auch den Büchern über Mechanik und Wärmetechnik eingeräumt. Bücher umringten Strachow von allen Seiten, schauten durch die funkelnden Glasscheiben auf ihn herab, erfüllten das ganze Zimmer mit einer besonderen gedankenerfüllten Stille. Er blätterte in der soeben eingetroffenen deutschen Fachzeitschrift, setzte sich bequemer im Sessel zurecht und vertiefte sich in seine Lektüre. Der Artikel sprach von den Errungenschaften der amerikanischen Technik, an Hand von vielen Zahlen und Beispielen. Der Artikel sprach davon, dass die amerikanischen Lokomotiven einem Zuggewicht von 14—16 000 Tonnen gewachsen seien, dank den neuen Großlokomotiven können die Belastung der Achse bis auf 32 Tonnen gesteigert werden, überall sei automatische Kuppelung eingeführt...
Strachow legte das Heft beiseite und dachte nach. Die Gewalt dieser Ziffern verblüffte ihn. Er stellte sich vor, wie der amerikanische „Pacific" über die Schienen dahinrast, eine Last von 16 000 Tonnen hinter sich herziehend, und sofort sah er die Lokomotivmontagewerkstatt vor sich... Da steht die Schnellzugslokomotive „SU", spitzbrüstig und ungeduldig.., Sie ist ein Kind Strachows, und ebenso bescheiden und schwach wie er... Die Schnellzugslokomotive „SU" hat kaum die Geschwindigkeit der amerikanischen Güterzugslokomotiven, und die solide „E" zieht höchstens zweitausend Tonnen. Zweitausend Tonnen und sechzehntausend Tonnen! Das ist der Unterschied, der überwunden werden muss, um Amerika einzuholen... Ob die Kräfte ausreichen?
Strachow entlockte seiner Zigarette dichte Rauchwolken. Draußen in der weichen Dämmerung des warmen Augustabends flimmern die elektrischen Lichter der Arbeitersiedlung. Geräusche des Abends dringen zum offenen Fenster herein — irgendwo singt eine Harmonika ihr lang gezogenes, sentimentales Lied, ein Lautsprecher brüllt, Hunde bellen, in der Ferne pfeifen Lokomotiven. Aus dem Garten kommt der Geruch von reifen Äpfeln und trockenem, von der Sonne versengtem Gras. Laut redend gehen Menschen vorüber — jedenfalls zur Nachtschicht.
Amerika einholen und überholen... Das wollen Menschen, für die eine Harmonika noch wie ein Orchester klingt, Menschen, die in langen Schlangen vor den Brotläden stehen müssen. Werden sie das schaffen? Aber da erstehen vor Strachows Augen die neuen, hellen, soeben erst vollendeten Werkhallen für Großgüterwagen, der Kulturpalast aus Glas und Beton, die Brotfabriken, die Großküchen... Sie werden's schon schaffen... Sie brauchen Strachow dazu — ohne ihn werden sie nicht fertig. Er gibt ihnen ehrlich sein ganzes Wissen, und dafür erhält er von ihnen anständiges Gehalt, und diese Wohnung, und die Achtung, die einem guten Spezialisten gebührt.
Ja, so war es bisher... Jetzt liegen die Dinge anders — und er muss an das Gespräch mit Kortschenko denken. Wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten? Turtschaninow, der verstand es. Der sprach mit Kortschenko in der einen Tonart, und hinter seinem Rücken schlug er eine ganz andere an. Aber das war schon Politik. Das hatte Strachow nicht nötig. Er will nur Spezialist sein und bleiben — ein Fachmann, der sein Fach liebt. Und den Versuchen Benjamin Pawlowitschs, ihn in politische Gespräche zu verwickeln, setzt er Widerstand entgegen. Für diese Fragen ist Strachow nicht zuständig, mögen sich andere damit befassen. Er wird ehrlich und gewissenhaft seine Arbeit tun...
Er öffnet die Zeitschrift und versucht seine Aufmerksamkeit wieder auf technische Fragen zu lenken. Ja — man muss schwere Lokomotiven bauen, nicht mehr die unvorteilhaften schwachen und langsamen Maschinen. Aber eine starke Lokomotive verlangt einen entsprechenden Streckenoberbau. Das würde riesige Mittel verschlingen. Wo sollte dieses Land, das von der kapitalistischen Welt abgeschlossen ist, diese Mittel hernehmen?
Dieses Nachdenken über die Lokomotiven führt ihn zu den Fragen, denen er ausweichen wollte. Es ist, als ob er sich in einem Zauberkreis befände, der seine Gedanken beherrscht, und dem zu entrinnen er nicht die Macht besitzt. Denen, die da Amerika einholen und überholen wollen, denen scheint alles so einfach und klar. Sie schreiben Artikel, halten Reden, aus denen Kraft und Überzeugung sprechen, so wie dieses rotwangige Mädchen da auf der Versammlung. Was gibt ihnen diese Kraft?
Draußen ist finstere Nacht. Der Himmel ist übersät mit hellen, glitzernden Sternen. Sie flimmern, und mitunter fällt eine Sternschnuppe herab und zieht eine leuchtende Spur über das schwarze Firmament. Der Mond hängt über dem Himmel wie ein Stück Stahl, das langsam erkaltet. Die Lichter in der Stadt sind erloschen — die Menschen schlafen, bis sie die Sirene morgen früh wieder weckt. Morgen wird Strachow ihnen allen wieder in der Abteilung begegnen, wird ihre höflichen, aber misstrauischen Blicke auf sich fühlen. Sie werden seine Anordnungen ausführen — aber neben dem Bewusstsein dieser Notwendigkeit spricht aus ihren Augen stets das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit. Darin lag für Strachow immer etwas, was ihn beunruhigte. Die Macht der Bildung Strachows besaßen sie nicht, aber sie besaßen eine andere Macht, die ihm unbekannt war: mit den Worten Marx' und Lenins auf den Lippen gehen sie abends schlafen und stehen sie morgens auf, und diese Worte scheinen ihnen das Brot zu ersetzen, von dem sie zu wenig haben.
Strachow trat an einen der Bücherschränke und überflog die Titel auf den Bücherrücken. Technik, Lokomotiven, Mechanik. In dem anderen Schrank dasselbe ... Er hockte sich nieder und kramte auf den untersten Brettern herum, wo die „sonstige" Literatur untergebracht war — aber das, was er in diesem Augenblick gern in die Hand genommen hätte, das war nicht darunter.
In seiner Bibliothek war weder Marx noch Lenin vertreten. Er hatte nicht eine einzige Zeile von diesen Werken gelesen, die Allgemeingut derer waren, die er in der Produktion leitete. Er wusste, dass die Kommunisten nach der Lehre von Marx alles von der Entwicklung der Produktivkräfte herleiten. Die Produktivkräfte aber — das ist doch die Technik, das sind die Produktionsmittel, die Maschinen? Und die kennt er, Strachow, doch in- und auswendig! Was ging also hier vor? Die Technik verband ihn mit diesen Tausenden da — was aber steht trennend zwischen ihm, dem Ingenieur Strachow, und diesen Tausenden? Warum standen ihm die Arbeiter heute auf der Versammlung so bitter feindselig gegenüber? Er wollte ihnen doch nur helfen, den verwickelten Knäuel dieser Ereignisse zu entwirren?... Er litt unter dem Bewusstsein, abgesondert und einsam zu sein, unter der Ohnmacht, eine Bresche zu schlagen in die Mauer, die sich heute zwischen ihm und diesen Tausenden von Arbeitern erhoben hatte. Diese Tausende waren erfüllt von einer furchtbaren Macht, wie die Drähte einer Hochspannungsleitung, und diese Macht verbrannte ihn und schleuderte ihn zurück. Das war die Technik des Lebens, eine Wissenschaft, die Strachow unbekannt war.
Morgen wird er sich unbedingt aus der Bibliothek die Werke Lenins holen und anfangen, sie zu lesen, um sich über diese Technik des Lebens klar zu werden, über die Gesetze der Zusammenkupplung von Millionen von Menschen zu einem einzigen Organismus. Er will wissen, was die Triebachse dieser mächtigen Lokomotive ist, deren Name „Sowjetland" ist, das Land, das den Kampf mit Amerika, mit der ganzen Welt aufgenommen hat, das von einer Energie getrieben wird, die Strachow nicht kennt.
Noch vor dem Schrei der Sirene betrat er die Abteilung. Rechts neben dem Eingang befand sich an einer Tür ein Schild mit der Aufschrift: „Zelle der KPdSU". Er öffnete die Tür ein wenig — er dachte, dass noch niemand im Zimmer sei, aber da sah er den Zellensekretär an seinem Tisch sitzen, den mageren Shukow — ihre Augen trafen sich. Strachow fühlte, dass es nun nicht mehr anging, sich zurückzuziehen und trat ins Zimmer.
„Nun, Genosse Shukow, wie geht's?" Shukow ließ seine Augen durchs Zimmer schweifen und fahndete in seinen Taschen nach Zigaretten.
„Ach — irgend etwas ist ja immer nicht in Ordnung..."
Strachow beobachtete, deß er die Enden seines dünnen Schnurrbarts öfter als sonst zwischen den Fingern drehte — ein Zeichen von Verlegenheit.
„Ich wollte Sie, Genosse Shukow, nach Ihrer Meinung fragen in einer Sache, die mich sehr beschäftigt. Wie Sie wissen, arbeite ich bereits seit drei Jahren in der Abteilung."
„Ich kann Ihren in diese* Angelegenheit in keiner Weise behilflich sein, Genosse Strachow", unterbrach ihn Shukow mit zur Seite gerichtetem Blick.
„In welcher Angelegenheit? Ich meine hier die Gedanken, die mir gestern in bezug auf Technik und Politik gekommen sind... "
„Wie gesagt, ich kann Ihnen absolut nicht helfen, Genosse Strachow, Ihre Entlassung ist eine beschlossene Sache... "
„Meine Entlassung?" Strachow erblasste.
„Jawohl — auf Verfügung des Direktors werden Sie heute entlassen — wegen Undiszipliniertheit und im Zusammenhang mit der Eisenbahnkatastrophe. Die betreffende Lokomotive entstammt doch Ihrer Abteilung?"
Strachow rieb sich die Stirn.
„Ich bin also nicht mehr der Leiter der..."
„Ja — so ist's... " sagte Shukow mit einem Seufzer.
Ohne die Menschen zu sehen, die über den Fabrikhof gingen, begab sich Strachow ins Hauptkontor. Als er bei der Kesselschmiede vorbeiging, dachte er daran, dass er sich gestern in sein Notizbuch notiert hatte: „Die Nietung des Lokomotivkessels prüfen" — und betrat die Abteilung.
Das donnernde Krachen der Drucklufthämmer und Bohrer schlug ihm entgegen. Die Nieter saßen um den dickbäuchigen Lokomotivkessel herum, die Bewegung der Drucklufthämmer ließ sie immer wieder zusammenfahren. Strachow kroch in das Innere des Kessels hinein und war sofort wie betäubt: das Donnern der Hämmer außen und innen verschmolz mit dem ohrenbetäubenden Heulen des Metalls — jedes kleinste Teilchen des Kessels schien zu donnern und zu heulen. Strachow fühlte, wie seine Ohren unter dem Druck des furchtbaren Lärms die Fähigkeit zu hören verloren; das unerträgliche Krachen und Dröhnen ging allmählich in eine gewissermaßen laute Stille über, — genau so ist es, wenn man einer elektrischen Schweißung zusieht: das grelle Licht blendet einen so stark, dass es schließlich in Finsternis übergeht...
Strachow leuchtete die schwarzen Innenwände des Kessels mit seiner Taschenlampe ab und sah, dass die Nietung genau wie früher ausgeführt war — seine Anweisungen waren nicht befolgt worden. Er schrie dem Arbeiter zu, dass er es anders machen müsse, aber er hörte seine eigene Stimme nicht, die in dem wahnsinnigen Donnern des Stahls unterging. Dann fiel ihm ein, dass es keinen Zweck hatte zu schreien, dass er nicht mehr der Leiter der Abteilung war, und schnell kletterte er aus dem Kessel.
In Kortschenkos Arbeitszimmer fand eine Beratung statt, der Sekretär ließ niemand zu dem Direktor hinein. Er beobachtete Strachow, der ungeduldig im Zimmer auf und abging, mit auffallender Aufmerksamkeit. Strachow fing den Blick auf, wurde verlegen und ging schnell auf den Korridor hinaus. Turtschaninow kam mit gesenktem Kopf den Korridor entlang gestürmt und stieß in der Tür mit Strachow zusammen, wobei ihm der Kneifer von der Nase purzelte.
„Andrej Sergejewitsch... Ich habe schon gehört, habe schon gehört... Außerstande irgend etwas zu tun, mein Lieber. Was jetzt alles vorkommt — einfach schrecklich!... Sie wissen — Kraiski ist verhaftet... Es tut mir leid... Tut mir wirklich leid, Andrej Sergejewitsch..." Dabei riss er die Tür auf und verschwand in Kortschenkos Zimmer.
Strachow verließ die Fabrik durch das hintere Tor und gelangte an den Bahnkörper. Vor ihm zeichnete sich die Eisenbahnbrücke ab. Da würde man nach dem Passierschein fragen. Strachow wandte sich nach rechts und stieg die Böschung hinunter auf die Wiese. Da lagen große Haufen von Schutt und Abfall — alles, was diese riesige Fabrik aus ihrem Innern ausspie; auf der Oberfläche der Wasserpfützen schwammen fettige Rostflecke.
Wie eine Schar von Sperlingen tummelte sich auf dem Schuttplatz ein Haufen Kinder. Die einen zerrten gemeinsam eine Eisenstange weg, andere wühlten in der Schlacke und suchten nach Eisenstücken. Wieder eine andere Gruppe war dabei, die Beute auseinanderzuklauben. Der ganze Schuttplatz war voller Lärm und Leben, und Strachow kam seine Leere und Einsamkeit noch mehr zum Bewusstsein.
Lange wanderte er ziellos über die Wiesen. Erst gegen Abend kehrte er in die Siedlung zurück, ging in den Arbeiterklub, nahm das erste beste Buch, das ihm in die Hände fiel, mit und ging langsam durch die stillen abendlichen Straßen.
Ohne dass er es merkte, war er auf einmal wieder in der Lokomotivmontage — die Stadt, das Fabriktor, die Menschen, die er traf, der Lärm, die Finsternis — alles das lag außerhalb seines Bewusstseins und seines Gefühls. Er erwachte erst wieder, als er vor der schweigenden Lokomotive stand. Starr, in schwarzer Stille, stand die Maschine im Halbdunkel der nur schwach beleuchteten Abteilung. Wie im Halbschlummer blinzelten die Nieten mit ihren Augen.
Strachow fühlte, wie sich die Stille mit der Schwere des Metalls anfüllte, die sein Gehirn bedrückte. Finster starrte die Lokomotive über ihn weg, als wollte sie ihn zermalmen. Furchtsam rückte er in den hellen Lichtkreis der Glühbirne. Das Licht fiel auf die in zwei Reihen ausgerichteten Achsen, die für morgen vorbereitet dalagen. Die Achsen wird man schon ohne ihn unter dem Körper der Lokomotive anbringen. Er besaß nicht mehr das Recht, morgen früh hierher zu kommen und seine Anweisungen zu erteilen. Er steht zum letzten Mal hier...
Bedrückt ließ Strachow seinen Blick durch die Werkhalle wandern, ließ ihn auf der schlafenden Lokomotive ruhen, dann glitt er hinüber auf die ihm zunächst liegende Achse, und eine geheimnisvolle Macht zog seine Blicke auf die Stelle, wo der Achshals in den Radsitz übergeht. Er traute seinen Augen nicht, sondern betastete die Stelle mit der Hand, und dabei bekam er den schroffen, eckigen Übergang von einem Querschnitt zum anderen zu fühlen — es war genau ebenso wie bei jener Unglücksachse. Von einem unklaren Drang ergriffen, untersuchte er die nächste Achse — eine dritte, eine vierte... Er sprang über die schweigend ruhenden, schweren Körper, tastete mit zitternder Hand, ging von einer Achse zur anderen, und überall fand er dasselbe: nirgends war ein glatter, allmählicher Übergang, überall griff seine Hand auf einen kurz eingeschnittenen Anlauf.
Erschüttert stand er mitten in der dämmerigen, stillen Abteilung und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann ging er wie gebrochen mit langsamen Schritten hinaus.
In seinem Zimmer empfing ihn Stephenson mit seinem trockenen und strengen Blick. Die Bücherschränke schwiegen. Die Stadt schlief. Lange saß Strachow unbeweglich im Sessel, die Augen starr auf das schwarze Fensterloch gerichtet, — dann öffnete er ungeduldig das mitgebrachte Buch. Seite um Seite schlug er um — völlig neu waren diese Worte für ihn, aber ihr ungewohnter Klang hinderte ihn nicht, in die knappen, fast wissenschaftlichen Formeln einzudringen. Er wunderte sich über die Fähigkeit dieses Menschen, den einfachsten, kürzesten Sätzen, die bar jeden Schmucks waren, einen so tiefen Inhalt zu geben. Die einfache und dabei gleichzeitig komplizierte innere Gestaltung der Gedanken erinnerte Strachow an Stücke von geschliffenem Werkzeugstahl: die haben auch so ein einfaches Aussehen, und bergen dabei eine riesige Kraft in sich: sie schneiden den Stahl und flößen den formlosen Metallstücken die Ideen der Menschen ein.
„Wenn wir auf die Erklärung einer Gruppe kleinbürgerlicher Demokraten stoßen, dass sie sich der Sowjetmacht gegenüber neutral verhalten wollen, so müssen wir sagen: ,Neutralität' und freundschaftliche Beziehungen — das ist altes Gerümpel, das vom Standpunkt des Kommunismus durchaus nichts taugt."
„Welche Zuversicht! Welch eine schneidende Kraft!" dachte Strachow voller Achtung, und plötzlich wurde ihm von der Berührung mit der nackten Wahrheit dieser erschütternden Zeilen unheimlich zumute. Jawohl — schon morgen würde er die Abteilung nicht mehr betreten. Dieses Recht hatten ihm die Menschen schon genommen, die er bisher für die Triebachse der Menschheit gehalten hatte: seine Kollegen — Spezialisten, Ingenieure, Leute des Gehirns und des Wissen — sie hatten seine Lokomotive verstümmelt. Jetzt wusste er, warum seine fünf Lokomotiven aufgehört hatten zu rauchen und schweigend im Kursker Depot standen. Jetzt war alles klar. Klar war auch, dass er auf dem schmalen Streifen zwischen den zwei Gleisen der Strecke gestanden hatte, auf dem der Luftdruck den Staub aufwirbelt und den Menschen umreißt, wenn zwei Züge aneinander vorüberfahren. Ja — Neutralität, das ist altes Gerümpel. Und er hat sich in diesem Gerümpel verloren.
Auch diese Schlussfolgerung war so klar und einfach wie die Gedanken, die er in dem Buch gelesen hatte, und sie war ebenso furchtbar und unerträglich wie die schwarzen, zur Leichenstarre verurteilten Lokomotiven.
Strachow erinnerte sich daran, wie er in seiner Kindheit einmal am Ufer der Wolga in einem angebundenen Boot gespielt hatte , das sich auf den Wellen schaukelte. Auf einmal hatte das Boot sich losgerissen und sich schnell immer mehr vom Ufer entfernt. Keine Ruder im Boot. Schwimmen konnte er nicht. Mit erschrockenen Augen hatte er auf das entschwindende Ufer geblickt. Hinausspringen? Und er sprang. Und von diesem Tage an konnte er schwimmen.
Auch jetzt hatte sich sein Boot vom sicheren Strand des ruhigen Lebens losgerissen. Von dem gewohnten Ufer treibt es der Wind hinaus auf die weite Wasserfläche. Es schwankt auf den Wellen unerbittlicher Ereignisse. Ruder besitzt er nicht. Schwimmen hat er nicht gelernt, er hat das Leben vom Ufer aus beobachtet... Soll er springen?
Er rieb sich die Schläfen mit eiskalten Fingern.


5

Das Auto ließ die engen Korridore der Straßen hinter sich und gewann in rasendem Lauf die Chaussee. Schemenhaft glitten die vereinzelten Häuser der Vorstadt vorbei und versanken in der violetten Dämmerung des Augustabends.
Die Hupe fegte die Menschen von der Chaussee und unterbrach mit ihren lauten Warnungsrufen die abendliche Stille. Der Zeiger auf dem Geschwindigkeitsmesser schnellte empor — 35, 40, 45, 50... Die Rufe der Hupe wurden zu einem ununterbrochenen Geheul. Der Ford sprang über die Löcher und Unebenheiten des Wegs, die Geschwindigkeit wuchs immer mehr an: 55... 60... 65... ..
Alles versank in einer dunklen, windgepeitschten Schnelligkeit. Irgendwo in der Tiefe, wie in einem schwarzen Abgrund, flammten Tausende von Lichtern auf. Sie flimmerten und verschwammen miteinander zu einem einzigen Lichtmeer, und der von weißlichem Schein übergossene nächtliche Himmel schien leicht und durchsichtig.
„Schön, nicht wahr?" fragte Wolski, und als keine Antwort kam, rief er mit lauter Stimme: „Ich meine, die Fabrik sieht in der Nacht schön aus, Jusow, nicht wahr?"
Jusow fuhr auf und antwortete mit gleichgültiger Stimme: „Ja, schön..." und, seinen unterbrochenen Gedankengang fortsetzend fügte er mit dumpfer Stimme hinzu: „Wer konnte denn auch einen solchen Skandal erwarten? Wer konnte so etwas erwarten?"
Wolski lachte.
„Ich zum Beispiel habe so etwas erwartet, Jusow. Schon seit langem. Und ich habe mich nicht geirrt. Diese Ereignisse der letzten Tage waren nichts als eine Bestätigung unserer Beobachtungen; die Entladung ist nur ein klein wenig früher erfolgt, als ich erwartet hatte. Das ist ganz gut, ich habe nichts dagegen. Den schließlich: das, was Platow, Mochow und die anderen getan haben, das haben wir getan, und umgekehrt. Und darin liegt unsere Stärke."
Das Auto war auf einmal unten in dem schwarzen Abgrund versunken, es zerschnitt die Dunkelheit mit seinen gelben Scheinwerfern und raste über die lange Brücke. In den nächtlich schwarzen Fluten spiegelten sich die blinkenden Lichter der Fabrik.
„Ich kenne sie doch alle ganz gut, Wolski." Jusow wurde plötzlich lebhafter. „Saizew, Nossow und noch viele andere waren bei mir im Zirkel. Sie haben einen Kursus über Leninismus bei mir gehört..."
„Einen theoretischen Kursus, Jusow... Aber nun mach mal mit ihnen zusammen den praktischen Kursus durch. Das ist eine sehr nützliche Sache!" Wolski ließ ein vergnügtes und gutmütiges Lachen hören, das plötzlich abbrach. Das Auto bremste und hielt mit einem heftigen Ruck.
„Da wären wir. Steig' aus."
Mit gesenktem Kopf stieg Jusow die Treppen hinter Wolski empor. Er sah, dass ihn Wolski verspottete, dass er hinter dem Lachen nur die bitteren Vorwürfe verbarg, die er ihm in seinem Innern machte.
Vom hellen Schein des elektrischen Lichts geblendet, ließ sich Jusow dicht an der Tür auf einen Stuhl fallen. Wolski trat an den Tisch und begrüßte die Anwesenden, indem er militärisch die Hand an den Mützenrand legte.
„Nun, Genossen — können wir anfangen?" Wartanjan ließ einen müden Blick über die Versammlung schweifen.
„Genossen! Das, was in der Fabrik passiert ist, ist eine Schande. Und keine kleine Schande, sondern eine Riesenschande. Wir schämen uns jetzt, einander in die Augen zu sehen... Die Tatsachen sind bekannt. Nicht von ihnen soll heute die Rede sein. Wir wollen darüber sprechen, wieso dies passieren konnte. Warum konnte diese Riesenschande passieren? Warum? Warum schien an der Oberfläche alles ausgezeichnet, während im Innern lauter Risse waren, wie in einem schlechten Gussstück?! Bedenkt nur einmal — fünf Betrüger haben sech2ehntausend Proletarier an der Nase herumgeführt! Wir haben es verdient, dass man uns dafür im ganzen Lande an der Nase herumführt, damit alle sehen, was wir für Esel sind! Wir haben nichts gesehen und nichts gehört, unter unseren Augen konnte so etwas passieren!... Wer will sich äußern?"
Alle schwiegen. Wartanjan ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten, und viele senkten die Köpfe tief auf ihre Notizbücher. Kortschenko rauchte ununterbrochen, kritzelte irgend etwas auf ein Stück Papier, dann strich er es wieder aus und kaute am Bleistift.
„Hören wir einmal, was unser Chef zu sagen hat", schlug Wolski vor und wandte Kortschenko einen fragenden Blick zu.
„Richtig!"
„Er muss ja am besten Bescheid wissen!"
„Fang' mal an!"
Kortschenko fühlte, dass ihn alle erwartungsvoll anstarrten und gierig seiner Worte harrten. Er beschloss, kurz und knapp zu sprechen und jeden Satz sorgfältig zu überlegen.
Mit unruhigem Griff entnahm er der Aktentasche einen Stoß Papiere — Berichte, Aufstellungen usw. Als er sie nervös vor sich auf dem Tisch ausbreitete, überstürzte er sich unwillkürlich, irrte sich in der Reihenfolge, und die Aktentasche fiel zu Boden.
„Eine schlechte Vorbedeutung", rief irgendein Spaßvogel; ein paar der Anwesenden lachten, aber das Gelächter verstummte schnell wieder.
Kortschenko strich mechanisch mit der gewohnten Bewegung über den Kragen seiner Bluse. Er begann damit, wie er vor drei Jahren in die Fabrik gekommen sei, in welchem Zustand des Verfalls er sie vorgefunden, wie er Tag und Nacht gearbeitet habe, um die Produktion zu heben. Er führte eine Zahl nach der andern an, behauptete, dass sich in diesen zwei Jahren die Verluste verringert hätten und die Gestehungskosten gesunken seien. Dann ging er zu der neuen Fabrik über, und wieder hörte die Versammlung etwas von Millionen von Rubeln, vom Promfinplan, vom Wert der Gesamtproduktion der einzelnen Jahre, Quartale, Monate.
Unzufriedenes Murmeln wurde im Saale laut. Aufgeregt wurde mit den Stühlen geknarrt. Viele gingen hinaus auf den Korridor, und von dort drangen dichte Tabakwolken in den Saal.
Wartanjan kritzelte etwas auf ein Stück Papier. Wolski saß mit halbgeschlossenen Augen da, als schliefe er.
„Bitte zur Sache!" rief jemand, und sofort griffen die anderen diesen Ruf lebhaft auf:
„Richtig! Zur Sache!"
„Erzähle von dem Prämiensystem, das du eingeführt hast!"
„Von deiner Leitung erzähle uns etwas!"
Die Zwischenrufe aus dem Saal versetzten Kortschenko in Verwirrung, zerrissen seinen Gedankengang. Er griff nach falschen Papieren und warf die Stöße von Material unordentlich durcheinander. Und plötzlich wurde ihm klar, dass all dieses Material durchaus nicht nötig war; dass er sich hier nicht in einer gewöhnlichen, sondern in einer ganz besonderen Versammlung befand, wie er sie noch niemals erlebt hatte. Und dass es außerordentlich schwer war, hier zu sprechen.. Alles das, was er hier erzählte, wussten diese Menschen da im Saale selbst; aber sie wollten von ihm das hören, was sie noch nicht wussten, was man aber nicht mehr geheim halten konnte. Er sprach und bemühte sich angestrengt, den inneren Widerstand zu überwinden, aber sowie er sich der wichtigsten Frage näherte, brach er ab und wandte sich wieder dem Nebensächlichen zu. Verlegen hielt er inne, griff mit unsicherer Hand nach der Karaffe, um sich Wasser einzugießen, goss die Hälfte daneben und trank dann in einem Zug das Glas aus.
Wartanjan blickte ungeduldig auf die Uhr, runzelte die Brauen und seine Augen wurden dunkel — ein Anzeichen des Sturms.
Kortschenko ging zu einer Charakterisierung der Spezialisten über. Er sprach von den schwierigen Verhältnissen, unter denen er arbeiten musste, davon, dass er die Autorität der Spezialisten stets zu stärken bemüht gewesen sei, dass sie sein Vertrauen missbraucht hätten. Das sei allerdings ganz plötzlich geschehen, aber es sei zu erwarten gewesen. Schon Lenin hätte gesagt..." Kortschenko öffnete ein Buch: „Lenin hat folgendes gesagt..."
„Lass Lenin zufrieden!" fuhr Wartanjan auf. „Versuch' nicht noch, dich mit Lenin zu decken, Kortschenko! Schäm' dich! Das ist eine Schande!"
Alle sprangen auf. Blass, mit funkelnden Augen, schlug Wartanjan wütend mit der Faust auf den Tisch.
„Du redest anderthalb Stunden, und dabei sagst du nicht ein einziges Wort über deine Fehler, nicht ein einziges Wort davon, dass du alles verschlafen hast. Lass Lenin aus dem Spiel! Du willst aus Lenin einen Advokaten machen, der alles verteidigt! Lenin hat viel geschrieben, aber nirgends steht bei ihm, dass er Betrüger und verbrecherische Leichtgläubigkeit in Schutz nimmt. Lass Lenin beiseite!"
Kortschenko blätterte nervös in dem Buch.
„Aber ich kann dir aus Lenins Werken das vorlesen, was du immer vergessen hast. Hör mal zu.". Und Wartanjan riss Kortschenko das Buch aus der Hand, fand schnell die Stelle, die er suchte, und begann zu lesen:
„Unter den Sowjetingenieuren, unter den Sowjetgelehrten, unter den privilegierten, d. h. unter den höchstqualifizierten, den besten Arbeitern ... " Arbeitern, Kortschenko! — „in den Sowjetfabriken beobachten wir eine ständige Wiedergeburt aller jener negativen Züge, die der bürgerlichen Ordnung eigen sind, und nur durch dauernden, unermüdlichen und hartnäckigen Kampf, durch proletarische Disziplin und Organisiertheit überwinden wir dieses Übel allmählich."
Hast du gehört? Lass also Lenin aus dem Spiel! Aber dieses Zitat merke dir, es wird für dich sehr nützlich sein."
In leidenschaftlicher Erregung stand Wartanjan vor Kortschenko, seine Finger zitterten, er trommelte nervös auf den Tisch; und plötzlich griff er nach seiner linken Seite und sank taumelnd auf einen Stuhl.
Wolski hob die Lider und heftete den Blick fest auf Wartanjan.
Dicht bei der Tür schob jemand laut seinen Stuhl zurück und ging hinaus: es war Jusow.
Kortschenko stand mit gesenktem Kopf. Der Haufen Diagramme und Aufstellungen, die unordentlich auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet lagen, reizte ihn. Er sah ein, dass ihm diese Materialien nicht halfen, dass sie im Gegenteil alle in Wut versetzten, und erbittert stopfte er die raschelnden Papiere in seine Aktentasche. Aber da sah er den kraftlos auf die Brust gesunkenen Kopf Wartanjans und fühlte sich sofort wieder ermutigt. Vor Aufregung überschlug sich seine Stimme:
„Wer gibt dir das Recht, mich wie einen Schurken zu behandeln? Du willst alle Verantwortung von dir abwälzen, willst sie mir allein in die Schuhe schieben! Das wird dir nicht gelingen! Ich habe gearbeitet... Keine Nacht habe ich geschlafen. Auf meinen Urlaub habe ich verzichtet. Meine Familie habe ich im Stich gelassen. Und du hast nur dagesessen und deine Resolutionen verfasst! Du hast nur bereut, wolltest dir Verzeihung für deine Parteisünden verdienen! Nichts ist leichter als das. Aber stelle dich mal auf meinen Platz!"
„Das wollen wir schon tun!"
Dieser Satz kam aus der Menge der aufmerksam vorgeneigten Köpfe und traf Kortschenko mit einem trockenen, harten Peitschenschlag. Verwirrt sah er die auf ihn gerichteten zornigen Blicke und ließ sich müde auf einen Stuhl sinken.
Als Jusow wieder eintrat, wunderte er sich über die Stille, die im Raum herrschte. Wartanjan sprach nun mit ruhiger Stimme, dazwischen trank er häufig einen Schluck Wasser.
„Es wäre unser unwürdig, wenn wir versuchten, die ganze Schuld dem Direktor aufzubürden. Mit ihm zusammen haben wir alle Dummheiten begangen, und mit ihm zusammen haben wir die Verantwortung zu tragen. Ich selbst habe auch Schuld — ich erinnere nur daran, wie ich auf dem Plenum des Okruschkom nicht verstanden habe, in den etwas wirren Worten Andrjuschetschkins die Wahrheit zu erkennen. Ich habe seine Äußerungen zu formal aufgefasst, das war ein Fehler! Ich habe mir nicht die Zeit genommen, einen Menschen ausführlich anzuhören, der mit dem, was ihn bedrückte, zu mir kam, das war ein Fehler! Ich habe mich zu spät für die Sache Saizew interessiert — das war ein Fehler! Alle diese Fehler gebe ich zu."
„Das ist noch nicht alles, Wartanjan!" rief Olga. „Die Hauptsache hast du vergessen. Du musst noch zugeben, dass du uns auf der Arbeiterversammlung im Stich gelassen hast. Wer hatte recht? Ich, Platow, Titytsch, Mochow, die ganze Versammlung! Du aber — du hast uns im Stich gelassen. Hast lauter Ausflüchte gemacht, und schließlich bist du mit den Spezialisten gegen uns gegangen. Hast uns feige im Stich gelassen, Wartanjan, gib's nur zu!" Olga lächelte spöttisch.
Wartanjan hatte nicht erwartet, dass Olga diesen wundesten Punkt berühren würde, diese Sache, die ihn in den letzten Tagen furchtbar gequält hatte. Er wusste selbst, dass er sich auf der Versammlung nicht richtig benommen hatte, aber es fehlte ihm die Kraft, dies offen zu bekennen, und die Tatsache, dass ihm dieser Fehler jetzt hier vor anderen vorgeworfen wurde, schmetterte ihn nieder.
„Jawohl, ich bin gegen die Massen gegangen... Objektiv betrachtet, sieht es so aus... Aber schließlich macht jeder einmal einen Fehler..."
Jetzt trat Titytsch an den Tisch, er zupfte wie immer an seinem verräucherten Bart:
„Olga hat recht — da ist nun nichts zu machen... du hast die falsche Seite gewählt, Genosse Wartanjan. Wir haben den Feind einfach mit unserem Innern gespürt, und haben direkt ins Ziel getroffen! ,Wissenschaftlich' betrachtet, war vielleicht wirklich kein Grund vorhanden da anzuhaken. Aber unser Inneres, das gibt das Signal: stopp! Siehst du, so ist das Leben! Aber dein Inneres, Wartanjan, das ist blind — nimm's mir altem Mann nicht übel, aber ich sage nun einmal die Wahrheit gerade heraus..."
Wartanjan stützte den glühend roten Kopf auf die Hände. Die Worte Titytschs brannten in seinem wild und gequält klopfenden Herzen. Wie herbstliche Blätter im Wirbelsturm, jagten die Gedanken an die Fabrik, an die Tausende, zu denen er nicht den rechten Weg gefunden hatte, durch sein Hirn. Er fühlte den boshaft triumphierenden Blick Kortschenkos und verbarg sein Gesicht hinter einer Zeitung.
Da erhob sich Wolski. Aufrecht und streng stand er neben dem Tisch, wie ein Wachtposten.
„Aus den scheinbar besten Absichten — das Ansehen des Betriebs nicht zu schädigen — ist nichts als Unheil entstanden. Kortschenko hat an seinen Bericht auf dem Plenum erinnert — ich habe gesehen, Kortschenko, wie du zwischen den roten und den schwarzen Ziffern geschwankt hast! Und schließlich hast du die Ziffern gewählt, die dazu geschaffen waren, uns zu beruhigen, und die uns in den Abgrund hineingerissen haben. Aber warst du der einzige, der so handelte?" Wolski streifte Wartanjan mit einem schlauen Blick, dann heftete er die Augen auf Jusow, und dieser wandte sich ab. „Wir wollen ganz offen sein! Hier, der Redakteur unserer Zeitung... Er möge sich daran erinnern, wie er mit seinen Artikeln und Feuilletons die unheilvollen Risse der Triebachsen überpinselt hat. Leicht und angenehm ist es, auf den Schlittschuhen der Seelenruhe und des wohlfeilen Enthusiasmus über die glatte Oberfläche des Eises dahinzugleiten, das oft genug ein stinkendes Gewässer überdeckt. Aber um so schlimmer der Sturz. Unsere Epoche braucht keine Politik, die die Risse und Schrammen verdeckt, durch die sich unser Klassenfeind zwängt. Mögen diese Risse und Schrammen ruhig an der Oberfläche erscheinen. Wir fürchten sie nicht. Wir sind stark genug!"
Das Läuten des Telefons unterbrach Wolski in seiner Rede.
„Halloh..." Wartanjan hatte der Hörer aufgenommen, dann legte er ihn still vor sich auf den Tisch. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes Zucken, das die Lippen verzerrte und die kummervoll blickenden Augen noch tiefer in ihre Höhlen zu drücken schien.
„Der alte Kusmitsch ist gestorben... " sagte er kaum hörbar, und alle, die sein erschüttertes Gesicht sahen, hielten den Atem an.
Einige Minuten herrschte tiefes Schweigen. Olga schaute verwundert auf Wartanjan, sie verstand nicht, warum sein erschöpftes Gesicht plötzlich anschwoll und zuckend vor ihren Augen verschwamm. Bedrückt von der Stille um sie her, wandte sie sich um — aber sie sah keine Gesichter, nur feurige Flecken zuckten vor ihren Augen hin und her, als ob die Glühbirnen geschmolzen wären und mit ihren heißen Strahlen ihre brennenden Augen versengten... Aus weiter Ferne drang ein ersterbender Seufzer an ihr Ohr:
„Siehst du — so ist das Leben."
Bedrückt und völlig erschöpft verließ Kortschenko das Raikom. Langsam schlenderte er über den Fabrikhof, der von dem schwachen Licht der elektrischen Laternen erhellt war. Über seinem Kopf, in durchsichtiger Höhe, jagten Wolkenfetzen — die Vorboten von Gewitterwolken. Ein starker Wind kam auf und brauste pfeifend über den Hof, er raschelte in den Metallhaufen und heulte in den engen Durchgängen zwischen den schwarzen Fabrikgebäuden, melancholisch knabberte er an den Blechdächern. Mit feuchten Schwingen streifte er Kortschenkos Gesicht, kühlte den erhitzten Körper, fuhr ihm mit kalten Händen über den Rücken. Wie abgerissene Wolkenfetzen jagten Kortschenkos Gedanken dahin, zerflossen spurlos und ließen nichts zurück als einen dumpfen Schmerz in den Schläfen.
Ein Windstoß fuhr in die Birken, die sich über den Zaun neigten, sie streckten die weißen Hände ihrer schlanken Zweige nach oben, zischten zornig und schleuderten Kortschenko einen Haufen welker Blätter ins Gesicht. Die Blätter flatterten wie Falter im grünlichen Schein der Laternen; der Wind packte sie und führte sie fort — unbekannt, wohin. Kortschenko musste an den roten Schmetterling denken, den er zu Boden geschleudert hatte, in dem Augenblick, als er sich zum ersten Mal von diesem Furchtbaren bedroht fühlte, das ihn jetzt tödlich zermalmte. Er sah die unerbittlichen Augen der Arbeiter vor sich, das verächtliche Lächeln um Wartanjans Mund, und überall flüsterte es und wies auf ihn mit weißen, bösen Fingern. Ja — er hatte sich verrechnet. Sein großes Vertrauen hatten ihm die Ingenieure mit Schande belohnt. Da flüsterte ihm Wartanjan irgend etwas ins Ohr. Er versteht nicht, was. Er will nichts verstehen, er kann nichts verstehen, er ist todmüde... Er sieht die schlauen, grausamen Augen des Untersuchungsrichters vor sich — morgen wird er ihn, den Angeklagten, den Fabrikdirektor Kortschenko, verhören. Er wird eine ganz gewöhnliche, in ihrer Einfachheit furchtbare Frage an ihn richten: Sagen Sie, Angeklagter Kortschenko, was wissen Sie von dieser Sache?"
Ja, er weiß nichts von dieser Sache... Er weiß nur, dass Kraiski ein ausgezeichneter Ingenieur ist, den er schätzte, aber es hat sich herausgestellt... „Ach, hätte ich doch damals nachgegeben, als er seine Entlassung verlangte, und ihn gehen lassen; aber statt dessen habe ich noch überredet zu bleiben und habe alle seine Bedingungen erfüllt... Du bist ein Esel, Pjotr Kortschenko!"
„Sagen Sie bitte, Angeklagter Kortschenko, hat Ihnen denn niemals einer von den Arbeitern die Gefahren signalisiert? Haben Sie die Gewohnheit, durch die Abteilungen zu gehen, die Arbeiter anzuhören?" Erbarmungslos kneift der Untersuchungsrichter die Augen zusammen. „Nehmen wir zum Beispiel die Aussagen Wekschins... Er sagt, er sei zu Ihnen gekommen und habe Ihnen von der Tätigkeit Borezkis erzählt. Was haben Sie darauf unternommen, Angeklagter?"
Jawohl, Wekschin war zu ihm gekommen. Er hatte dann den Technischen Direktor Turtschaninow rufen lassen und ihm die Untersuchung dieser Sache übertragen. „Ach — was für ein alter, vertrauensseliger Idiot bin ich doch!"
Kortschenko blickte sich bedrückt um. Die Birken hoben verurteilend ihre weißen Hände und murmelten: „Sagen Sie doch, Angeklagter Kortschenko..."
Aus der Ferne kam der lang gezogene, kreischende Pfiff der Fabrikbahn. Finstere Wolken hatten den ganzen Himmel überzogen, der beginnende Regen zog ein feines Netz vor den grünlich verschwimmenden Schein der Laternen, vor die Schornsteine, die Fabrikgebäude, die spärlichen Lichter in den schweigenden Werkhallen, und Kortschenko hatte den Eindruck, dass er alles das durch ein Gitter hindurch sah, das sich zwischen ihm und der Fabrik aufgerichtet hatte. Er fröstelte und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. „Das ist doch bloß gewöhnlicher Regen", versuchte er sich selbst zu beruhigen. Er hatte auf einmal den Wunsch, so schnell wie möglich den ihn umklammernden Krallen der Finsternis, des heulenden Windes, dem Aufklatschen der großen Regentropfen zu entrinnen. Er beschleunigte seine Schritte, stolperte über die Geleise, drang in das strömende Regennetz, als wolle er es mit seinem bebenden Körper zerreißen. Aber das Regennetz umfloss wie kalter Draht sein Gesicht, seine Hände, seinen) vor Kälte schaudernden Rücken, es wickelte sich um seine Füße — sie glitten aus auf den matt schimmernden Schienen und rissen den schlappen, erschöpften Körper auf die nasse, schwarze Erde. Er fiel hin und verlor dabei seine Aktentasche. Mit zitternden Händen tastete er in der Dunkelheit auf der nassen Erde herum, fühlte Schrauben, Muttern und unbekannte feuchte Gegenstände zwischen den Fingern, packte schließlich irgend etwas Aufgeblasenes, Nasses, Glitschiges, wie eine Kröte, und zog voller Ekel die Hand zurück. Da zuckte ein greller Blitz auf, und Kortschenko sah seine dicke, schwarze, regenglänzende Aktentasche. Er griff nach ihr, aber sie war schwer und schlüpfrig und entglitt seinen Händen und klatschte wieder in die feuchte Dunkelheit zurück. Das kalte, schwere Regengitter sank unerbittlich auf seinen Kopf herab, es wurde dichter und dichter, bis es schließlich eine einzige dicke, graue Wand war, die die Welt seinem Blick entzog. Ein Wolkenbruch überflutete die krachenden Eisendächer, prallte in schäumenden Geisern von der Erde ab und drückte den schwachen Körper Kortschenkos auf den Boden. Kortschenko kroch auf den Knien über die schlüpfrige Erde; seine Hosen blieben an irgendwelchen Metallstücken hängen, er zerriss sie bei dem Versuch, sich von der eisernen Umklammerung zu befreien, die seine Füße gepackt hatte. Wilde Wut und kalter Schrecken ergriffen ihn, und überall tasteten seine Hände auf ekelhafte, schlüpfrige, unsichtbare Aktentaschen. Um ihn heulte der Sturm. Die Regenfluten plätscherten. Wild krachende Donnerschläge erschütterten die Erde.
Die einander jagenden, grellen Blitze tauchten den Himmel in ein einziges zuckendes Feuermeer — die ganze Fabrik schien von einer wilden, grünlich-flammenden Feuersbrunst gepackt.

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