ERSTES BUCH
„Die Revolution ist nicht nur nötig, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen, um zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden." Marx u. Engels über Feuerbach
1
Gehüllt in Ruß und Rauch, ließen sich eines Tages drei schwere, finstere Gebäude im Talkessel des stürmischen Flusses nieder, auf dem Sand, den die Jahrtausende und das Wasser angeschwemmt hatten. Sie brachen die urewige Ruhe der Nadelwälder rings umher: die Bärenspuren verschwanden immer mehr in der Tiefe der Wälder: die Auerhähne, die im Frühling an die gewohnten Balzstellen kamen, hielten mitten in ihrem Liebeslied erschrocken inne, aufgescheucht von dem ungewohnten Getöse. Nur die hohen Grabhügel, die das Andenken an die blutigen Schlachten mit den Litauern hüteten, erhoben sich nach wie vor in feierlichem Schweigen.
In den Nächten glänzten weiße Lichter auf — und es schien, als ob ein tausendäugiges Ungeheuer die ganze Nacht hindurch schlaflos herumrumorte, mit seinen Tatzen scharrte und vor Anstrengung ächzte, als wolle es hinaufkriechen auf den Kamm des Berges, zu den kleinen Hütten, die sich furchtsam dicht an die Erde schmiegten. Morgens aber, wenn die Sonne die Nebelwolken zerriss und das glänzende Band des Flusses entblößte, dann war der Lärm, das Krachen und Donnern noch unerträglicher.
Das war, als Stahl und Eisen zum Angriff vorgingen: die Felder verschwanden in unbestimmter Ferne und schleppten sich als schmale Streifen am Horizont entlang; Tausende von Menschen griffen mit eisernen Spaten die Erde an und wühlten sich tief in sie hinein; Kalk, Sand und Ton, zu Ziegeln gehärtet, wuchsen zu mächtigen Gebäuden aus der Erde empor; der Wald trat einen ungeordneten Rückzug an, und auf dem Wege blieben dürre, gelbe Kiefernleichen und riesige Baumstümpfe, die bis heute noch nicht verwest sind; an Stelle der schlanken, masthohen, sich im Winde wiegenden Kiefernstämme ragten die ziegelroten, starren Säulen der Fabrikschlote zum Himmel empor; schwarzer Rauch verästelte sich über die ganze Gegend hin; die grünen Wiesen verschwanden unter Haufen von Müll, Schlacke und Schutt; an die Stelle der frischen reinen Quellen traten abgestandene, ölige Wassertümpel, die wie mit rötlich-violettem Rost überzogen schienen, und am Fluss wuchsen, gleich mächtigen Wachtürmen, tausendtonnige Erdöltanks aus dem Boden — so wurde die Fabrik geboren.
Sie dröhnte Tag und Nacht und verdeckte den Himmel mit schwarzem Ruß; sie schmolz und schmiedete Stahl und fesselte die ungebärdige Erde mit glänzenden, klirrenden Schienensträngen, und auf den Schienen kamen eiserne Ungeheuer dahergerast, wie die Wälder sie noch nie gesehen -— die Fabrik ging zum Angriff über. Die Dörfer suchten ihre Zuflucht drüben, in den Talmulden hinter dem Fluss, wo sie sich brummend, mit aufgestülpten Strohhüten, jahrelang verteidigten; aber schließlich brach die Hartnäckigkeit des Gegners doch ihren Widerstand, und sie ergaben sich. Die Menschen ließen ihre Felder im Stich und zogen in die rußigen, rauchigen Werkstätten ein, ihr Leben wurde ein anderes. Tausende kleiner Häuser, breite Straßen, Massenquartiere, voll gepfropft mit Menschen, entstanden in weitem Umkreis um die Fabrik.
Oft aber geschah es, dass die Fabrik die Menschen, die sie aufgenommen hatte, wieder ausspie, dass ihr Lärm schwieg und die Feuer ihrer Öfen niederbrannten; dann kehrten die Arbeiter in ihre Wirtschaften zurück, die sie für alle Fälle beibehalten hatten, und Dunghaufen und Bärte wuchsen wieder. Wie stark ist doch diese Nabelschnur! Die Menschen schleppen sie auch heute, an der Schwelle zum neuen Leben, noch hinter sich her; sie hängt in den rostroten geflochtenen Säcken, die sie auf den breiten, vom weiten Wege schweißgebadeten Rücken tragen.
Von der schmalen Treppe aus — sieben wohlbekannte, steile ausgetretene Stufen hoch — sah Kusmitsch dem Beginn der Arbeit zu, von hier aus begrüßte er diesen alltäglichen, gewöhnlichen, tausendmal erlebten, immer von neuem aufregenden Fabrikmorgen.
Er weckte die Erinnerung an versunkene Jahre in ihm, führte ihn an die weit in der Vergangenheit liegenden Quellen des Fabriklebens zurück, und alte Wunden brachen auf und begannen stechend zu schmerzen.
Heulend stieß die Sirene zum letzten Mal weiße Dampfwolken hervor, ihr greller Pfiff scheuchte einen Taubenschwarm vom roten Ziegeldach des Krankenhauses auf — dann stieg ein tiefer Basston aus ihrer Kehle empor, die Dampfpfeifen stimmten aus aller Kraft mit ein, und ein voller, hallender Akkord legte sich über die Fabrik.
Er ergoss sich in breiten Wellen über die Stadt, drang bis zu den Wäldern, die sie wie eine dunkle Mauer umgaben, weckte ein Echo in den stillen Kiefernhainen und lag als ein zitternder Klang über den Feldern. Unter den schattigen Gebüschen am Fluss flatterten erschrockene Wildenten auf; in den Dörfern der Umgegend rückten die Bauern an den Zeigern ihrer Uhren und stellten sie nach der Fabriksirene. Von dem geborstenen Turm der Feuerwache schlug die Uhr eiligst ein paar Stunden hintereinander ab, um die Zeit einzuholen, die ihr vorausgeeilt war. Der mit einem Paar Füchsen bespannte
Wagen des Direktors raste heran, Staubwolken wirbelten hinter ihm auf.
Die Sirene aber heulte weiter und erschütterte die Morgenluft, ihr Ton lief durch Straßen und Gassen und fegte den stürmisch sprudelnden Menschenstrom zum Fabriktor hinein.
Rasch rannten die Menschen die Treppe hinauf; angetrieben von dem letzten, strengen Pfiff der Sirene, verstreuten sie sich schnell über den breiten Fabrikhof, liefen hinein in die verräucherten Werkstätten, zu den Maschinen und Werkbänken.
Jahrzehntelang war auch Kusmitsch so zum Fabriktor hineingeeilt ; von der Müdigkeit fast erdrückt, war er dann nach Hause gegangen, hatte an seine Familie und ans Essen gedacht und davon geträumt, sich einmal auszuruhen. Jetzt brauchte er sich nicht mehr abzuhetzen: an seiner Drehbank standen andere, Kusmitsch kannte nicht einmal ihre Namen, und zu Hause wartete niemand auf ihn. Seine Familie... Der Alte ließ den Kopf sinken, die schweren Erinnerungen bemächtigten sich seiner von neuem. Vieles hatte er vergessen. Aber es gibt im Leben manches, was der Mensch bis ans Ende seiner Tage mit sich schleppt — eine Last, so schwer, das auch die Jahre sie nicht leichter machen können, und das alte Gedächtnis wacht sorgfältig darüber, dass man nichts davon vergisst.
„Die Meinen..." seufzte der Alte, und sein weißer Kopf sank noch tiefer auf die Brust.
An ihm vorüber eilte der Menschenstrom. Scherzen, Gelächter und ernstes, sachliches Gespräch. Junge Arbeiter stritten eifrig über irgendetwas.
„Wenn unser Torwächter nicht ausgerutscht wäre, dann wäre es euch schlecht ergangen!" rief ein kraushaariger Bursche in einer zebraartig gestreiften Maika (Anm.: Sportleibchen) einem blauäugigen Mädchen zu.
„Wir haben euch aber immerhin mit sechs zu zwei geschlagen!" Das Mädchen schüttelte übermütig den blonden Schopf zurück; als sie Kusmitschs ansichtig wurde, grüßte sie zärtlich lächelnd:
„Guten Morgen, Genosse ,Chef'!"
„Guten Morgen, Olga! Gib's ihm nur ordentlich!" nickte Kusmitsch aufmunternd zurück.
Olga und der Krauskopf verschwanden im Fabriktor, die andern lachten hinter ihnen her.
Kusmitsch prüfte mit aufmerksamen Blicken die Vorübergehenden; sie sind anders als jene, die in seinem Gedächtnis leben, besser angezogen, besonders die Jungen; nur wenige tragen ein Paket unter dem Arm — alle essen in der Fabrikkantine zu Mittag, nur die, die vom Fluss, von den Feldern her kommen, tragen die geflochtenen Bastsäcke für ihre Einkäufe in der Stadt und für die Wodka auf dem Rücken; viele Arme sind bis an die Schultern hinauf entblößt, der Sonne freigegeben; viel mehr frohe Gesichter, fester und leichter der Gang bei allen — manche aber wollen überhaupt nicht mehr gehen, auf funkelnden, nickelglänzenden Fahrrädern kommen sie angesaust; es sind schon viele: „Eins, zwei, drei, fünf, zehn, achtzehn"... Kusmitsch hatte sich verzählt — er hält verwirrt inne und lächelt kopfschüttelnd. Die roten Kopftücher scheinen wie hineingesprenkelt in die schwarzen Arbeiterhaufen...
Alles das, was er heute von neuem entdeckte, war mit dem, was ihm aus früheren Zeiten im Gedächtnis haften geblieben war, nicht zu vergleichen. Die Welt hatte sich vor seinen Argen erneuert, die Menschen waren andere geworden; diese Veränderungen, die er am eignen Leben nicht mehr prüfen konnte, die er jedoch deutlich vor Augen sah und völlig erfasste, weckten Erregung und Freude in ihm. In dieser Stunde schien ihm die Last des eignen Daseins fast unwesentlich, er hatte nur das Gefühl einer nie gekannten Lebenslust, die von den vorübereilenden Menschen ausstrahlte und sich auf ihn übertrug...
2
Um den Weg nach der Fabrik abzukürzen, bog Andrjuschetschkin in eine schmale kleine Gasse ein, die zu beiden Seiten von Bretterzäunen eingefasst war; die Frische des frühen Morgens überströmte ihn. Gienig sog er die feuchte, von Fliederduft getränkte Luft ein. Über ihm neigten sich schlanke Birkenzweige mit ihren frischen grünen Blätterbüscheln, hinter den Zäunen wogte der zartrosa Schaum der blühenden Apfelbäume. Er sprang hoch, um einen Zweig der taufunkelnden Apfelblüten abzureißen, roch daran und erkannte, fast überrascht, den Frühling: der zwängte sich in saftigem Grün durch die Latten des Zauns, lugte zu den Gärten hinaus, atmete im süßen Duft der Apfelblüten, im satten Dunst der umgegrabenen Beete des Gemüsegartens, im zitternden Flügelschlag der zwitschernden Stare — in Andrjuschetschkin wallte ein Gefühl heftiger Lebensfreude auf. Er stieß einen lauten Pfiff aus. Aus einem Torweg schnellte ein strubbeliges, graues Wollbündel hervor und kläffte gutmütig auf ihn los.
Andrjuschetschkin schaute verwundert auf den Hund nieder, blies die roten Backen auf und antwortete ihm mit einem lang gezogenen, heulenden Gebell.
„Und so was will Zellensekretär sein! Äfft den Hund nach!"
Titytsch trat aus einer Gartenpforte und schüttelte lachend den Kopf.
„Es ist nicht zum Aushalten, Titytsch! Sieh mal, wie wunderbar alles ist!" Und Andrjuschetschkin fuchtelte Titytsch mit dem Apfelblütenzweig vor der Nase herum.
„Wun—der—bar... Guck lieber mal an, wieviel Äpfel du da vernichtet hast!" brummte Titytsch missbilligend.
Andrjuschetschkin seufzte verlegen und ließ den Apfelblütenzweig unbemerkt zu Boden fallen. Sie bogen um die Ecke, und die Sonne, die sich hinter den Häusern losgerissen hatte, schleuderte ihnen ihre blendenden Strahlen gerade in die Augen.
„So ist's auch mit der Fabrik... Vorerst sind's nur die Blüten, die Früchte sollen noch kommen. Na, das werden saure Äpfel werden!" krächzte Titytsch.
„Was sprichst du in Rätseln?"
„Meine Rätsel sind bitter", orakelte Titytsch weiter.
Sie näherten sich der Fabrik. Auf den Schienen rollte langsam ein Güterzug an. Die offenen Wagen mit den glänzenden Kohlen und dem Koks, der mit glitzerndem Reif überzogen schien, mit den schweren Eisenplatten, den riesigen Kisten, den aus wasserdichtem Zeltstoff hervorlugenden Maschinen, alle diese hochbeladenen Wagen, abwechselnd mit ungefügen Erdölwagen, schoben sich langsam zu den Fabriktoren hinein.
„Siehst du, wieviel wir auffressen! Und was geben wir?" Titytsch war stehen geblieben und sah seinen Gefährten fragend an.
„Lokomotiven liefern wir... Waggons... Was soll das heißen: was geben wir?" entgegnete Andrjuschetschkin unsicher.
„Das geben wir — da schau hin!"
Güterwagen ohne Räder, von Holzgestellen gestützt, wie beinlose Krüppel, zogen sich in endloser Reihe hin — ein niederdrückender Anblick.
„Na, siehst du? Eine Schan—de!" Titytsch spuckte aus und ging schneller. Sein Gesicht hatte sich verdunkelt, als hätte er sich seit gestern nicht gewaschen.
Von allen Seiten strömten die Arbeiter in dichten Scharen herzu, um sich gleich wieder aufzulösen, von den unersättlichen Werkstattoren aufgefressen. Vom allgemeinen Strom mitgerissen, wurde Andrjuschetschkin in die Martinabteilung hineingeschoben und verlor Titytsch aus den Augen.
Die Werkstatt füllte sich mit Lärm, mit zischendem Dampf und dem Klirren von Metall; noch hatten sich die verschiedenen Töne nicht zu einem einzigen Knattern und Krachen vereinigt, noch konnte man das Zischen des Dampfs, das Klirren der Kranketten, das klingende Aufschlagen einzelner Metallstücke unterscheiden. Hier und da sprühten die ersten Funken der autogenen Schweißapparate auf. Violette Flammen umherspritzend, begannen die Elektroden zu zischen. Die Luft wurde von dem donnernden Krachen des Drucklufthammers zerrissen — Wasska Trussow, der den Hammer bediente, hatte seine ohrenbetäubende Arbeit begonnen; die Halle erzitterte von dem Gebrüll, das der Stahl unter seinen Schlägen ausstieß.
Ein langhalsiger Kran pfiff, steckte seinen Kamelskopf zum Tor hinein, klirrte mit den Ketten und ließ vorsichtig drei Räder auf die Erde nieder. Dann stöhnte und schnaubte er und zog sich langsam zurück.
Andrjuschetschkin befestigte ein Rad an dem Handkran und schleppte es nach einem der Apparate in einer Ecke der Werkstatt; aber da lag noch das erste Paar Räder, in weichem Staub vergraben. Kein Mensch stand an der Maschine.
Andrjuschetschkin warf einen Blick auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Wie ein großer, buschiger Kohlkopf saß der zwischen den schmalen Schultern auf dem Hals, der von einem Schuss steifgeblieben war; wenn Andrjuschetschkin zur Seite sehen wollte, so musste er den ganzen Rumpf wenden wie ein Wolf.
Er blickte unentschlossen auf den Schweißapparat: auf dem runden Vollmondgesicht des Amperemeters hing der schwarze Zeiger traurig herab; schließlich schimpfte er laut: „So ein Hund! Bummelt herum... " Eine Minute später brüllte er in dem kleinen Werkstattkontor ins Telefon: „Personalabteilung! Schickt von der Reservebrigade sofort einen Schweißer herüber... einen Elektroschweißer. Aber bitte fix! Was?? Keiner da??? Ach, hol's der Teufel!"
Er beugte sich mit gespreizten Beinen über die Räder, betrachtete die Risse, Lunker und Blasen, die das Eisen bedeckten, und das Gespräch mit Titytsch kam ihm in den Sinn. Der Schweißapparat schwieg, kraftlos ringelten sich die Kabel wie schwarze Schlangen auf der Erde.
Wieder steckte der Kran seinen langen Hals zur Werkstatt herein und setzte eine neue Last auf der Erde ab. Andrjuschetschkin starrte hilflos auf die Räder und schimpfte:
„Ein junger Kerl noch, und so ein Bandit! Ich würde dir ordentlich eine runterhauen, wenn ich dein Alter wäre! Das sind nun die ,Gebüldeten'!"
„Du musst dich beeilen!" rief Borezki.
„Ich weiß alleine, was ich muss."
Andrjuschetschkin trat an den Apparat, brachte die Kabel in Ordnung und legte den Hebelschalter um. Vor sich hinschimpfend, klemmte er die weiße Elektrode in den Halter und befestigte eine Maske vor dem Gesicht.
Eine hellrote Flamme sprühte auf und flackerte hin und her. Krachend füllte die Elektrode die unheilvollen Lunker am Rade mit flüssigem Metall. Kochender Stahl ergoss sich in die Blasen, wo er als rötlichblaue Narbe erkaltete.
Blaue Funkengarben sprühten, von ihm ungesehen, über Andrjuschetschkins Kopf; von draußen sah es aus, als flattre ein blaubeschwingter Vogel ängstlich gegen ein gläsernes Dach.
So schien es dem Genossen Jusow, als er sich der Werkstatt näherte. Er bildete in Gedanken die ersten Sätze, mit denen er seinen Artikel anfangen wollte:
„Die Maisonne kann gegen die Elektrizität nicht aufkommen — es fehlt ihrem uralten Licht die Kraft, die junge Elektrizität zu besiegen. Der mit der Elektrizität bewaffnete Mensch fordert die Sonne heraus. Er schafft Maschinen, die nun endlich auch die Sonne zwingen, wie ein getreuer Hund den Menschen zu dienen... "
„Das wird wunderbar!"
„O — Sie geben der Fabrik die Ehre? Betrachten Sie sie nur, ergötzen Sie sich daran, Genosse Jusow..."
Benjamin Pawlowitsch Turtschaninow, der Technische Direktor der Fabrik, lief ihm so eilig entgegen, dass die Rockschöße seiner bastseidenen Jacke im Winde hinter ihm herflatterten; freudig lächelnd drückte er den Kneifer auf dem Nasenrücken fest, den ihm der Wind hinunterzureißen drohte.
„Genosse Jusow! Sehen Sie, wie schön, wie stark", rief Benjamin Pawlowitsch, mit entzückten Augen eine neue Schnellzugslokomotive liebkosend, die langsam auf den Schienen anrollte. „Unser Stolz: ,SU'."
Der Kneifer sprang hinunter und gab stechende, zusammengekniffene Augen frei; er fiel in die geschickt untergehaltene Handfläche, um gleich darauf wieder einem Schmetterling ähnlich auf dem Nasenrücken zu thronen.
„Nun, was denken Sie, welche Kraft setzt diese wunderbare Maschine in Bewegung?" fragte Benjamin Pawlowitsch mit schlauem Lächeln.
„Der Dampf natürlich... Das weiß jeder Schuljunge."
„Der Dampf? Ha—ha—ha—a—a! Aber ohne Kohle gibt’s keinen Dampf... "
„Selbstverständlich, ohne Kohle gibt’s keinen Dampf... Vielleicht ist's also wirklich richtiger zu sagen: die Kohle", sagte Jusow errötend, etwas unzufrieden über dies sonderbare Examen.
„Auch die Kohle ist's nicht! Absolut nicht die Kohle, sondern das, was die Kohle geschaffen hat. Ich sage es Ihnen mit den Worten Stephensons, des Erfinders der Lokomotive: Diese Kraft ist die Sonne, die Kraft- und Lebensquelle unseres sündigen Planeten."
„Letzten Endes ist's natürlich die Sonne... " gab Jusow zu.
Turtschaninow klatschte in die Hände.
„Letzten Endes? Nein, damit bin ich wieder nicht einverstanden... Letzten Endes wird die Maschine hiervon angetrieben!" Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn, auf der trockenen braunen Haut erschien ein kleiner weißer Fleck.
„Wir Ingenieure und Techniker sind es, die die Sonne wie ein Lastpferd vor die Lokomotive spannen. Aber um dieses Pferdchen unters Joch zu zwingen, muss man es erst mit dem Lasso des Geistes einfangen. Mit dem Lasso des Geistes — jawohl! Und wenn ich den alten Stephenson im Jenseits treffen werde, dann werde ich ihm ins Ohr flüstern: ,Der Geist treibt deine Maschine an!' " Und Benjamin Pawlowitsch eilte weiter, wobei er den linken Fuß leicht hinkend nachzog.
Jusow runzelte die Stirn, er ärgerte sich etwas, weil er Turtschaninow nicht so, wie es nötig gewesen wäre, geantwortet hatte; aber die Übereinstimmung seiner Gedanken über die Sonne mit den Worten der Ingenieurs war ihm eine angenehme Freude. Angeregt betrat er die Abteilung und lauschte dem trockenen Knacken der elektrischen Funken. Es riecht so ganz besonders — etwa nach gebratenem Stahl... Nein — dieser Vergleich ist dumm und abgeschmackt, er erinnert an gebratenen Speck. Es kommt Jusow so vor, als seien hinter den schwarzen Schirmen, hinter denen das violette Licht hervorblitzt, Zauberer verborgen, die nach den Rezepten der Alchimie Gold gewinnen. Ja, das ist Gold; Lokomotiven, Waggons — in Dinge verwandeltes Gold. Jusow ist stolz darauf, dass er wie einer, der dazu gehört, in den Werkhallen dieses Industrieriesen aus und ein gehen kann, wo sechzehntausend Menschen den Nerv des Landes schmieden — das Transportwesen; dass er, Jusow, in jeder Werkstatt Arbeiter trifft, die ihn kennen, die seinen Gruß heiter lächelnd erwidern. Und in seiner Freude darüber, dass er als notwendiges Rädchen zu dem gigantischen Körper dieser Werke gehört, ruft er, vor dem blendenden Auflodern der Elektrizitätsgarben blinzelnd, laut:
„Andrjuschetschkin, guten Tag!"
Die violette Sonne glänzt und funkelt. Jusow tritt hinter den schwarzen Schirm und stolpert dabei über die Haufen von Eisenteilen und die wie schwarze Schlangen am Boden hinkriechenden Kabel.
„Tag... Tag... Läufst wieder herum?"
Die Augen Andrjuschetschkins maßen ihn unfreundlich und kühl.
„Jawohl, ich laufe herum. Als Zeitungsredakteur muss ich alles wissen." Jusow sprach ruhig und gewichtig, wie er gewohnt war, seine Gedanken zu formulieren.
„Alles wissen... Pass nur auf, dass du nicht zu saufen anfängst, wie Sergej Wekschin. Der hat die neunklassige Schule beendet und ist ein gelehrter Mann geworden, der auf die Arbeit pfeift. So schädlich ist die Wissenschaft!" Andrjuschetschkin wandte sich seiner Arbeit zu und drehte gereizt an dem Rad.
Jusow, der die Feindseligkeit in den Augen seines Gegenübers erkannte, lächelte herablassend.
Mit einer brüsken Bewegung zog Andrjuschetschkin die Schutzmaske mit den dunklen Gläsern vor das Gesicht. Wie ein Mann im Taucheranzug sah er aus. Die Ähnlichkeit wurde vervollkommnet durch den Kittel aus Segeltuch, der den kurzen, runden Körper wie ein Sack umhüllte.
„Was räsonierst du fortwährend? Es ist wirklich ein bisschen paradox, mein Lieber: in einer solchen Epoche — Schädlichkeit der Wissenschaft!"
Ungeduldig schob Andrjuschetschkin die Maske auf die Stirn. Auf seinem Gesicht mit den weißblonden Wimpern malte sich Ärger.
„Ich denke gerade an das, was die Epoche verlangt. Arbeiten müssen wir — er hat die neunklassige Schule absolviert, aber arbeiten will er nicht. Warum ist das so? Wenn einer was gelernt hat, dann soll er gefälligst auch arbeiten! Aber er hat sich jedenfalls einen angesoffen und liegt nun irgendwo, den Bauch nach oben... so ein Gebüldeter!"
Wütend schleuderte er die abgebrannte Elektrode bis an die Werkstattür und hantierte brummend an seinem Rad herum.
Jusow fühlte, dass sich die letzten Worte nicht nur auf den Bummler Sergej Wekschin bezogen, und wandte sich beleidigt dem Ausgang zu. Die Schönheit der Schweißfunken war erloschen; jetzt erst merkte er, wieviel Gerümpel, Plunder und Schmutz in der Werkstatt herumlagen. „Das ist es, das blinde, finstere Element, das sich der Kraft des Verstandes, des Geistes, der Technik in den Weg stellt. Wie stark sogar noch im Arbeiter das Misstrauen gegen die ist, die auf einer höheren Kulturstufe stehen!" dachte er, und vor seinen Augen stand die kraftvolle, Energie ausströmende Gestalt Benjamin Pawlowitschs.
„Kraft! Ja, Kraft..."
Knarrend entließ das Tor Jusow, der in vollen Zügen die Mailuft einsog. Andrjuschetschkin jedoch trat zu Trussow heran, der den Hebel des Drucklufthammers, der sich seiner Hand entrissen hatte, fest an sich drückte.
„Wassja! Hast du nicht vergessen, dass in der Pause die Rote-Hilfe-Versammlung ist? Was? Vergessen? Ich werd' dir alle Rippen im Leibe zerbrechen, pass auf! Wir werden mal ,Sacco-Vajnzetti' auf eure Rote Hilfe loslassen, da werdet ihr was erleben, ihr Bande!" Er rieb sich mit dem Handrücken die feuchte Stirn und dachte nach, was er noch hatte sagen wollen. Aber er hatte es vergessen und konnte sich nicht darauf besinnen, was es war; er wandte sich nach rechts und links, fuhr sich mit der Hand durch die zu Berge stehenden Haare, aber das half alles nichts. Ärgerlich stieß er das fertige Rad beiseite und rollte gebückt das nächste heran.
Andrjuschetschkin wechselte die Elektrode aus und ließ dabei die Augen über die Werkstatt schweifen. Trussow hielt mit der Arbeit inne, nahm den Meißel heraus, betrachtete ihn und schleuderte ihn zu dem übrigen Gerümpel.
„Die Bande! Können nicht mal einen ordentlichen Meißel geben..." schimpfte er, zog seinen Tabaksbeutel hervor und setzte sich auf die Erde.
„Und wer soll dir denn einen neuen geben?"
„Wer? Sehr einfach — die Chefs! Die das große Gehalt kriegen, die sollen einen neuen geben!" Besänftigt spuckte Trussow aus und sah zu, wie die Spucke, in ein schwarzes Staubkügelchen verwandelt, weiterrollte.
Andrjuschetschkin richtete sich verwundert auf:
„So wirst du nun hier sitzen bleiben?"
„So werde ich sitzen bleiben."
„Bis zur Pause?" rief Andrjuschetschkin, und Zornröte stieg ihm ins Gesicht.
„Bis zur Pause", versicherte Trussow seelenruhig und tat einen langen Zug aus der Zigarette. „Wird sowieso nach dem Durchschnitt mitbezahlt, weniger kommt nicht heraus."
In seinen kalten grauen Augen glomm ein trotziges Feuer, und Andrjuschetschkin, den diese Ruhe verblüffte, fand keine Worte mehr und schwieg. Das Bewusstsein, dass er Zeit verlor, dass aber Trussow keinesfalls so sitzen bleiben durfte, machte ihn wütend. Vor seinen Augen erschien die lange Kette der räderlosen Waggons, und mit geballter Faust sprang er zu Trussow hin:
„Geh sofort und such dir einen Meißel, sonst wird's dir schlecht ergehn! Du bist doch Kandidat der Partei?"
„Und wenn schon — Kandidat! Was quatschst du da? Was willst du überhaupt von mir?" Wassja reckte sich drohend empor: „Schrei nicht so!" Borezki trat hinzu.
„Was regst du dich so auf, Wassja?"
„Der Andrjuschetschkin fällt ohne Grund über mich her, Stanislaw Antonytsch. Er wirft mir hier vor, dass ich Kandidat bin, was kann ich denn dafür, ich kann doch nicht mit den Fingern meißeln! Der Meißel ist verdorben."
Borezki gab Trussow einen Klaps auf die Schulter, trat ganz nahe an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr:
„Streng' dich ein bisschen an, Wassja, es sind keine Räder da... Ich werde auch deine Mühe nicht vergessen, du kannst dich drauf verlassen... Zur Nachtschicht kannst du auch kommen. Es ist Arbeit da."
Die Augen Trussows glänzten dankbar auf. Er lief schnell fort, um sich einen neuen Meißel zu holen, und bald donnerte sein Hammer wieder durch die Werkstatt.
Beim Schweißen hörte Andrjuschetschkin noch, wie Trussow ihm hämisch zurief:
„So geht man mit den Leuten um! Und nicht wie du, der einem droht! Anständig behandeln musst du die Menschen. Dickköpfiger Teufel, du!"
Durch das Krachen und Donnern drangen die giftigen Schimpfereien Wasskas wie von ferne an sein Ohr.
Das Manometer an dem schweigsamen Apparat Wekschins schien Andrjuschetschkin schmunzelnd anzugrinsen. Der Gedanke, dass Borezki Wassja sofort zur Vernunft gebracht hatte, während ihm, dem Zellensekretär, dies nicht gelungen war, machte ihn nervös und wütend, und ohne es zu merken, schleuderte er die frischen Elektroden eine nach der andern weit von
sich.
Heiser krächzend, mit schlürfenden Schritten, ging Nossow vorüber. Andrjuschetschkin betrachtete den von Krankheit gebeugten Rücken Nossows und, seine Wut bezwingend, rief er Trussow vorwurfsvoll zu:
„So muss man arbeiten! Der Mann müsste nach der Krim; Tbc (Anm.: Tuberkulose) im dritten Stadium! Aber statt dessen arbeitet er!"
Trussow ließ den Drucklufthammer los und brach in ein unbändiges Gelächter aus; man konnte meinen, das Lachen müsse seine gewölbte Brust sprengen und Andrjuschetschkin mit seinen starken Wellen hinwegspülen.
„Drittes Sta-di-um! Hu-hu-h-u-hu, he-he-ho-ho, Te-be-ce! Hört ihr, Jungens, ,Te-be-ce'!"
Wie aus der Erde emporgeschossen, stand plötzlich der „Chef" Wasska gegenüber und schüttelte missbilligend den struppigen Kopf.
Der „Chef" sagte kein Wort, maß Wasska nur mit einem langen, scharfen Blick, unter dem diesem so ungemütlich zumute wurde, dass er verlegen aufseufzte und widerwillig den Drucklufthammer vom Fußboden aufhob. Der „Chef" aber blieb schweigend ein Weilchen stehen und ging dann ruhig in die Dreherei hinüber. Er hörte nicht, wie Wasska respektvoll hinter ihm her sagte:
„So'n Hexenmeister! Steckt seine Stielaugen 'raus und sagt kein Wort. Wenn er wenigstens noch geschimpft hätte!"
Der „Chef" machte seinen gewöhnlichen Rundgang. In der Abteilung für Eisenkonstruktionen stand er lange und betrachtete voller Bewunderung einen zweihundertfünfzigtonnigen Kran für den Dnjeprostroi, der mit seinem gigantischen Leib die halbe Abteilung ausfüllte; dann ging er in die Lokomotiv-Montagehalle, wo ihm gesagt wurde, dass sich die Montage verzögere, weil die Triebräder nicht rechtzeitig geliefert worden seien, und schließlich wandte er sich nach der Martinabteilung. Dort traf er Borezki, der ihm einen mürrischen Gruß zubrummte.
„Warum lieferst du denn keine Räder, mein Lieber?" Der „Chef" blickte ihn streng an.
„Was geht dich das an?" Borezki wandte ihm grob den Rücken zu und betrachtete eingehend das geschweißte Rad.
Der alte Kusmitsch zog die dichten buschigen Brauen zusammen.
„So... Antonytsch, so, so... Ich bin schließlich ein wenig älter als du, ich darf schon mal neugierig sein. Weil ich schon so alt bin, mein Lieber, und aus reiner Langeweile... "
Der „Chef" merkte, dass Antonytsch mit seinem breiten, starken Rücken etwas vor seinen prüfenden Augen verbergen wollte.
Durch das Benehmen Borezkis beleidigt, runzelte er die Stirn und ging weiter, in die Dreherei. Rund um ihn herum erheben sich die fertigen Fabrikgebäude, die eins nach dem andern vor seinen Augen entstanden sind. Er besinnt sich noch darauf, dass das Fabrikgelände einmal bei der Dreherei zu Ende war und dass sich unmittelbar an diese das Fabriktor anschloss. Und der „Chef" erinnert sich daran, wie im Jahre 1897 die Flammen aus dem Eingangstor hervorbrachen, das von den aufständischen Arbeitern in Brand gesteckt worden war, und wie das Feuer auf die Werkstätten übergegriffen und schwarzer Rauch die ganze Fabrik eingehüllt hatte. Auf vieles besinnt sich der „Chef", was er in seinem langen Leben gesehen hat: jedoch darauf kann er sich nicht besinnen, dass er auch nur ein einziges Mal seinen Rücken vor einem andern gebeugt hätte. Borezki aber, damals noch der junge, starke Stassik, stand gern vor den Vorgesetzten stramm und machte schnell Karriere; durch das neugebaute Eingangstor kam Stassik als erster zur Arbeit in die von den Arbeitern im Stich gelassene Abteilung.
Und jetzt — Genosse Borezki — .. Stanislaw Antonytsch...
„Was gehn dich die Räder an?"... In dem Alten kochte der Zorn, er brummte etwas vor sich hin und spuckte aus.
Der gewohnte Lärm der Maschinen in der Dreherei machte den „Chef" nicht taub und vertrieb auch das Gefühl der erlittenen Beleidigung nicht aus dem erregten Herzen. Zornig mit den schweren Stiefeln stampfend, begab er sich nach der Radsatzdreherei.
Von überallher rief man ihm entgegen:
„Großväterchen, guten Tag!"
„Kinder, der Alte kommt!"
„Komm her, wir woll'n ein bisschen plaudern, Genosse ,Chef!"
„Keine Zeit, Kinder, keine Zeit!" antwortete der „Chef" mit besorgter Miene und ging weiter.
Ein dünner Laut, wie eine feine Vogelstimme, ertönte — das Signalhorn. Wie ein kleines Küken in den Klauen des Geiers, schwebte am Kranhaken eine Lokomotivachse heran und ließ sich leicht über der Maschine Saizews nieder. Der „Chef" beobachtete, wie Saizew die Achse an die Maschine heranholte, und eine jede seiner Bewegungen teilte sich dem Alten mit; er presste die Fäuste zusammen, als halte er eine schwere Last fest, strengte seine ganze Kraft an, und die trockenen Lippen bewegten sich. Er fühlte sich von der gewohnten Ungeduld ergriffen — von Hunderten von Menschen, die ganz auf ihre Arbeit konzentriert waren, sprang die Anspannung auf ihn über, und er besaß nicht die Kraft, sich ihrem machtvollen Eindringen in seinen abgenutzten, aber feinnervigen und zähen Organismus zu widersetzen: seine rastlosen Augen liefen durch die ganze Werkstatt, um aufzuspüren, wo irgendetwas nicht in Ordnung war; sein besorgtes Herz begann schneller zu schlagen; instinktiv spannten sich seine Hände, die von der Berührung des Metalls erwacht waren. Er konnte sich nicht beherrschen und schrie mit lauter Stimme: „Gib die Enden her!... Stopp!..."
3
Olga steckte den Kopf zum Führerhaus des Krans hinaus und schaute hinunter. Gebeugt über ihre Maschine arbeiteten dort die Dreher und Hobler. Dort unten wurde das Dröhnen des Metalls geboren; es vereinigte sich mit dem Surren der Drehbänke und breitete sich über die ganze Halle aus; die donnernden Wellen umspülten Olga, und unbewusst fing sie den Rhythmus der Maschinen auf und sang:
„Und diese Arbeit, die uns bese-e-elt,
Hat uns zu starken Kämpfern gestä-ä-hlt..."
Saizew trieb die hölzernen Keile ein, um den Radsatz zu befestigen. Die Keile sprangen wieder heraus, zerbrachen unter den Schlägen des schweren Schmiedehammers. Er trieb neue hinein, die er unter all dem Gerümpel hervorsuchen musste, wobei viel Zeit verloren ging. Eine halbe Stunde mühte sich Saizew auf diese Weise ab, und noch immer war der Radsatz nicht richtig befestigt. Von oben her ertönte das helle Lied der klingenden Metallhobel.
Mit dem Einspannen ging die Zeit hin, die für das Bearbeiten des Radsatzes bestimmt war — und bis die Sirene zur Pause pfiff, musste alles fertig sein. Der „Chef" machte sich bei der Maschine zu schaffen. Eifrig schob er die Keile zwischen die Speichen der Räder.
„So, Freundchen, jetzt schlag' mal zu!" Saizew tat einen wuchtigen Hammerschlag, und der Keil fügte sich krachend in den Spalt, wo er, zu Tode getroffen, festsaß. Das Lied oben brach ab.
Der Meister trat hinzu. Mit trüben, gleichgültigen Augen musterte er das Gesicht Saizews.
„Eil' dich, Saizew! Gestern hat man die Bearbeitungszeit gekürzt. Jetzt wirst du täglich anderthalb Radsätze abdrehen. Von oben wird gedrückt. Simon Petrowitsch hat's befohlen. Es heißt, dass eine Menge Lokomotiven halbfertig stehen, da drängen sie nun."
Saizew zog mit der Hand einen der vier Supporte heran, indem er angestrengt den Griff der Schlittenschraube drehte.
„Anderthalb? Einer ist schon nicht zu schaffen... Fast eine ganze Stunde braucht man für das Einspannen. Daraus wird nichts werden, Bulawkin."
Bulawkin drehte eine Zigarette zwischen den Fingern, steckte sie in eine abgenagte Spitze und seufzte:
„Ich seh' es selber. Aber wenn's die oben verlangen, was kann man da tun?"
Die graublaue Warze, aus der schwarze, borstige Haare hervorstarrten, saß unerschütterlich auf der grauen Wange Bulawkins. Man konnte sie nicht abklauben, man musste sich eben mit ihr abfinden, ebenso wie mit der Verfügung der Direktion.
„Da können wir gar nichts machen, Saizew." Saizew begann eifrig den zweiten Support einzustellen, um die Radreifen seitlich abzudrehen. Aber der Support bewegte sich nur schwer und hielt plötzlich inne, als ob ihn jemand von unten festhielte. Saizew untersuchte den Schlitten und merkte jetzt erst, dass er voll von dickem Schmutz war: Späne und Staub, die unter dem Drehstahl herabfielen, behinderten die Schlittenschraube.
Saizew wischte den Schmutz mit einem Lappen ab und bewegte das Antriebrad mit der Hand. Die Drehbank erzitterte, und der Radsatz begann sich langsam zu drehen, wobei Späne und Schmutz unter den vier Drehstahlen herausfielen. Saizew wischte sich den Schweiß ab und sah auf.
Sein Nachbar, Mochow, schaute über die Brille weg auf die Achse und brummte dabei irgendetwas. „Mochow! Wie findest du das Leben?" Die Brille rutschte auf die Stirn hinauf, und Mochow wandte Saizew sein unzufriedenes Gesicht zu, die grünlichen Augen ärgerlich zusammenkneifend.
„Keinen Pfifferling ist's wert! Immer neue Bestimmungen werden eingeführt... Seit Jahren arbeite ich auf Achsen, weiß Bescheid damit... Und jetzt auf einmal — jeden Tag was Neues — den Flansch mache so und nicht so. Früher war der Anlauf glatt, es war eine Freude, die Triebachse anzusehn; jetzt gibt's lauter Zeichnungen — der Teufel soll sie holen! Auch die Drehbank ist wie wild geworden; der Support ist wie besoffen — absolut nicht in Ordnung zu bringen ... "
Saizew untersuchte die Drehbank Mochows — die Schlittenschraube war voller Späne, der Schlitten knarrte und war gelockert — Späne und Staub machten langsam, im Laufe der Jahre, den präzisen Antrieb der Drehbank zunichte. Mochow machte eine hoffnungslose Handbewegung: „Das nennt sich eine Achsendrehbank! Auf der hat schon der Prophet Elias die Achse zu seinem Wagen gedreht!"
Saizew sah zu, wie Rost und Staub vom Drehstahl auf den Support spritzten. Hunderte von Drehbänken surrten, brummten, kreischten in der riesigen, niedrigen Halle und verwandelten formlosen Metallguss in glänzende Lokomotivteile. Anderthalbtausend Dreher, Bohrer, Fräser und Hobler schufen die Maschine, gaben ihren zahlreichen Teilen ihre endgültige Form, schliffen sie ab, und alle die funkelnden Stahlstücke verbanden sich miteinander zu einer mächtigen, kraftstrotzenden Lokomotive. Saizew hatte sich stets von einer jeden Maschine angezogen gefühlt, sie schien ihm mit ihrer komplizierten und schwierigen Innenwelt wie ein lebendiges, vernünftiges Wesen. Gierig betrachtete er das Ineinandergreifen der Zahnräder, Wellen und Antriebsräder, um ihr Zusammenarbeiten zu erfassen. Diese Beobachtungen und seine Arbeitserfahrung hatten ihn zu einem gründlichen Verständnis für die Maschine gebracht; aus dem wohlbekannten Surren der Drehbank verstand er ihre Unzufriedenheit, Ermüdung und Erschöpfung herauszulesen; an kaum merkbaren Anzeichen erkannte er die Ursachen von Unterbrechungen, und jede Schwankung im Rhythmus der Arbeit der Maschine empfand er sofort schmerzhaft in seinem eigenen Organismus, als ob dieser selbst versagte; dann hantierte er hartnäckig an der Maschine herum, nahm sie auseinander, säuberte und putzte sie und beruhigte sich erst dann, wenn er wieder ihren sicheren, gleichmäßigen Gang hörte. Oft wurde er wegen seiner Liebe für die Maschine verspottet, aber diejenigen, die das taten, hielt er für „Dorftölpel" und ließ ihre Spöttereien unbeachtet.
Auch die Menschen teilte Saizew je nach ihrem Verhältnis zur Maschine in drei Kategorien ein: in die Dorftölpel, die Akkuraten und die, die wirklich über die Maschine nachdachten. Die ersten waren ihm verächtlich, die zweiten achtete er, seine besondere Liebe aber galt denen, die über die Maschine nachdachten. Zu dieser letzten, höchsten Kategorie gehörten nur wenige; dazu rechnete er solche, die wie er selber waren, und zwar traf er strengste Auswahl. Saizew selbst hatte alle diese Stufen hinter sich, und nun, da er sich in seinem Bewusstsein über die Masse der Menschen erhob, die in der Dreherei arbeiteten, betrachtete er sie gewissermaßen von oben herab. Die Kategorie der Dorftölpel war in der Abteilung am stärksten vertreten. Akkurate, zu denen Mochow gehörte, gab es nur sehr wenige, und nur drei gab es, die über die Maschine nachdachten. Das war traurig, aber die Tatsache, dass er, Saizew, diesen ganzen Entwicklungsweg hinter sich hatte, erfüllte ihn mit Stolz. Der Sinn für die Maschine war für ihn der Maßstab für das eigene Wachstum.
Das, was er jetzt bei sich und Mochow entdeckt hatte, war etwas Neues für ihn. Auch früher waren Stahlspäne auf die Schlittenschraube gefallen, aber durch tägliche Reinigung der Drehbank hatte Saizew dagegen gekämpft; jetzt erkannte er, dass dies ein Mangel der Einrichtung der Maschinen war: der wichtigste Teil der Drehbank war ungeschützt und daher zur vorzeitigen Abnutzung verurteilt. Ein Vergleich kam ihm in den Sinn: das menschliche Auge hat die Natur selbst durch dichte Wimpern gegen Staub geschützt, die Schlittenschraube und der Schlitten der Maschine dagegen liegen offen und ungeschützt da. Das ist verkehrt. Man muss die Drehbank so einrichten, dass die Arbeitsteile der Maschine gegen Verletzungen geschützt sind.
Er beugte sich über die Drehbank, ging um sie herum, ließ sich auf die Knie nieder. Immer der gleiche Gedanke ließ ihm keine Ruhe: „Wie, wenn man den Support irgendwie zudeckte, dass weder Stahlspäne noch Rost noch Staub zu der Schraube durchdringen können?"
Saizew dachte an seine Frau am Herd, an die blaue Schürze, die ihr rosa Kattunkleid verdeckte. Vielleicht musste man es auch hier mit einer Schürze versuchen. Das Rätsel war einfach, ganz unkompliziert zu lösen, und Saizew wunderte sich über diese Einfachheit. Er ging um die Drehbank herum und, erfreut über den Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war, rief er Mochow.
„Makarytsch, was meinst du, wenn wir dem Support eine Schürze vorbinden täten?"
Mochow hörte die Erklärungen Saizews an, sein finsteres Gesicht hellte sich einen Augenblick neugierig auf, um gleich darauf wieder seine scharfen Züge anzunehmen.
„Denkst du denn, dass der Support ein Weib ist, was? Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen! Olga! Gib mal dem Saizew deine' Schürze!"
Saizew wandte sich verwirrt der Drehbank zu, aber der Gedanke an die Schürze ließ ihn nicht mehr los, und als Bulawkin wieder auftauchte, teilte er ihm seine Idee mit. Wieder schaute die Warze Saizew ruhig und kalt mit ihrem graublauen, toten Blick an.
„Hör auf zu faseln, Saizew, und pass lieber auf deine Arbeit auf. Sieh zu, dass der Radreifen da nicht hängen bleibt."
Enttäuscht starrte Saizew auf den sich entfernenden gebeugten Rücken Bulawkins und ließ seinen Blick durch die Abteilung schweifen. Ruhig und gleichmäßig drehte sich die Planscheibe der Drehbank, weißlich glänzten die abgedrehten Radnaben. Weiter hinten raste, mit glatt geschliffenen, funkelnden Seiten, die Achse, die zum Aufsetzen der Räder fertig gemacht wurde. Daneben drehte sich, einem Mühlstein ähnlich, auf einer Karusseldrehbank ein Radreifen und spritzte kleine Späne nach allen Seiten. Noch weiter weg aber keuchte die hydraulische Presse, die die Kurbel in die Triebräder presste. Der Presser beobachtete gespannt, wie sich der Kurbelzapfen, von dem gelbes Öl heruntertropfte, in die Bohrung hineinbewegte, und als er plötzlich merkte, dass die Marken nicht aufeinander passten, ergriff er den Bleihammer und verbesserte mit einem wuchtigen Schlag die Bewegung des Kurbelzapfens.
Die fertigen Achsen wurden auf Schienen, die zu der Lokomotiv-Montagehalle führten, abgerollt, und mit ihren blitzenden Kurbeln wie mit Flügeln winkend, donnerten sie an den Maschinen vorüber. Hinter ihnen her lief der „Chef" und fuchtelte mit seinen kurzen Armen herum. Kollernd fraßen sich die Fräser in die kupfernen Gleitschuhe der Kreuzköpfe. Die Hobelbänke bearbeiteten die Gleitbahnen und die Kuppelstangen. Die blank geschliffenen Kulissen glänzten schuppig wie soeben gefangene Fische.
Und alle diese geschliffenen, blinkenden Stahlstücke streben zu der Lokomotiv-Montagehalle. Dort, hinter jener Wand, treffen sie sich alle, und im Körper der Lokomotive vereinigt, legen sie sich auf diese Achse, um Tausende von Tonnen Lasten zu schleppen.
Saizew trieb die Keile hinein, während die Drehbank in vollem Gang war, und entfaltete eine Zeitung.
FÜR DIE MOBILISIERUNG DER INNEREN HILFSQUELLEN
Unsere Fabrik benötigt enorme Mittel. Diese Mittel gibt uns der Staat. Aber wir können und müssen diese Mittel bei uns selbst suchen. Sie sind vorhanden. Sie liegen zu Tausenden von Rubeln über den Fabrikhof verstreut, in den Bergen rostenden Stahls. Sie sind verborgen in den Rohstoffen, im Material, in den Maschinen»die wir nicht sorgfältig genug hüten. Allein im letzten Monat kam es sechshundertmal zu Arbeitsunterbrechungen, weil die Maschinen kaputt gingen. Wir werfen Millionen hinaus. Aber wir müssen sie sparen, müssen sie in der ganzen Fabrik sammeln und in den Dienst der Sache stellen..."
Nachdenklich schaute Saizew auf die entblößt daliegende, glänzende Oberfläche des Radreifens. „Millionen... sie sind auf dem Boden dieser Werkstatt verstreut, sind in dieser Maschine enthalten; man muss sie hüten, wie Nastja ihr rosa Kleid hütet. Man muss ihr eine Schürze vorbinden."
In der Mittagspause trat Saizew, an seinem Brot kauend, in das Abteilungskontor. Der Leiter der Abteilung, Sorin, hörte Saizew an und sagte obenhin und kühl:
„Darüber müssen Sie in der KSI (Anm.: Kommission zur Unterstützung des Erfinderwesens) sprechen... Das ist eine Erfinderangelegenheit. Wir haben jetzt anderes im Kopf... Gehen Sie zum Vorsitzenden der KSI, Ingenieur Kraiski."
Saizew fand Kraiski, kurz bevor die Sirene zum Wiederbeginn der Arbeit rief.
Kraiski verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und strich seinen dichten, herabhängenden Schnurrbart glatt.
„Die Drehbank braucht keine Schürze, sondern Menschen, die mit ihr umzugehen verstehen. Für die Herstellung solcher ,Schürzen' ist Geld notwendig, und das haben wir nicht. Es lohnt sich nicht. Haben Sie heute den Artikel über die Hilfsquellen gelesen?"
„Aber der Support wird doch von dem Metallstaub und den Drehspänen verdorben! Das kommt uns teurer zu stehen."
Kraiski lockerte den Gürtel um seinen runden Bauch und stieß einen Seufzer aus:
„Wissen Sie, wenn die Sache von Bedeutung wäre, wäre der Konstruktionsingenieur schon längst darauf gekommen, glauben Sie mir... Aber solche Schürzen gibt's eben nirgends. Nirgends! Außerdem handelt es sich ja hier auch wirklich nicht darum, diese vorsintflutlichen Maschinen mit Schürzen auszustatten. Sie haben ausgedient. Er wird Zeit, dass sie ins Museum wandern und durch moderne Universalautomaten ersetzt werden... Im übrigen können Sie ja eine Eingabe an die KSI einreichen. Wir werden die Sache prüfen."
Die Sirene heulte durch die Fabrik, Saizew lief in die Dreherei und rannte dabei alles, was ihm in den Weg trat, über den Haufen.
Die Metallspäne rannen wie feine, kurze Spiralen unter dem Drehstahl hervor und verstopften den Support, indem sie ihn in feinen Metallstaub einhüllten. Und im Kopfe Saizews jagten die Gedanken einander wie diese Stahlspäne und ließen ihm keine Ruhe. „Vielleicht ist diese Idee mit den Schürzen wirklich Unsinn? Sollten wirklich die Menschen nicht schon längst darauf gekommen sein? Und Kraiski sagt ja auch, dass... Aber wo liegen denn die Millionen, von denen in dem Artikel die Rede ist?"... Saizew konnte sich nicht zufrieden geben, nicht beruhigen, er suchte in dem kleinen Schränkchen ein Stück Blech und machte sich daran, den rechten Support zu bedecken. Die Metallspäne, die elastisch unter dem Drehstahl hervorsprangen, glitten an den vor Ungeduld leicht zitternden Händen hinab.
Nun ließ er keinen Blick mehr von dem Blechschirm, der das klingende Prasseln der Metallspäne auffing.
Aus den hohen Schornsteinen quoll dichter schwarzer Rauch. Von den Sonnenstrahlen durchbrochen, schwamm er als gelbrosa Wolkengebilde dahin, einen heiteren Tag kündend. Schnell stieg die Sonne am Horizont empor, sie badete sich in den Glasdächern der Fabrik, klopfte an die Fenster, erwärmte die Erde, auf der Eisen und Stahl lagerten, die die Luft mit dem Geruch von Erdöl, Metall und Kohle erfüllten. Gleich zarten schwarzen Schneeflocken senkte sich der Ruß auf den weißen Sand der Strafen.
Da erwachte Sergej...
Die Sonne drang durch das dichte Laub der Ahornbäume und spielte an den Wänden und auf dem Fußboden, malte zitternde, feine Blätterschatten hin. Sie wirbelten durcheinander, sprangen hin und her und es war, als ob alles im Zimmer sich lautlos bewege.
Sofort erinnerte er sich an alles: die schwüle dunkle Scheune ist ganz voll von Menschen, überall fühlt man ihren heißen Atem... Sergej meint in dieser Ansammlung von menschlichen Händen, Beinen, Köpfen zu ersticken. Laut und aufreizend surrt der Ventilator. Bleierne Finsternis im Raum, nur über dem Kopf Sergejs wird sie von einem messerscharfen blauen Lichtstrahl durchdrungen, der den schwarzen Nebel zerteilt und den sonnigen Tag enthüllt, Straßen, Bäume, Häuser... Und weit in der Ferne rast in panischer Furcht ein kahles Hündchen davon, und hinter ihm her rennt ein Mensch mit einem Stöckchen. Er läuft flink wie ein Wiesel, stolpert, fällt lang hin aufs Pflaster.
„Wunderbar sind die Abenteuer von Charlie Chaplin!"
„Der wird's gleich zeigen!..."
„Mischka! Leg' mal los!"
Und die Dunkelheit wieherte und gackerte, dann wurde es auf einmal ganz still. Ein kleiner blasser Mensch in einem steifen schwarzen Hut, der ein Stöckchen zwischen den Fingern drehte, sah Sergej von weitem an; dann zog er die Hosen hoch, die ihm hinabrutschten, schlug mit den Füßen aus und fiel lang hin. Ein begeistertes Johlen erschütterte die Stille, die unter dem stürmischen Lachen zu bersten schien.
Sergej begriff nicht: „Wie kann man denn lachen, wenn ein Mensch hinfällt? Vielleicht ist er krank, oder er hat etwas zuviel getrunken und kracht nun auf das Pflaster hin? Aber das tut ihm doch weh!" Angestrengt starrte er dem Armen ins Gesicht, aber dieses Gesicht war nicht aus der Ruhe zu bringen, zeigte weder Schmerz noch Wut noch Kummer: es war wie eine kalte, starre Maske. Besonders die Augen verblüfften Sergej: sie schienen ihm mit ihrem starren, toten Blick fürchterlich. Nachdem sich Sergej so davon überzeugt hatte, dass er hier einen sichtlich anormalen, einen unglückseligen Menschen vor sich hatte, über den die Leute rund herum herzlos und böse lachten, stand er erregt auf und richtete eine leise Frage an die Finsternis:
„Warum lacht ihr denn?"
Die Finsternis antwortete ihm mit Kichern, Flüstern und Lachen. Da brüllte Sergej voller Wut:
„Weshalb ihr lacht, frage ich euch? Es tut ihm doch weh!"
Unter diesem Schrei erzitterte der Mensch, verschwand und tauchte gleich darauf wieder neben ihm auf, mit demselben leidenschaftslosen Gesicht. Er fasste Sergej bei der Hand und sagte niedergeschlagen:
„Bürger! Es ist hier verboten sich zu äußern, wenn Sie aber zu viel getrunken haben sollten, so kehren Sie an die frische
Luft zurück!"
Aber Sergej musste unter allen Umständen feststellen, warum die Leute hier lachten, wenn ein Mensch auf das Pflaster hinschlägt.
„Schweinehunde, ihr! Warum lacht ihr, vielleicht ist's ein ,Psychischer', nicht bei vollem Verstand?"
„Du bist selber ein ,Psychischer'."
„Der ist ja schön besoffen!"
„Schmeißt ihn 'raus, worauf wartest du?"
Das elektrische Licht flammte auf und erfasste den Kopf des kleinen Kerlchens wie mit einer blendenden Flamme. Sergej taumelte erschrocken zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen:
„Du versengst mich!"
Die Menschen pfiffen, johlten, brüllten etwas von Ruhestörung an öffentlichen Stätten — und alles das vermischte sich zu einem Mordsspektakel. Sergej spuckte aus und ging hinaus. Rund um ihn herum brannte eine fürchterliche Hitze, die ihm schmerzhaft in den Augen stach.
Auf der Straße erlosch die Glut, der Kopf des kleinen Kerlchens wurde schwarz, als ob er verkohlte, und er neigte sich überredend zu Sergej:
„Lieber! Geh, schlaf dich aus!"
Aus den leeren Augen des kleinen Mannes leuchtete jetzt rührendes Mitleid. Sergej umarmte ihn, berührte seinen Kopf und bekam die Kühle von Metall zu spüren: ein Feuerwehrhelm blickte ihn an.
Wie Moorgrund schwankte der Boden unter seinen Füßen. Die Bäume kitzelten sein Gesicht mit ihren kühlen Blättern. Sergej ging den endlosen schwarzen Korridor der Straße entlang. Zu beiden Seiten schwankten, in ehrfürchtigen Reihen aufgestellt, die gelben Köpfe der Straßenlaternen...
Vergnügt wirbeln und hüpfen die Schatten durchs Zimmer — vor den Augen flimmert es unter den stürmischen Sonnenstrahlen; eine schwere Müdigkeit erfasst Sergej, das Herz schlägt nur langsam und widerwillig, die Augen fallen zu, die Zunge steckt in klebrigem Speichel fest.
Geräusch wie knatterndes Maschinengewehrfeuer drang plötzlich ins Zimmer, und der Raum füllte sich mit dem fernen Klingen von Metall. Sergej hob die schweren Lider — von der Wand guckte das in der Sonne funkelnde Auge eines kupfernen Nummernschildes auf ihn herab: Nr. 75 701.
Er zog die Decke über den Kopf, aber durch das lose Gewebe hindurch spürte er das unerträgliche Sonnenlicht, das ihn aufscheuchte, ihn unaufhörlich verfolgte.
„Und wenn schon — mag sie sich zum Teufel scheren, die Fabrik", fluchte Sergej böse, warf die Decke zurück und trat ans Fenster.
Ein warmer Wind rauschte in dem blassgrünen, durchsichtigen Blätterwerk der Ahornbäume und fuhr zum Fenster herein — und dann hörte man im Zimmer ganz deutlich das Brummen des Drucklufthammers, das Dröhnen des Eisens, Sergej schloss das Fenster und sah sich im Zimmer um: ein mit dicken Schmutzkrusten bedeckter Stiefel schaute aus einem Geranientopf heraus; seine Jacke war über einen Stuhl geworfen, ein Kätzchen lag zusammengerollt darauf und schlief; in den neuen, ganz zerknüllten Hosen gähnte an einem Knie ein großes Loch; das Kissen war ganz voll von gelben und grünen Flecken.
„Die Schweine — nicht mal ausziehen konnten sie mich", dachte er und wurde nach und nach von einem Gefühl zorniger Kränkung ergriffen.
Im Hause war alles still — anscheinend waren alle auf dem Markt; nur hinter der Bretterwand plätscherte Wasser. Er sah hinüber: hinter einem geblümten Vorhang schaute ein Bett hervor, darauf ein mageres Bein, das sich zitternd zusammenkrampfte. Und hinter dem Vorhang plätscherte auch das Wasser, das glucksend überfloss.
„Wieder heult sie!"... Sergej warf einen wütenden Blick auf das sehnige Bein.
In einer Ecke stand bescheiden ein brauner Schemel mit eingedrücktem Ledersitz — ein Andenken an den väterlichen Beruf, das die Mutter sorgsam hütete: dieser abgewetzte, mit Riemen ausgebesserte Schusterschemel, eine Raspel und ein Päckchen Holznägel. Sergej seufzte auf und spürte den bekannten und so verhassten Geruch von Schusterpech. Diesen Geruch schienen die im Laufe der Jahre schwarz gewordenen Wände, alle Gegenstände und sogar das dunkle, magere Bein der Mutter auszuströmen.
Schon sechs Jahren war es her, dass der Vater, als er die Holznägel in den letzten Stiefel hineintrieb, plötzlich röchelnd auf den Boden gefallen und nicht mehr aufgestanden war. Aber der Geruch von Schusterpech und Leder verfolgte Sergej heute noch und vergiftete ihm das Leben.
Ü berwältigt von seinem Zorn, ging er zu dem Schemel, ergriff ihn und schleuderte ihn wütend zu Boden. Das magere, anscheinend aus lauter Sehnen zusammengedrehte Bein verschwand zuckend unter der Decke. Der Schemel ächzte jammervoll und rollte über den Fußboden.
Sergej setzte sich ans Fenster und blickte trübselig auf die Straße hinaus. Ein breiter Streifen aus Sand, zog sie sich bis zur Fabrik hin. Aus dem feinen, lockeren Sand blitzten hier und da Glasscherben auf, Konservenbüchsen lagen herum, stellenweise wagten sich spärliche kleine Grasbüschel hervor. Und überall Sand — feiner, lockerer, weißer Sand...
Mit schwarzen Kohlensäcken hoch beladen, die Räder tief in den weißen Sand gedrückt, fuhr ganz langsam ein Kohlenwagen knarrend vorüber. Das kleine Pferd, dem die spitzen Rippen herausstanden, streckte den Hals lang aus und mit dem kleinen Schwanzstummel um sich schlagend, brachte es die schwarze Last nur mit Mühe und Not von der Stelle. Ein finsterer, plumper Mensch, selbst einem schwarzen Kohlensack ähnlich, trieb das Pferd mit der Peitsche an. Es schlug faul mit den Hinterbeinen aus, ruckte mit dem Leib und blieb schließlich stehen.
„Ko-ho-o-len! Wer braucht Ko-ho-o-len?!"
Sergej blickte auf den Gaul, auf seinen jämmerlichen Kopf, der zur Erde herabhing, und dachte: „So werde ich auch mein ganzes Leben unter der Last einer freudlosen Arbeit hinschleppen, vom Fabrikrauch verrußt wie der Kohlenmann. Warum bin ich schlechter als andere?" Und wieder fiel es ihm ein: vor fünf Jahren war ein ebenso heller, sonniger Maitag gewesen. Und er selbst war, von der Sonne durchstrahlt, freudig nach Hause gekommen.
„Mutter, ich fahre auf die Hochschule! Der Senka Platow und ich, wir haben's beide beschlossen."
Die Mutter musste sich vor Schreck hinsetzen.
„Und wir, Serjosha? Ich... und Julia... Shenja... Manja?"
Die Schwestern weinten und heulten. Sergej wurde Tränen gegenüber schwach — und plötzlich wurde ihm klar: er würde nicht fahren. Er spürte diese unüberwindliche Macht, die die Familie über ihn hatte; aber er wollte sich widersetzen und schrie:
„Ich will mich nicht mein ganzes Leben lang so quälen, wie sich der Vater gequält hat!"
An diesem Tage betrank er sich und zertrümmerte mit der Raspel die Fensterscheiben. Dann lief er hinaus in den Wald, warf sich ins Gras und stopfte sich mit den Fingern die Ohren zu, um den verhassten Lärm der Fabrik nicht zu hören. Am nächsten Tag schritt Sergej dann wieder durch die Eingangspforte in die Fabrik — im Herzen brennenden Schmerz und Hass auf die Familie, auf die schwarzen, rußigen Fabrikgebäude, auf Senka Platow und auf alles, alles in der Welt...
In donnernden Wellen drängt der Lärm der Fabrik zum Fenster herein und weckt Unruhe und Erregung. Soll er, Sergej, wirklich sein ganzes Leben lang die schwere Last dieses freudlosen Fabrikdaseins schleppen, wie diese Schindmähre da unten ihre Kohlenfuhre? Tag für Tag immer ein und dasselbe tun, bis ins hohe Alter hinein, bis er schließlich den Verstand verliert, wie der alte, „malacholnische" Kusmitsch?
Da stampft er schwer daher in seinen riesigen Stulpenstiefeln, die so unelastisch sind, als ob sie aus Blech wären, den unbedeckten silbernen Kopf tief auf die Brost gesenkt.
„Schindmähre!" — denkt Sergej spöttisch, steckt den Kopf zum Fenster hinaus und ruft mit lauter Stimme, dass es über die ganze Straße hin zu hören ist:
„Malacholnischer —!"
Der „Chef" wandte nicht den Kopf. Er ging tief in Gedanken versunken weiter, seine Stiefel sanken tief in den Sand ein.
Hinter der rissigen Wand gluckste das Wasser noch immer — wohin sollte man sich bloß vor diesem fürchterlichen Schluchzen retten?
Zu Sergejs Füßen schnurrte der Kater und leckte ihm die Zehen mit seiner kleinen rosaroten Zunge. Unheilkündend gähnte das Loch in den Hosen. Sergej besann sich darauf, dass er versprochen hatte, heute zu Walja zu kommen; darum fädelte er ungeschickt einen Faden ein und machte sich daran, die Hosen zu stopfen.
„Wekschin, hier ist ein Brief!"
Eine sonnverbrannte Hand streckte sich zum Fenster herein und ließ ein blaues Kuvert zu Boden fallen. Der kleine Kater sprang blitzschnell hinzu, ergriff den Brief mit seinen spitzen Krallen, zerknüllte ihn und sprang damit im Zimmer herum. Lachend entwand ihm Sergej den Brief und riss ihn ungeduldig auf.
„Lieber Serjosha! Erwarte in den nächsten Tagen den Ingenieur Platow bei Dir zu Besuch: ich werde in Eurer Fabrik arbeiten. Fürs erste möchte ich bei Dir wohnen. Mir ist es angenehmer, mich bei meinem alten Freund niederzulassen, und Dir wird's Vergnügen machen. Du wirst doch nichts dagegen haben. Für heute leb wohl!
Dein Semjon."
Die vergessene Nähnadel blitzte, leicht vom Winde bewegt.
Der Brief knüllte sich in der zitternden Hand Sergejs zusammen, reizte den Kater zum Sprunge. Und plötzlich füllte sich das Zimmer mit wirbelnden, winzigen Schmetterlingen, die schnell in die Höhe flatterten und sich dann langsam auf dem Fußboden niederließen — Sergej hatte den Brief wütend in kleine Fetzen zerrissen. Der Kater sprang und haschte nach ihnen, wie sie in dichten Schwärmen um seinen Kopf wirbelten.
4
Das Fabriktor hatte den Menschenstrom hinausgelassen. Da erschien Borezki. Vierzig Jahre lang geht er durch dieses Fabriktor ein und aus. Ein halbes Menschenleben hat er der Fabrik gewidmet, mit ihr ist es aufgewachsen, mit ihr gealtert: schon haben seine Haare ihren Glanz verloren und erinnern an trüben, grauen Koks.
Die Maiwärme konnte Borezki nicht verleiten, seine jahrelangen Gewohnheiten aufzugeben: er trug eine dicke wattierte Jacke und um den Hals einen roten Schal.
Borezki liebte die Masse nicht, da er sich in ihr verlor, zu einem Sechszehntausendstel dieser Menge wurde, das von den anderen nicht zu unterscheiden war; wenn er aber allein kam, gaben ihm die Wächter stets ihren Gruß mit auf den Weg:
„Antonytsch! Schluss mit der Arbeit?"
,Der hat's nicht eilig, Bruder... der kennt seinen Wert..."
Antonytsch hörte diese Bemerkungen, und sein Gang wurde noch korrekter und würdiger. In seinen Augen und in den Falten seiner fest zusammengekniffenen Lippen lag hartnäckiger Starrsinn.
Er wurde von den Ingenieuren eingeholt, die mit ihm einen Händedruck wechselten und ein paar Worte tauschten.
„Stanislaw Antonytsch!"
Borezki wandte sich um. Der ungefüge Ingenieur Kraiski, der mit seinem Schnurrbart aussah wie ein Walross, kam auf seinen kurzen dicken Beinen angewackelt.
„Stanislaw Antonytsch! Auf ein Wort... Nossow will auf Urlaub. Das können wir nicht zugeben, verstehen Sie! Unter keinen Umständen!"
„Ich verstehe... " Antonytsch senkte die Augen.
„Er kann dafür entschädigt werden... Wir können ihm für später Urlaub versprechen... Aber jetzt gehen lassen dürfen wir ihn nicht. Es ist im Interesse der Sache unmöglich, verstehen Sie?"
„Ich verstehe", wiederholte Borezki und betrachtete angelegentlich die Spitze seines großen Stiefels.
„Ausgezeichnet."
Kraiski bog in den „Roten Weg" ein, wo der Technische Direktor der Fabrik und er, der Leiter der Martinabteilung, wohnten.
Borezki betrat eine kleine, stille Gasse. Durch die offenen Fenster der dreiäugigen kleinen Häuser konnte man sehen, wie die Familien bei Tisch saßen, man hörte das Klappern von Tellern und Löffeln. Der Essengeruch stieg kitzelnd in die Nase, er trieb Borezki zur Eile an; seine Schritte beschleunigten sich merklich.
In seinen schweren Stiefeln munter ausschreitend, ging der „Chef" dicht hinter Borezki drein und sah, wie sich dessen Rücken vor ihm wiegte. In der harten Bewegung der sehnigen Hände zeigte das Gedächtnis dem „Chef" die Spuren versunkener Jahre, und die Bilder der Vergangenheit, die dort, an der Treppe des Fabriktores, verblasst waren, ergriffen ihn wieder mit aller Macht. Er keuchte vom schnellen Gehen und murmelte in seinen borstigen Schnurrbart:
„So, so, mein Täubchen! Ich fühle es, wir werden uns beide noch einmal treffen..."
Borezki stieg die knarrenden Stufen empor und klopfte wie gewöhnlich dreimal an die Tür.
Im Vorraum hörte man schnelle Schritte, und die Tür wurde aufgerissen.
„Da ist der Papa!" Walja schüttelte ihre dichten kupferroten Haare und rief mit klingender Stimme: „Sergej! Papa ist gekommen!"
„Warum musst du denn aber so schreien, dass es die ganze Straße hört?"
Borezki zog langsam die Jacke aus und stand in der Weste da. Nun wickelte er den Schal ab und entblößte einen spitzen Kehlkopf und einen dicken, von borstigen Haaren bedeckten Hals. An einem Waschständer wusch er sich lange und umständlich. Dann bürstete er sich die Igelhaare hoch und betrat das Esszimmer.
„Guten Tag, Sergej. Warum so früh heut?" Sergej zuckte schweigend die Achseln und deckte unwillkürlich mit dem Bein das schlecht gestopfte Loch zu. Der Antwort ausweichend, fragte er:
„Antonytsch, ist wirklich dein ganzes Leben so vergangen: um sieben zur Arbeit, um vier nach Hause...
Dann Mittagessen... schlafen... und wieder von vorn: um sieben zur Arbeit, um vier nach Hause?"
Borezki zog einen Stuhl heran und setzte sich, nachdem er den Staub vom Sitz geblasen, korrekt hin.
„So ist das Leben. Wie sollte es denn sonst sein?" „Wie sollte es denn sonst sein", wiederholte Sergej und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
„Anders kann es gar nicht sein", bestätigte Antonytsch voller Überzeugung. „Ja, Freundchen, so ist das Fabrikleben seit alten Zeiten schon." Er schöpfte sich einen Teller Suppe auf und bewegte, indem er den Löffel mit der Serviette abwischte, ungeduldig, als ob er kaue, die Zähne. „Und du träumst immer noch von einem anderen Leben? Hat keinen Zweck, Sergej. Du arbeitest, und damit ist's gut; ein Segen, dass du nicht arbeitslos bist wie Walja."
„Aber warum können's denn die andern? Ist denn Senka Platow etwa was besseres?"
„Wirklich, Papa, das ist ungerecht..." Walja schaute mitleidig zu Sergej hinüber.
Borezki aß schweigend seinen Suppenteller leer. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und die grauen Borsten auf den Wangen waren noch deutlicher zu sehen.
„Für jeden gibt es eine Grenze, das ist es... Nehmen wir z. B. die Lokomotive: sie hat einen Kessel und Räder und einen Mechanismus und viele kleine Schrauben — jedes an seinem Platz. Die Schraube ist wichtig, und die Pfeife ist wichtig, und der Schornstein — alles ist gleich wichtig. Dir aber gefällt bloß die Triebachse. Das ist verkehrt..."
„Ja, ich will eben keine Schraube sein, die die andern einschrauben wie sie wollen!" knirschte Sergej böse.
„Nicht jeder kann Ingenieur werden, Sergej. Dazu reicht dem Staat das Geld nicht aus. Wohl ein halbes Tausend Rubel schluckt jeder von ihnen. Und wer muss alle die halben Tausend bezahlen? Wir! Unsere schwieligen Arbeiterhände. So ist's... Den Direktor bezahlen, die Ingenieure bezahlen, und verschiedene Großmäuler sind auch noch zu bezahlen. Und alles müssen wir bezahlen." Sergej schwieg.
„Wo hast du denn deine Hose so zerrissen?" Antonytsch sah lächelnd auf das nur schlecht Verborgene Loch am Knie. „Ich bin vom Rad gefallen."
„Werde ich bald ein Rad kriegen, Papa? Immer nur Versprechungen... " Walja presste ihre eigenwilligen Lippen fest aufeinander.
Borezkis Gesicht verdunkelte sich plötzlich. „Du wirst eins kriegen. Ich tue, was ich kann. Sogar bald wirst du's haben. — So, und jetzt kann man wohl bis zum Tee ein Stündchen schlafen. Was, Sergej? Aber du solltest nicht trinken... Was das mit dem Rad anbelangt, das schwindelst du. Mir hat Nossow alles erzählt, mein Lieber, wie du im Kino gestern Skandal gemacht hast", — die Stimme Antonytschs klang hart und gebieterisch. — „Wenn du weiter so säufst, wirst du Walja nicht bekommen — hast du gehört?" Er ging langsam hinaus, und Sergej schien es, als sei das Zimmer plötzlich geräumiger geworden.
Er zerdrückte erregt seine Zigarette.
Im Zimmer herrschte Stille. Nur eine Biene summte klagend um den blühenden Geranientopf.
„Na schön, Walentina Stanislawowna. Wie können wir dreckige Arbeiter es auch nur wagen... Heute gibt's genug gelehrte Männer..." und Sergej stand auf und griff nach seiner Mütze.
Walja beobachtete die geschäftige Biene und schwieg. Sie kannte den Charakter ihres Vaters und fürchtete, dass er nicht nachgeben würde. Aus seinen Worten hatte eine Unbeugsamkeit geklungen, die nicht zu überwinden sein würde.
„Serjosha, du kannst es aber auch wirklich lassen... Beherrsche dich... Es geht wirklich so nicht..."
Sergej lief aus dem Zimmer, und Walja sah vom Fenster aus, wie er schnell die Gasse hinunterging, tief in dem losen Sand einsinkend.
Sie legte den Kopf auf das Fensterbrett. Die Radioantenne auf dem Dach des Nachbarhauses erzitterte und neigte sich Zur Seite.
Andrjuschetschkin näherte sich mit hastigen kleinen Schritten seiner Wohnung. Der Wind blähte die aufgeknöpfte Bluse, und Andrjuschetschkin sah aus wie eine schnell dahinrollende Kugel. Ebenso schnell jagten einander die unermüdlichen Gedanken, die aus den allerunbedeutendsten Anlässen heraus entstanden. Ein scheckiges Schwein wackelte langsam über die Straße, ihm aber schien es, als zögen sich schon statt des schmalen Fahrdamms glänzende Schienenstränge die Straße entlang, auf denen eine elektrische Straßenbahn daherrast. Das Schwein strömte einen scharfen, durchdringenden Geruch aus, der an Abortgestank erinnerte — Andrjuschetschkin schritt noch schneller aus und hätte fast ein Kind umgerannt. Ein dickes Zweijähriges saß allein auf dem Wege und leckte eine rostige Konservenbüchse ab. Andrjuschetschkin sprang hinzu, entriss ihm den Fund und schleuderte ihn weit fort; dabei fühlte er, wie der Zorn gegen irgend jemand in ihm hochstieg. Hinter ihm her klang das Schreien des Kindes, und in dem Bewusstsein, dem dicken Kleinen Kummer verursacht zu haben, schritt er noch schneller aus. Aus dem dünnen Geplärr des Kindes hörte er seine Verurteilung heraus, aber eine Verurteilung für irgend etwas Anderes, Größeres — vielleicht dafür, dass auf allen Straßen der Fabriksiedlung viele solcher Kinder unbeaufsichtigt herumsaßen. Es handelt sich schließlich nicht darum, ihnen ein schlechtes Spielzeug fortzunehmen, wenn das Wichtigste fehlt...
Was aber war das Wichtigste?...
Andrjuschetschkin beeilte sich und die Gedanken eilten; sie zu Ende zu denken, hatte er keine Zeit, und so — nicht zu Ende gedacht — verwundeten sie das Gehirn in ihrer Ungelöstheit.
Vor ihm schlich langsam wie ein Pferd, das an einer Zu schweren Last zieht, der „Chef".
„Nun, Genosse ,Chef, wie geht's?"
„Ganz gut, mein Täubchen. Bloß die Läuse fressen den Großvater auf..."
„Was für Läuse, ,Chef?" Andrjuschetschkin war stehen geblieben und musterte verwundert und voll Ekel den Rock des „Chefs".
Aber der Rock war ganz rein, und um den dunkelbraunen rissigen Hals glänzte ein sauberer weißer Hemdkragen.
„Die Laus, die dich beißt, brauchst du nicht zu fürchten, mein Täubchen", sagte der Alte kummervoll und bog in eine schlammige, sumpfige Nebengasse ein.
„Ach, zum Teufel", dachte Andrjuschetschkin, „überall Blasen, Schrammen und Risse, wie an den Rädern. Aber mit den Rädern ist die Sache einfach — man gibt Strom, zündet den Lichtbogen an, und der kochende Stahl füllt die Risse aus. Das Leben dagegen ist viel komplizierter."
„Ü berall Narben... überall Läuse..." brummte er vor sich hin.
Er hatte die Türklinke schon in der Hand und ließ sie plötzlich wieder los: das, worauf er sich in der Werkstatt absolut nicht hatte besinnen können, war ihm plötzlich eingefallen und zwang ihn, die Treppe wieder hinunterzusteigen.
„Wo läufst du denn schon wieder hin, verdammter Kerl?! Das Mittagessen ist schon ganz kalt geworden", rief ihm eine laute, beleidigte Frauenstimme nach.
„Ich komme sofort... Muss nur noch auf eine Sekunde zu Nossow hinein. Gib nur inzwischen die Suppe auf."
Andrjuschetschkin verschwand um die Ecke und klopfte an ein Fenster.
„Nossow! Um halb acht Uhr Zirkel... Dir ist nicht gut? Unsinn, Nossow. Du stellst doch unser Aktiv in der Zelle dar. Heute ist zum letzten Mal Zirkel. Jusow ist hier. Ich hätt' es beinahe verschwitzt. Bring auch den Mitka Saizew mit, ja?"
Die Fettaugen schwammen schon wie kleine runde Schilder auf der kaltgewordenen Kohlsuppe, als er sich endlich zu Tisch setzte. Seine Frau hatte die dunklen Brauen finster zusammengezogen, sie klopfte mit dem Löffel ärgerlich an die Schüssel und schwieg. Ihr hübsches Gesicht hatte einen mürrischen Zug — vielleicht sah es darum so aus, als ob es alterte. Im Zimmer war es wie immer still: sauber und ordentlich hingen die weißen Vorhänge vor dem Fenster, thronten die Ansichtskarten, zu einem Fächer geordnet, über dem Bett und blickten überall von den Wänden herab, und aus dieser Ordnung, Sauberkeit und Stille wehte Andrjuschetschkin eine unerträgliche Langeweile an. Schimmerten nicht auch die Ansichtskarten an der Wand wie kaltgewordene Talgblasen? Und die Starrheit aller dieser Dinge, ihr ordentliches, korrektes Aussehen weckten eine stille Wut in ihm.
Er fühlte eine Kluft zwischen dem, was in seinem Innern kochte, was er aus der Fabrik mit heimgebracht hatte, und diesen ordentlichen, abgeschleckten Sächelchen.
„Grischa, wenn du doch wenigstens einmal an mich denken würdest... Den ganzen Tag sitze ich allein, und wenn der Abend kommt, läufst du wieder davon ... "
Die Frau ließ den Kopf sinken und zupfte an den Falten ihres hellen, getüpfelten Kattunkleides. Ihre Stimme klang matt und hoffnungslos.
Andrjuschetschkin schnitt sich ein Stück Brot ab, streute Salz darauf und legte es auf den Tisch. Er blickte unverwandt auf seine Frau, vor seinen Augen flirrten die schwarzen Punkte auf ihrem hellen Kleid hin und her. Er fing mit den Augen einen Haufen dieser schwarzen Punkte, als ob er ihren Sinn erfassen wollte, aber immer neue Scharen sprangen ihm in die Augen, so dass sie ihn schmerzten und er sie zusammenkniff. „Heute gehe ich auch wieder fort... Ich muss." „Und wenn der Sonntag da sein wird, da wirst du auch wieder deine Nase nur für eine Stunde zur Tür hereinstecken. Weder ins Kino gehen wir einmal zusammen noch in den Wald... Wie eine Vogelscheuche hocke ich hier ewig allein zu Hause... "
Andrjuschetschkin schwieg. Alles das stimmte, es hatte keinen Zweck zu streiten.
„Die Nachbarn lachen mich schon aus. Am besten wär's, ich ginge überhaupt nicht mehr vor die Tür."
„Weißt du was, Marussja... Auf die Nachbarn pfeife, aber suche dir irgendeine Beschäftigung. Melde dich vielleicht als Delegierte, was?... Wenn wir Kinder hätten, wär' natürlich alles anders..." Andrjuschetschkin presste die Lippen zusammen.
Sollte er ihr in der Fabrik Arbeit verschaffen? Das ging nicht recht an — er als Zellensekretär. Und wieder begann sein Kopf fieberhaft zu arbeiten und mit den ungelösten Fragen zu kämpfen. Er musste an das Kind denken, das da ganz sich selbst überlassen auf der Straße gesessen hatte, weil seine Mutter jedenfalls noch zehn andere Rangen hatte — und hier saß Marussja, die sich nach einem Kinde sehnte, niedergedrückt von ihrem Kummer — wie sollte man das nun wieder begreifen und erklären?
Andrjuschetschkin fühlte, wie in seinem Herzen langsam Wut aufstieg — Wut auf Marussja, auf diese aufdringlichen schwarzen Punkte und auf sich selber.
Er raffte sich auf.
„Halb sieben... Ich muss gehn. Lies doch wenigstens ein Buch. Hier hab' ich etwas Interessantes mitgebracht, sieh es mal durch. Es handelt davon, wie im Ausland die Bourgeoisie unsere Genossen quält. Eine Veröffentlichung der ,Roten Hilfe'... Die Haare können einem zu Berge stehen... "
Marussja blickte mit einem langen, traurigen Blick zum Fenster hinaus.
„Gib her... " Mit zitternder Hand nahm sie das Buch, und ihre runden Schultern zuckten in krampfhaftem Kummer.
5
Der Zeiger kroch auf sieben, hartnäckig und unaufhaltsam. Aufdringlich tickte der Pendel: es war, als ob das Uhrwerk heute ganz besonders zur Eile antriebe.
Nossow wälzte sich unruhig auf die andere Seite, der Wand zu, und seine Augen starrten auf die weißen Muster des rosa Tapetengrundes. Aus einem Riss in der Tapete kroch eine Wanze und machte unentschlossen halt. Der Geruch des menschlichen Körpers, von der eingenommenen Nahrung erhitzt, hatte sie angelockt, aber das Tageslicht war noch stark und drohend.
Nossow quetschte die Wanze mit dem Finger an die Wand, und über die neue Tapete zog sich wie ein rotbrauner Kometenschwanz ein stinkender Streif.
„Ekelhaftes Zeug!" schimpfte Nossow und fühlte gleichzeitig, dass es ihm nicht mehr gelingen würde, auch nur für eine halbe Stunde einzuschlafen.
Die Müdigkeit zerbrach seinen schwachen Körper. Die Füße waren schwer wie Holzklötze und wollten ihm nicht gehorchen. In seiner Kehle kündete sich kitzelnd ein Hustenanfall an.
Der Zeiger, der auf die dickbäuchige Sechs hinuntergesunken war, kroch wieder hinauf, gierig die Zeit verschlingend. Nossow raffte sich zusammen und setzte sich auf. Als er sah, dass der frisch geplättete Vorhang vom Fenster, das der Wind zugeschlagen hatte, eingeklemmt war, stand er auf, machte ihn frei und glättete ihn wieder. Ein Hustenanfall erschütterte seinen mageren Körper; die Hände auf die Brust gepresst, hustete und spuckte er eine ganze Weile. Ermüdet von dem Anfall, setzte er sich dann aufs Bett zurück und sah sich im Zimmer um.
Seine eifersüchtigen Augen sahen überall Unordnung und Nachlässigkeit: auf dem Fußboden lagen schmutzige, zerrissene Kinderschuhe, schmutziges Geschirr stand hoch aufgeschichtet auf dem unaufgeräumten Tisch, Fliegen flogen in Schwärmen umher und füllten das Zimmer mit ihrem unangenehmen, satten Gebrumm. Alles das beleidigte das Auge und verletzte die strenge Ordnung, die Nossow eingeführt hatte.
Ärgerlich knurrte er etwas vor sich hin. Auf dem Tisch fand er schließlich hinter dem Spiegel das Buch, das er brauchte, blies den Staub davon, steckte es in die Tasche und ging hinaus...
In den langen Korridoren des Schulgebäudes hallten seine Schritte ein lautes Echo: alles im Hause war still. Nossow dachte erfreut, dass der Zirkel vielleicht nicht stattfände, aber durch die runde Glasscheibe der Tür sah er über die Pulte geneigte Köpfe, und matt drückte er die Klinke herunter.
Im Zimmer drinnen ging Jusow auf und ab und sagte, die Hände auf dem Rücken verschränkt:
„Mit dem Studium des Leninismus muss sich jeder Kommunist beschäftigen, sonst ist er nicht imstande, die riesigen und schwierigen Prozesse zu erfassen, die sich in unserer Epoche abspielen, — der Epoche, die von dem immer stärker werdenden sozialistischen Angriff auf die kapitalistischen Elemente gekennzeichnet wird. Die Alltagspraxis eines jeden Parteimitglieds muss vom Lichte der marxistisch-leninistischen Theorie erleuchtet sein, die gleich einem blendenden Scheinwerfer den Weg in die Zukunft weist, die wie die elektrische Schweißung die Kommunisten zu einem unerschütterlichen Monolith zusammenschweißt... "
Andrjuschetschkin stierte den im Zimmer auf und ab schreitenden Jusow an; ruhelos jagten und hetzten seinen Gedanken einander und löschten die Worte des Lehrers aus. Mitunter setzte sich irgendein schweres Wort in seinem Bewusstsein fest und nahm völlig von ihm Besitz, — dann rückte Andrjuschetschkin unruhig auf seinem Platz hin und her, blickte sich verwirrt um, und die Genossen wandten die Augen zur Seite, als ob sie ihm den Weg freigeben wollten; Andrjuschetschkins Blicke fielen auf die Wand, die mit den Kritzeleien der Kinder bedeckt war:
„Es lebe der 1. Mai!"
Den 1. Mai hatte man schon längst gefeiert. Aber diese Losungen hier in der Schule erinnerten Andrjuschetschkin deutlich an die Demonstration, an die laute Musik, die Rufe der tausendköpfigen Menge; sie erinnerten ihn daran, wie der Redner aus dem Obkom (Anm.: Gebietskomitee der Partei.) mit gestikulierenden Händen und mit seiner ganzen Lungenkraft von der Tribüne herab gerufen hatte, dass die Fabrik den Industrie- und Finanzplan nur schlecht erfülle, dass dies „für einen Giganten der sozialistischen Industrie unzulässig" sei...
Da tauchte die schlanke Figur Jusows aus dem blauen Tabaksqualm auf. Verwirrt senkte Andrjuschetschkin seine Augen auf das Pult.
„Genossen! Der Leninismus ist eine schwierige Waffe, die man zu handhaben verstehen muss. Das theoretische Erbe Lenins ist riesig und unerschöpflich, und um sich die Methode Lenins anzueignen, braucht man Hartnäckigkeit und Kenntnisse... Wir müssen aber zugeben, dass noch vielen das Verständnis für die Grundlagen der politischen Elementarkenntnisse fehlt. Lenin jedoch hat gesagt, lernen, lernen und wieder lernen..."
Andrjuschetschkin dachte an seine Kinderjahre zurück, an den Lehrer mit dem langen Schnurrbart, den er hasste, und die Gestalt Jusows nahm irgendwelche bekannten Züge an. Gedanken, deren er nicht Herr werden konnte, füllten sein Hirn aus, aber es bestand kein Zusammenhang zwischen ihnen und dem, was Jusow sagte. Gequält seufzte er auf und beobachtete die Bewegungen von Jusows Füßen. Am linken Stiefel, etwas über dem Absatz, klebte ein Zigarettenstummel, der wie ein Sporn hin und her schwankte. Andrjuschetschkin wollte aufstehen und Jusow darauf aufmerksam machen; aber die Zunge versagte ihm den Dienst, und mit einem schweren Seufzer vertiefte er sich in die Inschriften, die den Pultdeckel zierten: „Kolka ist ein Esel." „Wer laut schreit, ist nicht gescheit." Jusow wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und zog den Notizblock näher an sich heran. Die Schüler rückten erfreut hin und her, die Pulte knarrten, Streichhölzer flammten auf, und die Rauchwolken über den Köpfen der Lernenden verdichteten sich.
„Nun also, Genossen, bitte — stellt eure Fragen!" Jusow blickte auf die Uhr. Es war dreiviertel neun. Um zehn ging sein Zug.
Er warf einen fragenden Blick in die Runde. Nossow ließ den Kopf auf die aufgestützten Hände sinken und blickte Jusow teilnahmslos an.
„Na, der wird nichts sagen", dachte Jusow. Nossow wohnte jedes Mal nur mit Mühe und Not den Stunden bis zu Ende bei, hustete häufig, und Jusow hatte nicht den Mut, ihn mit Fragen zu quälen.
Wassja Trussow streichelte seinen weichen, rötlichen Bart und sah ihn mit einem frechen Lächeln an. Die ewig fragend in die Höhe gezogenen Brauen Saizews waren zu einem Bogen erstarrt, als hätte er ein unlösbares Problem vor sich.
Jusows Blick blieb schließlich auf Andrjuschetschkin haften — der wird sicher was zu sagen haben, aber seine unklaren Fragen zogen die Zirkelstunde stets in die Länge, und Jusow ließ seine Augen schnell weiter schweifen.
„Nun, Genossen?"
Die Zirkelteilnehmer tauschten untereinander Blicke und schwiegen verlegen.
„Kann es sein, dass der Arbeiterklasse durch die Kultur Schaden entsteht?" quetschte Andrjuschetschkin eine Frage heraus.
Jusow lächelte herablassend und griff nach dem Bleistift. Die Teilnehmer atmeten erleichtert auf — der Anfang war gemacht.
„Seht ihr, Genossen... Es gibt ja ganz verschiedene Kulturen. Es gibt eine bürgerliche Kultur und eine proletarische. Und es ist natürlich klar, dass, wenn wir nicht für eine proletarische Kultur kämpfen, sondern ausschließlich das benutzen würden, was uns die Bourgeoisie hinterlassen hat, für das Proletariat daraus die Gefahr entstehen würde, sich an der bürgerlichen Kultur zu vergiften... "
„Und das Grammophon, Genosse Jusow, ist das bürgerliche Kultur oder proletarische?" Andrjuschetschkin begann sein Bombardement, das den Übergang zum Angriff verkündete.
Nun begann ein lautes Gespräch der Zirkelmitglieder, die lebhaft miteinander stritten.
Nossow schaute sich unruhig um und begann zu zittern.
„Genossen, diese Fragen sind an und für sich interessant, aber sie lenken uns von dem eigentlichen Thema ab. (Nossow nickte lebhaft Beifall.) . Solche Fragen kann man eine zahllose Menge stellen... Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Antwort auf jede von ihnen zu suchen, sondern die Hauptsache ist, das Wesentliche zu verstehen, mit dessen Hilfe man jede Frage lösen kann. Dieses Wesentliche besteht darin, dass man es versteht, mit der Dialektik zu operieren ... "
Andrjuschetschkin aber kam es vor, als weiche Jusow der Antwort aus, und ein dumpfer Zorn stieg in seinem Herzen auf. Er erhob sich.
„Erlaubt mal ein paar Worte!" Er hielt eine Minute inne, und dann, als wolle er die verlorene Zeit einholen, begann er, sich überstürzend: „Die bürgerliche Kultur — das ist zu Verstehen... Wenn sich aber die proletarische auf den Kopf stellt? Wir zum Beispiel lernen hier in der Schule der II. Stufe, sie trägt ein Schild ,Lunatscharski-Schule'. Und ein junger Bursche, ein Arbeiter, hat die Schule beendet, und anstatt der Kultur, widmet er sich dem Suff, faulenzt und treibt sich herum... Wie soll man das verstehn? Das muss man erklären... Und weiter... Warum ich das von dem Grammophon gefragt habe? Grammophon ist Grammophon: Musik und allerhand Lieder — das ist ja wohl nichts Schädliches. Und da hat sich vor ein paar Tagen ein Genosse ein Grammophon gekauft — ,komm mal mit zu mir heran', sagt er, ,hör mal zu'."
Andrjuschetschkin hielt inne und bewegte die Lippen. Nossow ließ unruhig seine Augen umherschweifen und begann nervös seinen blonden Schnurrhart zu drehen.
„Und ich habe zugehört... Und da fühlte ich den Wunsch in mir, das Ding, diese Musik, zu nehmen und auf den Boden zu schmeißen!"... „Großartig!"
„Eine sehr vergnügte Musik!"
„A-ha-ha-ha-ha-ha-ha!" Trussow brach in schallendes Gelächter aus und wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen ab, die ihm vor Anstrengung in die Augen getreten waren. Andrjuschetschkin stockte.
„Und warum? Ich meine: was soll werden, wenn sich jeder Proletarier eine solche Kultur zulegt? Wozu gibt’s denn das Radio? Wozu, zum Teufel, sind denn die vier Stockwerke hohen Klubhäuser da? Oder, sagen wir mal, wir bauen eine sozialistische Stadt mit zehntausend Wohnungen — das heißt dann also, für jede Wohnung ein Grammophon? Das sind also zehntausend Grammophone?"
Andrjuschetschkin hob den rechten Zeigefinger, der — geschwärzt von Öl und Ruß und gekrümmt von jahrelanger Arbeit — wie ein Haken, ein Fragezeichen in der Luft hing.
Die Zirkelteilnehmer waren still geworden und beobachteten neugierig Andrjuschetschkin.
„Zehntausend!" rief er hitzig aus. „Bedenkt das einmal!" Er setzte sich und sprang sofort wieder auf: „Noch eine Frage: Werden in sozialistischen Städten Gefängnisse gebaut werden?"
Trussow bellte voller Freude los:
„Der hat den Nagel auf den Kopf getroffen!"
Die Uhr zeigte halb zehn, und Jusow raffte eilig seine Bücher zusammen und schob sie in die Aktentasche.
„Genossen, diese Frage lässt sich natürlich leicht beantworten. Was ist eine sozialistische Stadt? Das ist eine Stadt, in der die neuen Formen des Gemeinschaftslebens durchgeführt sein werden, in der sich die Lebensweise auf kommunistischen Prinzipien aufbauen wird. Die engen, morschen Rahmen der heutigen Familie werden fallen, und der Mensch, den die öffentlichen Einrichtungen von der Notwendigkeit befreien werden, Tausende von Gegenständen, die nur ihm allein gehören, anzuschaffen, wird die Möglichkeit besitzen, seine Energie auf die kulturelle Entwicklung zu konzentrieren... So eine Stadt ... .Mir scheint, beim Bau einer solchen Stadt wird keine Notwendigkeit mehr bestehen, kostbare Ziegel zum Bau von Gefängnissen zu verschwenden... "
Andrjuschetschkin sah irritiert auf die Lippen Jusows und beobachtete, wie sich seine Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen, das bis auf eine schmale Bürste abrasiert war, auf und ab bewegte und dabei die weißen, scharfen Zähne sehen ließ.
„Richtig!" rief Wasska Trussow, der die letzte Nacht wegen Ruhestörung hinter Schloss und Riegel verbracht hatte, freudig und zufrieden. Nossow bestätigte mit einem müden Kopfnicken die Worte Jusows. Andrjuschetschkin schwieg.
„Ich habe ein Frage." Saizew erhob sich. „Lohnt es sich, Geld auszugeben für die Erhaltung alter Maschinen, oder müssen sie durch neue ersetzt werden?" Jusow runzelte unzufrieden die Stirn: „Das, Genossen, hat gar nichts mit unserm Thema zu tun... Obgleich natürlich die Antwort klar ist: man kann den Sozialismus nicht mit der vorsintflutlichen Ausrüstung aufbauen, die wir vom Kapitalismus übernommen haben. Lenin hat gesagt, dass man den Sozialismus nur auf der Grundlage der modernsten Technik und Wissenschaft aufbauen kann. Sie bilden das Fundament der sozialistischen Ökonomie..."
Die Augenbrauen Saizews behielten ihren fragenden und zweifelnden Ausdruck immer noch bei. Und als Jusow, mit der Aktentasche schlenkernd, dem Ausgang zueilte, rief ihm Andrjuschetschkin wütend nach:
„Nichts hat er uns erklärt, im Grunde genommen!... Dialektik! Hat jedem einen Nagel in den Kopf getrieben, und herausholen sollen wir ihn selber?!"
Zum letzten Mal huschte der Zigarettenstummel unter dem Absatz an den Blicken vorbei, als blinzelte er Andrjuschetschkin und Saizew zu...
Sie gingen schweigend durch den Park, ermüdet von der dreistündigen geistigen Anstrengung; die duftende Kühle der Nacht erfrischte sie. Geschwächt von der Last der ungestümen Blätterbüschel, hingen die schlanken Birkenzweige still und nachdenklich herab. Maikäfer surrten zärtlich und lockend, verloren sich in dem dichten Blättergewirr zu ihren Köpfen. Von irgendwoher flog durch die Luft zarter Apfelblütengeruch. Aus dem Park tönte klingendes Mädchenlachen.
Andrjuschetschkin klammerte sich mit müden Füßen an die unsichtbaren Schollen der noch nicht glattgetretenen Frühlingserde. Seine Muskeln waren schlaff, im ganzen Körper fühlte er eine tiefe Müdigkeit. Der Duft der blühenden Apfelbäume und das Surren der Käfer durchdrangen den Körper mit einer süßen Erschöpfung und hielten ihn gefesselt. Weiche, sanfte Worte drängten sich auf die Lippen — sie kamen irgendwo aus dem Innern und verbanden sich zu klingenden, musikalischen Versen; leise bewegten sich die Lippen, den enteilenden Rhythmus festzuhalten...
„Teufel, jetzt müsste man so einen halben Liter hinter die Binde gießen!" rief Trussow, der diese Abendstille nicht aushielt, gelangweilt und wütend zugleich und knackte mit seinen starken Fingern.
Andrjuschetschkin zuckte zusammen. Der Zauber des Maiabends war mit einem Mal verglommen, wie Zunder unter einem Hammerschlag, und vorwurfsvoll rief er aus:
„Wieder denkst du bloß daran, Wassja!"
Trussow klammerte sich an diese Worte, als habe er den Schuldigen für seine Langeweile gefunden, und sagte böse:
„Was daran... daran?! Du verbietest es? Aber ich hole mir doch eine Flasche und saufe sie aus! Sa-u-ufe sie aus! Du darfst das nicht, du bist ja Vorgesetzter, aber ich kann mir das leisten, ich bin bloß Kandidat. Hol' dich der Satan... " Und Wassja lief zurück in die Fabrik.
Nossow tat einen schweren Atemzug, krächzte und begann lange und pfeifend zu husten. Saizew wollte Andrjuschetschkin irgend etwas sagen, aber nach einem Blick auf sein müdes Gesicht wandte er sich schweigend seinem Hause zu.
Der Abend hüllt die Stadt in Stille ein. Die ersten Lichter glänzen auf, und das blaue Abenddunkel verdichtet sich.
Um diese Zeit schlafen die Menschen nicht, mögen sie noch so müde sein: in leisem Gespräch lehnen sie vor den Haustüren; irgendwo das schmachtende Klimpern einer Gitarre, vermischt mit hellem Mädchenlachen; auf den Balken am Wegrand hocken die Alten und blasen schweigend den Rauch ihrer Zigaretten in die Luft; mitunter saust leise schwirrend, wie eine Fledermaus, ein Radfahrer vorüber, seine weiße Bluse löst sich in der braunen Dunkelheit der Ferne langsam auf.
Die Luft ist erfüllt von Frische. Von den Gärten her weht der Duft von blühenden Obstbäumen, Flieder und jungem Gras, er zieht durch die Straßen und bringt die Menschen in unruhige Erregung.
6
Gleich nach den Holzhäusern der Fabrikvorstadt lugte hinter einem zackigen Bretterzaun eine junge Tannenschonung hervor, die in den Wald überging, der am Horizont dunkelte.
Der Wald zog Sergej an, er versprach Einsamkeit und Ruhe. Er hatte immer noch Waljas Worte in den Ohren, und um ihnen zu entrinnen, begann er im Takt seiner hastigen Schritte einen Marsch zu pfeifen. „Wekschin!"
Aus einem Fenster des ersten Stockwerks schaute ein Frauenkopf, dann erschienen runde Schultern.
„Hast du meinen Rumtreiber nicht gesehen? Wohin der sich wieder verlaufen hat..."
„Nein... Ich hab' ihn nicht getroffen... " Sergej blieb unter dem Fenster stehen. „Was sitzt du denn hier, Maria Sergejewna, in der Dunkelheit, einsam wie eine Nonne? Schau mal, was für ein schöner Abend."
„Ach, der ist jeden Tag so... Kommt, schlingt in aller Eile etwas hinunter, und schon ist er wieder weg... Ich versteh' das nicht: an alle möglichen Sachen denkt er, aber hier, seine häuslichen Angelegenheiten, die kommen ihm gar nicht in den Sinn... " Sehnsüchtig tropften die Worte herunter.
„Na, Maria Sergejewna, das weiß man doch: Andrjuschetschkin ist ein vielbeschäftigter Mensch, Parteimitglied... Er kann nicht anders... "
Sergej fühlte sich Andrjuschetschkin gegenüber seiner Versäumnis wegen schuldig, widerwillig reihte er die Worte eins an das andere, bemüht, ihn zu rechtfertigen.
„Was hab' ich davon? Ich sitze ewig allein zu Hause... "
Maria Sergejewna zerrte beleidigt an dem Taschentuch, das sie in den Händen hielt.
Ü ber Sergejs Kopf flatterte im blauen Abenddunkel das Taschentuch, wie eine weiße Taube hatte es sich vom Fenstersims gelöst. Schließlich fiel es, sich entfaltend, vor seine Füße.
„Ich bin aber eine Schlafmü-ü-ü-tze..." sagte Maria Sergejewna, zum Fenster hinausgeneigt, langgedehnt und in kokettem Tonfall.
Sergej hob das Taschentuch auf und wollte es zusammengeknüllt hinaufwerfen: dann aber überlegte er sich, dass es kaum bis hinauffliegen würde, und stand unentschlossen da.
„Wirf es herauf, Wekschin!"
Das Tuch roch aufreizend nach Frauenhaar, Puder und irgendeinem Parfüm. Sergej sog diesen Geruch mit geblähten Nüstern ein und besann sich anders. Er lief schnell zur Haustür hinein und die neuen, noch nicht abgetretenen Treppenstufen hinauf.
In dem von Dämmerung erfüllten Zimmer fühlte sich Sergej von tiefer Stille und von einer ihm unbekannten, warmen häuslichen Behaglichkeit umfangen; schwer ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Seine gierigen Augen, die die feste, runde Figur der Frau prüfend umfassten, blieben auf dem rosigen Bein haften, das zitterte und bebte.
„Du bist ja so verdrießlich, Wekschin? Das steht dir gar nicht. Du lieber Gott! Hab' ich gestern im Kino gelacht! Ich musste mir direkt die Seiten halten vor Lachen!"
Ihr spöttisches Gesicht und die Erinnerung an die schon fast vergessenen Ereignisse des gestrigen Tages ernüchterten Sergej sofort, und er zuckte müde die Schultern:
„So über ist mir das alles... Bin ich denn vielleicht ein Zirkusclown, was?" Nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, fügte er hinzu: „Mögen sie lachen... Ich seh' nur das eine, nämlich dass auch dir nicht zum Lachen zumute ist...
Dieser Dickkopf lässt dich hier rein verkommen. Ein unruhiger Patron! Gönnt weder sich noch anderen ein Vergnügen."
Maria Sergejewna zog fröstelnd das Tuch um die Schultern.
„Dabei bist du ein Weib — oho-o-o — !"
Lächelnd ließ Sergej seine Blicke auf Maria Sergejewnas Brust ruhen und sah, wie sie erzitterte.
Das Tuch in ihren Fingern ballte sich fester und fester, als wollte sie es auswringen.
„Er ist ja auch viel älter als du... " Hartnäckig verfolgte Sergej sein Ziel und sah mit Befriedigung, wie sich bei jedem seiner Worte Maria Sergejewna mehr und mehr dem ruhelosen Andrjuschetschkin entfremdete.
„Was hilft's, darüber zu reden!... Jedenfalls war's mir so bestimmt..."
Sergej lachte auf.
„Da bestimme du doch einfach was andres... Pfeife darauf und bestimme was andres... "
Die Dunkelheit hatte das rosige Bein verschlungen. Die Konturen der Gegenstände verwischten sich. Sergej streckte ungeduldig seine Hand in die von heißem Atem erfüllte Dunkelheit aus.
„Ja, wirklich — was ist weiter dabei?... Ich pfeife drauf und bestimme was anderes!" sagte Maria Sergejewna, als wolle sie sich selber ermutigen, und ihre Stimme war feucht und brüchig, wie schmelzendes Eis im Frühling.
Trocken knackte der Lichtschalter. Die Hand Sergejs hing schief in der leeren Luft.
„Pass bloß auf, dass du nicht zuviel pfeifst..." Andrjuschetschkin hatte, einen Stoß Bücher unter dem Arm, unhörbar das Zimmer betreten. „So, da wäre ich also zu Hause... "
Er sah, wie sich die Wangen seiner Frau langsam mit einer glühenden Röte überzogen, die das blaue Glitzern ihrer Augen noch schärfer hervortreten ließ, und wie sie schnell im Nebenraum verschwand, wobei ihre neuen Schuhe knirschten. Wekschin blickte ihn lächelnd an.
„Hier findet man dich Bummler! Es fällt dir wohl leichter, den Weibern was vorzulügen, als Maschinenteile zurechtzubiegen?"
„Das kommt bei dir wie ein Vers heraus, Freundchen. Du machst wohl heimlich Gedichte?" spottete Sergej.
Andrjuschetschkin zog seine staubigen Stiefel aus und trank einen Schluck Wasser.
„Na, und wenn schon! Natürlich schreib' ich auch Gedichte... Der Mensch von heute muss alles können... Alles... Besser Verse lesen als Flaschen zählen, nicht? Na — siehst du... Ach, und einen Hunger hab' ich!... Marussja, hast du irgendwas da?"
Maria Sergejewna begann, blass und bedrückt, mit den Messern zu klappern und das Abendbrot vorzubereiten.
„Setz' dich, Sergej... Zu trinken ist aber nichts da", blinzelte ihm Andrjuschetschkin zu.
Sergej betrachtete angelegentlich seinen kugelrunden Kopf und dachte dabei: „Ein schrecklicher Dickkopf! Hol' dich der Teufel, warum musstest du ausgerechnet in dem Moment kommen!"
Andrjuschetschkin wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, um seine Lippen war ein wissendes Lächeln. Er machte ein paar Schritte in die Mitte des Zimmers und hob dann plötzlich die Hand. Seine Augen wurden dunkel und streng. Durch das Zimmer tönten unerwartet die Worte:
„Abend...
Die Straßen voll von schwerem Fliederduft. Und heller Sternenschein in warmer Frühlingsluft. Apfelbäume, die unter Blütenlast die Zweige neigen, Und süßer Nachtigallenschlag in schlanken
Birkenzweigen... "
Sergej schaute voller Verwunderung Andrjuschetschkin an. Er erkannte seine Stimme nicht wieder, die erregt klang und leidenschaftlich. Wie sonderbar sah Andrjuschetschkin aus:
sein riesiger Kopf schien angeschwollen, alles Blut hatte sich in sein Gesicht ergossen, und Sergej hatte den merkwürdigen Eindruck, als müsse sich Andrjuschetschkin gleich in einen Luftballon verwandeln und zur Decke hochfliegen.
Ein losgeknöpfter Hosenträger schlenkerte langsam hin und her wie ein Schwanz. Sergej lachte.
Marussja blickte mit verträumten, brennenden Augen durch die dunkle Fensteröffnung. Andrjuschetschkin schwankte ein wenig, die Hände zu der niedrigen Decke erhoben, und sein verschwommener Schatten wiederholte an der Wand seine Bewegungen. Plötzlich duckte er sich wie zum Sprung und rief laut:
„Genossen!
Gefahr birgt dieser süße Fliederhauch,
Verbrennt die Leidenschaft, das Herz im Opferrauch!
Vergesst
Das Lied der Nachtigall in lauer Frühlingsnacht
Und rüstet euch zur letzten, zur Entscheidungsschlacht!"
Sein Gesicht hatte einen strengen, feierlichen Ausdruck angenommen, seine Augen leuchteten. Sergej kreischte und hielt sich den Bauch vor Lachen.
Im offenen Fenster schwankte der Ast einer Pappel, mit der Abendkühle kam scharfer Laubgeruch ins Zimmer, und Andrjuschetschkin musste an den Morgen denken, an die Apfelblüten, das Zwitschern der Stare und an den siegreichen Einzug des Frühlings. Und als er die mit dunkelroten Flecken bedeckten Wangen Marussjas sah und die durchtrieben blinzelnden Augen Sergejs, da kam ihm der Gedanke:
„So hat mich jedenfalls auch Titytsch vom Garten aus beobachtet und das Hundegebell und die abgerissenen Apfelblüten missbilligt. Blüten, aber die Äpfel werden sauer sein... "
Andrjuschetschkin war verstummt und ließ seine verschleierten Augen durchs Zimmer schweifen; als ob er aus einem Traum erwachte, seufzte er auf, dann packte er Sergej bei den Schultern und schob ihn zur Tür hinaus:
„Hau ab, du ungehobelter Lümmel — du kannst mich doch nicht verstehen..."
Die Nacht hatte sich auf die Stadt niedergelassen. Der Tag war vollendet. Aber der Kreislauf des Lebens kennt kein Ende, das Leben kann sich in den engen Rahmen des Tages nicht einfügen; es dringt in das Gehirn ein, verdrängt den Schlaf, erscheint unbemerkt in der jungen Morgenröte und wächst so hinein in den neuen, von Unruhe bewegten Tag.
Bis in die späte Nacht hinein klopfte Saizew mit dem Hammer an einem Stück Blech herum, um ihm die nötige Form zu geben.
Nastja beobachtete unruhig das besorgte Gesicht ihres Mannes.
„Was machst du da nun wieder? Es ist doch ein Unglück mit dir... Sitz doch mal still. Genau so ein ,Malacholnischer' wie der Kusmitsch. Was soll das denn werden?"
„Eine Schürze."
„Eine Schürze?"
„Na ja, eine Schürze! Für die Maschine... Die Maschine muss man auch behüten. Die liebt die Sauberkeit. Hier geht's um Millionen!" Dabei schlug er mit dem Hammer auf, als gelte es, irgendeinen Dritten davon zu überzeugen.
„Quatschkopf! Geh lieber schlafen."
Als Saizew die Schürze fertig hatte, setzte er sich hin, um eine Eingabe an die KSI zu schreiben, in der er anführte, wie viel durch Verminderung der Beschädigungen usw. erspart würde.
Er schrieb:
„Der Support ist, wenn man sich's recht überlegt, für die Maschine dasselbe, wie für den Menschen die Hand, nur eben eine Metallhand; der Arbeiter aber denkt: sie ist ja von Stahl, da muss sie alles aushalten. Wenn er sich aber mal den Finger ritzt, so geht er schnurstracks ins Ambulatorium, und gleich heißt es: ,Warum sind keine Handschuhe da?" Wenn man nun die Maschine beobachtet, wird man deutlich sehen, wie das Gewinde der Schlittenschraube sich mit Spänen und Staub vollsetzt und der Support schlecht zu arbeiten beginnt. Dadurch verliert der Drehstahl die Exaktheit der Bewegung, und in der Radnabe entsteht eine konische Bohrung. Der Arbeiter verliert hierbei wieder viel Zeit mit der Säuberung der Schraube und des Schlittens. Und darum mache ich den Vorschlag, einen Blechschirm anzubringen wie eine Schürze... Jetzt, das die Befestigung der Radsätze auf der Drehbank anbelangt: an Stelle der Holzkeile muss man unbedingt einen Mitnehmer zum Festspannen der Speichen haben, den man so einrichten muss... "
Durch eine Zeichnung in sicheren Strichen erklärte er hier die Einrichtung der Schürze und der Vorrichtung zur Befestigung der Radsätze.
Saizew hob einen Augenblick die Augen vom Papier; er sah zum offenen Fenster hinaus und wunderte sich: die Nacht war gewichen, in grünlichem Licht dämmerte der Morgen herauf und ließ den Bahnkörper aus der Dunkelheit auftauchen: die Lichter an den Weichen verblassen, nur das Auge des Signals blinkte rot und betrachtete schläfrig die trüben Schienen — schließlich blinzelte es ein paar Mal, und dann fiel es zu, und gleich darauf hörte man eine Lokomotive von ferne ächzend schreien, als ginge ihr der Atem aus vom schnellen Lauf. Hoch und singend antwortete ihr das Signalhorn, bis sein Ruf in einem heranstürmenden Donnern unterging — das war der Dreiuhrzug, der Schnellzug.
Der hohe, wuchtige Leib der Lokomotive drang mit seiner scharfen Brust in die morgendliche Stille und zerriss sie in klirrende Splitter; zu einem einzigen, flatternden Lichtstreifen verschwimmend, blitzten die Waggonfenster auf: die durchdringende Stationsglocke übertönte den rasselnden Lärm, und plötzlich war alles still — nur die Lokomotive atmete schwer.
Die kurze Mainacht musste der Morgendämmerung weichen. Am türkisfarbenen Horizont schmolzen die letzten Sterne. Die Morgenröte erschien eilig über der Stadt, die in tiefste Stille versunken dalag. Durch die menschenleere Straße schritt der „Chef" der Fabrik zu. Mitunter blieb er stehen, musterte lange die Häuser, die in festem Morgenschlaf stumm dalagen, und murmelte mit trockenen Lippen irgend etwas vor sich hin. Er kennt diese Häuser seit langem: nach Teer und frischem Holz duftend, wuchsen sie zu beiden Seiten der breiten sandigen Straßen aus dem Boden empor und streckten sich nach und nach bis an die Felder vor — die Stadt breitete sich aus. Jahre vergingen; auf den Dächern der Häuser wucherte graues Moos, sie wurden immer dunkler, und es schien, als sänken sie tiefer zur Erde herab, und die Menschen stöhnten unter der Last der bemoosten Dächer. Und er selbst, ein von den Jahren gebeugtes Männlein, schien in die Erde hineinzuwachsen. Schnell wie die Dörfer vom Fenster eines Schnellzugs aus, war das Leben vorübergeflogen, der unvermeidlichen Endstation zu. Aber nach dem Trägheitsgesetz fuhr der Alte fort, sich weiter zu bewegen, weiter zu leben: beim Pfiff der Sirene stand er auf und eilte in die Fabrik und ging nach Hause, wenn alle gingen. Das Haus empfing ihn mit leeren und ungemütlichen Zimmern, die unerträglich schweigsam waren in den Stunden der Nacht. Der Alte wälzte sich auf dem Bett herum, aber die Schlaflosigkeit trieb ihn hinaus vor die Tür... Dann ging er durch die alten, ausgetretenen Straßen zu der schweigenden Fabrik. Die Wächter ließen den „Chef" mit einem Gruß passieren, als ob er ein Vorgesetzter wäre.
Heute aber ist der „Chef" ungewöhnlich besorgt: er geht schneller als sonst, antwortet nicht auf den Gruß der Wächter und bleibt auch nicht bei der gewohnten Reihenfolge, sondern begibt sich sofort in die Martinabteilung. In der Gussputzerei, an der Stelle, wo er gestern mit Borezki gesprochen hat, hockt er nieder, setzt die Brille auf und betastet mit seinen rauen Fingern den kalten Stahl. Dann steckt er die Brille vorsichtig in das Futteral zurück und verlässt die Abteilung.
Von fern her, wo sich die Trauerweide über den Fabrikzaun neigt, klingt gedämpftes Dröhnen. Über den Rahmen einer Lokomotive hinweg sieht der „Chef", wie Wassja Trussow mit dem Drucklufthammer ein Lokomotivrad bearbeitet; Borezki, der gebückt dabei steht, befühlt den Flansch des Rades, und Nossow schlägt mit dem Hammer kurz und scharf auf diese Stelle.
Die Finger um den Stahl des Lokomotivrahmens gekrümmt, blickt der „Chef" unverwandt zu der Trauerweide hin. Die aufgehende Sonne spiegelt sich in seinen verblassten Augen und entzündet ein heißes Funkeln in ihnen.
So begrüßt der „Chef" den zweiten Fabrikmorgen — er schließt ihn mit ein in die Kette, die von dem brennenden Strom des Lebens angefüllt ist. Jung und leidenschaftlich schlägt sein Herz, und die ungeduldigen Hände ballen sich zu harten, knochigen Fäusten. |
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