FÜNFTES BUCH
1
Wie ein Peitschenschlag trieb der kurze, strenge Pfiff die vor Ungeduld zitternde Lokomotive vorwärts, und der Sonderzug brauste in die Nacht. Die Lichter der Station versanken hinter ihm, er raste ins offene Feld hinaus, der Morgendämmerung entgegen.
Die Nacht wich ängstlich vor dem mit Donnergepolter dahinrasenden Zug zurück, eilig zog sie die funkelnden Wachposten ihrer Sterne ein und löschte den Scheinwerfer des Mondes.
Grünlich schimmernd klopfte die Morgendämmerung an die Fensterscheiben der Waggons. In den Abteilen wurde die Finsternis dünn und wässerig — wie aus einem Nebel traten die weißen Flecke der Gesichter hervor.
Platow sah, wie die Ingenieurmütze ihm gegenüber mit dem rostig angelaufenen, platt gedrückten Hammer und Anker vorn am Schirm ins Gesicht ihres Trägers hinabrutschte. Schon bedeckte sie die Augen. Der Wagen schütterte, die Mütze glitt immer tiefer, und Platow fühlte, dass Turtschaninow absichtlich sein Gesicht verbarg.
Mochow saß streng und steif auf dem ungewohnten Polstersitz. In seinen weitgeöffneten Augen schimmerte das helle Grün der Dämmerung. Er starrte unverwandt vor sich hin, als sei er von den glänzenden Nickelhaken an der Wand des Abteils hypnotisiert. Die dunkelbraune trockene Borke auf seinen zusammengepressten Lippen erinnerte an eine frische Schweißnaht.
Und noch ein drittes Gesicht sah Platow — es kam ihm sonderbar bekannt vor, und schaute ihn irgendwo von der Wand des Abteils her fragend an. Er beugte sich vor und erkannte sich selbst: sein Spiegelbild hatte etwas Eigentümliches an sich, das Gesicht war grün, an Stelle der Augen waren schwarze Höhlen — alle drei Gesichter, die einander sonst gar nicht ähnelten, hatten irgend etwas Gemeinsames.
Allerdings war das Gesicht Turtschaninows unter dem ledernen
Mützenschild verborgen, doch an dem nervösen Zucken der Lippen sah Platow, dass der Ingenieur wach war. Mochow, der so sonderbar gerade dasaß, wurde wie eine steife Holzpuppe auf dem weichen Sitz hin und hergeworfen, er blickte zu Platow herüber, wobei er häufig verlegen mit den Augen blinzelte.
Die Sonne färbte den Himmel rosig, die Umrisse der Gegenstände wurden klar und scharf; auf den Sträuchern am Bahndamm funkelte der Tau, die Felder verschwammen in der Ferne; auf den Händen Mochows sah Platow die dicken, bläulichen Adern.
„Wo ist Titytsch?" fragte Platow, sich umschauend. „Er ist mit Antonytsch in dem Wagen vor uns", brummte Benjamin Pawlowitsch und nahm die Mütze ab. „Sie sind wegen irgend etwas aneinander geraten und zanken sich. Eine schöne Kommission! Wir sind noch nicht einmal an Ort und Stelle, und schon Differenzen! Dabei müssen wir hier scharf aufpassen, denn die Eisenbahner gehen doch immer darauf aus, die Verantwortung von sich abzuwälzen. Darauf müssen wir auch in diesem Fall gefasst sein. Wissen Sie, Genosse Platow, ich habe in meiner Ingenieurpraxis einmal einen höchst interessanten Fall erlebt. Ich bin damals noch ein junger Ingenieur gewesen und habe in Petersburg am Bau einer Brücke über die Newa mitgearbeitet. Nach etwa zwei Jahren rissen die stählernen Fachwerke, und die Brücke krachte zusammen wie einmorscher Balken. Nun begannen die üblichen Untersuchungen, und Verhöre — kurz, die ganze Quälerei. Natürlich waren wieder die Ingenieure, die Erbauer der Brücke, schuld. Gott weiß, was ich damals durchgemacht habe! Erst nach langwierigen, eingehenden Untersuchungen wurde die wahre Ursache gefunden. Natürlich war der Brückenbau durchaus in Ordnung, und nur das blöde Kommando der zaristischen Soldateska hatte den Zusammenbruch der Brücke herbeigeführt... Irgendein General hatte sein Regiment im Gleichschritt über die Brücke marschieren lassen. Dieser alte Idiot! Infolge der rhythmischen Schwingungen brach die Brücke zusammen. Hier haben wir das, was wir in der Sprache der Technik ,Ermüdung des Metalls' nennen. Aber was erzähle ich Ihnen denn das?" lachte Benjamin Pawlowitsch plötzlich und stockte. „Sie, Genosse Platow, verneinen ja doch den Einfluss der Metallermüdung überhaupt."
„Ich habe diese Erscheinung niemals bestritten. Ich habe nur eine andere Auffassung von ihr", erwiderte Platow trocken und wandte sich von Turtschaninow ab, dem Fenster zu.
„Das wäre auch noch schöner! Ein Grundgesetz der modernen Technik zu bestreiten! Wer in das ABC der Technik nicht eingeweiht ist, würde uns für verrückt halten, wenn wir ihm erzählen, dass man durch Geigenspiel eine Brücke zerstören kann. Dabei ist das eine theoretisch durchaus bewiesene Sache. Und absolut nichts Geheimnisvolles, nicht die geringste Mystik ist dabei..."
Mochow schielte Turtschaninow ungläubig von der Seite an, bemüht, den Sinn seiner schnellen, im Galopp hervorsprudelnden Worte zu erfassen; aber sein Bewusstsein war durch etwas anderes gefesselt, das ihn hartnäckig in die jüngst vergangenen Tage zurückführte. Bald stand Sascha vor seinen Augen, neben ihm ein langer, pechschwarzer Neger, bald sah er die runden, streng blickenden Augen des kleinen Zeitlin vor sich. Er wollte diese aufdringlichen Bilder von sich abschütteln — er rauchte, schaute zum Fenster hinaus, beobachtete die auf- und abschwebend an ihm vorübereilenden Telegrafendrähte, lauschte den ihm unverständlichen Worten Benjamin Pawlowitschs und spuckte zerstreut auf den Boden des Wagens. Dann kam ihm plötzlich wieder zum Bewusstsein, dass er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Abteil erster Klasse saß und als Mitglied der Betriebskommission an den Ort eines Eisenbahnunglücks fuhr. Das erfüllte ihn mit Stolz. „Sowie es sich um irgendeine ernste Sache handelt, da kommen sie zu mir. Siehst du wohl!? Mochow! Und da haben sie sich ein ,Gericht' ausgedacht."
Er wurde besserer Laune, und als er hörte, dass man durch Geigenspiel eine Brücke zum Einsturz bringen könne, verzogen sich seine Lippen zu einem schlauen Lächeln.
Ohne anzuhalten, passierte der Zug die Station, in der sich die durch das Unglück aufgehaltenen Züge stauten: hinter den Scheiben der Waggonfenster sah man die aufgeregten Gesichter der Reisenden, über den schlafenden Lokomotiven kräuselten sich dünne Rauchwölkchen. Und die Tatsache, dass er, Mochow, durch das Vertrauen der Fabrik geehrt, an diesen Hunderten von Menschen vorüberflog, die ihm mit hoffnungsvollen Blicken nachsahen, und dass er sich schnell dem Schauplatz der Katastrophe näherte, erfüllte sein Herz mit Verwirrung und drückender Unruhe: und als der Zug nun in verlangsamtem Lauf auf dem hohen Bahndamm dahinkroch, sich vorsichtig vorwärtsschiebend, stieß er einen hastigen Seufzer aus und ließ sich von dem hohen Trittbrett, das in der Luft zu hängen schien, auf den Bahndamm niedergleiten.
Nacht.
Schwarze Stille lagert über dem Gras, über den schweigenden Bäumen. Über den Wiesen hängen weißliche Nebelfetzen. Nur hin und wieder schnellt ein glitzernder Fisch im Wasser auf und verjagt plätschernd die Schwärze der Nacht, um gleich darauf wieder spurlos in der stillen Dunkelheit zu verschwinden.
Dann erzittern in dem stumpfen Spiegel des Flusses die Sterne, verschwimmen in den lautlosen Kreisen, die das Wasser zieht, um bald darauf wieder, grünlich schimmernde Punkte, über dem kalten, schwarzen Abgrund zu schweben. Ein trockenes Knirschen kommt aus dem dichten Nebel, als ob einer in neuen knarrenden Stiefeln durch das feuchte Gras dahinschritte — das ist das Riedhuhn, das jetzt geschäftig seinen Rundgang durch Wiesen und Felder antritt. Irgendwo in der Ferne antwortet ihm die Rohrdommel mit unterdrückter Stimme, und mit ihr zusammen seufzt ermüdet die Augustnacht. Satter Roggengeruch liegt schwer über den Feldern, die reif zur Ernte sind, er mischt sich mit dem bunten Duft des frischen Heus und zieht in matten Wellen über die schläfrige Erde.
Ein neues, undeutliches, kaum hörbares Geräusch wird geboren ; es hört sich an, als striche ein Windhauch über die Wipfel der Bäume; aber Himmel, Bäume und Gräser ruhen unbeweglich, in. sorgloser Stille. Das Geräusch kommt von oben, von unten, von allen Seiten, es steigt an und rauscht wie ein unruhiger Wasserfall und bringt die Nacht in Aufruhr. Die Rohrdommel ist verstummt. Nur das trockene Knarren des Riedhuhns liegt nach wie vor über den Wiesen. Das Geräusch schwillt an zu einem dumpfen, breiten Getöse, das, den Wiesen und Vogelstimmen fremd, unaufhaltsam und mächtig in die Stille der Nacht eindringt. Der schweigende Wald ist plötzlich angefüllt von Eisenklirren, das weit, weit hinreicht, bis in die Ferne dort hinten, wo die Schwärze der nächtlichen Erde mit dem bläulichen Streifen des Horizonts verfließt.
Und die erhabene Stille, das einsame Knarren des Riedhuhns, die ewige Ruhe, die der Morgendämmerung vorangeht — alles das ist verschwunden, nur das dumpfe Getöse ist da, das Krachen, das Donnern des Eisens. Plötzlich entspringt der nächtlichen Finsternis eine rote Fontäne, die ihre sprühenden Funkengarben zum Himmel aufspritzt — als ob hinter dem Wald eine flammende Fackel emporgeschwungen würde. Ihr Widerschein blitzt auf in den weißen Isolatoren der Telegrafenstangen und in den taufunkelnden schwarzen Seiten der Lokomotive.
Die rotentzündeten Augen der Maschine dringen in die Dunkelheit. Vor ihr laufen die glänzenden Schienenstränge in die Finsternis und reißen plötzlich ab, im nächsten Augenblick werden sich die Räder in die schwarze Erde wühlen. Aber die Schienen laufen, immer im gleichen Abstand, ohne sich zu verlängern oder zu verkürzen, vor der Lokomotive her in die Nacht. Der Leib der Lokomotive ist von einem rosa Schein überhaucht, purpurn das Gesicht des Lokomotivführers, beleuchtet von den Funken, die aus der Feuerkiste springen; ununterbrochen taucht die vom Kohlenstaub geschwärzte Hand des Heizers die Schaufel in den glutroten Schlund. Unmittelbar vor der Lokomotive und ihren beiden Seiten flackert wechselnder Feuerschein, und dann wiederum nichts als Finsternis und das hastende Rollen der Räder: eile dich... eile dich... eile dich... Und irgendwo in der Ferne, als Abschluss des unsichtbaren Zuges, schwimmt in diesem Donnern und Krachen das kleine Sternchen einer Laterne.
Zweitausend Tonnen auf ansteigender Strecke — darum spritzt die Fontäne ihre Funken so hoch in den nächtlichen Himmel, darum wird die Feuertür so häufig auf- und zugeschlagen. Die offenen Klappen des Aschkastens saugen gierig die Luft, die bis in die Feuerung vordringt, die wütend brummt und die bröcklige Kohle verschlingt. Und rechts und links, vorn und hinten, rast die Nacht, die wilde, in Aufruhr versetzte Nacht mit ihren weißen, zerzausten Haaren — den vom Winde zerfetzten Rauchschwaden.
„Das ist ein Maschinchen!" ruft heiser der Lokomotivführer, zufrieden mit dem sicheren Lauf der Lokomotive.
„Wie ist die Steigung?" fragt der Heizer zurück, seine Schaufel stößt knirschend in die Kohlen.
„Drei auf Tausend! Eine gute Maschine!" Plötzlich erbebt die Lokomotive, und die Räder rasen kraftlos auf ein und derselben Stelle. Der Lokomotivführer wirft den Hahn des Sandstreuers herum, und, eine Stütze unter den Rädern fühlend, überwindet die Lokomotive sicher die Steigung. Zufrieden lächelnd zieht der Maschinist eine Zigarette aus der Tasche und beobachtet, wie die schwarzen Sträucher langsam vorbeigleiten. Dann fliegen sie immer schneller und schneller vorbei, schemenhaft rasen weißfüßige Birken vorüber, und wieder singen die Räder ihr altes Lied: eile dich... . eile dich... eile dich... Die Lokomotive durchrast jetzt eine ebene Strecke, mit immer größerer Schnelligkeit. Ruhig leuchtet die grüne Lampe des Streckenwärters. Ruhig und gleichmäßig ist der Lauf der Lokomotive. Und wieder ächzt, donnert und klirrt die Nacht, geweckt von dem durchdringenden Pfiff der Lokomotive. Neigung... Der Regler ist geschlossen. Mit aneinander gepressten Waggons fliegt der Zug den Abhang hinab. Fünf, zehn Waggons drücken auf die Lokomotive und jagen sie mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit vorwärts, und die Nacht ist bis zum Rande gefüllt vom Donnern und Klirren — es ist, als müsste der schwarzblaue Himmel bersten und die Sterne in grünlich schimmernden Funkengarben auf die erschütterte Erde hinunterstürzen.
„Das ist ein Masch... " mitten im Wort wird der frohe Ausruf abgerissen, und der Lokomotivführer, der Kessel, ein Dutzend Waggons— alles wird in einem einzigen Augenblick in tollem, tödlichem Wirbel durcheinander geschüttelt. Und Hunderte von Tonnen Metall, Holz, Petroleum donnern in die heulende Finsternis, platzen aufeinander in ohrenbetäubendem, grässlichem Krachen, im Knirschen und Bersten der Waggonwände, im grauenhaften Klirren des Stahls, der Schienen und Räder, in dichten Wolken schwarzen Kohlenstaubs — Funkenbündel spritzen beim Anprall des Metalls auf dem Schotter des Bahndamms in die zerrissene Finsternis. Die Lokomotive bäumt sich hoch auf, dann stürzt sie brüllend den schwarzen Abhang hinab.
Sekundenlange Stille... Dann explodiert der Lokomotivkessel, die Erde erzittert. Und wieder Stille, getränkt von Ölgeruch, zerrissen von dem einsamen Stöhnen eines Menschen... Die Tautränen von sich schüttelnd, weint das Riedhuhn, noch knarrender klagt seine Stimme. Dumpf und trostlos antwortet ihm die Rohrdommel mit menschenähnlichem Todesröcheln.
Schnell kletterte Platow den mit Pfefferkraut, Rotklee und Rispengras bewachsenen Abhang hinauf. Zu seinen Füßen summten Bienen, Grillen und Grashüpfer sprangen durchs hohe Gras.
Platow blickte hinunter und schauderte:
Auf einer Strecke von einigen hundert Metern war die Böschung verschwunden, bedeckt von den Trümmern des Zuges; die rote Bekleidung der zermalmten Waggons lag zerrissen und verbogen auf der Erde, wie das blutige Gerippe eines zerfleischten Tieres; blauen Sehnen ähnlich starrten die ineinander verschlungenen Schienen empor, verknäuelt mit dem Skelett der Waggons; über dem Boden hing, wie ein verendeter Ochse, mit vorgestrecktem Kopf und geöffnetem Rachen, ein Löffelbagger — seine funkelnden Stoßzähne gefletscht, als hätte er die Erde angreifen wollen, wäre aber zu schwach dazu gewesen; sein Unterkiefer hing kraftlos über den weißen Sternen der Margueriten, die im Gras blühten; gigantischen Bomben ähnlich, lagen die grauen, birnenförmigen Betonmischer herum, wie zum Zeichen der Trauer war die Erde mit schwarzem Kohlenstaub bedeckt; betäubend stank das Petroleum, das aus den dickbäuchigen Tanks sickerte.
Vor Aufregung zitternd, glitt Platow den Abhang hinunter. Von allen Seiten, über Wiesen und Felder, Sträucher und Gräben, kamen die Bauern auf den aufgewühlten Bahndamm zugerannt.
Platow lief stolpernd über die Schienen, die wie schwarze Schlangen im Sande lagen. Aus dem Durcheinander von Stahlstücken, Holzsplittern, Steinen, Sand und Kohlen ragte eine zerbrochene Kiste mit importierten Fabrikausrüstungen, aus der der zerschlagene Körper einer Maschine herausguckte. In großen schwarzen Buchstaben trug die Kiste die Aufschrift:
BERLIN—MOLWA UdSSR
Fabrik Krassny Proletari MOSKAU-WEISSRUSSISCH-BALTISCHE EISENBAHN
„Was ist denn das? Unsere Maschinen?" dachte Platow und sah, wie Mochow, der bei der Kiste stand, die Lippen bewegte.
„Hier scheint der Name unserer Station draufzustehen. Was heißt das hier — ich kann das erste Wort nicht entziffern, Genosse Platow... Ist das überhaupt russisch?"
Platow schüttelte bedrückt den Kopf und ging weiter.
Mochow folgte ihm, ängstlich die Berge von zerfetzten Metallteilen, zerbrochenen Maschinen und Schwellen musternd; plötzlich aber blieb er wie erstarrt stehen: aus einem Haufen von Trümmern und Kohlen ragte eine gelbe Hand, die ein grünes Signalfähnchen fest umklammert hielt. Von Grauen gepackt, taumelte Mochow zurück.
Ein wenig abseits, auf der Wiese, sah er etwas Dunkles liegen. Er trat näher. Auf dem weichen, mit Feldblumen üppig übersäten Grasteppich lagen vier Leichen, flüchtig mit roten Signalfahnen zugedeckt.
Ein Eisenbahner mit blassem Gesicht und einer blutigen Schramme auf der Stirn führte Turtschaninow, Platow und Titytsch. Hinter ihnen ging langsam Borezki, den Blick der unsteten Augen auf den Boden gerichtet.
„Hier ist sie."
Neben der aufgebäumten Lokomotive ragte aus dem Sand ein Stück der Achse hervor, das sorgfältig mit Lappen umwunden war. Der Eisenbahner nahm die Lappen ab — wie kalte Sternchen glitzerte die feine Körnung der Bruchfläche. Benjamin Pawlowitsch hockte sich nieder und untersuchte mit zusammengekniffenen Augen die Bruchstelle.
Die Bauern umgaben die Kommission schweigend in einem Halbkreis. Mochow bückte sich und betrachtete aufmerksam den Gesichtsausdruck Turtschaninows. Da sah er, wie das Gesicht Benjamin Pawlowitschs plötzlich von einem zufriedenen, vergnügten Lächeln erhellt wurde.
„Hier, bitte, Genosse Platow. Direkt eine Illustration zu unserem Gespräch vorhin. Ein außerordentlich charakteristischer Bruch! Sehen Sie bitte: die für Ermüdung typischen glatten Zonen. Sehr bezeichnend! Es sind die so genannten Ermüdungsflecken. Beachten Sie: der glatte Teil der Bruchoberfläche hat regelrecht die Form eines konzentrischen Ringes, und nur an dieser Stelle hier, auf einer ganz unbedeutenden Fläche, sehen wir die Körnung, die auf Sprödigkeit zeigt. Ein durchaus typischer Bruch, der in bezug auf die Frage, was die Ursache der Katastrophe ist, keinen Zweifel lässt. In meiner Praxis habe ich selten einen Fall gesehen, wo die Ursache des Unglücks so deutlich zutage tritt... Mir ist ordentlich ein Stein vom Herzen gefallen! Ich fürchtete schon, dass wir irgendwo einen Riss entdecken würden. Das wäre ja für die Fabrik ein Skandal gewesen. Ach — ich bin sehr erleichtert!"
Die Bauern, die von weitem die Szene beobachteten, konnten absolut nicht verstehen, warum dieser Mensch da mit der Brille ein so vergnügtes Gesicht machte, als ob ihn der Anblick der gebrochenen Lokomotivachse ganz außerordentlich freue. Das dachte auch Mochow, der die Achse aufmerksam betastete.
Platow schwieg und blickte finster auf die trüb glänzende Bruchstelle. Die Deutung Turtschaninows war nicht zu widerlegen, die charakteristischen Ermüdungsflecken waren an dem Bruchstück zu deutlich ausgeprägt.
„Nun, was ist Ihre Meinung?" Vergnügt funkelten die Kneifergläser Benjamin Pawlowitschs. „Für mich ist die Angelegenheit vollkommen klar."
Platow blickte auf die finster schweigende Menge, auf den bleichen Eisenbahner, und wies, ohne auf die Frage zu antworten, mit dem Kopf nach den Bauern hin.
„Wenn Ihnen alles klar ist, so gehen Sie zu denen und sagen Sie ihnen Ihre Meinung."
Benjamin Pawlowitsch sah ihn verwundert an und trat zu den Leuten,
„Genossen, ich will euch die Ursache der Katastrophe erklären... "
„Bitte! Bitte!"
„Seht einmal, die Sache ist außerordentlich einfach."
„Natürlich! Furchtbar einfach! Der ganze Zug in. Trümmer!" unterbrach Turtschaninow eine finstere Bassstimme, der man es anhörte, dass ihr Besitzer von vornherein beschlossen hatte, den Erklärungen keinen Glauben zu schenken.
„Jawohl — sehr einfach. Da liegt die Achse, durch die das Unglück geschehen ist. Die Bruchstelle ist fast glatt, als ob die Achse durchgesägt worden wäre. Ein solcher Bruch ist das Kennzeichen der Ermüdung des Metalls. Unter der Einwirkung der andauernden Wechselspannungen finden Veränderungen der Struktur des Metalls statt, die den Augen gänzlich verborgen bleiben... "
„,Sehr einfach"! Dagegen lässt sich nichts einwenden!" brummte derselbe Baß.
„Red' uns doch nicht so unverständlichen Blödsinn vor, uns brummt ohnehin schon der Kopf!" kam ihm eine dünne, singende Frauenstimme zu Hilfe.
„So ein Unglück!"
„Fünf Tote!"
Die einzelnen Stimmen vereinigten sich zu einem dumpfen Getöse, das voller Mißtrauen und Feindseligkeit war. Turtschaninow nahm die Mütze ab, fächelte aus irgendeinem Grunde mit ihr über seinem Kopf hin und her und setzte sie dann wieder auf.
„Seht, Genossen, um sich in dieser Sache auszukennen, muss man wenigstens eine elementare Vorstellung davon besitzen, was Struktur des Metalls bedeutet. Man muss sich in der Technik auskennen... "
„Dabei hat er aber gesagt, dass die Sache ,ganz einfach' sei", triumphierte der Baß.
„Was sollen wir denn von der Technik verstehen?! Wir können ja nicht einmal lesen und schreiben."
„Sag uns mal lieber kurz und bündig: ihr habt die Lokomotive gemacht, nicht wahr? Wo habt ihr da eure Augen gehabt?"
„Seht, Genossen... Es ist wirklich eine von unseren Lokomotiven, das stimmt. Aber ein Bruch infolge von Ermüdung des Metalls passiert stets unerwartet, sozusagen katastrophal, man kann ihn nicht voraussehen. Die Wissenschaft war bisher außerstande, dieses Geheimnis des Metalls zu entdecken."
„So—o—o—o also liegt die Sache! Damit hättest du anfangen sollen", brummte der Baß zufrieden. „Statt dessen redest du große Töne von ,Wissenschaft' und »Technik'! Der hält hier eine richtige Predigt... Die Sache ist also dunkel!" Ein kräftiger, untersetzter, kurzbeiniger Mensch drängte sich vor. Er glättete den Bart, der breit auf der rosa Kattunbluse lag und hob die eine Hand in die Höhe: „Bürger! Das könnt ihr nun verstehen, wie ihr wollt. Eine dunkle Sache! Dabei aber spielen sie sich auf: ,Wir sind Ar—bei—ter, die Vorhut der ganzen Welt'. Wie viel von unserem Geld ist hier nun wieder zum Teufel? Eine Million ? Hunderttausend? Stimmt's, Bürger?" Mit scharfen herausfordernden Blicken wandte sich der Bärtige an die Menge.
„Richtig! Das stimmt!"
„Ri—i—chtig!"
„Nun, Bürger, rechnet mal zusammen. Eine Million! Und alles müssen wir aufbringen. Wir sollen die Steuern zahlen. Steuern zahlen muss man, das wissen wir... Aber das hier heißt unsere Groschen zum Fenster hinauswerfen. Und das ist nun mal unser Los. Aber die Herrschaften brauchen uns nicht den Kopf mit gelehrten Wörtern zu verwirren. Nicht wahr, Bürger? Was seid ihr denn eigentlich für Herren über unser Leben, zum Teufel?" Dabei wandte er sich direkt an Turtschaninow und durchbohrte ihn mit einem Blick, der scharf wie eine Sense war.
Turtschaninow blickte sich verwirrt und hilfesuchend nach Platow um Rings die finsteren, kalten Gesichter der Bauern; ein spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen des Eisenbahners, und alles das bekräftigte blitzartig einen in Platow aufgestiegenen unklaren Verdacht. Er fühlte seinen Mut wachsen und trat dicht an die Menge heran.
„Woher soll uns was Gutes kommen?" Der Bärtige ließ nicht locker. „Da hatten wir so ein Subjekt in unserem Dorf — Sharow. Und heute, da ist er Proletaria—a—t. Vorhut der Welt!"
„Lass den Sharow aus dem Spiel, Archip, lass ihn zufrieden", ertönte eine trübe Frauenstimme aus der Menge. „Seine Kinder sind ihm verbrannt. Du freust dich wohl darüber, du Saufbold!?"
„Weshalb soll man noch über einen herfallen, der abgebrannt ist?" protestierten auch andere Stimmen.
„Den Sharow muss man bedauern!"
Platow lächelte dankbar der spitznasigen Frau zu, die so mutig aufgetreten war.
„Dieser Mensch", begann Platow und zeigte dabei auf Archip, „freut sich über unser gemeinsames Unglück, wie er sich jedenfalls auch über das Unglück Sharows gefreut hat, den er jetzt noch hier verhöhnt. Er will euch gegen die Arbeiter, gegen die Regierung aufhetzen. Ich kenne Sharow. Er ist uns zehnmal lieber als dieser Zottelbart da. Er ist einer von den Unsern. Solche wie dieser Archip da haben ihn aus dem Dorf hinausgeekelt; aber unsere Fabrik hat Sharow in ihrem Schoß aufgenommen und wird ihm weiterhelfen. Und du, denke an mich!" rief er Archip zu, der sich wand und krümmte. „Sharow wird zurückkehren in sein Dorf, um solche Feinde wie dich und wie diejenigen, die dieses Unglück verschuldet haben, zu bekämpfen!"
Verwirrt tauchte Archip in der Menge unter. Respektvoll betrachteten die Bauern das mutige, offene Gesicht Platows.
„Genossen! Eure Unzufriedenheit mit den Erklärungen, die euch der Ingenieur Turtschaninow gegeben hat, ist durchaus verständlich. Aber er hat euch ja nur seine persönliche Meinung mitgeteilt. Unsere Kommission besteht aber aus fünf Personen. Wir sind verantwortlich — euch gegenüber, dem ganzen Lande gegenüber: wir haben diese Lokomotive gemacht, und wir müssen auch die Verantwortung für alles, was sich hier zugetragen hat, übernehmen. Mit gelehrten, vielleicht sogar richtigen Worten werden wir uns hier nicht aus der Schlinge ziehen. Nicht wahr, Genosse Mochow?"
„Das ist unbedingt richtig, Genosse Platow. Hier müssen wir in unserem Gehirn etwas herumkramen..."
„Also, Genossen, wir werden die gebrochene Achse mit nehmen und Gericht abhalten über uns selbst. In der Zeitung werdet ihr bald darüber lesen. Jetzt aber wollen wir einmal helfen, die Strecke freizumachen!" Und dabei griff er als erster nach dem schweren Gerippe des Löffelbaggers. Dutzende von Menschen liefen hinzu, um ihm zu helfen, packten an, und der Löffelbagger glitt vom Bahndamm hinunter ins Gras.
Der Eisenbahner setzte sich neben die gebrochene Achse und begann den Verband um seinen Kopf zu ordnen. Er wickelte die blutgetränkte Binde ab und brummte:
„Den Kopf müsste man ihnen dafür abschlagen!"
Mochow blickte auf die glitzernde, körnige Bruchfläche und sann dann angestrengt über irgend etwas nach. Eine unklare Unruhe lastete auf seinem Herzen. Seine Augen mieden den blutigen Lappen in der Hand des Eisenbahners und den Glanz der unheimlichen Bruchfläche und strebten in die Ferne. Schwarze Hummeln summten um die roten Kleeblüten. Heuschrecken schwirrten, mikroskopische Flugzeuge, durch die Luft. Die zu einer Spirale zusammengerollten Schienen ächzten klingend unter den Hammerschlägen. Es roch nach Petroleum. All das erinnerte Mochow an die Fabrik.
Er sah die Abteilung vor Augen, Tausende von Maschinenteilen. Er sah seine Maschine und die Achse, die sich darauf drehte. Hunderte solcher Maschinen rund um ihn, Menschen, klatschende Riemen, Metall, Arbeit. Jahrzehntelang hat Mochow gearbeitet, und niemals hat jemand gesagt, dass er schlecht arbeite. Er führte jeden Auftrag ordentlich aus und galt in der Fabrik als guter Dreher. Hunderte von Lokomotivachsen waren durch seine Hände gegangen. Die abgedrehte Achse, die Mochow von seiner Maschine nahm, sah er nicht mehr wieder, und ihr ferneres Schicksal kümmerte ihn nicht weiter. Seine Gedanken und seine Arbeit beschränken sich auf die Drehbank, innerhalb der engen Grenzen dieser von jeher gewohnten kleinen Welt wirtschaftete er selbständig und unumschränkt. Die seltenen Einmischungen des Werkmeisters erkannte er an und duldete sie.
Und nun plötzlich fühlte Mochow hier, mitten in diesem Wust der Zerstörung, während er, umgeben von der Menge der Bauern, auf die zerbrochene Achse blickte, wie irgend etwas mächtig und gebieterisch in diese abgeschlossene Welt eindrang. Es hat ihn mitten in der Nacht aus dem Bett gejagt, hat ihn hierher geführt. Die kleine grüne Fahne, die aus dem Trümmerhaufen starrt, will Mochow irgend etwas signalisieren, es starrt ihn an aus den Augen der finsteren, misstrauischen Menschen um ihn, die Antwort heischend auf ihn gerichtet sind. Die zerbrochene Achse... Sie reckt ihren abgerissenen Hals in die Höhe, und die Sonne funkelt in der frischen Wunde, als wolle sie das Geschehene noch besonders hervorheben.
Hunderte von Achsen hat Mochow auf seiner Drehbank gehabt, und eine ähnelte der anderen, sie waren nicht voneinander zu unterscheiden. Aber eine von ihnen, die hat sich hier wie ein grauenhaftes Fragezeichen in den Sand gebohrt. „Den Kopf müsste man ihnen abschlagen dafür!" Wem? Dem, der diese Achse gemacht hat. Und wer hat sie gemacht? Und wieder stand Mochow die Fabrik vor Augen, und der Werkmeister Bulawkin mit seiner hässlichen, blaugrauen Warze. „Es wird schon gehen, Mochow. Du hast sie abgedreht und fertig!"
Mochow trat zu dem Eisenbahner heran, er sah den schwarzen Hautfetzen über den Augen und fand keine Worte. Verlegen zupfte er einen Grashalm ab und zerpresste ihn wütend zwischen den trockenen Lippen. In den fiebrig entzündeten Augen des Eisenbahners las Mochow eine strenge Forderung, dieser Ausdruck war ihm schon bekannt. Wo konnte er ihn gesehen haben? Und plötzlich sah er seinen Sascha vor sich. Ja — das war an jenem unvergesslichen Tag gewesen. Saschka antwortete dem Vater damals mit einem ebenso harten, trockenen Glanz in den brennenden Augen. Damals war in die Welt Mochows zum ersten Mal jenes Neue eingedrungen, das er nicht anerkennen wollte und das ihn jetzt aus dem Hautfetzen an der Stirn des Eisenbahners wieder anblickte.
Mit gesenktem Kopf schritt er den Bahndamm entlang.
Vor ihm schaute vorwurfsvoll die grüne Signalflagge aus dem Trümmerhaufen.
Als Mochow zu Hause anlangte, war es spät; alle schliefen schon. Saschka lag da, den Mund mit den vollen Lippen weit geöffnet, und schnarchte. Die Decke war auf die Erde gerutscht und zeigte den bloßen, sonnverbrannten Körper. Eine Zehe war verbunden und erinnerte Mochow an die mit einem Lappen umwickelte Lokomotivachse.
„Da hat er sich wieder irgendwo herumgeschlagen — und nun liegt er da und schnarcht — eine Schraube soll dir aus dem Mund... "
Am liebsten wäre Mochow zu seinem Jungen herangetreten und hätte ihm gesagt: „Fünfzig Jahre hat dein Vater auf dieser Welt gelebt, aber klug ist er noch nicht geworden. Da wirst wohl du, Sascha, mich alten Esel belehren müssen!" Sorgfältig hob er die Decke auf und deckte den Jungen zu. Da setzte sich dieser schlaftrunken auf, rieb sich die Augen und erblickte den Vater.
„Nanu, Kontrolleur, du schläfst ja! Du passt ja heute gar nicht auf deinen Alten auf! Ich habe doch wieder den ganzen Tag verbummelt!"
„Du bist ja doch für den Betrieb fortgewesen, das ist etwas anderes", sagte Sascha beruhigend.
„Na, dann erlaubst du wohl deinem Alten auch, schlafen zu gehen, was? Hahaha! Das sind schöne Zeiten jetzt, 'ne Schraube soll dir aus dem Mund!... Was hast du denn mit deiner Zehe gemacht?!"
„Auf dem Schuttplatz der Fabrik ist mir das passiert... Zeitlin hat gesagt: ,Wir müssen das Patronat über den Schuttplatz übernehmen'. Nun schleppen wir also jetzt das alte Eisen von da weg; ich hab' mir die ganzen Hosen dabei zerrissen So vielleicht fünfzig Pud (Anm.: 1 Pud sind 16 kg) haben wir schon weggeschafft. Morgen geht's weiter."
„Wozu braucht ihr denn das Eisen?'' wunderte sich Mochow. „Wir verkaufen es an die Fabrik, und für das Geld kaufen wir uns Fußbälle."
„Hahaha! Das ist ja ein ganz Gerissener, euer Zeitlin, dieser Itzig."
Sascha machte ein strenges Gesicht.
„Für dieses Wort wird man bei uns aus der Pionierabteilung ausgeschlossen."
„Ach! Wieder was nicht recht gemacht! Eine Schraube soll dir... Das sind, wie gesagt, Zeiten jetzt! Hahaha... "
Mochow widersetzte sich nur noch schwach diesem Eindringen neuer, ihm unverständlicher Gesetze in seine alte Welt. Er legte sich zu Bett, zog die Decke über den Kopf, und sofort fesselte eine schwere Müdigkeit den Körper; sein Gehirn, das dumpf wurde und die Ereignisse des Tages von sich abstreifte, konnte den Sinn der Worte nicht mehr erfassen.
„Das ist noch gar nichts! Es wird bald noch ganz anders kommen. Zeitlin hat gesagt: ,Bald organisieren wir unsere Kommune, wenn wir nur erst ein Haus haben'!"
„Was für eine Kommune?" Verwundert riss Mochow noch einmal die schlaftrunkenen Augen auf.
„Eine Pionierkommune... Da werden wir dann ständig leben. Und alles wird Gemeingut sein... "
Da war es mit dem Schlafen vorbei. Mochow warf die die Decke zurück.
„Was heißt das, ständig leben? Zur Nacht kommt ihr doch nach Hause?"
„Keine Spur. Wir werden auch da schlafen. Wir werden immer dort leben."
Alles das sagte Sascha in einem so frohen, überzeugten Ton, dass Mochow endgültig die Selbstbeherrschung verlor. Sein Sohn will ihn verlassen, er wird ihn damit tief kränken... Und auf einmal fiel ihm wieder ein: übermorgen soll ja die Gerichtsverhandlung stattfinden!
Matt und schweißgebadet lag Mochow da, die Augen auf die Wand geheftet. Sascha war so still geworden, als ob er überhaupt nicht mehr im Zimmer wäre. Aus dem überzeugten Ton, in dem Sascha soeben von der Kommune gesprochen hatte, erfasste Mochow, dass Sascha unbedingt fortgehen würde. Die Wände, mit denen er seine kleine Welt umgeben hatte, wankten und brachen zusammen. Von allen Seiten drangen neue Herren in sein Leben ein. Sie ordneten es auf ihre Weise, warfen die Leitersprossen durcheinander, die Mochow seiner Meinung nach für alle Ewigkeit eingerichtet hatte. An der Unglücksstelle hatte er heute selbst gefühlt, dass ihn das Leben auf eine Höhe hinaufgetragen hatte, von der aus die Welt ganz anders aussah — und diese Höhe war furchtbar. Und nun wird Sascha fortgehen und irgendwo in seiner Nähe, aber doch so fern von ihm, ein selbständiges Leben führen, unabhängig von ihm...
„Saschka! Hörst du? Sage deinem Zeitlin, dass ich morgen zu ihm herankommen werde. Er hat mich gebeten zu ihm zu kommen, er will über irgend etwas mit mir sprechen... "
Dann wickelte er sich in die Decke und verstummte endgültig. Er fühlte eine riesige Erleichterung, Saschka schnarchte schon wieder. Zum letzten Mal sah Mochow die schwarzen unverständlichen Buchstaben auf der zerbrochenen Kiste: BERLIN... vor seinen Augen tanzen.
2
Am Abend erhielt Wartanjan ein Telegramm aus Moskau:
„MOLWA, Raikom. Wartanjan.
Parteifraktion der Trustleitung behandelte in außerordentlicher Sitzung Frage des Baus neuer Lokomotivfabrik. Wegen der ungünstigen Lage in der Fabrik ,Krassny Proletari', bestätigt durch Ihre Rede auf Okruschkomplenum und durch Resolution des Plenums, beschloss Fraktion Einstellung des Neubaus. Kredite gesperrt. Entsenden Sonderkommission zur Untersuchung der Lage zwecks Berichterstattung an Präsidium. Sekretär der Fraktion: Ptizyn."
Wartanjan saß mit dem Telegramm in der Hand da und dachte nach.
„Was werden die Arbeiter nun sagen? Sie haben sich doch schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass die neue Fabrik gebaut wird. Die Erdarbeiten sind schon in Angriff genommen. Kraiski ist in schnellstem Tempo vorgegangen.
Kortschenko natürlich wird voller Schadenfreude triumphieren: Das hast du von deiner ,Selbstkritik'. Man muss gegen diesen Beschluss des Trusts vorgehen. Sich ans Zentralkomitee wenden. Wir müssen kämpfen, bis zum letzten Blutstropfen. Was soll aus der Fabrik werden, wenn aus dem Neubau nichts wird?! Dann sind die Tage dieser alten Fabrik mit ihren abgenutzten Maschinen und ausgeleierten Drehbänken gezählt. Die qualifizierten Kräfte werden alle fortgehen, die Spezialisten zu allererst!
Das bedeutet den Tod der Fabrik... Und was wird dann aus diesem Waldgebiet? Dasselbe, was mit einem Menschen geschieht, dessen Hirn verletzt ist. Kann man einen solchen Wachtposten an den Grenzen des Sowjetstaats brauchen, am Vorabend schwerer Kämpfe? Dann werden alle sagen: Das ist unter Wartanjan geschehen! Nein! Das kann man auf keinen Fall zulassen! Ich werde kämpfen bis zum äußersten. Alles, alles aufs Spiel setzen!"
Er rief an und ließ Kortschenko kommen.
„Das war doch zu erwarten", sagte dieser ruhig, nachdem er das Telegramm gelesen hatte.
„Ja, das ist das Resultat deiner Leitung", antwortete Wartanjan ebenso ruhig.
„Hier steht es schwarz auf weiß, was Moskau veranlasst hat, den Neubau einzustellen. Dein Verhalten auf dem Plenum."
„Du bist also der Meinung, dass ich unsere Arbeit keiner Selbstkritik hätte unterziehen sollen?"
„Du hättest sprechen können, ohne der Fabrik den Todesstoß zu versetzen. Das war Übertreibung und nicht mehr Selbstkritik. Die Selbstkritik soll auf die Gesundung eines Betriebs gerichtet sein. Du aber führst, im Gegenteil, ihre Vernichtung herbei. Du bist mehr auf deinen Ruf bedacht als auf die Fabrik. Jawohl, so ist es! Für dich ist es vorteilhaft zu bereuen."
Wartanjan erhob sich bleich.
„Kortschenko! Erlaube dir nicht noch einmal, mir so etwas zu sagen! Ich habe Irrtümer begangen, das stimmt. Ich habe meine Fehler eingestanden. Es ist mir nicht leicht gefallen. Aber ich fühle mich nicht so schuldig, dass ich durch tägliche Reue meinen guten Ruf wiederherstellen müsste. Ich verdiene mir meinen Ruf, verdiene ihn mir durch meine Arbeit. Erlaube dir nicht noch einmal, derartig schmutzige Anspielungen zu machen!"
„Ich mache durchaus keine Anspielungen. Ich stelle ganz einfach Tatsachen fest. Hier liegt das Telegramm. Da steht es schwarz auf weiß. Und was die schlechten Zustände angeht, über die so schön reden kannst, die sind auch dein Werk."
„Bist du verrückt geworden?"
„Durchaus nicht. Platow habe ich auf dein Drängen hin zum Leiter der Martinabteilung ernannt, und was hat er da geleistet? Der Ausschuß überschwemmt die Abteilung! Heute noch erteile ich den Befehl, dass er den Posten verlässt und dass Kraiski wieder zurückkehrt."
„Das wirst du ohne das Raikom nicht tun!" erklärte Wartanjan im Befehlston.
„Ich werde es doch tun. Ich bin der Leiter, Wartanjan. Das darfst du nicht vergessen. Es ist aller Grund zu diesem Schritt vorhanden. Weiter... Wenn du gegen die Entscheidung des Trusts ankämpfen willst, so musst du schleunigst einen Artikel für die ,Prawda' schreiben und die öffentliche Meinung für uns gewinnen."
„Darüber werde ich nachdenken."
„Weiter", drängte Kortschenko. „Es droht uns neues Unheil: die Eisenbahnkatastrophe ist von der von uns gebauten Lokomotive verschuldet. Es muss bei uns in bezug auf die Ursache der Katastrophe Einigkeit herrschen. Wenn dem Trust bewiesen wird, dass wir die Schuld an dem Unglück tragen, so ist damit unser Schicksal natürlich endgültig besiegelt. Es muss also dafür gesorgt werden, dass Platow nicht etwa wieder eine Diskussion mit Turtschaninow beginnt. Diese Angelegenheit ist eine rein technische, und die alten Spezialisten haben die Frage zu entscheiden. So, das ist alles. Und was unsere gegenseitigen Beziehungen anbelangt, Wartanjan, so vergiss bitte nicht, ich bin ja immerhin ein wenig älter als du. Und dem Zentralkomitee ist der Wert eines jeden von uns bekannt. Leb' wohl!" Ruhig verließ Kortschenko das Zimmer, seine dicke Aktentasche schwankte auf und ab, im Takt mit seinen großen, selbstsicheren Schritten.
Noch niemals hatte sich Wartanjan so klein, so bedrückt gefühlt wie in diesem Augenblick. Von den dunklen Anspielungen abgesehen, enthielten die Worte Kortschenkos viel Wahres. Die Tatsachen richteten sich hartnäckig gegen die Überzeugung Wartanjans, und er fühlte, wie der Wunsch, sich zu widersetzen, immer schwächer in ihm wurde. Nun hielt Kortschenko die Zügel in der Hand. Er war ruhig. Sicherheit und Ruhe begleiteten den Sieg. Er aber, Wartanjan, ist nervös, von Unruhe und Zweifeln zerrissen. Sollte er wirklich gezwungen werden nachzugeben? Das würde einen nie auszulöschenden Schandfleck auf seiner Parteiehre bedeuten... Guter Ruf... Ja, das ist so eine Sache... Verlieren kann man ihn leicht. Aber versuche mal einer, ihn dann wieder zurückzugewinnen. Nicht hinuntersinken. Nicht bis zu dem eigenen kleinen „Ich" hinabsinken, bis zu allen diesen kleinlichen Gefühlen, die Kortschenko in Aufruhr gebracht hat. Die zerren nun an den Nerven, gehen in ganzen Haufen zum Angriff vor, fesseln Willen und Gedanken. Dagegen muss man kämpfen!... Hastig lief der Bleistift über das Papier. Wartanjan machte sich Aufzeichnungen über seinen Plan für die beabsichtigte Kampagne. Mit Ungeduld wartete er auf die Rückkehr Platows, um ihn in milder, kameradschaftlicher Form davon in Kenntnis zu setzen, dass er im Interesse der Fabrik von seiner Stellung als Leiter der Martinabteilung zurücktreten müsse.
Platow kam spät abends, müde und staubig, er roch nach Öl. Mitleidig sah Wartanjan in das eingefallene, gelbe Gesicht und vergaß die Phrase, die er vorbereitet hatte. „Nun, wie war's da?"
„Großer Schaden... Blut. Schande... " Platow fuhr sich mit der Hand' durch das dichte Haar, und auf das vor ihm liegende Papier rieselte schwarzer Kohlenstaub. „Was ist die Meinung der Kommission?" „Wir haben uns im Zuge fürchterlich gestritten." „Was ist die Meinung der Mehrheit?" „Eine Mehrheit ist nicht vorhanden," „Wie steht also die Sache?"
„Turtschaninow und Borezki erklären die Katastrophe mit der Ermüdung des Metalls. Titytsch seufzt: ,Siehst du, so ist das Leben.' Mochow schimpft aus Leibeskräften. Und beide sehen sie mich an, was ich sagen werde." „Und du?"
„Ich?" Platow schwieg eine Minute. Seine von Schweiß und Schmutz verklebten Haare ragten wie dürre Drähte auf dem Kopf durcheinander. „Als Metallurg muss ich die Theorie Turtschaninows unterstützen. Die Ermüdung des Materials ist eine Tatsache. Und diese Tatsache kann ich nicht leugnen, wenn ich Ingenieur bleiben will..."
„Nun also! Ausgezeichnet! Die Spezialisten sind sich einig. Es ist die Meinung der Mehrheit. Die Angelegenheit ist eine rein technische. Dieses Urteil erleichtert unsere Lage. Weißt du, was der Trust beschlossen hat?" Wartanjan entfaltete das Telegramm. „Gut, dass wir wenigstens hier nicht die Schuld tragen."
Platow ließ seinen vor Erschöpfung und Nachdenken schweren Blick auf dem Telegramm ruhen.
„Das ist es ja gerade — dass wir hier... die Schuld tragen." „Wieso? Es ist ein böser Zufall, der nicht vorauszusehen war."
„Ja — es ist ein Zufall. Ein tragischer Zufall. Ebenso wie es ein Zufall ist, dass die Ausrüstungen für die neue Fabrik bei der Katastrophe vernichtet wurden. Aber jeder Zufall hat seine Ursache, er ist stets begründet. Ich will aber kein Mystiker sein und will dieses Teufelswerk nicht mit einer wissenschaftlichen Theorie decken, außer der Metallurgie habe ich nämlich auch die Dialektik studiert."
Wartanjan brach in Gelächter aus.
„Halte dich lieber an die Argumente der Metallurgie. Was die Dialektik anbelangt, so steht's damit bei dir ebenso wie bei allen anderen, das sieht man ... Majakowski hat das prachtvoll gesagt:
Nicht Hegel hat Dialektik uns gelehrt, Mit Waffenklirren drang sie ein in unsre Verse, Damals, als vor dem Feuer unserer Kugeln Die Herren flohen, so wie einstmals wir vor ihren... So ist's doch, nicht wahr? Ausgezeichnet gesagt. Übrigens ist Majakowski mein Lieblingsdichter."
„Ich habe überhaupt keine Lieblingsdichter. Ich hab' keine Zeit gehabt, mir welche anzuschaffen. Die Worte aber, die du hier soeben zitiert hast, enthalten Unheil, sie sind vielleicht sogar Verderben bringend für den, bei dem die Dialektik von selbst ,in die Verse eingedrungen' ist. Das ist falsch. Man muss sie beherrschen, aber das ist nicht so leicht, wie dieser Vers sagt."
„Du hast sie wohl bei Hegel studiert? Du beherrschst sie am Ende?"
„Ich habe Hegel gelesen. Er ist schwierig. Mir liegt Lenin mehr, er ist einfacher."
„Jetzt habe ich dich aber gefangen, Platow. Hegel ist doch die Quelle des Marxismus. Du bist ziemlich rückständig, mein Lieber!"
„Mir genügt fürs erste Lenin", wehrte Platow müde ab.
„Da hocken wir hier beide und philosophieren! Das war eine Abschweifung."
„Nein, das würde ich nicht sagen, Wartanjan. Nun also... wovon sprach ich denn gleich? Teufel, ich bin müde. Ach ja... vom Zufall..."
„Was denkst du also?"
„Ich denke, dass wir die Ursache in unserer Fabrik zu suchen haben. Das bestätigen mir die Beobachtungen bei anderen Zufällen. Sehr interessant ist z. B. die ,zufällige' Übereinstimmung der Ansichten Turtschaninows und Borezkis."
„Was willst du damit sagen?"
„Nichts weiter als das, dass ich in meinen Schlussfolgerungen äußerste Vorsicht walten lassen muss. Bis morgen werde ich mir alles überlegt haben."
„Was beabsichtigst du zu tun?" fragte Wartanjan hartnäckig weiter. Schwerfällig stand Platow von seinem Stuhl auf.
„Ich beabsichtige, die Schlussfolgerungen Turtschaninows zu widerlegen."
„Wart' mal, du widersprichst dir ja selber. Du sagtest ja doch, dass die Ermüdung des Materials Tatsache sei?"
„Jawohl, ich gebe diese Tatsache zu. Auf ihrer Grundlage will ich ja versuchen, die Schlussfolgerungen zu widerlegen und meine eigene Sache aufzubauen."
„Das gefällt mir nicht recht, Platow. Es ist wohl jetzt kaum der geeignete Moment für derartige technische Streitigkeiten. Übermorgen soll eine allgemeine Arbeiterversammlung der Fabrik stattfinden, die sich mit dieser Frage befassen wird."
„Ich werde schon rechtzeitig fertig werden. Ich muss mich nur erst einmal ausschlafen. Nun also — ich gehe. Mein alter Kusmitsch wartet sicher schon lange."
Platow taumelte fast, als er hinausging. Erst in diesem Augenblick fiel Wartanjan ein, dass er vergessen hatte, ihm von der bevorstehenden Maßnahme Kortschenkos Mitteilung zu machen. Wie sollte er auch diesem zum Umsinken müden Menschen etwas derartiges sagen!
Platow schritt die knarrenden Stufen zu seiner Haustür empor und klopfte.
„Der Herr Leiter selbst ist eingetroffen! Bitte sehr", empfing ihn an der Tür eine heisere, aufgeregte Stimme.
„Wer ist da?"
„Ich bin's, Sharow. Kommandant dieses verwaisten Hauses."
„Und wo ist der Großvater?"
„Der Großvater? Der ist weit. Er ist dabei, die letzte Reise anzutreten."
„Was faselst du da für Unsinn! Was für eine Reise will er antreten?"
„Eine ganz gewöhnliche. Früher hieß das ins Jenseits. Jetzt sagt man eine Luftrundreise. In einem Iroplan aus Fichtenholz für elf zwanzig."
„Du bist wohl voll, wie?" fragte Platow und zog Sharow aus dem dunklen Flur ins Zimmer.
„Betrunken bin ich nicht, aber einen gekippt hab' ich — zum Andenken an die Seele des Alten. Ich darf jetzt nicht so viel trinken, Senja! Ich habe zwei Menschen gerettet! Ich bin ein Held, Senja!" Sharow richtete sich stramm auf und streckte die Brust heraus. „Erst hab' ich dich gerettet! Und nun den Großvater. Ich bin direkt zum Lebensretter geboren. Ich werde jetzt mein ganzes Leben lang Menschen retten und werde wieder in die Zeitung kommen, mit einem Bild von mir! Siehst du, so bin ich, Sharow, Alkoholiker und Held!" Er marschierte durch das Zimmer und schlug sich mit dem langen Affenarm auf die Brust.
„Nun höre mal auf, Unsinn zu reden. Erzähle vernünftig, was geschehen ist. Wo ist der Alte?" fragte Platow erregt und packte Sharow bei der Schulter.
„Im Krankenhaus."
„Was ist mit ihm passiert?"
.,Er liegt ohne Besinnung."
„Ist er krank geworden?"
„Er ist durch einen schweren Gegenstand krank geworden."
„Was ist geschehen?"
„Ein eiserner Balken ist ihm auf den Kopf gefallen."
„Wann? Wo?"
„Gestern Nacht in der Dreherei bei der Martinabteilung. Ich komme hinein — ich war in die Gussputzerei gegangen, um ein Gussstück zu holen — da liegt der Alte auf dem Fußboden, ohne sich zu rühren. Und Antonytsch schreit: ,Ein Träger ist ihm auf den Kopf gefallen. Er ist ja blind, der Alte, er sieht und hört nichts mehr! Schnell, lauf und hol eine Bahre.' Wohl eine Stunde lang habe ich nach einer Bahre gesucht. Schließlich hab' ich den ,Chef' auf den Schultern nach dem Krankenhaus geschleppt. Er ist ja leicht, der Alte, wie ein dürrer Stecken. Im Krankenhaus, da kam er dann zu sich: Lauf zu mir nach Hause, Sharow, hat er geflüstert, und sag dem Senja... Und da war er wieder weg. Und so wartete ich hier den ganzen Tag auf dich und hab' vor lauter Langeweile einen getrunken."
Platow stürzte zur Tür hinaus.
Er rannte wie ein Wilder. Stolperte, fiel, sprang wieder auf und rannte weiter — sprang über den Graben der neuen Wasserleitung, über Haufen von Steinen, fegte wie ein schwarzer Schatten unter den Laternen im schlafenden Park hin und stürzte schließlich in das Tor des Krankenhauses.
Mit ihren Pantoffeln über die Steinfließen schlurfend, führte ihn die Schwester in das Krankenzimmer. Im Schein der matten Glühbirne schienen Platow sämtliche Gegenstände formlos, weiß, verschwommen.
„Hier liegt er... gerade hat er noch phantasiert, jetzt ist er ruhig. Ein Mädchen, Olga heißt sie, hat hier lange bei ihm gesessen, und ich glaube, er hat ihr irgendwas gesagt."
Platow ließ sich auf einen Hocker fallen. „Olga... das ist brav von dir, Olga." Alles um ihn versank in unbestimmtem Weiß. Der weiße Bart des Alten verschwamm mit dem weißen Verband, der die Stirn und einen großen Teil des Gesichts verdeckte. Weiße Haare, weiße Kissen. Er nahm die kraftlose, schwere Hand des Alten und fühlte, wie sie seine Finger mit ihrer trockenen, unnatürlichen Hitze versengte — es war, als hätte er einen Formkasten berührt, der noch nicht erkaltet war.
Das vorletzte Glück hatte er gesehen. Aber das letzte, das lässt sich nicht so leicht erringen... Platow suchte in seinem Gedächtnis. „In der Nähe ist es geschehen. Der Alte hatte irgendeinen Gang vor. Da — hat er Antonytsch getroffen. Ein Träger ist ihm auf den Kopf gefallen... Wieder ein Zufall! Zuviel Zufälle in dieser letzten Zeit..."
Platow wartete ungeduldig, dass der Alte erwachen und nur ein einziges Wort sagen sollte, aus dem er alles verstehen würde. Aber der Alte lag unbeweglich da, nur die Decke hob und senkte sich leise, in großen Zwischenräumen.
Bis der Morgen graute, saß Platow so da. Dann ging er mit langsamen, im Sande versinkenden Schritten nach Hause, im Kopf einen dumpfen Schmerz.
Er klopfte bei den Pylajews ans Fenster. Es wurde geöffnet, im Fenster erschien ein hellblonder Kopf — zwischen den Blumenstöcken erkannte er die Gestalt Olgas.
„Platow! Ich habe den ganzen Tag an seinem Bett gesessen. Es geht ihm sehr schlecht. Er hat den ganzen Tag phantasiert: ,Zeigt mir den Deutschen.' Nur ein einziges Mal hat er die Augen aufgemacht und sich nach dir erkundigt. Ich habe ihm gesagt, dass du fortfahren musstest. Darauf sagte er: ,Senja soll die Proben untersuchen.' Dann hatte er das Bewusstsein schon wieder verloren. Ich denke mir, er hat phantasiert. Was für Proben denn? Ich verstehe das nicht. Morgen früh gehe ich wieder zu ihm. Warst du dort?"
Platow merkte gar nicht, dass Olga das „Du" absichtlich betonte. Er sah mit leeren Augen auf die weiße Brust, die durch die Blumen schimmerte. Olga spürte seinen Blick, und die Blumen schlossen sich dichter zusammen.
Platow betrat das leere Haus, blickte stumpf auf den alten knarrenden Diwan und warf sich, ohne sich auszuziehen, aufs Bett. Auf der Erde schnarchte Sharow, die langen Affenarme weit auseinander geworfen.
3
Der alte Schemel rollte polternd unter dem Bett hervor ins Zimmer. Sergej sprang ihm nach und versetzte ihm einen Fußtritt, der gerade den Sitz traf. Das alte Leder platzte, Schmutz und Schuhnägel kollerten auf den Boden.
Sergej brach in lautes Gelächter aus, rannte hinter dem Schemel her und stieß ihn weiter wie einen Fußball. Der Schemel polterte und knarrte und spritzte Schmutz und Staub, die sich seit Jahren angesammelt hatten, von sich.
„Mein Erbteil! Sieh' mal, Marussenka, mein Erbteil!" Sergej ergriff den Schemel und schleuderte ihn an die Wand.
Der Schemel sprang in die Mitte des Zimmers zurück, die Lederfetzen winkten nach allen Seiten.
„Wie zähe er ist, zum Teufel!" Sergej trat auf schwankenden Beinen an ihn heran und spuckte ihn voller Ekel an.
„Ich hasse ihn." Müde setzte er sich auf den Fußboden.
In der Tür stand die Mutter und weinte lautlos. Dann näherte sie sich mit vorsichtigen Schritten Sergej und hob leise den Schemel auf.
Marussja umarmte Sergej: „Geh', Sergej, leg dich schlafen, beruhige dich ... "
„Ich kann mich nicht beruhigen... Ich kann es nicht. Ich als Angeklagter, vor Gericht! Mamssja! Was kann ich zu meiner Rechtfertigung vorbringen? Ach!" Er schüttelte trostlos den Kopf. „Nichts. Nichts. Ich bin schuldig. Und man wird mich morgen verurteilen. Man wird mich mit Schimpf und Schande aus der Fabrik jagen."
Die Mutter ging schluchzend herum und sammelte die Überreste des Schemels.
„Mutter, hör auf zu plärren. Marussja, sieh mal — da sammelt sie ihre Reliquien! Ha—ha—ha! Ich werde ihn verbrennen, den verfluchten Schemel! Er hat mir mein ganzes Leben vernichtet. Sowie ich ihn nur sehe, werde ich wild. Senka sagt, dass väterliche Blut rumort in mir. Vielleicht hat er recht. Aber bin ich denn vielleicht ein Kleinbürger? Marussja! Senka hat mich einen Kleinbürger genannt. Ist das etwa keine Beleidigung? Ich schlage alles kurz und klein!"
„Serjosha, Lieber... Reg' dich nicht auf... " Marussja führte ihn überredend ans Bett.
„Ich liebe niemand auf der ganzen Welt! Alle hasse ich! Das werde ich auch morgen vor Gericht sagen. Mögen sie mich verurteilen!"
„Wieder alles zerrissen, heilige Jungfrau Maria, himmlische Gottesgebärerin", murmelte die Mutter vor sich hin und band sorgfältig den Schemel zusammen.
Sergej warf sich auf dem Bett hin und her, bald aber hatte ihn der Schlaf besiegt, und er schnarchte geräuschvoll.
„Wassiljewna, ich muss dringend fortgehen. In einer Stunde bin ich wieder da. Bleibe du derweil zu Hause."
Und Marussja eilte in die Vorstadt, nach jenem zweistöckigen Haus, in dem sie damals am Fenster gesessen und Sergej ihr Taschentuch vor die Füße geworfen hatte. Morgen sollte die Gerichtsverhandlung stattfinden. Was für ein Schicksal harrte Sergejs? Marussja fürchtete sich, daran zu denken — sie hatte nur den einen brennenden Wunsch: den Schlag abzuschwächen. Und dieser Wunsch trieb sie zu Andrjuschetschkin.
Schüchtern betrat sie das Zimmer. Andrjuschetschkin saß da und schrieb.
„Guten Tag, Grischa. Wir haben uns lange nicht gesehen... " Daran müssen wir uns wohl gewöhnen", antwortete er trocken und schrieb weiter.
„Ich wollte mit dir sprechen, Grischa. Bitte, sei mir nicht böse. Ich liebe ihn. Es ist eben unser Schicksal..."
„Das ist deine Sache. Lebe mit dem, der dir besser gefällt."
„Ich lebe gut. Aber du... wie geht es dir, so allein?"
„Es geht ganz gut. Ich esse in der Fabrik."
„Das Zimmer ist wohl schon lange nicht ausgefegt worden. Wo ist denn der Besen?" Und Marussja suchte den Besen und fegte das Zimmer aus.
Das erinnerte Andrjuschetschkin an das frühere Leben, und er verlor die Ruhe. Aufgeregt warf er die Feder hin. Im Zimmer verbreitete sich der wohlbekannte Geruch nach Frauenkleidern und Puder, neue funkelnde Lackschuhe knarrten über den Boden.
„Was willst du hier, warum bist du gekommen?"
„Ich will dich um etwas bitten, Grischa. Morgen wird die Gerichtsverhandlung stattfinden. Du bist in der Partei und kannst Sergej von Nutzen sein. Wirst du vor Gericht gegen ihn aussagen?"
Andrjuschetschkin schwieg.
„Deine Aussage wird die allerwichtigste sein. Hab Mitleid mit Sergej... Ich bitte dich, mache mich nicht unglücklich, Grischa... " Marussja stellte den Besen hin und schlug die Hände vor's Gesicht.
Andrjuschetschkin zog stöhnend die Luft ein, das Atmen fiel ihm schwer, als habe er die Schutzmaske des Schweißers vor dem Gesicht. Ja — morgen muss er vor Gericht aussagen. Das, was er aussagen wird, steht schon hier auf dem Papier:
„Ich kenne Sergej Wekschin als einen der schlechtesten Arbeiter, als Strolch und Bummler... "
„Grischa, räche dich nicht an ihm dafür, dass ich dich verlassen habe!" bat Marussja bekümmert.
„Sergej Wekschin hat ein liederliches Leben geführt..."
„Grischa, hab Mitleid mit mir. Sergej ist noch so jung. Ebern erst hat unser gemeinsames Leben begonnen. Hab Mitleid mit uns, Grischa..."
„Wekschin ist ein starker junger Kerl. Wenn er wollte, so könnte er für drei arbeiten, aber er liebt die Arbeit nicht und drückt sich, wo er kann... "
„Grischa, sei nicht so hart! Sergej liebt mich... "
„Wekschin hat Schulbildung genossen, ist aufgeweckter als viele andere; aber er macht bei jeder Gelegenheit und aus jeder Kleinigkeit einen Skandal. Solche Leute können wir jetzt in der Fabrik nicht brauchen..."
„Grischa, er ist in den letzten vier Wochen ein ganz anderer geworden. Weshalb willst du jetzt sein Leben vernichten? Was soll aus mir werden ?"
Schweigend überlas Andrjuschetschkin seine vorbereiteten Aussagen. Alles entsprach der Wahrheit. Und Sergej sollte bestraft werden, für alles. Auch dafür, dass er sein, Andrjuschetschkins Leben verödet hatte. Sein Zusammenleben mit Marussja war kein harmonisches gewesen, aber er liebte sie, und in den Tagen seiner Einsamkeit war ihm das erst richtig zum Bewusstsein gekommen. Er hoffte immer noch, dass sie zu ihm zurückkehren würde. Und nun war sie gekommen, saß neben ihm, und Fliederduft schwebte durch's Zimmer und ließ die Vergangenheit wieder aufleben...
„Grischa, ich bitte dich zum letzten Mal... Ich werde ein Kind von ihm haben ... "
Andrjuschetschkin zuckte zusammen. „Nein! Sie wird doch nicht zu mir zurückkehren. Und was soll sie auch bei mir — mit einem fremden Kind?"
„Gut, geh... ich werde nicht im bösen an dich denken Und Marussja ging fort, durch seine Worte ermutigt. Andrjuschetschkin öffnete ein Heft mit einem Wachstuchdeckel. „Genossen! Der Fliederduft birgt schwere Gefahr..."
Lächerlich und höhnisch klangen ihm die Worte entgegen. Er krampfte die Finger zusammen und zerknüllte das Heft.
Mit gesenkten Augen hörte Sergej das Urteil an. Der lange, magere, schwindsüchtig aussehende Richter verlas das Urteil mit dünner Stimme, dabei verhaspelte er sich, wiederholte ganze Absätze von vorn und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Wenn er bloß schon fertig wäre!" dachte Sergej bedrückt; er fühlte Hunderte von Augen mitfühlend oder verächtlich auf sich ruhen.
In dem kleinen Gerichtssaal war es schwül, die Menschen schwitzten. Sharow blickte gewichtig und triumphierend um sich und fühlte sich als Held des Tages. Marussja hielt die Barriere unklammert und starrte dem Richter mit ängstlichen Augen auf den Mund. Sie hatte das Gefühl, als zerrissen seine langen gelben Zähne erbarmungslos ihr zitterndes Herz.
Andrjuschetschkin, das Gesicht rot vor Hitze, ließ verlegen die Augen über die Wand schweifen. Die hellen Brauen zuckten wie Schmetterlingsflügel auf und nieder.
„... Das Gericht beschließt: der Angeklagte Wekschin wird zu drei Jahren Arbeitszwang, ohne strenge Isolierung, verurteilt. Gegen das Urteil kann auf dem gewöhnlichen Wege Einspruch erhoben werden. Die Gerichtskosten in Höhe von 15 Rubel 50 Kopeken werden dem Angeklagten Wekschin auferlegt."
Sergej hielt den Blick gesenkt und wandte sich dem Ausgang zu, die Leute vor sich grob beiseite drängend.
„Der ist ja noch billig davongekommen", wunderte sich jemand laut.
„Andrjuschetschkin hat sehr gelinde ausgesagt, sonst hätte man anders mit ihm abgerechnet", antwortete ein junger Bursche.
„Na, das ist nicht so schlimm. Er wird weiter in der Fabrik arbeiten, und entsprechend dem Urteil muss er sich einen Lohnabzug gefallen lassen."
Sergej war schnell die Treppe hinuntergerannt und lief durch die Straßen, ohne auf Marussja zu achten, die hinter ihm herrief. Wusste nicht jeder Mensch auf der Straße schon das Urteil? Er blickte nicht auf und beschleunigte die Schritte..... In dem engen Vorzimmer Borezkis werden ihm vertraute Gerüche entgegenschlagen. Der karierte Mantel hängt an seinem gewohnten Platz. Daneben die ölgetränkte wattierte Joppe. Er öffnet die Zimmertür. Am Tisch sitzt Borezki über eine Zeitung gebeugt. Die untergehende Sonne vergoldet seinen gebräunten Nacken und das üppige Haar Waljas.
Seinen Hass gewaltsam unterdrückend wird Sergej sagen:
„Ich bin gekommen, um dir für alles zu danken, Antonytsch. Ich habe die Lehrzeit bei dir hinter mir und habe eben mein Examen auf drei Jahre Arbeitszwang ohne strenge Isolierung bestanden. Ich danke dir!"
Das Gesicht wird bis zu dem Nacken mit den Falten plötzlich erblassen und unter dem Tisch verschwinden...
... . Sergej bog in die Lichwinskajastraße ein, wo in dem Haus mit den rosa gestrichenen Fensterläden das geschehen sollte, was er sich eben ausgemalt hatte. Er hatte das Urteil sehr ruhig hingenommen. Er hatte Schlimmeres erwartet. Sonderbar, dass ihn Andrjuschetschkin nicht mehr heruntergemacht hatte. Er war sehr erstaunt gewesen, als Andrjuschetschkin plötzlich darauf hinwies, dass sich der Angeklagte in den letzten vier Wochen sehr gebessert habe, ein ordentliches Leben führe, eine Familie gegründet habe... „Ich habe ihm doch Marussja genommen. Ein sonderbarer Kauz, der Andrjuschetschkin! Nicht einmal ordentlich rächen kann er sich. Aber ich werde mich rächen."
Da war er auch schon in der Lichwinskajastraße. Das zweite Haus rechts. Die rosa Fensterläden schimmern in der untergehenden Sonne.
Die Luft ist feucht wie in einer Badeanstalt. Die Füße versinken im Sand. Da sind die paar Stufen bis zur Haustür. Der kühle Hausflur. Das Vorzimmer. Der karierte Mantel. Die wattierte Joppe. Walka.
Mit erschrockenem, bösem Blick sieht sie Wekschin an.
„Was willst du?"
„Deinen Vater sprechen. Wo ist er?"
„Er wird bald kommen. Was willst du von ihm? Du wirst ihn ja morgen früh in der Fabrik sehen."
„Ich muss ihn aber heute sehen. Ich werde warten."
Er setzte sich auf den wohlbekannten Diwan und streckte die Füße von sich.
„Warum bist du so böse?"
„Nicht alle können gut sein. Zu dir ist ja Marussja gut."
„Sie ist gut, das stimmt. Sie wird mich sogar trotz des Urteils noch lieben."
„Wie ist das Urteil?"
„Drei Jahre ohne strenge Isolierung."
„Na, also, du hast's ja auch verdient, nun musst du eben büßen! So weit hast du's gebracht. Du kannst dich nicht einmal beklagen", erklärte Walja in befriedigtem Ton.
„Ich beklage mich auch nicht. Ich werde eben büßen. Bloß du tust mir leid, Walja."
„Ich brauche dein Mitleid nicht. Es wird mich schon irgendein anderer bemitleiden!" Trotzig schüttelte Walja ihre kupferroten Locken.
Aus dem Garten drang frischer Heugeruch ins Zimmer. Er rief Sergej die Sommernächte, die flammenden Locken, im denen trockene, duftende Heuhalme hängen geblieben waren, ins Gedächtnis, und ein gutes, warmes Gefühl keimte in seinem Herzen auf.
„Walja, ich wünsche dir nur Gutes. Es wird vielleicht bittet für. dich sein, was ich dir jetzt sagen werde. Die Wahrheit ist immer bitter, wie ein Urteil. Aber höre mich an: mein Unglück hat dein Vater auf dem Gewissen. Ich dachte, er würde mir eine Stütze sein im Leben, mein Maßstab, mein Zollstock sozusagen. Und mit diesem Zollstock hab' ich mein Leben gemessen. Aber es hat sich herausgestellt, dass er falsch ist, dieser Zollstock. Ich habe mich verrechnet, geirrt, Walja... Dein Vater ist... ein Halunke... "
Ein leises Geräusch, wie das Schnurren einer Katze, klang vor der Tür. Durch den engen Spalt, der sich öffnete, wurde, langsam und feierlich, ein Fahrrad hereingeschoben. Man hörte es kaum. In kaltem Glanz funkelten die vernickelten Speichen. Auf dem dunkelblauen Samtsattel lag, einer gelben Spinne gleich, eine Hand und führte das Rad ins Zimmer. Und die gelbe Spinne zog die untersetzte Gestalt Antonytschs hinter sich her.
„Walja! Achtung — hier!"
Sergej hatte sich fest in die weiche Diwandecke gedrückt. Mit einem durchdringenden, scharfen Vogelschrei sprang Walja auf, warf sich dem Vater um den Hals und konnte sich lange Zeit nicht von diesem Manne in der schmutziggrauen, nach Rauch und Schmieröl riechenden Jacke losreißen.
„Papa! Für mich? Wirklich für mich? Tatsächlich?! Mein lieber, guter Papa!"
Mit zitternden Händen streichelte Walja den blauen Samt des Sattels, betastete die Reifen, die funkelnden Speichen und warf sich dann dem Vater von neuem um den Hals.
Der fahle, vom glühenden Metall gebleichte Blick Antonytschs glänzte auf vor Freude, die Lippen unter dem harten Schnurrbart zuckten leise. Als aber plötzlich Sergej wie eine Erscheinung vor ihm stand, da sank Antonytsch matt, wie vom Blitz getroffen, auf einen Stuhl.
Außer sich vor Wut, die ihm das Herz zusammenpresste, schlug Sergej Borezki mitten ins Gesicht; dann fasste er mit seiner heißen Hand nach Waljas kühlen Fingern und rief:
„Walja! Walja! Verflucht soll dieses Geschenk sein! Ich... Er... Ihr alle beide seid Halunken. Rühr' es nicht an! Schreie doch! Damit es alle hören! Damit das Volk zusammenläuft!
Damit Tausende von Menschen die sehen, die ihnen das Glück stehlen."
Er schrie, heiser und außer Atem, und kannte seine eigene Stimme nicht wieder. Walja, totenblass, wischte mit zitternden Händen die strömenden Tränen ab und sank schluchzend auf den Diwan.
Sergej wandte sich dem Ausgang zu; dabei blieb er mit dem Fuß in den Speichen des Rades hängen, riss sich los, hörte im Weglaufen, wie das Rad polternd hinfiel, hörte Waljas krampfhaftes Weinen.
Zufrieden mit seiner Rache, lief Sergej durch die Straßen.
Die Freude an dem eigenen starken, kräftigen Körper weckte in ihm ein Gefühl stolzer Zufriedenheit, und nur ganz in der Tiefe der Seele empfand er eine leise, unklare Unruhe, die ihn störte wie eine kleine, unbedeutende Wunde, die Furchen in seine Stirn grub. Und nervös beschleunigte Sergej seine Schritte, als wolle er diesem unangenehmen Gefühl entrinnen.
Er blickte sich um und sah, dass alles war wie sonst. Wie sonst strömte der dichte Menschenstrom vorwärts und verteilte sich in den Straßen und Gassen; die Luft war erfüllt von lebhaftem Gespräch und Gelächter; bis zum nächsten Morgen zogen sich die Menschen in die stille kleine Welt ihrer dreifenstrigen Häuserchen zurück. Auch Sergej wird gleich zu Hause sein, und das Leben geht wie früher seinen Gang.
„Wie früher...?" Sergej spürte, wie seine Handfläche brannte — verwundert sah er sie an und befühlte sogar die raue, harte Haut — alles war in Ordnung. Plötzlich sah Sergej das, was eben in dem Häuschen mit den rosa Fensterläden geschehen war, grell und deutlich wie vom Schein eines Blitzes beleuchtet, vor sich, und er glaubte die stechenden Bartstoppeln wieder an der Handfläche zu fühlen.
Sorgfältig wischte er mit einem schmutzigen, grauen Taschentuch die Hand ab.
Jawohl, er hatte recht getan: Borezki hatte seine besten Gefühle verletzt, hatte ihn erniedrigt, und Sergej hatte sich gerächt, für sich selbst und für Walja, für den verklungenen Traum von einem schönen, freudigen Leben. Weshalb schämte er sich dann bei der Erinnerung dieser Szene?...
Die Schranke beim Bahnübergang war geschlossen. Die Menschen standen wartend da und ließen einen langen Zug neuer Waggons an sich vorüber. Die Räder polterten, wenn sie über die Schienenschwellen rollten; in langen roten Reihen, wie bei einer Parade, zogen die Waggons an ihrem Schöpfer vorüber, und mit liebevollen, eifersüchtigen Augen blickten ihnen die Menschen nach.
Da steht Titytsch, streicht sich schmunzelnd den Bart und stößt seinen Begleiter an, der mit einem roten Bündel unter dem Arm neben ihm steht:
„Einfach Zucker, aber keine Waggons!"
„Wirklich, das ist Klasse!" antwortete das rote Bündel mit Überzeugung.
Nach den Waggons kamen dann neue Lokomotiven. Erst die niedrige „V", dann die schwere, kurzbeinige Güterlokomotive „Eb" und zu guter Letzt, mit lang gestrecktem Rumpf auf hohen Rädern, die strahlend funkelten, die flinke Schnellzugslokomotive „SU".
„Wie ein Orlowtraber", sagte Titytsch zärtlich.
„Die da ist einfacher und dicker — wie ein schweres Lastpferd... Och, das ist eine starke", rief das rote Bündel ganz entzückt aus.
Und plötzlich stellte sich Sergej vor, wie sich tief verborgen unter der funkelnden glänzenden Umhüllung, tief im Innern des Stahlkörpers dieser Riesen, wie Schlangen verhängnisvolle Risse krümmen. Niemand sieht sie. Und niemand weiß es. Wie kann das sein?
Da rühmte Titysch seinen Gefährten gegenüber die ausgezeichneten Eigenschaften der Lokomotive und nickte Sergej zu:
„Fein, was? Na ja, unsere Fabrik, die wird sich doch nicht blamieren."
„Die wissen nichts, garnichts wissen die!"
Vielleicht werden diese wunderschönen, funkelnden Lokomotiven morgen schon irgendwo die Böschung hinuntersausen? Und Blut wird umherspritzen, und beim Klatschen und Krachen des aufeinander prallenden Eisens wird der Tod reiche Ernte halten...
Und da verstand Sergej, wie nichtig und jämmerlich seine Empörung war.
Wiederum musterte er die Gesichter der Menge und sah die aufrichtige Freude auf dem Gesicht Titytschs. Und ein starkes Mitleid mit allen diesen Menschen ergriff Sergej.
Dann machte er plötzlich kehrt, stieß die neben ihm Stehen den grob beiseite und rannte die Straße hinunter, zurück. Man schimpfte hinter ihm her.
„Nanu, du bist wohl blind, du Esel, was?"
„Stößt da herum wie ein Wilder!"
Diese Rufe trieben Sergej nur noch mehr zur Eile, atemlos teilte er die heiße Menge der menschlichen Körper.
Weshalb hatte er früher nicht daran gedacht? Ob es wirklich zu spät war?!
Ganz in Schweiß gebadet kam Sergej schließlich beim Fabriktor an. In langer, verwirrter Rede erklärte er dem verwunderten Wächter, dass er, Sergej, unbedingt sofort in die Fabrik hineinmüsse, dass er schleunigst mit dem Direktor sprechen, ihm etwas Wichtiges mitteilen müsse, dass Borezki den Aufbau des Sozialismus sprenge, und dass ihm, Sergej, alle die Menschen unendlich leid täten, die beim Bahnübergang ständen und sich übet die neuen Lokomotiven freuten.
Lange und andauernd klingelte das Telefon. Kortschenko nahm den Hörer auf.
4
In der Dämmerstunde kam Wera ganz unerwartet zu Platow. Fröstelnd hüllte sie sich fester in ihren grauen, gestreiften Mantel und setzte sich leise auf den knarrenden Diwan.
„Ich fühle mich so einsam zu Hause, Platow, ich möchte ein wenig hier sitzen. Ja?" Sie stützte den Kopf auf die Hände. „Ewig arbeiten Sie, Platow, sind Sie denn niemals müde? Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich. Ich möchte es so!" Sie hob ihren schlanken Arm und, der zurückfallende Ärmel entblößte ihn bis zu den Schultern hinauf; sie zog Platow zu sich heran.
„Nun, kommen Sie?"
Platow klappte das Buch zu und setzte sich neben Wera. Es war schwül, ein Gewitter stand am Himmel. Wera aber, hüllte sich immer noch fröstelnd in ihren Mantel, als könne sie nicht warm werden. „Was ist Ihnen, Wera?"
„Mir ist so unheimlich zumute, Platow. Ich hatte mich ausgezogen und zu Bett gelegt; da war mir plötzlich, als ob hinter der Wand irgend jemand jämmerlich stöhne und weine. Aber es war niemand im Hause. Papa ist in der Fabrik... Da hat mich ein eiskalter Schrecken gepackt, ich hab mir die Decke über den Kopf gezogen und lag da, ohne zu atmen... Mir kam es vor, als müsste jeden Augenblick irgend etwas Furchtbares passieren, das mich vernichten würde. Ich habe es nicht länger ausgehalten und bin hierhergelaufen... Fühlen Sie nur, wie eiskalt meine Hände..."
Geschmeidig wie Schlangen krochen die Arme langsam aus dem Mantel, dann erschienen die nackten Schultern, der Hals — gleich musste der Mantel fallen und ihren lebensgierigen Körper ganz entblößen.
„Ich habe fast nichts an... ich hab' mir nicht die Zeit genommen... Mir ist immer noch ganz unsagbar unheimlich zumute. Sagen Sie irgend etwas Frohes, Vergnügtes, damit ich lache, damit mir wieder warm wird. Ich erfriere!"
Ein feiner, erregender Resedageruch ging von ihr aus. Ihre rosigen Nasenlöcher blähten sich auf wie die Nüstern eines gehetzten Pferdes. Die halbgeöffneten Lippen waren feucht und verlangend. Die Augen schillerten in grünlichem Glanz.
„Sen—ja . .
Durch Platows Körper lief ein Zittern. In heißen Wellen überfiel ihn eine Mattigkeit, die seine Bewegungen, seine Gedanken lähmte — er fühlte nur noch den Resedageruch und den Duft dieses zitternden Frauenkörpers. Er begriff — eine Sekunde noch, und er würde die Beherrschung verlieren, und dann würde alles versinken im Nebel einer dumpfen, dunklen Bewusstlosigkeit. Er riss sich mit Gewalt zusammen und rückte von dem Mädchen ab; der alte Diwan ließ ein durchdringendes Knarren hören.
„Ihre Nerven gehen mit Ihnen durch, Wera. Da helfen Baldriantropfen. Auch Brom, kalte Abreibungen, Gymnastik... " Platow ging im Zimmer auf und ab, er streifte die letzten Überreste dieses Zaubers, der seine Sinne gefangen nehmen wollte, von sich.
„Bin ich zur unrechten Zeit gekommen, Platow? Vielleicht erwarten Sie jemand anders? Ich kann gehen. Ich gehe zurück in mein einsames, verfluchtes Zimmer und werde weinen..." Ihre Stimme vibrierte und füllte sich mit Tränen. „Ich habe soviel in diesen Tagen durchgemacht. Alles Teure, alles Heilige, was ein Mensch nur besitzen kann, habe ich geopfert. Ich lebte in der Hoffnung, dass ich bei dem Genossen, bei dem Freund, für den ich Sie immer gehalten habe, Beistand finden würde. Aber Sie wenden sich von mir ab, Platow. Sagen Sie... Sage mir, Senja, hast du denn nicht einen Funken Liebe für mich bewahrt?"
Platow blickte sie mit einem langen, prüfenden Blick an. Auf dem Diwan saß jene Wera, die er hasste. Erregt und verängstigt warf sie ihre schlanken weißen Arme hoch; der Mantel fiel auseinander und weiße Spitzenbündel rieselten wie kalter Schaum über den Diwan.
Und dieses weiße Spitzengeriesel auf dem Diwan, auf diesem ärmlichen Lager des alten Kusmitsch, schien Platow nicht hierher zu gehören, es schien ihm eine Beleidigung.
„Platow! Sagen Sie aufrichtig: Ihnen gefällt... diese Olga... die Pylajewa?"
„Ja, sie gefällt mir! Sie ist ein lebhaftes, fröhliches und tüchtiges Mädchen. Ich kenne sie schon lange, ich kannte sie schon in den schrecklichen Jahren, als ich ein junger Bursche war und sie ein Kind — ich sehe immer noch ihr Kindergesicht vor mir, schmerzverzerrt und fassungslos über das furchtbare Ereignis. Ja, sie hat auch" — Platow hob das „auch" besonders hervor — „viel durchgemacht. Vielleicht mehr als andere. Aber sie hat sich ein starkes Gefühl für das Leben bewahrt. Sie strömt über vor heißer, brodelnder Tatkraft. Ja, das Leben hat sie gut erzogen!" Platow sprach ganz begeistert von Olga; als er sich umwandte, sah er in die Augen Weras, die ihn eiskalt anfunkelten.
„Was soll ich tun? Mich hat das Leben eben auf andere Weise erzogen. Meinen Vater haben sie, leider, nicht gehenkt..." Wera schüttelte sich und bedeckte die Augen mit der Hand. „Ich bin auf meinem eignen Wege zur Revolution gekommen. Warum soll ich nicht das Recht besitzen, ihre Freuden, ihr Pathos und Entzücken mit denen zu teilen, die sich dieses Recht durch ihre proletarische Herkunft erworben haben? Soll ich nie aus diesem verfluchten, geschlossenen Zauberkreis heraus können? Soll ich wirklich nicht das Recht besitzen, in Ihrem Zuge mitzufahren, Platow, den Sie Sozialismus nennen? Antworten Sie mir!" schrie sie heiser in ungeduldigem Drängen.
„Es ist etwas lächerlich, Wera, jetzt, nach über einem Jahrzehnt, über dieses Problem zu diskutieren. Es ist zu einfach. In unserem Zug sind viele freie Plätze, bitte sehr, steigen Sie ein! Es fahren Arbeiter, Bauern, Intellektuelle mit. Wir nehmen alle mit, die auf den toten Gleisen und in den Sackgassen der Geschichte verrostet sind. Sie können auch einsteigen, Wera, aber werfen Sie Ihr schweres Gepäck weg: Ihren Dünkel, das Gefasel von Selbstaufopferung, Individualismus, und auch all Ihr Handgepäck — die vielen Köfferchen und Körbchen, die mit den intellektuellen Tränen, mit Egoismus und all dem anderen Dreck angefüllt sind. Solch Gepäck brauchen wir nicht. Wir Arbeiter schleppen immer noch selbst allerhand überflüssigen Ballast mit herum... häufig besteigt ein Metallarbeiter noch mit einem Ferkel im Sack den Zug. Steigen Sie ein, bitte sehr! Aber kaufen Sie sich eine Fahrkarte für die Reise. Bezahlen Sie sie mit Ihrer Bereitschaft, zu kämpfen und nicht zu lamentieren. Und dann vergessen Sie nicht: Schlafwagenplätze gibt's in unserem Zug nicht. Alle Plätze sind hart. Bitte, steigen Sie ein! Aber denken Sie daran, Sie können aus ihrem verfluchten Zauberkreis nur dann herauskommen, wenn Sie ihn mit eigener Hand zerschlagen. Und jetzt antworten Sie mir: wenn Sie Ihre Forderungen an uns stellen — was haben Sie getan, um uns den Weg zu erleichtern? Wo ist Ihre Fahrkarte?"
Wera blickte ihn mit einem Lächeln an, das verschmitzt und ängstlich zugleich war:
„Genosse Schaffner, ich werde gleich nachsehen... Hier ist sie!" Mit heißer Hand streichelte sie seine Wange und lachte dabei leise. „Ohne diese Fahrkarte werden Sie ja doch nicht bis zum Kommunismus kommen, Genosse Schaffner."
„Scherz beiseite, Wera Pawlowna. Wo ist ihre Fahrkarte?" Wartend stand Platow vor ihr, und sein strenger, fordernder Ton machte ihr Lachen verstummen.
Da dachte Wera an den Brief, den sie aus Moskau mitgebracht hatte, an das Gespräch mit dem Vater, und sie verstand, dass ihr Zauberkreis noch nicht zerschlagen war. Sein eiserner Reifen hält die zerbröckelnden Teile der alten Welt immer noch zusammen, sie besteht immer noch nebenher, die alte Welt, sie tritt täglich mit ihr in Berührung, wenn der Vater kommt. Was muss sie also tun? Den Vater verraten? Jetzt gleich alles erzählen, was sie weiß? Genügt das Opfer, das sie gebracht hat, immer noch nicht? Muss sie wirklich auch noch eigenhändig den eigenen Vater erschießen? Ja, dann wird der Kreis zerschlagen sein...
„Ihre Fahrkarte!" fordert hartnäckig die trockene Stimme.
Verwirrt sprang Wera vom Diwan auf und wickelte sich in ihren Mantel. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Im nächsten Augenblick würde sie zu Füßen dieses grausamen Menschen hinsinken.
„Sie wollen als blinder Passagier mitfahren? Daraus wird nichts! Da lassen wir Sie auf der nächstbesten Station zurück und fahren ohne Sie weiter zum Ziel. Auf Wiedersehn, Wera."
Sie blieb an der Tür stehen und streifte Platow mit einem irren Blick. Ihr Mantel schlug langsam auseinander, wie eine Flügeltür. Der tiefe Ausschnitt ihres Hemdes ließ die nackte Brust sehen.
„Die Fahrkarte wirst du dir selbst holen, Platow!' Ihre Stimme riss in dem dunklen Vorzimmer ab wie eine zersprungene Saite.
Platow machte das Buch wieder auf, aber die Zeilen schwankten wie dunkle, stumme Pfade vor seinen Augen...
„Morgen ist der entscheidende Tag. Morgen wird die letzte Schlacht geliefert. Und siegen wird der, der an sich selbst glaubt. Den Glauben an mich selbst besitze ich, er hat mich sogar in diesen schweren Tagen nicht verlassen. Man muss die Waffe fest in der Hand halten. Diese Waffe besteht in der Unterstützung derer, die mir nahe stehen. Kusmitsch und Olga. Titytsch. Mochow.. Wartanjan... Wera? Wollen sehen. Die Armee aufstellen. Hinter Olga, Mochow, Titytsch stehen Hunderte, Tausende — steht die Klasse. Die Verbindung mit diesen Tausenden, das Eindringen in ihr ganzes Sein, das Anknüpfen an ihre unklaren, nicht gestalteten Gedanken, das ist eine neue Waffe. Die besitzt der Gegner nicht."
Platow trat in den Garten. Der starke Geruch reifer Äpfel umfing ihn. Im Schein des Mondes hingen die Bäume unnatürlich, wie Kulissen, und wie eine ebenso unnatürliche, auf dem Hintergrund des Himmels hingetuschte Kulisse erschien das bucklige Dach des kleinen Hauses der Pylajewa.
Er klopfte ans Fenster. Da erschien der Kopf der Pylaicha am Fenster, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ängstlich stand sie hinter dem Vorhang und flüsterte irgend etwas,
„Mach' auf, Großmutter. Ich bin es, Senja."
Vorsichtig öffnete die Alte das Fenster.
„Schläft Olga?"
„Sie ist den ganzen Tag herumgelaufen, immer läuft sie herum. Sie hat nichts gegessen, nur ein paar Äpfel geknabbert."
„Ist das Platow, Großmutter? Gleich... " Und Olga trat ans Fenster.
„Entschuldige, Olga, dass ich dich störe. Aber diese Tage sind so unruhig. Was macht der ,Chef'?"
„Sprich bloß leise, damit die Alte nichts hört..." flüsterte Olga so dicht an Platows Ohr, dass ihre Haare sein Gesicht kitzelten. „Der Doktor sagt, der Großvater muss sterben. Er hat zuviel Blut verloren. Er ist bis jetzt nicht mehr zum Bewusstsein gekommen, er phantasiert immer noch von dem Deutschen... Wie schwer, Senja!"
„Ja, wir haben es schwer, Olga." Die bebende Stimme Platows verriet seine Erregung. „Morgen auf der allgemeinen Belegschaftsversammlung müssen wir den Kampf aufnehmen. Du musst mir dabei helfen, Olga. Ich werde nicht in der Versammlung sein. Ich muss die Proben untersuchen, wie Kusmitsch gesagt hat. Das nimmt den ganzen Tag in Anspruch. Da musst du gegen Turtschaninow auftreten. Er wird über die Ermüdung des Materials sprechen und die Eisenbahnkatastrophe damit erklären. Und dagegen sollst du auftreten."
„Aber ich weiß ja gar nicht, was das für ein Ding ist... Ermüdung des Materials. Das ist ja was Gelehrtes..." murmelte Olga nachdenklich.
„Macht nichts, Olga. Lass dich dadurch nicht anfechten Titytsch, Mochow, Wartanjan werden dir beistehen. Schlag drauf los wie du nur kannst. Einen ganzen Sturm musst du entfesseln. Ich brauche dir weiter keine Anweisungen zu geben, wie du vorgehen sollst, du verstehst dich auf so etwas. Die Hauptsache ist, dass die ganze Versammlung gegen die Theorie Turtschaninows Stellung nimmt. Weißt du noch, wie ich damals auf der Ingenieurversammlung gesprochen habe? So in dieser Art musst du loslegen und punktum. Und jetzt geh' schlafen, Olga... " Er streckte ihr die Hand zum Fenster hinein, die die heißen Finger Olgas fest umklammerten.
Am Morgen wurde Platow mitgeteilt, dass auf Grund einer Verfügung des Direktors Kortschenko Kraiski wieder zum Leiter der Martinabteilung ernannt sei und er, Platow, vorübergehend als sein Stellvertreter in der Abteilung bleibe. Platow lachte kurz auf und ging ins Laboratorium. „Na, schön", dachte er, „wenn wir als Kommandeur nichts taugen, werden wir eben einfacher Soldat. So was sind wir gewöhnt."
Er musste durch die ganze Abteilung gehen. Rings die bekannten Gesichter der Arbeiter. Die Blicke, die ihm die Arbeiter nachwarfen, sprachen von Achtung für ihren Senja, der Leiter der Abteilung geworden war, und sie lächelten ihm freundlich zu. Aber die Blicke, dieses Lächeln lasteten schwer auf Platow: sie wissen ja noch nicht, dass er den Posten verloren hat, wegen schlechter Leistungen der Abteilung. Mit gesenktem Blick ging er durch die Halle, seine Hände bedeckten sich vor Erregung mit kaltem Schweiß. Er versuchte sich zu beruhigen, sich zu beherrschen, und war bemüht, dem Gesicht den gewöhnlichen schlichten Ausdruck zu geben und die lächelnden Blicke zu erwidern; aber er fühlte, wie die Gesichtsmuskeln hölzern wurden und sich dem Willen nicht mehr unterordneten. Und das Bewusstsein, dass sein Lächeln dumm und unnatürlich war, machte ihn nur noch verlegener. Die Gleichgültigkeit, mit der er die Mitteilung, dass er nicht mehr Abteilungsleiter war, entgegengenommen hatte, war nur eine scheinbare gewesen: erst jetzt machte sich die tiefe Bitterkeit bemerkbar, die sein Herz erfüllte. Natürlich konnte man auch als stellvertretender Leiter arbeiten. Er würde auch einfache Formerarbeit verrichten, falls es nötig wäre... Aber die Hunderte von Augen, die ihn jetzt alle anlächelten, die würden ihn doch morgen ganz anders betrachten, für die würde sich der Ingenieur Platow nun wieder in den Formerjungen Senja verwandeln, der versucht hatte, in die Höhe zu fliegen und dabei abgestürzt war. Man würde ihn im stillen verspotten und bemitleiden. Nein — nur kein Mitleid; das ist beleidigend, ist wie Almosen, das zu den Füßen des Bettlers hinfällt.
Titytsch sah, wie Platow, ohne ihn zu grüßen, an ihm vorbeiging und zur Tür hinaus lief. Das Gesicht Platows glühte wie eine beim Trocknen verbrannte Form, es war von roten Flecken bedeckt, sogar von weitem sah man, dass es ganz heiß war. Titytsch schaute ihm nach und schüttelte bekümmert den Kopf.
Im Laboratorium war es sauber, still und behaglich, wie stets. Ostrowski war nicht da. Wera ordnete die Gussproben und raschelte mit den Aufstellungen.
„Aha, der Schaffner ist gekommen", lachte sie müde. „Wollen Sie die Fahrkarte holen?"
Platow wies mit einer Handbewegung auf das Laboratorium.
„Sagen Sie bitte, Wera, Sie arbeiten ja schon lange hier, wer liefert hier die Gussproben für das Laboratorium?"
„Borezki. Eben hat er wieder eine Partie hergeschickt. Da liegen sie."
„Sagen Sie, Wera, geschieht die Untersuchung richtig, den Vorschriften gemäß?" Platow nahm dabei einen Probestab und betrachtete ihn. Auf der Probe war deutlich die Zahl 2220 eingeprägt.
„Selbstverständlich. Die Proben gehen durch sämtliche Versuchsapparate. Die Resultate eines jeden einzelnen Gusses werden in die Bücher eingetragen."
„Und Pawel Jakowlewitsch überwacht die Lieferung der Proben ins Laboratorium sorgfältig?" Mit heißen, von der Schlaflosigkeit entzündeten Augen sah Platow aufmerksam in Weras Gesicht, auf ihre zuckenden Lippen.
„Weshalb interessieren Sie sich so sehr dafür?" fragte Wera verwundert und etwas verwirrt. „Ich kontrolliere die Arbeit meines Vaters nicht."
Sobald Platow das Gespräch auf ihren Vater lenkte, fühlte Wera wie gestern ein Zittern, dass durch den ganzen Körper lief. Der Vater. Der Brief. Der verfluchte Zauberkreis... Nein — sie wird die verhängnisvolle Grenze nicht überschreiten. Doch um den Kreis zu zerschlagen, fehlt ihr die Kraft. Und wozu soll sie sich auch zu diesem blutigen Opfer entschließen, wenn dieser Mensch da ihre Gefühle absolut nicht bemerken will? Wenn er mit solcher Begeisterung von einer anderen spricht, so wie gestern?
„Es geht mich nichts an, wie... mein Vater... arbeitet..." brachte sie mühsam aus ihrer trockenen Kehle hervor.
Wie scharfe Pfeile durchdrangen sie diese harten Augen. Sie zitterte und erblasste.
„Es geht Sie also nichts an? Nun gut. Auf Wiedersehn!" Platow wandte sich nach der Tür.
Wera tat einen Schritt vorwärts, als wollte sie ihm nachlaufen. Ihr war, als müsste sie rufen: „Warte! Ich weiß alles. Ich werde dir alles erzählen." Aber ihre Lippen gehorchten ihr nicht, und händeringend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. Die Stahlproben fielen auf den Steinfußboden und klirrten dabei wie abgetaute Eiszapfen, wenn sie im Frühling sich von den Dächern lösen.
Wie ein Jäger, der dem Wild auf der Fährte, betrat Platow vorsichtig die Schmiede. Das Donnern und Krachen der Dampfhämmer und Pressen, die Rufe der Arbeiter, das Zischen der Ölbrenner betäubten ihn. Langsam, als ob er über etwas nachdächte, hob und senkte sich der gigantische Kolben der hydraulischen Presse. Die Luft zitterte von der Gluthitze der Wärmöfen.
„Achtung!"
Ein schwerer Stahlblock, der bis auf 1100 Grad erhitzt war, schwebte langsam durch die Abteilung und übergoss alles in seiner Nähe mit glühendem rotem Schein, der die Augen blendete, er hing an den schwarzen Ketten des elektrischen Krans wie eine glutrote Julisonne. Um die Luppe herum sprangen Männer mit nacktem Oberkörper. Das Gesicht mit den Händen schützend, leiteten sie die feurige Masse nach dem Dampfhammer hin — sie trieften von Schweiß, und ihre Körper glänzten wie rotes, funkelndes Kupfer.
Der Fünfzehntonnenhammer wartete mit hoch erhobener schwarzer Tatze — kaum senkte sich der feurige Klumpen auf den Amboss, da ließ er seine schwere Tatze fallen, der Feuerklumpen ächzte, in tausend winzige Sterne zerschmettert, und sein abgeschlagnes Haupt rollte zur Erde, der dicke Rumpf aber hüllte sich in ein zartrosa Hemd und stand senkrecht auf. Die schwere Tatze, die sich abwechselnd hob und wieder auf ihn niedersauste, begann ihn abzuplatten und ihm die Form eines Fasses zu verleihen. Halbnackte, schweißtriefende Menschen liefen herzu, kehrten das Fass schnell um, und vor den Augen Platows dehnte es sich unter den Hammerschlägen immer mehr in die Länge und wurde zum Rohmaterial für die Herstellung der Lokomotivachse.
Mächtig und ununterbrochen sauste der Hammer auf das Metallstück nieder, das er in eine Lokomotivachse verwandelte. Von den dröhnenden Hammerschlägen schwankte der Boden unter Platows Füßen, es sah aus, als ob die schweren Körper der schon erkalteten Achsen auf der schwankenden Erde einen wilden Tanz aufführten. Die Achse war geschmiedet. Mit Zinnober übergossen liegt sie nun auf dem dunklen Haufen der schon erkalteten Achsen; nach und nach nimmt ihr Körper eine dunkle, kirschrote Farbe an, er wird kalt und immer dunkler und bedeckt sich mit einem bläulichen Schimmer.
Platow befühlte die warmen Körper der Achsen und schien hartnäckig irgend etwas zu suchen. Ruß und Schweiß hatten seinem Netzhemd ein schokoladenfarbiges Aussehen gegeben. Sein Gesicht war von zahlreichen schwarzen Flecken bedeckt, die von den schmutzigen Fingern herrührten, mit denen er den Stahl angefasst hatte. Seine Augen suchten die schwarzen Metallhaufen ab, als wollten sie bis in ihr Inneres eindringen.
Und plötzlich funkelten sie befriedigt auf... Platow verglich noch einmal die Nummer der Probe. Richtig — es war Nr. 2220.
Hier liegt die mit einem bläulichen Schein überzogene, roh geschmiedete Achse, die die gleiche Nummer trägt. Ihr eines Ende ist angehauen, als bilde es den Kopf dieses stählernen Schmiedestücks. Und der Körper, der Kopf, die Probe — alle tragen sie die Nummer 2220.
Platow trägt eilig ein kleines, dunkles Stück Stahl in die Dreherei, wo ihm Mochow einen Probestab mit zwei Köpfen daraus dreht, der an eine Hantel erinnert. Den Stab fest an sich gepresst, geht Platow ins Festigkeitslaboratorium.
Im Laboratorium ist alles so still und sauber wie in einer Studierstube. Schweigend, nickelglänzend stehen die Versuchsapparate da. Ostrowski raschelt mit den Seiten eines Buchs, in dessen verschiedenen Spalten er Zahlen einträgt. Wera arbeitet, ohne den Blick zu heben, an den Proben.
„Was führt Sie zu uns, Genosse Platow?"
Ostrowski lächelt ihn höflich an, die Goldplomben in seinem Munde funkeln. Und mit den Stahlproben in seiner Hand klirrend, lächelt Platow wieder zurück.
„Ich möchte hier bei Ihnen Gussproben untersuchen, die ich nach einer von mir erfundenen Methode hergestellt habe. Mir scheint, ich besitze das Geheimnis der Herstellung des festesten Stahls der Welt."
„Was sagen Sie da, Genosse Platow, tatsächlich?" lachte Ostrowski ungläubig. „Sie wollen wohl Ihren Namen berühmt machen? Gratuliere, gratuliere! Offen gestanden, ich habe nicht gedacht, dass Sie sich mit irgendwelchen wissenschaftlichen Untersuchungen befassen... Sie kommen doch gerade von der Hochschule..."
„O doch, Genosse Ostrowski, ich befasse mich gerade mit solchen Untersuchungen, und ich bin überzeugt davon, dass mein Stahl in bezug auf Qualität der allerbeste sein wird... Ich werde ihn ,Sieg Nr. 2' nennen."
„Also bitte, Genosse Platow. Ich stehe Ihnen zu Diensten. In unserer Zeit gibt's ja doch so viel Wunderbares, dass ich schon längst aufgehört habe, mich zu wundern... Eine ganz überraschende Epoche!"
Er trat an die Zerreißmaschine heran, spannte den Probestab ein und schaltete den Motor ein. Eine schwere Last senkte sich nach unten, und der Zeiger hob sich...
Der Motor surrte. Das Surren wurde immer lauter und erfüllte das ganze Laboratorium.
Der Stahl, den die Maschine auseinanderzog, wurde dünner und dünner und brach schließlich mit Donnergepolter auseinander. Wera fuhr nervös zusammen und verbarg ihr Gesicht hinter einem großen Buch.
Platow und Ostrowski stießen mit den Köpfen zusammen, so eilig beugten sie sich über den Apparat, um das Resultat der Untersuchung zu sehen.
„Na — ich beneide Sie nicht, Genosse Platow!" rief Ostrowski heiter aus. und hielt Platow das Bruchstück hin. „Ein ganz skandalöses Resultat. Sagen Sie mal... Erstens ist er nahe beim Kopf, anstatt in der Mitte gebrochen. Zweitens, sehen Sie hier — die Blasen im Innern... Und endlich — schon das Gefüge des Materials zeigt dem bloßen Auge, dass es fehlerhaft ist."
Ungeduldig riss ihm Platow das Stahlstück aus der Hand; Ostrowski hatte recht.
„Wir wollen es noch einmal einlegen."
„Bitte sehr, Genosse Platow."
Das Resultat war dasselbe. Ostrowski grinste vergnügt und ließ seine goldenen Zähne funkeln.
„Ein Skandal, Genosse Platow! Der Stahl taugt aber auch gar nichts!"
„Ein Skandal ist es wirklich, Genosse Ostrowski, ein ganz unerhörter Skandal! Der Stahl taugt tatsächlich gar nichts..." Dabei klang die Stimme Platows keineswegs enttäuscht, sondern im Gegenteil fest und sicher. Ostrowski aber, der das russbeschmierte Gesicht Platows vor sich sah, konnte nicht länger an sich halten und lachte laut los.
„Es lohnte wirklich nicht die Mühe, die Sie darauf verwendet haben, Genosse Platow, um diesen Guss zu erfinden. Hi—hi— hi... Das ist ganz gewöhnlicher Stahl, der nicht mal gar wurde, und ein ,Sieg'... hi—hi—hi—hiii. . ,"
Auch die vollen Lippen Platows verzogen sich zu einem Lächeln, dann öffneten sie sich weit, und er brach in lautes Gelächter aus.
„Si—i—ieg! Ha—ha—haa... In der Tat, und ich dachte, die ganze Welt in Staunen zu versetzen. Ha—ha—ha—a... " So standen sie sich beide gegenüber und lachten dröhnend, so dass das Laboratorium widerhallte. Wera blickte sie mit starren Augen an: sie fühlte, dass sich in diesem unnatürlichen Gelächter etwas Furchtbares verbarg.
Ernst und in sich gekehrt verließ Platow das Laboratorium. Es war kein Zweifel mehr — der alte Kusmitsch hatte sein Leben nicht umsonst geopfert.
„Ach, Großvater! Wirst du wirklich noch einmal deine Augen öffnen, um zu sehen, wie sich dein Senja freut?" Seine Freude überstieg alle Grenzen. Er lachte, pfiff ein vergnügtes Lied vor sich hin und klimperte fröhlich mit den Metallstücken in seiner Tasche.
„Ja, ja, sehr geehrter Herr Ingenieur Ostrowski. Der rote Spezialist Platow beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen und wird sie auch zu Ende führen... Mein ,Sieg' wird siegen!"
Dabei fiel ihm die wachsam vorgeneigte Gestalt Nossows ein, den er vor ein paar Tagen beobachtet hatte.
Nun hieß es handeln.
Mit den Stahlstücken in der Tasche klimpernd, riss Platow die Tür des Abteilungskontors auf: „Guten Tag, Ingenieur Kraiski!"
Nachdem Nossow die ganze Wut, den ganzen Hass gegen sich selbst an dem Grammophon ausgelassen hatte, fühlte er sich erleichtert: er wurde ruhiger bei dem Gedanken, dass er endlich die Kraft gefunden hatte, sich dem verfluchten „Zauberstab" zu widersetzen.
Lange betrachtete Nossow die ihn umgebenden Sachen. Sie befanden sich an Ort und Stelle, waren solide und schweigsam. Der eichene Spiegelschrank spiegelte diese stabile Welt wider. Alles war gut und gediegen, wie die starken Wände des neuen Hauses.
Musste er das wirklich alles vernichten, wie das Grammophon? Nossow fühlte, wie sich seine Gedanken von neuem verwirrten. Er besaß nicht die Kraft, sich diese Frage zu beantworten, und suchte nach einer Rechtfertigung für seine Handlungen, aber diese Rechtfertigung war falsch, so falsch wie der Stempel, den er in seiner Tasche trug.
Ja — er hatte die Fabrik betrogen, hatte die Arbeiter betrogen, hatte das ganze Land und diesen blauäugigen Ausländer betrogen. Rundum nichts als Betrug: die Kommoden, die Vorhänge — alles Betrug. Und der Spiegelschrank vervielfältigte diesen Betrug, spiegelte die satte Zufriedenheit aller dieser Dinge.
Er ging hinaus in den Garten. Die Apfelbäume neigten ihre schlanken Zweige, die voll von reifenden Äpfeln waren, über seinem Kopfe. Es roch nach Pfefferminzkraut, Dill und nach irgend etwas anderem, und dieser Geruch erinnerte an das Dorf und an weite Roggenfelder.
Diese Erinnerung an seine Kindheit führte seine Gedanken auf folgenschwere, furchtbare Ereignisse, die ihn zu zermalmen drohten.
Vor fünf Tagen war es geschehen. Nossow hatte Grischa geschlagen. Grischa hatte nicht wie sonst geweint, sondern hatte sich mit geballten Fäusten dem Vater genähert. Es lag etwas Tierisches, Furchtbares in seinen Bewegungen, Nossow wich zurück. Mit funkelnden Augen und hassverzerrtem Gesicht hatte sich Grischa dann ruhig abgewandt und war hinausgegangen.
Am Abend merkte Nossow, dass fünfundzwanzig Rubel aus dem Schrank fehlten. Das Schloss war erbrochen. Grischa kam zur Nacht nicht nach Hause. Am nächsten und am dritten Tage auch nicht. Die Mutter weinte. Die Kinder schlichen lautlos umher. Irgend jemand hatte erzählt, dass man Grischa auf dem Markt in Gesellschaft verwahrloster Burschen gesehen habe, und dass er gesagt habe, er würde nun wegfahren, ans Meer, in ein warmes Land, wo Apfelsinen wachsen, wo man im heißen Meeressand liegen könne und wo es niemandem einfallen würde, ihn wegen eines unabsichtlich zerschnittenen Tischtuchs zu prügeln.
„Du siehst ja so schlecht aus? Bist du krank? Sorgst dich wohl um deinen Jungen? Sag schon die Wahrheit — er ist weggelaufen", sagte der Nachbar durch den Staketzaun hindurch zu Nossow.
Nossow fuhr sich erschrocken mit der Hand ins Gesicht, als könne er das Spinngewebe fortwischen, aber das Spinngewebe überspann sein Gesicht noch enger, der Nebel vor den Augen wurde dichter, und Nossow verließ schnell den Garten.
Er dachte daran, dass er schon seit zwei Tagen nicht zur Arbeit ging, stellte sich vor, wie sie sich in der Fabrik ohne ihn behelfen mussten und freute sich im Innern darüber. Ohne ihn konnte die „Arbeit" bei Kraiski nicht glatt gehen. Dieser Gedanke verlieh ihm Kraft, und er ging schnell in die Fabrik.
Je mehr er sich den Fabrikgebäuden näherte, um so lauter wurden die wohlbekannten Geräusche, um so mehr beschleunigte Nossow seine Schritte. Er steckte die Hand in die Tasche und fühlte boshafte Schadenfreude bei der Berührung mit dem kühlen Metall des Stempels.
In diesem kleinen Metallstab mit dem Hammer und der Sichel wohnten zwei Kräfte. Die eine Kraft hatte über Nossow geherrscht und hatte ihm sein Leben aufgebaut, das sich aus lauter Betrug zusammensetzte, und es harte ihm den Sohn genommen. Die andere Kraft, die noch in diesem Metallstück wohnt, die ist jetzt in seiner Hand. Die beherrscht er jetzt selbst und kann mit ihr machen, was er will.
Er ging in die Martinabteilung.
Schwarz und verrußt hockte Titytsch auf der Erde und hantierte mit der funkelnden Lanzette. Und Hunderte von anderen, ebenso von Ruß und Erde geschwärzten Menschen formten den Sand, stampften ihn, und die formlose Masse nahm unter den fleißigen, geschickten Menschenhänden bestimmte Umrisse an. Zufrieden neigte sich Titytsch nun über die fertige Form, aus seinem Gesicht strahlte inniger Stolz, uneigennützige Freude über das Werk seiner Hände, und Nossow sah, wie diese alten, mit Formersand imprägnierten Hände von freudiger Erregung zitterten.
Nossow fühlte eine plötzliche Lebensgier in sich, die seinen siechen Körper heiß durchdrang, er sprang über den Haufen von Gussstücken und verschwand in dem rauchigen Dunst der
Werkstatt.
Beim schnellen Lauf stolperte er über ein spitzes Gussstück und fiel hin. Staubwolken flogen auf, und ein furchtbarer Hustenanfall würgte ihn.
Im Kontor traf er Kraiski und Antonytsch. Sie standen beide um Fenster. Antonytsch flüsterte irgend etwas, dicht an Kraiskis
Ohr geneigt.
„A—ha... Nossow! Wo hast du dich denn herumgetrieben? Hast gesoffen ? Drei Tage bummelst du schon! Weiß der Teufel, was das heißen soll!"
Nervös schlug Kraiski mit der Faust auf dem Tisch.
„Ich bitte mir zum letzten Mal aus, dass das unterbleibt.
Schließlich könntest du wenigstens Antonytsch den Stempel geben, die ganze Arbeit steht ja doch still. Alles ist überschwemmt von lauter Ausschuß, und du treibst dich herum! Dass mir das nicht mehr vorkommt!'.'
Aber Nossow stand sonderbar froh und heiter vor ihnen. Die roten Flecken auf seinen Wangen wurden immer größer, aus den Augen blitzen Stolz und Übermut, die eingefallene Brust hob und senkte sich krampfhaft.
„Das letzte Mal, Wladimir Pawlowitsch. Sehr richtig! Ich werde keinen Ausschuß mehr abstempeln."
„Was wirst du nicht mehr? Was soll das heißen? Oder vielleicht bist du schon zu reich geworden? Das satte Leben ist dir wohl über, was?! Ha—ha—ha!"
Und plötzlich stand Nossow kerzengerade vor ihnen. Ich hab's satt! Ihr habt mich satt gemacht! Genug! Ich bin schon zu reich! Zum Henker mit euch!"
Kraiski sprang auf ihn zu, packte ihn bei den Händen und zischte :
„Scht! Was brüllst du hier? Bist du betrunken? Mach, dass du hinauskommst und schlaf dich aus... Was quatschst du hier! Überleg dir gefälligst, was du sagst! Still, um Gottes willen!"
Nossow riss sich los, sprang einen Schritt zurück und schrie weiter:
„A—ha! Ihr habt's wohl mit der Angst gekriegt? Jetzt bin ich an der Reihe, ich habe die Macht in Händen! Hier ist sie!" In seiner hocherhobenen Hand blitzte der Stempel. Mit heiserem Flüstern warf sich Kraiski auf ihn.
„Gib den Stempel her, Nossow! Gib her! Antonytsch! Er ist verrückt geworden. Nehmen Sie ihm doch den Stempel weg! Gib her, Nossow!"
Antonytsch ergriff Nossow bei den Händen und versuchte, ihm den Stempel zu entreißen; in diesem Augenblick erschien Platow auf der Schwelle.
„Guten Tag, Ingenieur Kraiski!"
Erstaunt blieb er stehen, als er die erhitzten, aufgeregten Gesichter der Anwesenden sah.
„Was ist passiert? Worum handelt es sich?"
Kraiski ließ sich ermattet auf einen Stuhl fallen.
„Wieder ein Überfall auf mich... Er ist betrunken... Ist hier eingedrungen ... Bedroht mich... " Und plötzlich schrie er mit heller, durchdringender Stimme: „Führen Sie ihn hinaus, Antonytsch! Führen Sie ihn doch hinaus! Er ist verrückt geworden!"
Mit grünlichem, fahlem Gesicht und zitternden Knien lehnte Nossow an der Tür.
„Genosse Platow... "
Platow hörte eine leise, bittende Stimme. Man wusste nicht, hatte das Nossow gesprochen — seine Lippen, von einem Krampf verzerrt, hatten sich kaum bewegt — oder kamen diese Worte leise säuselnd von der Birke her, die ihre schlanken, neugierigen Zweige zum Fenster hereinstreckte...
„Genosse Platow... Nehmen Sie den falschen Stempel... Ich will nicht länger... ein Elender sein... Ich will nicht mehr... "
„Das hättest du früher tun müssen, Nossow... Von den falschen Stempeln weiß ich schon", antwortete Platow und beobachtete dabei aufmerksam Kraiski, der mit bleichen, blutleeren Lippen dastand und auf dem Schnurrbart herumbiss; er starrte dabei Platow stumpfsinnig an.
Als Nossow begriffen hatte, dass er zu spät gekommen war, brach er in winselndes Heulen aus, das von einem langen, würgenden Hustenanfall unterbrochen wurde. Ein dunkler Blutstrom quoll aus der Kehle, rann aus dem Munde und zog sich über das weiße Hemd wie eine rote Schlangenlinie.
5
Der hohe, düstere, im Zwielicht liegende Saal des früheren Gymnasiums, das in einen Fabrikklub umgewandelt worden war, füllte sich schnell mit Arbeitern. Die unteren Bänke, die alle besonders liebten, waren schon besetzt, und schimpfend, niemand wusste auf wen, stieg Mochow zur Galerie hinauf.
Von dieser Galerie aus, die in dickbäuchigen Balkons in den Saal hineinhing, schaute Mochow nun hinunter. Unruhig rückte er auf seinem Platz hin und her.
Alle die kahlen oder behaarten, grauen, pechschwarzen, aschblonden oder mit Haaren von überhaupt unbestimmter Farbe bedeckten Köpfe der Männer und die mit roten Kopftüchern umwundenen Köpfe der Frauen da unten wuchsen ohne Hals, direkt aus den breiten Schultern hervor, und daher sahen alle diese Menschen ganz platt gedrückt aus. Im Saal unten war es entgegen allen sonstigen Gewohnheiten ganz still; nur ein leises Murmeln durchlief ihn, manchmal verstummte es ganz, um dann wieder zu erwachen und in leise raunenden Wellen über die Köpfe hinzuziehen.
Die Menschen betraten den Saal, schauten sich vorsichtig um und drängten sich dann langsam nach vorn. Dort stand auf der Bühne ein kleiner, mit rotem Stoff bedeckter Tisch. Auf dem Tisch lag irgend etwas Dunkles, das einer alten Kanone mit kurzem, stumpfem Rohr ähnelte. Die neu Hinzukommenden gingen mit lang gestreckten Hälsen um den Tisch herum, besichtigten und betasteten das Ding, das einer Kanone ähnelte, schüttelten den Kopf und traten leise vom Tisch zurück — es war, als ob da ein Sarg stände, und Mochow bemerkte, dass auf dem ganzen Saal eine schwere Stimmung lastete wie in einem Sterbehaus.
„Was befühlen die da unten?' fragte Mochow den neben ihm Sitzenden.
„Die Triebachse, die das Eisenbahnunglück verschuldet hat."
„Ach — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen... Ich konnt's von hier oben aus gar nicht erkennen. Also das ist die Achse?"
Und obgleich Mochow die Achse am Ort der Katastrophe gesehen und betastet hatte, so riss er jetzt doch erregt die Augen weit auf in dem Bestreben, die Achse da unten genau zu sehen. Von dem schwarzen Bruchstück ging eine Unruhe aus, die auf den Wellen des heißen menschlichen Atems und des unterdrückten, aufgeregten Flüsterns zu Mochow hinaufstieg. Nervös beugte er sich jeden Augenblick über die Brüstung, suchte mit seinen unruhig flackernden Augen den ganzen Saal nach irgend jemand ab — bis er dann endlich erleichtert aufseufzte: Olga hatte ihm von unten her mit der Hand lächelnd zugewinkt.
Beruhigt richtete Mochow seine Blicke auf den Vorhang. Darauf war ein Schloss mit einer prächtigen Aussicht auf das Meer abgebildet: Marmorsäulen erhoben sich, eine blumengeschmückte Treppe führte in zahlreichen Stufen direkt zu dem azurblauen Meer hinab, auf dem sich ein Segelboot schaukelte. Mochow hatte sich vorgestellt, dass es unter dem Sozialismus so sein würde, so schön und feierlich. Aber eins kam ihm komisch vor: warum waren denn da auf dem Vorhang keine Fabrikschornsteine? Das Unverständliche dieses Bildes machte ihn ganz nervös, er wollte sich schon abwenden, als plötzlich die Marmorsäulen langsam hochflogen; das Segelboot hing irgendwo an der Decke, und an Stelle der bunten Blumen schaute das blasse, wohlbekannte Gesicht des Raikomsekretärs von der Bühne.
Das Raunen im Saal verstummte sofort.
Wartanjan trat an den Rand der Bühne.
„Genossen! Heute müssen wir, von unserem ganzen proletarischen Verantwortungsgefühl geleitet, die Frage beantworten: aus welchem Grunde ist das Unglück mit dem Zuge passiert, den unsere Lokomotive führte? Das Land hat einen Riesenverlust erlitten. Menschen wurden getötet. Genosse Platow hat sehr richtig gesagt: er hat dort riesigen Schaden, Blut und Schande gesehen! Das Blut, das dort geflossen ist, können wir nicht wieder zum Leben erwecken. Die Verluste muss der Staat aus seiner Tasche decken. Und die Schande? Die liegt wie eine schwere Last auf unserer Fabrik, auf einem jeden von uns, die wir hier versammelt sind."
Im Saale herrschte drückende Stille. Die Hände, Köpfe, Schultern, Kopftücher — alles war erstarrt. Der Nachbar Mochows atmete schwer, und Mochow stieß einen lauten Seufzer aus.
„Vergesst nicht, Genossen, dass dies nicht der erste Fall ist. Ihr alle habt den Brief der Arbeiter des Kursker Depots über unsere Lokomotiven gelesen und auf euren Abteilungsversammlungen erörtert. Erinnert euch daran, dass sich in der letzten Zeit in unserer Fabrik allerhand unangenehme Ereignisse abgespielt haben: zwei Überfalle auf Ingenieure, die riesige Zunahme des Ausschusses in der Martinabteilung, der Hungerstreik des Drehers aus der Räderdreherei, der sonderbare Fall mit dem alten Kusmitsch in der Werkstatt der Martinabteilung. Alles das sind Beweise dafür, dass bei uns etwas nicht in Ordnung ist. Was ist los? Und weiter: wir müssen um unsere Fabrik kämpfen. Moskau, und das heißt das ganze Land, will uns den Bau der neuen Fabrik nicht anvertrauen. Es besteht ernster Grund zu der Annahme, dass man uns den Bau der neuen Fabrik nicht gestatten wird, weil wir das Vertrauen, das das Land in uns gesetzt hat, nicht gerechtfertigt haben.
Genossen! Das Land, die Partei, die gesamte Arbeiterklasse erwarten von uns eine Antwort, erwarten von uns, dass wir alle Missstände bei uns beseitigen. Auch die ausländischen Kommunisten, die ausländischen Proletarier, die unsere Fabrik besucht haben, erwarten eine Antwort von uns... Und wir müssen eine offene und ehrliche Antwort geben! Das Wort hat der Ingenieur Turtschaninow."
Benjamin Pawlowitsch kam von der Seite her, aus den zerschlissenen Kulissen heraus und hielt im Gehen seinen Kneifer mit zwei Fingern fest.
„Ich werde mich kurz fassen, Genossen. Für uns Ingenieure und Spezialisten, die wir mit den Gesetzen der Technik, mit den Gesetzen der Struktur des Metalls und mit den verschiedenen Anomalien des Metalls, mit den Ursachen der verschiedenen Arten seiner Deformierung vertraut sind, liegt die Sache klar auf der Hand. Wir haben im vorliegenden Fall die selten so typisch ausgeprägte Tatsache der so genannten Materialermüdung. Von Materialermüdung sprechen wir bei einem Bruch von Material, das äußerlich völlig gesund ist, einen Bruch, der unter der Einwirkung periodischer, sich innerhalb bestimmter Grenzen ununterbrochen wiederholender Deformierungen zustande kommt, die die Folge sind von Wechselspannungen. Es geht eine Strukturveränderung des Metalls vor sich infolge der Konzentration von Spannungen, und dann kommt es unerwartet, katastrophal, zu einem Bruch... So eben bestimmten die deutschen Gelehrten, zum Beispiel Hort, Föppl, Mailänder, Lehr und andere die Erscheinungen der Materialermüdung... "
„Geht's nicht etwas einfacher?" rief eine unzufriedene Stimme von der Galerie, und diese Stimme wirkte wie ein Schlüssel, der die Stille aufschloss: die Menschen im Saal begannen zu lärmen — zu sprechen, sich zu räuspern, mit den Stühlen zu scharren.
„Nichts kann man verstehen!" „Lauter ausländisches Zeug!"
„Man kriegt ordentlich Kopfschmerzen von all den Deformierungen", klang eine helle Mädchenstimme.
„Du hast die Materialermüdung im Kopf — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!" „Ruhe! Lasst ihn aussprechen."
Wartanjan bat Turtschaninow, sich einfacher auszudrücken. Benjamin Pawlowitsch setzte seinen Kneifer auf, nahm ihn wieder ab, putzte die Gläser mit den Taschentuch, setzte ihn wieder auf und wartete geduldig lächelnd.
„Ich werde jetzt ganz einfach sprechen, Genossen, in Beispielen. Also sagen wir einmal, wenn man einen kleinen Kinderhammer, ein Spielzeug nimmt, und damit ununterbrochen, einige Stunden lang ganz leicht auf irgendeinen stählernen Maschinenteil klopft, so wird dieser unbedingt brechen. Was kann man schon mit einem kleinen Kinderhammer machen, denkt man. Höchstens eine Fliege totschlagen. Aber nein. In Wirklichkeit erzielt man damit in einem riesigen, durchaus gesunden Gussstück einen Riss."
„Donnerwetter! Das ist aber gut!" ließ sich eine zufriedene Tenorstimme vernehmen, und sofort wurde der Saal wieder laut: man hörte Lachen, Witze, die Spannung, die auf allen gelastet hatte, war gelöst.
„Oder ein anderes Beispiel: in der Staatsduma brach einmal, ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr das war, die Decke ein. Die Aufregung war natürlich groß, es wurde eine Untersuchung vorgenommen, und so weiter, und so weiter, obgleich Menschenopfer nicht zu beklagen waren, denn die Geschichte war in der Nacht passiert, als der Saal leer war. Aber alles war gut und fest gebaut, nicht die geringsten Fehler konnten festgestellt werden. Was war denn nun aber die Ursache?" Der Saal riss seinen tausendschlündigen Rachen auf. „Die Sache war die..." Benjamin Pawlowitsch zögerte absichtlich, er genoss den Anblick dieser gespannten Gesichter, die er sich machtvoll unterordnete — „die Sache war die, dass nachts der Motor der Heizungsanlage arbeitete, der viele Jahre hindurch das Gebäude rhythmisch erschüttert hatte. Die Folge davon war der Einsturz."
Der Saal brach in laute Verwunderungsrufe aus, vom Hauch der tausendköpfigen Menge bewegten sich die roten Stoffstreifen mit den Losungen an den Wänden, und das Segelboot, das über der Bühne an der Decke schwebte, schwankte hin und her wie auf wirklichen Wellen. Aber Benjamin Pawlowitsch ließ den Menschen keine Zeit, zur Besinnung zu kommen, er erzählte rasch noch den Fall mit der Newabrücke in Petersburg, schimpfte den zaristischen General einen Idioten, und der Saal lachte lange über die Dummheit dieses Generals, der nichts von Technik verstand. Mochow saß mit gerunzelter Stirn da, ächzte, nahm einen Anlauf, um irgend etwas in den Saal hineinzuschreien, schwieg dann aber und presste die Lippen fest zusammen. Olga lachte mit den anderen. Titytsch, der neben ihr saß, zauste an seinem Bart und schwitzte. Wartanjan betrachtete die Gesichter der Arbeiter und dachte angestrengt nach. Er war nicht zufrieden, denn aus der ernsten Versammlung, die hier stattfinden sollte, war etwas wie eine Zirkusbelustigung geworden — die Stimmung im Saal wurde immer vergnügter und wohlwollender. Wartanjan fühlte, dass er seine ernste Einleitungsrede umsonst gehalten hatte, sie war längst vergessen. Die Symphatien waren deutlich auf seiten Turtschaninows. Das war gut und wieder schlecht. An den Gesichtern der Arbeiter konnte man erkennen, dass sie geneigt waren anzunehmen, dass es sich bei der Eisenbahnkatastrophe um einen unglücklichen Zufall handelte, dass die Fabrik nicht die Schuld daran trage. Das war gut — aber es blieb so auch die ganze Summe der Fragen unbeantwortet, die Wartanjan aufgeworfen hatte, und das war schlecht. Was sollte man da wählen?
Wartanjan betrachtete aufmerksam die Masse da unten mit ihren vielen Gesichtern, suchte eifrig in ihnen nach irgendeinem Anhalt und konnte keinen finden.
„Vielleicht noch ein Beispiel... oder ist Ihnen schon alles klar genug?" Liebenswürdig neigte sich Benjamin Pawlowitsch von der Bühne in den Saal hinunter.
„Weiter! Weiter!"
„Auf den ersten Blick wird Ihnen das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wunderbar und geheimnisvoll, unnatürlich, ja unglaubhaft erscheinen. Aber wir Männer der Wissenschaft glauben nicht an den lieben Gott und den ganzen Unsinn. Mit den allmächtigen Gesetzen der Technik enthüllen wir jedes Geheimnis. Also ... Wir haben hier bei uns eine Eisenbahnbrücke, die über den Fluss führt. Das wissen Sie alle. Wir wollen also morgen einen Geigenspieler mit einer Geige unter diese Brücke hinstellen und ihn da fiedeln lassen, ununterbrochen — ein, zwei, drei Tage lang, einen Monat meinetwegen, und ich schwöre Ihnen — die Brücke wird plötzlich aus Ermüdung zusammenbrechen."
„Was?"
„Das ist nun schon Blödsinn — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen", brüllte Mochow aus Leibeskräften vom Balkon herunter, und sofort ließ sich auch Olga vernehmen:
„Betrug: Ihr wollt uns nur den Kopf verdrehen! Ge—nu—u—ug!''
„Stört ihn nicht! Lasst ihn reden!"
„Keine Zwischenrufe!"
Aber Mochow schrie ganz außer sich:
„Genug von dem Schwindel! Erkläre uns lieber das mit der Achse!"
„Ja — wie ist das mit der Achse? Ist die auch vom Geigenspiel gebrochen?" schrie nun auch der wütend gewordene Titytsch.
Mit Mühe und Not brachte Wartanjan die Versammlung zur Ruhe.
„Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der Sonderkommission des Trusts und des Obersten Volkswirtschaftsrats, der Ingenieur Grajew."
Ein schlanker blonder Mann in einem sehr eleganten grauen Anzug betrat die Bühne.
„Ich wollte eigentlich erst nach der Diskussion sprechen. Aber verschiedene Zwischenrufe haben mich veranlasst, sofort ums Wort zu bitten. Ich habe hier Worte gehört wie Betrug, Schwindel, und so weiter. Einen jeden, der nicht in die Gesetze der Technik eingeweiht ist, muss die Theorie von der Ermüdung des Materials als Betrug erscheinen. Das ist unvermeidlich. Ich will daher diese Zwischenrufe den in technischer Hinsicht ungebildeten Leuten verzeihen. Ich persönlich sowie die ganze Kommission des Obersten Volkswirtschaftsrats und des Trusts schließen uns rückhaltlos dem an, was der Ingenieur Turtschaninow hier erklärt hat... Es ist ein Unglück passiert, an dem die Fabrik keine Schuld trägt. Wir werden uns daher dafür einsetzen, das Moskau Ihnen den Bau der neuen Fabrik überträgt."
Lautes Beifallklatschen erfüllte den Saal.
Olga blickte Grajew an, und die Röte der Erregung verschwand langsam aus ihren Wangen. Sie hatte keinesfalls erwartet, dass hier die Moskauer Kommission sprechen und Turtschaninow unterstützen würde. Was nun? Wenn doch Platow bloß bald käme! Verwirrt blickte sie Titytsch an, hob die Augen und sah oben auf dem Balkon das finstere Gesicht Mochows, und ihre Verwirrung wurde noch größer.
„Was werden mir nun machen, Titytsch?" flüsterte sie dem Alten zu.
„Was Senja gesagt hat, das musst du tun. Geh — es gibt keinen Gott — schlag drauf los!" sagte der Alte finster, seinen Bart zausend.
„Wer hat etwas zu sagen? Leider ist Genosse Platow nicht anwesend, und wir wissen nicht, auf welchem Standpunkt er steht...", sagte Wartanjan.
„Doch! Wir wissen es!" rief Mochow vom Balkon.
Da bat Olga, aus Angst, dass Mochow zuerst sprechen und alles verwirren würde, ums Wort.
„Das Wort hat (im Saal wurde es mäuschenstill) die Genossin Olga Pylajewa", rief Wartanjan lächelnd.
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen lief Olga die Stufen zur Bühne hinauf. Tausende von blitzenden Augen leuchteten wie Glühwürmchen vor ihr in der Tiefe des Saals.
„Genossen! Ich gehöre zu den Leuten, denen der Ingenieur Grajew hier ihre technische Unbildung vorgeworfen hat. Solche wie ich sind neun Zehntel aller hier im Saale Anwesenden. Und diese neun Zehntel werden die Frage entscheiden. Denn wozu hättet ihr denn sonst diese Ungebildeten hier versammelt? Stimmt das, Genossen?"
„Das stimmt!"
„Leg' los, Olga!"
„Ich bin in technischer Hinsicht ungebildet — das ist richtig Aber ich bin gebildet genug, um zu verstehen, ob man die Wahrheit spricht oder ob man uns die Köpfe verdreht. Außerdem aber arbeite ich fünf Jahre in der Dreherei, und etwas verstehe ich also schon. Genossen!" Olga hob ihre Stimme und sie klang fest und rein. „Der Ingenieur Turtschaninow hat uns hier viel Interessantes erzählt, es war sehr ergötzlich, ihm zuzuhören. Aber hat er auch nur ein einziges Wort darüber gesagt, warum unsere Achse gebrochen ist? Nein — das hat er nicht gesagt! Keiner von denen, die im Saale sitzen, hat ein solches Wort gehört. Dabei sind wir hierher gekommen, um das zu hören, nicht aber, um über interessante Witze zu lachen!"
„Richtig, Olga!"
„Nichts davon hat er gesagt!"
„Nichts davon haben wir gehört!"
„Wi—i—rklich, davon hat er nichts gesagt!" bekräftigte die hohe Tenorstimme.
Von diesen Beifallsäußerungen ermuntert, reckte sich Olga noch höher über das Rednerpult und rief:
„Genossen! Arbeiter und Arbeiterinnen! Was habt ihr von dem Vortrag Turtschaninows verstanden? Ich habe nicht verstanden, aus welchem Grunde unsere Achse gebrochen ist. Vor Ermüdung?... Wovon war sie müde? Von der Deformierung der Struktur und von der Konzentration der Spannungen?"
Im Saale begann man zu lachen.
„Ich frage: was soll das für eine. Erklärung sein? Oder hält man uns vielleicht für Dummköpfe? Warum hat denn die Konzentration der Spannungen stattgefunden? Auch aus Ermüdung? Hast du den Schwanz herausgezogen, versinkt dir die Nase im Sumpf, hast du die Nase herausgezogen, versinkt der Schwanz — was?"
„Ri—i—ch—t—i—g! Wir verstehen nichts", rief die Tenorstimme und brachte den ganzen Saal in Aufruhr.
„Richtig! Wir verstehen nichts!"
„Weiter, Olga! Gibs's ihnen! Weiter!" brüllte Titytsch ganz außer sich.
„Erinnere ihn noch an die Gei—ge! Die Gei—ge vergiss nicht, eine Schraube soll ihm aus dem Mund wachsen!" schrie Mochow herunter.
Wartanjan fühlte sich von der allgemeinen Stimmung im Saal angesteckt und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Deine Redezeit ist abgelaufen, Olga. Kürzer fassen!"
„Ver—lä—ä—an—gern!"
„Lasst sie reden!"
Olga fühlte, wie ihr Herz mit dumpfen, angestrengten Schlägen klopfte, aber die Schläge waren stark und sicher.
Auf der vordersten Bank saß Strachow und blickte Olga voller Verwunderung an.
Erst hatte er etwas skeptisch gelächelt, als er sah, dass Olga, dieses achtzehnjährige rotwangige Mädchen, versuchte, den Standpunkt Turtschaninows, eines alten Ingenieurs, anzuzweifeln. Er dachte, dieses junge Mädchen spräche eben nur, um ihrer Komsomolpflicht Genüge zu tun; sagt eben irgend etwas und setzt sich dann zufrieden wieder hin, hat ihre Pflicht erfüllt... Aber mit jedem neuen Wort, das aus Olgas Mund kam, mit jeder Minute wurde Strachows Meinung über diese rotwangige Rednerin eine andere. Aus jedem Wort hörte er ihre leidenschaftliche Spannung, die sich den Zuhörern mitteilte wie ein elektrischer Strom und höchste Erregung in ihnen hervorrief. Er konnte absolut nicht begreifen, woher dieses Mädchen den Mut nahm, sich in Erörterungen über rein technische Fragen einzulassen; aber er gab ihr unwillkürlich recht, als sie ihre Unzufriedenheit mit den Erklärungen Turtschaninows äußerte. Als Ingenieur betrachtete Strachow die Ermüdung des Materials als eine unbestreitbare Tatsache, was aber diese Ermüdung hervorgerufen haben sollte, das war auch ihm nicht klar — die Konzentration der Spannungen im Material musste eine konkrete, bestimmte Ursache haben. Er verstand Olgas Empörung und schloss sich ihrem leidenschaftlichen Protest an. Der Betriebsunfall der Lokomotive, das war eine Sache, die die Ehre des Leiters der Lokomotivmontage, des Ingenieurs Strachow, sehr nahe berührte. Die gebrochene Achse sah ihn da vom Tisch aus an wie ein auf seine Brust gerichtetes Maschinengewehr.
Die Versuche Turtschaninows, die Versammlung durch den Hinweis auf die Ermüdung des Materials, auf einen unglücklichen Zufall zu beruhigen, hatten keinen Erfolg gehabt. Allerdings war er, Strachow, durch die Erklärungen Turtschaninows von der juristischen Verantwortung für den Bruch der Achse befreit, auf seinem Innern lastete jedoch diese Verantwortung nach wie vor. Vielleicht hatte er irgend etwas übersehen beim Zusammenbau der Lokomotive oder eine Kleinigkeit außer acht gelassen? So eine Kleinigkeit ist für das Auge nicht zu erkennen, und mit Ermüdung des Materials lässt sich alles decken. Aber Strachow war gewöhnt, gegen sich selbst außerordentlich streng zu sein — dazu verpflichteten ihn die Gesetze der Verbindung der einzelnen Teile und ihrer gegenseitigen Einwirkung, die sich auf genaueste Berechnungen gründen.
Ja, dieses junge, rotbäckige Mädchen mit den blauen Augen hatte recht. Aber er sah auch die Hilflosigkeit Olgas und des ganzen Auditoriums — sie konnten den wahren Grund des Unglücks nicht aufdecken. Die Menge wurde unruhig, aufgeregt, wütend — sie schrie, protestierte, aber was konnten hier Menschen unternehmen, die von der Technik nichts verstanden? Strachow wusste sehr wohl, dass das Geheimnis dieser Katastrophe nur von Leuten aufgedeckt werden konnte, die in der Technik Bescheid wissen. Wie viel solcher Leute aber gab es hier im Saal?
Er sah sich um: in allen Blicken las er Hass auf die Gelehrten, Hass auf die unverständlichen Worte, die den Menschen das Verstehen einer so einfachen und durchaus eindeutigen Sache wie der Tod von fünf Menschen, das Verstehen des Verlusts von Hunderttausenden von Rubeln, der Vernichtung einer ganzen Lokomotive unmöglich machten. Und als der ganze Saal einstimmig schrie: „Richtig! Wir verstehen nichts!" — da hatte Strachow das Gefühl einer tiefen Beschämung. Auch er selbst, ebenso wie alle anderen, die ihre Unkenntnis in Aufruhr versetzte, kannte die wahren Gründe der Katastrophe nicht... Aber er musste sie kennen, denn es war seine Lokomotive, mit der das Unglück passiert war. Strachow trat an den Tisch mit dem Bruchstück der Achse. Das Bruchstück wies die Ermüdungsflecken auf... Die Achse war beim Übergang von dem einen Querschnitt zum anderen, bei dem Hals gebrochen — hier konnte natürlich ein Bruch schneller eintreten als an irgendeinem anderen Punkt der Achse, denn jeder Übergang von einem Querschnitt zum anderen ruft eine Erhöhung der Materialspannungen hervor... Das Abdrehen der Achse wird in der Räderdreherei vorgenommen. Der Leiter dort ist Sorin — kein schlechter Ingenieur. Er weiß selbstverständlich, wozu die elementaren Berechnungen der Festigkeitslehre verpflichten. Die Zeichnungen der Achsen sind natürlich richtig. Aber vielleicht hatte sich der Arbeiter geirrt und den Übergang zu scharf ein gedreht? Das konnte sein... Dann musste sich die Spannung natürlich gerade an dieser Stelle um ein bedeutendes steigern, und dann...
Strachow neigte sich schnell über das Bruchstück. In der Tat — so ist's! Der Übergang vom Nabensitz zum Achshals war scharf ausgeführt, nicht allmählich — der Radius der Ausrundung war viel zu klein...
„Genossen!" Die klingende Mädchenstimme hallte über Strachows Kopf hinweg. „Glauben wir es dem Turtschaninow, dass man eine Brücke durch Geigenspiel oder durch das Kommando eines monarchistischen Generals zum Einsturz bringen kann — aber dann frage ich: welche Geige hat da auf unserer Lokomotive gespielt und ihre Achse zerbrochen ? Was für eine Geige war das, Genossen? Das hat uns der Ingenieur Turtschaninow nicht gesagt!" „Richtig!"
„Sieh mal einer an, wie der die Sache verbiegt: ,Ein General mit einer Division'! Eine Schraube soll ihm aus dem Mund wachsen!"
Erstaunt blickte Strachow auf die vor Erregung flammende Olga. Ja, ein bewundernswürdiges Mädchen! Sie behandelt die Frage durchaus richtig. Auch hier, bei dieser Katastrophe, hat irgendeine „Geige" gespielt, die den unmittelbaren Anlass zu dem Unglück bildete. Jawohl, der Übergang von einem Querschnitt zum anderen ist zu schroff, der Radius ist zu klein genommen. Die Gesetze der Materialfestigkeit stehen unwiderruflich fest. Eine Verletzung dieser Gesetze wird mit einer Katastrophe geahndet.
„Genossen!" Die Stimme Olgas war wie klingender Stahl. „Die Geschichte mit dieser Theorie wird zum reinsten Unsinn. Turtschaninow erklärt alles mit der Ermüdung des Materials, wie der Pope alles mit der Sündhaftigkeit des Menschen erklärt. Es hat zum Beispiel ein Mensch ein Stück Brot gestohlen. Der Pope sagt: das kommt von der Sündhaftigkeit, der Mensch ist eben sündig. Aber davon, dass der Mensch das Stück Brot gestohlen hat, weil er hungrig ist, weil ihm die Bourgeoisie seine Produktionsmittel fortgenommen hat, weil die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen besteht — davon sagt der Pope kein Sterbenswörtchen — das passt nicht in seinen Kram. Weil er nämlich davon lebt."
„Ri—ch—tig!"
„Du bist ein fixer Kerl, Olga!"
„Immer feste drauf, Olga!" Titytsch trampelte wild mit den Füßen. Da sprang Kortschenko auf und sagte zu Wartanjan:
„Mach dieser Demagogie endlich ein Ende! Oder schließe die Versammlung. Ich schäme mich ja vor der Moskauer Kommission. Grajew hat empört die Versammlung verlassen."
„Warte, nicht so hitzig, Kortschenko. Sieh mal, wie sie ihr alle zuhören", winkte Wartanjan ab.
„Genossen, ich bin zu Ende", sagte Olga leise mit erschöpfter Stimme. „Man sagt uns: das Metall ist müde. Aber wir Menschen, wir sind schwächer als das Metall, und doch kann uns keine Müdigkeit was anhaben. Warum ist Titytsch, der vierzig Jahre lang formt und dabei ,rhythmische Bewegungen" macht, nicht auseinandergebrochen, sondern arbeitet immer noch weiter fort? Warum hat unser alter ,Chef, unser Großvater Kusmitsch, es bis auf über achtzig Jahre gebracht und ist nicht müde geworden? Sein ganzes Leben hat er der Arbeiterklasse geopfert! Jetzt liegt er im Sterben... " Olgas Stimme zitterte und brach ab. Tausende von Augen funkelten zornig in der schweren Stille, die im Saale herrschte. „Und wenn er jetzt stirbt, so geschieht es nicht aus Ermüdung, nicht wegen seines hohen Alters, sondern darum, weil er irgend jemand im Wege stand, ihn hinderte, seine schmutzige Arbeit zu verrichten. Auch hier ist die Ursache nicht klar. Aber wir werden diese Ursache finden, Genossen! Ich bin zu En ... " Aufgeregt brach Olga ab und ließ sich ermattet auf einen Stuhl neben dem Rednerpult sinken.
Der Saal erdröhnte, der heiße Atem der Menge schien Wartanjan zu versengen.
„Die Sache muss aufgeklärt werden, Wartanjan!"
„Eine dunkle Sache."
„Ohne Grund gibt es keine Dummheit!"
„Rich—tig!"
„Die ist Pylajews Tochter!"
Strachow blickte voller Achtung zu Olga hinauf — sie hatte ihn zu fruchtbarem Nachdenken und Nachforschen veranlasst.
„Ru—he!" schrie Wartanjan, aber der Saal dröhnte, trampelte, brüllte, klatschte Olga Beifall, kochte vor Wut und Erregung. Die Bänke und Stühle knarrten und schurrten. Die aufgeregten Köpfe verschwammen in dichtem Tabaknebel. Seit dem Jahre siebzehn hatte der Saal keinen derartigen Sturm mehr erlebt.
„Genossen! Ruhe! Ordnung! Kortschenko, geh zurück, störe nicht!" sagte Wartanjan ärgerlich. „Ich werde dir doch nicht das Wort geben!"
„Dazu hast du kein Recht", brauste Kortschenko auf.
„Ü ber mein Recht werden wir im Raikom sprechen. Das Worte erteile ich dir nicht! Genossen! Ruhig! Bei einer derartig aufgeregten Stimmung werden wir zu keinem Resultat kommen."
„Stimmt!" schrie der Tenor wieder.
„Hört meinen Vorschlag: die Frage wird in die Abteilungsversammlungen überwiesen, und morgen schon werden wir mit ihrer Erörterung beginnen. Auf den Abteilungsversammlungen wird das in ruhiger und sachlicher Weise geschehen."
Die Menge beruhigte sich. Müde wischten sich die Menschen den Schweiß von den Gesichtern.
„Welches ist denn Ihre Meinung, Genosse Wartanjan?"
Wartanjan wandte sich um: Turtschaninow blickte ihn mit boshaften Augen an.
„Richtig! Wartanjan, sag deine Meinung!" riefen Stimmen aus dem Saal.
„Du musst dich äußern", flüsterte ihm Kortschenko zu. „Wir müssen hier einen Umschwung herbeiführen."
Das kam Wartanjan sehr ungelegen. Er wollte nicht sprechen. Er befand sich in einem völligen Zwiespalt. Hier aber hieß es, eine feste und klare Meinung äußern, Farbe bekennen. Er war der Führer dieser Tausende. Sie wollten seine Meinung hören. Durch seinen Mund sprach die Partei zu allen diesen Menschen Er musste das Für und Wider sorgfältig erwägen...
„Wartanjan! Sprich!" rief der Saal.
„Genosse Martemjan! Sag deine Meinung!" beschwor ihn Mochow von der Galerie herab.
Aufmerksame Stille umfing Wartanjan. Er fühlte, wie alle seine Nerven aufs äußerste gespannt waren. Es galt jetzt die Fabrik zu retten. Grajew hatte sich für den Bau der neuen Fabrik erklärt... Die Ermüdung des Materials durfte nicht angezweifelt werden, das sahen diese vielen tausend Augen da unten im Saal, die Mißtrauen und Unruhe blind gemacht hatte, nicht... Man darf sich nicht von der elementaren Spontaneität beherrschen lassen...
„Ich bin der Meinung, dass eine Ermüdung des Materials vorgelegen hat. Wir haben keinen Grund, das anzuzweifeln, was Ingenieur Turtschaninow hier ausgeführt hat. Und der Vertreter des Obersten Volkswirtschaftsrats, der Ingenieur Grajew, hat selbstverständlich recht, wenn er sagt, dass es sich hier um einen tragischen Zufall handelt, an dem die Fabrik keine Schuld trifft... Die Genossin Pylajewa hat in vieler Beziehung unrecht. So darf man eine ernste technische Frage nicht behandeln... Allerdings hat sich die Versammlung in ihrer Mehrheit auf ihre Seite gestellt, aber das kommt daher, weil Turtschaninow es nicht verstanden hat, in einfacher, verständlicher Weise zu erklären, um was es sich handelt. Diesen Fehler werden wir verbessern. Wir werden dazu alle Spezialisten heranziehen. Hier, Genosse Strachow zum Beispiel, wird sicher bereit sein, auf der Versammlung seiner Abteilung die nötigen Erklärungen zu geben. — Hiermit schließe ich die Versammlung."
Aufmerksam betrachtete Strachow das Bruchstück der Achse. Ja — dadurch, dass der Anlauf zu kurz ausgedreht war, mussten sich die Materialspannungen übermäßig erhöhen... Sie konzentrierten sich auf eine Stelle... Dadurch wurde die Katastrophe ermöglicht. Strachow sah Wartanjan an. Sollte er das in der Abteilung erklären?
Die Menschen strömten dem Ausgang zu, in der nächsten Sekunde waren die Saaltüren verstopft. Dem Strom entgegen zwängte sich Platow zur Tür hinein. Mit vor Ungeduld zitternden Händen teilte er die schweißfeuchten Schultern auseinander, trat den zunächst Stehenden auf die Füße, blieb mit seiner Bluse an einer Bank hängen, es gab einen Riss, aber Platow wandte keinen Blick von der Bühne und bahnte sich hartnäckig seinen Weg nach vorn.
Er sah das in freudiger Erregung strahlende Gesicht Olgas und drückte ihr fest die Hand.
Titytsch blickte seinen ehemaligen Formerjungen liebevoll an und wischte sich den Schweiß von der Glatze.
„Alles ist gemacht worden, Senja, wie du befohlen hast. Und mitten ins Schwarze getroffen. Siehst du, so ist das Leben!"
Die breite Alice des Fabrikparks schien in der Dämmerung wie ein hoher Tunnel: die Kronen der Kiefern, die sich miteinander verflochten, bildeten oben ein Gewölbe. Zu beiden Seiten der Allee brannten trübe elektrische Laternen. Olga hatte das Gefühl, als ginge sie durch einen Tunnel in einem riesigen Berge. Man spürte das nahende Gewitter, das wie bleischwere Erdschollen auf dem dunklen Gewölbe der Allee lastete. Am Ende der Baumreihen über dem Parktor glänzte fern eine Laterne: da war der Ausgang, der aus dem Tunnel in den sonnenhellen Tag führte.
„Ach Olga, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Freude ich nach dem gestrigen trüben Tag erlebt habe! Ich würde am liebsten aus vollem Halse ein vergnügtes Lied singen, ich fürchte nur, dass mich die Leute für betrunken halten würden. Und wirklich — ich bin freudetrunken! Olga, wenn es ein Glück auf der Welt gibt, so ist es jetzt zu mir gekommen. Und sonderbar — ich kann mich kaum vor Müdigkeit auf den Füßen halten, nach all den schlaflosen Nächten, all diesen nervenzerrüttenden Ereignissen — trotzdem aber bin ich bereit, so wie jetzt — neben dir Olga, kilometerweit zu laufen. Und wenn ich ein Schriftsteller wäre, so würde ich jetzt über das Glück der Menschen schreiben, die zu Tode ermüdet sind, aber dennoch vorwärts schreiten. Dieses Glück, Olga, hat eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Geruch. Es duftet nach dem würzigen Kiefernharz, und seine Farbe ist ebenso grell und blendend, wie die Laterne da hinten. Und es klingt so... Hör' mal, Olga... "
Und Olga hörte ein leises melodisches Klingen, als zirpten im hohen Gras die Grillen.
„Was ist das, Senja? Du bist heute so sonderbar... Alles an dir klingt, singt, lacht. Mir geht's ebenso... Ich freue mich so über unseren gemeinsamen Erfolg. Aber was klirrt da so?"
Platow lachte geheimnisvoll und führte Olgas Hand an die Tasche seiner Joppe. Ihre Finger fühlten die kühlen, abgeschliffenen Metallstücke, die in der Tasche Platows leise aneinanderklirrten.
„Was ist das, Senja?" Erstaunt betrachtete Olga die glänzenden Metallstücke und irgendein stählernes Stäbchen.
„Das sind die Proben, von denen Kusmitsch gesprochen hat. Um ihretwegen muss er sein Leben lassen, ohne das letzte Glück gefunden zu haben. Aber ich habe es gefunden. Reich mir die Hand, Olga, ich will dir ein Zeichen zum Andenken zurücklassen." Dabei nahm er ihre linke Hand und presste das Ende des Stahlstäbchens darauf — auf der sonnengebräunten Haut prägten sich Hammer und Sichel ab.
Erst jetzt verstand Olga, was für eine große Rolle sie mit ihrer aufsässigen Rede in der Versammlung gespielt hatte. Sie lauschte der rauen Stimme, aus der eine starke Freude sprach, und tiefer Stolz auf sich selbst und auf diesen Menschen, der da neben ihr ging, erfüllte ihr ganzes Wesen. Und als sich sein starker Arm um sie legte, der sie ganz nahe an ein lachendes Gesicht heranzog, als sie die schwarzen, runden Augen, die gutmütige, breitgequetschte Nase und die lächelnden Lippen dicht vor sich sah, da widerstrebte sie nicht, sondern überließ sich der süßen Ermattung, die sie machtvoll in Fesseln schlug.
Sie näherten sich dem Hause. Vor der Tür schimmerte eine helle Gestalt. Olga musste an das Krankenhaus denken und fuhr leicht zusammen. Morgen früh wollte sie wieder zu Kusmitsch. Ach, wenn er doch noch einmal zu sich kommen würde! Was wäre das für eine Freude!
„Ich gehe schlafen, Senja, ich bin müde. Morgen früh, vor der Arbeit, muss ich ins Krankenhaus... Bloß eins kann ich nicht verstehen: warum hat mich Wartanjan nicht unterstützt? Sonderbar!"
„Wie gut du bist, Olga, und wie feinfühlig!" Platow drückte ihr kräftig die Hand und fühlte dabei, wie die Finger ihrer anderen Hand leise durch sein Haar fuhren. „Was Wartanjan anbelangt, so sei ruhig. Er wird zu uns gehören!" Dabei klimperte Platow siegesbewusst mit den Stahlstücken in seiner Tasche.
„Wer ist dort?" Platow betrachtete forschend die weiße Gestalt, die vor seiner Haustür stand; sie regte sich nicht.
„Ich bin es."
Er erkannte diese vibrierende Stimme.
„Ich bin gekommen, um zum letzten Mal mit Ihnen zu sprechen. Eben habe ich gesehen, wie Sie sich von diesem Mädchen da verabschiedeten. Es ist klar, Sie lieben sie. Ich bin nicht darum hier, um Sie um das zu bitten, was Sie mir nicht geben können. Ich werde mich bemühen, alles zu vergessen... Aber ich wollte Ihnen das sagen, was Sie von mir verlangt haben. Ich habe Ihnen die Fahrkarte gebracht, die mich zur Reise in Ihrem sozialistischen Zuge berechtigt..." Die Stimme Weras sank bis zu einem heiseren Flüstern herab. „Ich habe zu Hause den ganzen Abend geweint... Ich habe mich entschlossen... Sie haben recht: der verfluchte Zauberkreis hält mich noch immer gefangen, aber ich will ihn nun mit meinen eigenen Händen zerschlagen... Ich will alles sagen, was ich weiß — von der Arbeit meines Vaters... Mein Gott, wie grausam ist das Leben!"
Angstvoll blickte Wera in die eherne Finsternis der Nacht; sie schien ihr wie ein tiefer, furchtbarer Abgrund: die Nacht hatte ihren schwarzen Rachen geöffnet, in dem die seltenen Laternen wie goldene Zähne funkelten, und wartete auf ihr letztes Wort. Und wenn sie es gesagt haben wird, dieses letzte Wort, dann wird sich der schwarze Schlund über ihr schließen, und seine feurigen Zähne werden knirschen.
Da steht das Ungeheuer vor Wera und wartet auf sein Opfer. Und woher hat dieser Mensch da solchen unversöhnlichen, kalten Hass in seinen Augen...
„Platow... Senja... Ich bin gekommen... Ich habe mich entschlossen, das Opfer zu bringen. Mein Vater... "
„Zum Teufel!! Ich brauche Ihre Opfer nicht. Ich weiß nicht weniger als Sie selbst über Ihren Vater. Sie sind zu spät gekommen, Wera Pawlowna! Sie haben sich allzu lange mit Ihrem Gepäck aufgehalten. Sie sind zu spät zum Zuge gekommen, Wera Pawlowna. Zum Teufel!!" Platow warf mit aller Macht die Tür zu, und alles war still.
Langsam erhob sich Wera von der Bank. Sie bemühte sich krampfhaft zu atmen, aber die dicke schwarze Finsternis saß in ihrer Kehle und würgte sie mit kalten, knochigen Fingern. Sie griff mit den Händen nach ihrer Kehle, stöhnte heiser und ging leise die Stufen hinab. Der schwarze Rachen mit den goldenen Zähnen schlug über ihr zusammen.
Akatujew ging im Zimmer auf und ab und schaute ungeduldig zum Fenster hinaus. Die Dämmerung löschte die Fensterscheiben. Vom Süden her zog ein Gewitter herauf. Es dunkelte schnell.
Die Geißblattsträucher im Vorgärtchen schlugen wie schwarze, stumme Springbrunnen aus dem Boden.
Die Erwartung, die Schwüle, die schwer auf der Erde lastenden Gewitterwolken und die schnell sinkende Finsternis streuten Unruhe aus. Akatujew fasste mit der Hand nach der linken Seite und fühlte, wie stark und nervös sein Herz schlug. Er legte sich aufs Bett, drehte am Schalter und der zarte, rosa Schimmer der Lampe auf dem Nachttisch ergoss sich in beruhigenden Wellen über die Seiten des geöffneten Buchs. Er las einen Roman — „In den Schären". Akatujew hatte das Buch von ein paar Tagen aus Moskau erhalten und las nun darin bis spät in die Nacht hinein. Er fand in dem Roman viele ihm verwandte Gedanken und Gefühle, sie wirkten erhebend auf seine Stimmung, die durch die Geschichte mit Wera arg gelitten hatte. Er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, Wera wieder zu gewinnen — er kannte seine Tochter zu gut, sie war wie ihre Mutter. Nun, was tat's? Er würde eben allein weiterkämpfen, bis zur letzten Minute.
Es hatte auch keinen Zweck mehr, sich noch weiter für Weras Leben zu interessieren. Sie hatte sich losgelöst von den Ihren. Aber warum war es da drüben, hinter der Wand, so still? Was tat sie da — dieser geliebte und zugleich verhasste Mensch? Leise schlich Akatujew in Pantoffeln auf den Korridor. Die Tür zu Weras Zimmer stand offen. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Heft.
Ihr Tagebuch... Worüber schrieb sie jetzt wohl? Akatujew neigte seinen Kopf über das Heft.
„Wie grausam und unerbittlich ist diese Epoche! Einer schwarzen Wolke gleich, hängt sie erbarmungslos über mir. Mein Herz ist schwer... Ich bin an der letzten Grenze. Ich will leben, aber das Recht auf das Leben muss ich mir verdienen. So sagt Platow. dieser Mensch, der so grausam ist wie die Epoche und in seiner Kraft so anziehend. Er verlangt, dass ich mir mit dem Blute anderer das Recht erkaufe, in seinem Zuge mitzufahren. Wie furchtbar ist dieser Preis! Wie grausam und erbarmungslos ist das Leben!
So möge denn das Blut des Menschen, der mir am nächsten steht und der mir jetzt so fremd geworden ist, vergossen werden!... Mag es fließen! Ich bin bereit, Genosse Platow! Um meiner Liebe willen, meiner Liebe zu dir. Um meines Hasses willen, meines Hasses auf die, die dich mir rauben will...
Ich habe mich zu diesem furchtbaren Schritt entschlossen.... Ich gehe..."
Die Worte waren schief und krumm, sie purzelten hin, sprangen wieder auf, rissen auseinander und krochen wie schwarze, fette Insekten über das weiße Papier. Und die Insekten bewegten sich, streckten ihre Fühlhörner aus, zogen ihre kleinen Krallen krampfhaft ein und rückten schweigend gegen Akatujew vor. Er lief hinaus, taumelte in sein Zimmer, drehte den Schlüssel im Schloss herum und sank bebend aufs Bett.
„Ist nun wirklich alles, alles zu Ende? Jetzt läuft sie da die schwarzen, finsteren Straßen entlang. Jetzt ist sie an dem furchtbaren Hause, von dort fließt das schreckliche, gerinnende Blut... Es fließt hierher... es ist schon ganz in der Nähe... Da ist es..." Mit wahnsinnigen, weit aufgerissenen Augen starrt Akatujew in die Finsternis.
Plötzlich wurde leise ans Fenster geklopft, Akatujews Zähne schlugen klappernd aufeinander, er sprang schnell auf. An die Fensterscheibe drückte sich von draußen her ein bekanntes Gesicht, und Akatujew schlurfte erfreut ins Vorzimmer.
„Guten Tag, Grajew, guten Tag! Endlich...!" Akatujew umarmte den hochgewachsenen, schlanken, blonden Menschen. „Kommen Sie hier herein."
Grajew trat ins Zimmer, zog müde sein Jackett aus und strich mit der Hand über das dichte blonde Haar.
„Ganz unbeschreiblich, was da los ist. Unter dem Vorwand des Protestes gegen die wüste Demagogie und Spezialistenfresserei, die da irgendein Mädel vom Stapel lässt, habe ich die Versammlung verlassen. Sie brüllen wie hungrige Löwen. Turtschaninow haben sie glatt geworfen. Meine Rede hat nicht das geringste geholfen. Keine Autorität wird mehr anerkannt. Mit gefletschten Zähnen brüllen sie in den Saal. Sie fühlen, das irgend etwas nicht stimmt, aber wo sie anpacken müssen, das können sie natürlich nicht wissen. Und darum sind sie so wütend. Ach, einfach furchtbar sind sie!" Grajew warf sich an die Sofalehne zurück. „Lange kann ich mich bei Ihnen nicht aufhalten, Akatujew, also sprechen Sie... Sie haben mir so lange nicht geschrieben, warum nicht?"
„Wieso... was meinen Sie? Sie sind doch wohl auf meinen Brief hin gekommen, den ich Ihnen vor etwa zwei Wochen geschickt habe?"
„Vor zwei Wochen haben Sie mir einen Brief geschickt? Ich habe nichts bekommen."
„Sonderbar... Ich bat Sie um eine Zusammenkunft, informationshalber. Sehr sonderbar!..." und Akatujew warf einen wachsamen Blick auf die Wand, die ihn von Wera trennte. Irgendein Geräusch kam von dort — als ob ein Stuhl polternd umgefallen wäre.
„Wer ist da nebenan im Zimmer?" fragte Grajew.
„Da ist jedenfalls meine Tochter nach Hause gekommen... " antwortete Akatujew schwer atmend.
„Ihre Tochter, das heißt also eine von den Unsern... Dann bitte, erzählen Sie, ich habe nur wenig Zeit."
Akatujew zog die schweren Portieren vor den Fenstern zusammen, dann schloss er die Tür ab und blieb wieder unschlüssig an der Wand stehen — presste nicht auch drüben jemand das Ohr an die Wand und lauschte?...
„Bitte, Pawel Jakowlewitsch, fangen Sie an, ich habe nur noch eine halbe Stunde Zeit", sagte Grajew nervös.
„Sofort... sofort..." flüsterte Akatujew, aufmerksam in die Stille lauschend. „Ich bin nicht ganz gesund, Grajew. Mein Herz ist nicht in Ordnung. Gleich wird es vorüber sein. Alle Ihre Anordnungen sind ausgeführt worden. Es ist bereits vieles geschehen. Die Arbeit unter den Ingenieuren schreitet erfolgreich fort. Turtschaninow ist völlig auf unserer Seite, und ich habe ihm diese Arbeit übertragen. Er ist für uns äußerst wertvoll. Die Fabrikleitung traut ihm unbedingt, außerdem besitzt er kolossalen Einfluss auf die Ingenieure und verfügt über die glänzendsten organisatorischen Fähigkeiten... Von Kraiski kann man das nicht sagen. Der ist nur auf seinen persönlichen Vorteil bedacht, durch und durch unpolitisch. Bruck wurde für uns gewonnen, was sehr wichtig ist, da er in der Planabteilung tätig ist und den Lokomotivbau leitet... Außer Turtschaninow ist natürlich niemand über meine Rolle unterrichtet."
Es fiel Akatujew schwer, leise zu sprechen, die Worte kamen zischend, pfeifend aus seinem Munde; bald erloschen sie ganz, bald riss sich ein lautes Wort aus seiner Kehle los. Dann unterbrach er jedes Mal seinen Bericht und lauschte aufmerksam nach der Wand hin. Grajew machte sich in seinem Notizbuch Aufzeichnungen und warf dabei hin und wieder einen fragenden Blick auf Akatujew.
„Die Produktion ist desorganisiert. Die Lokomotiven bleiben stehen, oder sie sausen die Böschung hinunter. Die letzte Katastrophe ist kein Zufall..." Ungeduldig unterbrach Grajew Akatujew. „Zunächst habe ich eine Forderung an Sie zu richten, und zwar eine ganz entschiedene: wir dürfen nicht den geringsten Anlass zum Mißtrauen bieten. Ein Eisenbahnunglück ist eine Zu gewagte Sache. Das hat die heutige Versammlung bewiesen. Mit den bisherigen, primitiven Methoden unserer Arbeit muss ein Ende gemacht werden. Die Hauptsache ist, die Planung nicht aus der Hand zu lassen. Darauf sind die Hauptanstrengungen zu richten. Produktionsplanung, Ausführung des Produktionsprogramms, Rekonstruktion der Fabrik — darauf ist die Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Plan und Kader! Kader und Plan!"
Aus dem Nebenzimmer kam ein lang gezogenes Stöhnen.
„Was ist das?" fragte Grajew und hob misstrauisch den Kopf.
„Das ist im Zimmer meiner Tochter... Sie fühlt sich anscheinend nicht wohl...", sagte Akatujew hastig. „Ich fürchte, Grajew, dass die alten Methoden schon zu fest eingewurzelt sind. So kleinliche Naturen wie Kraiski finden sich für ein paar Rubel zu allem bereit. Sie haben doch an dem geheimen Ausschuß alle ausgezeichnete Prämien verdient. Nur die wenigsten kämpfen für ein Ideal, die meisten sind raffgierig, viele sind sogar vollkommen versumpft und versuchen langsam, in den Sozialismus hineinzuwachsen. Nehmen wir zum Beispiel Sorin. Ein außerordentlich kluger Mensch, ein ausgezeichneter Spezialist. Aber er ist direkt gefährlich... Er steht zwischen denen und uns — mit der Miene des unbeteiligten Beobachters. Es ist unmöglich, dass er unsere Arbeit nicht bemerkt, aber er gibt sich den Anschein, als gehe das alles ihn nichts an. Und weiß der Teufel, was ihm morgen in den Sinn kommen kann! Zweifel beginnen an vielen von den Unsrigen zu nagen, und das ist gefährlicher als zehn solche Kortschenkos, denn es bedeutet eine Stärkung unseres Gegners. Wir müssen uns beeilen, Grajew. Sonst werden die Wertvollen von uns abfallen und in das Lager des Gegners überschwenken."
„Die Fristen kürzen sich in ganz elementarer Weise ab, Pawel Jakowlewitsch. Wir stehen am Vorabend großer Ereignisse. Aus diesem Grunde will mir das, was Sie mir soeben da erzählt haben, auch durchaus nicht gefallen. Solches Tempo und solche Ergebnisse — das ist ein Verbrechen, Pawel Jakowlewitsch!" "
Wieder kam das Stöhnen aus dem Zimmer nebenan; diesmal war es länger und schwerer.
„Vielleicht muss man Ihrer Tochter beistehen? Gehen Sie doch zu ihr."
„Nein, nein! Das ist bei ihr oft so. Weibernerven... "
„Pawel Jakowlewitsch, Sie wissen also: die Zeit, die uns bleibt, ist kurz. Wir haben alles auf eine Karte gesetzt. Die Kräfte im Ausland sind vorbereitet. Wenn wir diese letzte Frist versäumen, dann ist alles verloren. Sie führen ihren Fünfjahrplan mit viel Erfolg aus, wozu sollen wir uns das verhehlen? Und sie haben starke Aussichten zu siegen, wenn wir auch nur einen Augenblick zu spät eingreifen. Nutzen Sie die Aktivität Brucks aus, verlegen Sie das Schwergewicht auf die Planung. In den nächsten Tagen wird die Idee des Baus von Lokomotiven schwersten Kalibers auftauchen. Diese Lokomotiven machen eine vollständige Erneuerung des Oberbaus erforderlich. Der Oberbau kostet Millionen. Neue Brücken — Millionen. Greifen Sie diese Ideen auf, tragen Sie sie in die Massen der Arbeiterschaft. In allernächster Zeit werden wir Ihnen jemand zur Arbeit unter den Massen der Belegschaft schicken. Er stammt selbst aus Arbeiterkreisen. Erhalten Sie die Verbindung aufrecht..."
Ein dünner durchdringender Schrei ertönte hinter der Wand, dem ein Wimmern folgte — es hörte sich an, als winsle im Nebenzimmer ein Hund.
„Schon wieder dieser Schrei. Es geht mir durch und durch!" rief Grajew. „Gehen Sie hinüber, geben Sie ihr Tropfen!"
„Hier helfen keine Tropfen... helfen keine Tropfen... " murmelte Akatujew dumpf — er fühlte, wie sein Herz wieder aufgeregt hin und herflatterte, wie der Pendel der Prüfmaschine.
„Schließlich müssen Sie den Bau der neuen Fabrik mit allen Kräften hemmen. Suchen Sie irgendeinen Vorwand dazu. Wir machen Sie dafür verantwortlich, Akatujew, vergessen Sie das nicht! Aber statt dessen lesen Sie hier Romane..." Er nahm das Buch zur Hand, das auf dem Bett lag. „Ach — Strindberg! Wie ausgezeichnet er übrigens unsere Ideen propagiert! Die gesetzgebende Macht gehört uns, den Männern des Hirns und der Technik. Übrigens — diese Idee dringt sogar in die Sowjetliteratur ein. Ich empfehle Ihnen das Vorwort zu dem Buch ,Wissenschaft und Technik der Zukunft' zu lesen, es ist 1928 erschienen. Da wird diese Idee ganz offen propagiert. Wir müssen manchen Schriftstellern direkt dankbar sein — sie arbeiten für uns... Der Held dieses Romans ,In den Schären' führt seine Sache nicht bis zu Ende, er nimmt sich das Leben. Aber wir sind stark genug, um die neue Welt noch zu sehen. Na, ich muss jetzt gehen."
„Grajew, eine Sekunde noch..." Akatujew trat ganz nahe an ihn heran und flüsterte aufgeregt: „Sehen Sie, Grajew, ich schreibe, arbeite... Sagen Sie mir nun aber: wer wird den Posten des Verkehrsministers erhalten?"
Grajew blickte kalt über ihn weg und ging zur Tür.
„Es ist dumm und noch zu früh, darüber zu sprechen. Zu diesem Portefeuille müssen wir durch ganze Ströme von Blut waten. Viel Blut wird es kosten! In Strömen wird es fließen, sich ins Meer ergießen, und das Meer wird seine Farbe annehmen! Haben Sie das nicht vergessen? Alles werden wir hinwegfegen! Aber diese Zerstörung ist unvermeidlich. Denken Sie daran, wie Faust die Hütte von Philemon und Baucis anzündete, um seine Handelsflotte zu bauen!?"
Im Nebenzimmer wurde hysterisches Schluchzen laut, es drang durch die dünne Wand, durch den dicken Perserteppich und erfüllte den ganzen Raum. Akatujew sprang auf, seine dünnen, welken Lippen zuckten wie im Krampf.
„Eine Minute, Grajew. Helfen Sie mir... Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Meine Tochter, meine Wera ist in das Lager der Feinde übergegangen, und eine Rückkehr gibt es nicht für sie."
„Was? So steht es?!" Grajew wandte sich zurück. „Halten Sie alles von ihr fern. Zwingen Sie sie abzureisen."
„Das wird nichts helfen, Grajew... es wird nichts helfen... Sie... sie weiß ... alles."
„Was sagen Sie da?!" Grajew riss den Hut vom Kopf. „Was sagen Sie da? Wie konnte das geschehen?"
Und Akatujew erzählte, während ihn der Schmerz in der linken Brustseite von neuem packte. Grajew kaute nervös an den Nägeln.
„Haben Sie eine Ahnung, Akatujew, was das heißt? Was das für Sie... für mich ... für unsere Sache bedeutet? Hunderte von Verhaftungen, von Erschießungen bedeutet es! Was haben Sie angerichtet? Vielleicht ist es schon zu spät?! Vielleicht sind die Haftbefehle schon unterzeichnet? Und Sie sitzen da und tun, als ob überhaupt nichts geschehen wäre... Sie haben unsere ganze Organisation verraten!! Hier in Ihrer Wohnung, nebenan, sitzt ein Feind, der unser Geheimnis kennt! Was haben Sie angerichtet?!"
Bleich, wütend, in wahnsinniger Aufregung lief Grajew im Zimmer auf und ab.
„Besteht durchaus keine Hoffnung, dass sie zu uns zurückkehren könnte?" fragte er schließlich, nachdem er irgend etwas überlegt zu haben schien.
„Durchaus keine... sie ist wie ihre Mutter." Akatujew schüttelte matt den Kopf.
Das laute Weinen war verstummt, nur hin und wieder drang abgerissenes Schluchzen aus dem Nebenzimmer.
„Vielleicht hat sie schon alles berichtet, und nun foltert sie das Gewissen? Akatujew, wissen Sie, was unser harrt?! Ich habe nicht die geringste Lust zu sterben. Sie vielleicht?" Die Stimme klang hart und trocken.
Akatujew schwieg. Sein Herz schlug auf einmal sonderbar leise und langsam. Gleich würde es stillstehen, für immer.
Ü ber der Stadt hing eine schwere schweflige Gewitterwolke, bereit, sich zu entladen. In der Minute, bevor das Gewitter losbrach, herrschte im Hause Akatujews tiefe Stille. Schwer und unheimlich, brachte sie jeden Ton zum Schweigen.
Auf einmal aber barst diese Stille — ein gellender, unmenschlicher Schrei zerriss sie.
„A—a—a.... Pa—a—apa! Hi—i—lfe! Hil—fe!" Mit furchtsamen, zögernden Schritten betrat Akatujew das Zimmer seiner Tochter. Wera warf sich auf dem Bett hin und her, fasste sich nach dem Hals und bäumte sich vor Schmerzen. Ihr Gesicht war ganz blau, in wahnsinnigem Entsetzen biss sie ins Kopfkissen.
„Mir ist so schlecht... Alles im Innern... brennt... Ich muss— A—a—a... "
„Was ist mit dir geschehen?" In kalter Gleichgültigkeit neigte sich der Vater über sie.
„Ich ster—be... Ich brenne... verbrenne... Papa! Papa!" Ihre vor Angst weitaufgerissenen, in kindlicher Hilflosigkeit flehenden Augen umfassten bittend den Vater, und ergriffen von dem eisigen Glanz dieser todgeweihten Augen, stürmte Akatujew auf den Korridor, das Haus hallte wider von seinem Geschrei:
„Grajew — einen Arzt! Schnell, um Gottes willen, — schnell!" Er riss Grajew am Arm, sah ihm flehend in die kalten, undurchdringlichen Augen!
Grajew setzte langsam seinen Hut auf, rückte ihn mit der gewohnte Gebärde gerade und ging hinaus. Die kalten Finger Akatujews schüttelte er ungeduldig von sich.
Die von Gewitterspannung geladene Finsternis nahm ihn auf. Von allen Seiten blinzelten ihn die gelben Fenster der in der Dunkelheit verlorenen Häuschen mit schlauer Wachsamkeit an. Grajew beschleunigte seine Schritte, getrieben von dem Wunsch, schneller ans Licht zu gelangen. Unter der Laterne, die an der Straßenkreuzung stand, sah er auf die Uhr. „Ja... Ich schaffe es noch... Einen Arzt?" Er sah plötzlich die schreckensstarren, flehenden Augen Akatujews vor sich, dann blickte er zögernd auf die blanke gelbe Telegrafenstange und schritt eilig dem Bahnhof zu...
Akatujew konnte sich nicht entschließen, das Zimmer seiner Tochter wieder zu betreten. Er hörte ihr ersterbendes Stöhnen, und in stummem Jammer raufte er die spärlichen grauen Haare, die wie dünne silbrige Spinnweben im Schein der elektrischen Lampe aufglänzten und auf den dicken Teppich niederschwebten. Er zitterte bei dem Gedanken, dass Wera sterben könnte, gleichzeitig aber wünschte er ihren Tod. Er glaubte in diesem Augenblick an nichts, er hatte nur das Gefühl, dass irgend etwas Furchtbares unabwendbar über seinem Haupte hing. Von der schrecklichen Erwartung dieses Unvermeidlichen beherrscht schaute er wieder in das Zimmer seiner Tochter. Wera empfing ihn mit einem gleichgültigen, erlöschenden Blick. Sie öffnete die schwarzen Lippen, als wollte sie etwas sagen, aber ein Krampf schüttelte sie, sie krümmte sich, und ihr Körper klatschte gegen die Wand.
Mit starren, zitternden Fingern riss Akatujew den Hemdkragen auf und lief in wahnsinnigem Schrecken auf die Treppe hinaus, krampfhaft nach seinem Herzen greifend.
„Grajew! Grajew!"
Ein heftiger Windstoß fuhr in die Geißblattbüsche, die schwarzen Fontänen schwankten raschelnd hin und her, und das Raunen ihrer Blätter drang an das Ohr Akatujews.
Er rannte durch die heulende Stille und schrie. Ein greller blendender Blitz zuckte über den Himmel, und Akatujew fühlte sich von lähmendem Entsetzen ergriffen: er sah sein Schattenbild auf der Erde — und sein Bein, das der Wind abgerissen zu haben schien, leichengelb im fahlen Schein des Blitzes und mit feuchten Blättern behaftet, flog durch die Luft voran, als wolle es ihn selbst überholen. |
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