VIERTES BUCH
1
Das Plenum des Okruschkom stand dicht bevor.
Kortschenko hatte sich in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und bereitete sich auf sein Referat vor; umgeben von ganzen Stößen von Material — Diagrammen, Berechnungen, Plänen — saß er da; auf Tisch und Stühlen, auf dem Diwan, überall lagen diese Haufen von Papier herum. Kortschenko entfaltete die langen Aufstellungen mit den unendlichen Zahlenreihen, die er hastig überflog, mit den Augen die Stelle suchend, wo das Endresultat verzeichnet stand. Unruhig glitten die Augen über die Aufstellungen, zwischen den ungeduldig zuckenden Lippen hing das aufgeweichte Mundstück einer Zigarette. Er klingelte.
„Rufen Sie bitte Turtschaninow. Warten Sie... Suchen Sie dann Platow in der Fabrik."
Kortschenko presste die Finger an die Schläfen.
„Das muss mir der Teufel eingegeben haben, auf Wartanjan zu hören", dachte er. „Jetzt kann ich die Suppe auslöffeln. Mussten wir diesen eingebildeten Bengel da zum Leiter der Martinabteilung machen! Wieder mal eine Laune dieses temperamentvollen Kaukasiers! Ein Wunder, dass sich Kraiski damit abgefunden hat und sich dem Bau der neuen Fabrik widmet. Aber der Ausschuß, der Ausschuß! Der geht wieder in die Höhe wie ein Hefeteig."
Etwas auf dem linken Bein hinkend, mit finster zusammengezogenen Brauen, betrat Turtschaninow eilig das Zimmer.
„Benjamin Pawlowitsch, mir gefallen die Endresultate für die letzten neun Monate nicht! Wir sind im Rückstand... Sie sagten mir doch ganz etwas andres?"
Benjamin Pawlowitsch nahm die Aufstellung zur Hand rückte den Kneifer auf der mageren Hakennase zurecht und meinte ausweichend:
„Pjotr Petrowitsch, Sie wissen selbst, wie schwierig die Verhältnisse sind, unter denen wir arbeiten. Ich brauche Ihnen nicht erst zu erzählen, dass das gesamte technische Personal Tag und Nacht arbeitet, ohne sich Ruhe zu gönnen; aber eine Reihe von objektiven Umständen macht eben die ganze Arbeit zuschanden; es herrscht z. B. chronischer Mangel an U-Eisen, daran sind die Sormower Werke schuld..."
„Ja, ja... Alles das stimmt. Aber diese Zahlen gefallen mir keineswegs..." Aufgeregt warf Kortschenko die Aufstellungen beiseite und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
Benjamin Pawlowitsch rückte an seinem widerspenstigen Kneifer.
„Ge—fal—len mir nicht, Benjamin Pawlowitsch! Wie soll ich mit diesen Zahlen vor das Plenum hintreten!? Wir haben doch so oft versichert... haben Telegramme geschickt, haben fest versprochen, dass wir bis zum ersten Juli alles einholen, dass alles in Ordnung sein wird... Und nun? Weiß der Teufel, was das heißen soll!" Kortschenko warf wütend die Zigarette in den Aschenbecher, aber sie sprang wieder hinaus und in das halbgefüllte Teeglas.
„Pjotr Petrowitsch, es ist mir auch unangenehm, dass es so gekommen ist. Glauben Sie mir, mir liegt die Ehre unserer Fabrik, dieses Giganten der sozialistischen Industrie, ebenfalls am Herzen. Mir ist das alles im höchsten Grade unangenehm, Pjotr Petrowitsch... Ich kann nur sagen, dass die ewigen Mäkeleien Akatujews bei der Abnahme der fertigen Lokomotiven die Ausführung des Plans stark behindern. Ich schätze Akatujew tatsächlich außerordentlich hoch, er ist ein wertvoller Mitarbeiter, das ist richtig, aber alles muss doch schließlich eine Grenze haben, Pjotr Petrowitsch! Die Geschichte mit der Lokomotive Nr. 7 ist doch wirklich geradezu ein Witz! Er hat die Lokomotive nicht abgenommen, weil — stellen Sie sich vor — die Scheiben nicht eingesetzt waren! Aber die Lokomotive ist doch fe—e—rtig! Vollkommen fertig! Und nur dank den bürokratischen Vorschriften des NKPS (Anm.: Volkskommissariat für Verkehrswesen) ist es möglich, die Lokomotive zurückzuweisen. Genau so ist's mit Lokomotive Nr. 6... da kommt nun auch noch Strachow mit seiner Pedanterie. Er weigert sich, die Lokomotive abzuliefern, weil angeblich irgend etwas nicht in Ordnung sein soll. Meiner Meinung nach ist das einfach ganz unverantwortlich. Strachow benimmt sich überhaupt sehr eigenmächtig. Als ob er sich mit Akatujew insgeheim verabredet hätte. Man muss ihm mal den Standpunkt klarmachen!"
Nervös griff Kortschenko nach dem Telefonhörer: „Andrej Sergejewitsch! Kommen Sie bitte sofort zu mir." Kurz darauf trat Strachow bei ihm ein. „Andrej Sergejewitsch, weshalb verzögern Sie die Ablieferung der Lokomotive Nr. 6? Was ist los?"
„Alles ging in Ordnung, Pjotr Petrowitsch, aber auf der Probefahrt haben sich die Tragfedern gelockert, und auch die Kurbelzapfen der Triebachse sind nicht ganz in Ordnung. Mit der Ablieferung der Lokomotive muss gewartet werden, bis diese Mängel behoben sind."
„Muss gewartet werden? Warum wurden denn diese Mängel nicht bei der Montage bemerkt? Das ist Ihre eigene Schuld! Sie verzögern die Ablieferung der Lokomotive, dadurch verzögert sich die Lohnauszahlung an die Belegschaft, und alles geht zum Teufel!" schrie Kortschenko außer sich.
Benjamin Pawlowitsch betrachtete aufmerksam seine Fingernägel und reinigte sie mit einem Streichholz. Strachow blickte ihn mit zusammengepressten Lippen von der Seite an.
„Pjotr Petrowitsch, ich will meine Schuld durchaus nicht ableugnen. Aber das kann jedem passieren, und da es nun einmal passiert ist, trage ich doch wohl die Verantwortung dafür, dass alle Mängel ausgebessert werden und die Lokomotive in einem solchen Zustande abgeliefert wird, dass wir uns nicht zu schämen brauchen!"
„Sie brauchen sich ja nicht weiter zu schämen, aber ich — ich muss Ihretwegen rot werden! Alle Fristen sind überschritten; alle unsere Versprechungen gebrochen! Ich habe keine Lust, mir aus Ihrer Nachlässigkeit Vorwürfe entstehen zu lassen! Nicht die geringste Lust!" Aufgeregt drehte Kortschenko den, Telefonhörer zwischen den Fingern.
Mit blassem Gesicht stand Strachow da und betrachtete Benjamin Pawlowitsch mit zusammengekniffenen Augen — die gelassenen Bewegungen dieses Menschen brachten ihn auf, nur mit Mühe hielt er an sich.
„Ich wundere mich nur darüber, dass jetzt alles mir in die Schuhe geschoben werden soll. Benjamin Pawlowitsch schweigt, dabei muss er bestätigen, dass ich kolossal viel Einzelteile erhalte, die Ausschuß sind, besonders in den letzten Tagen... Ich kann schließlich aus schlechten Maschinenteilen keine gute Lokomotive zusammenbauen. Daher die Defekte." Benjamin Pawlowitsch lachte spöttisch: „Sie nehmen's zu genau, Andrej Sergejewitsch. Viel zu genau! Was für Defekte meinen Sie denn ? Mit solchen Defekten haben wir auch schon vor der Revolution unsre Lokomotiven abgeliefert, und damals — das werden Sie wohl glauben — ging es etwas strenger zu. Mir scheint, sie wollen päpstlicher sein als der Papst. Sie verstehen, was ich meine? Nicht einmal Akatujew merkt von diesen ,Defekten' etwas, um derentwillen Sie die Ablieferung der Lokomotive verzögern." Ein verächtliches Lächeln umspielte die Lippen Strachows: „Ich, Benjamin Pawlowitsch, habe noch niemals einem blinden Bettler einen Hosenknopf in die Mütze geworfen, nur weil er nicht sehen kann. Das erlaubt mir ganz einfach meine Ehre nicht..."
Benjamin Pawlowitsch lachte auf:
„Sehen Sie, Pjotr Petrowitsch, da ist er schon wieder ganz aufgeregt! Wie immer! Wichtigkeit — die Ehre Strachows!
Und die Ehre der ganzen Fabrik, Andrej Sergejewitsch? Haben Sie die vergessen?! Morgen können Sie's wieder in allen Zeitungen lesen: Schändlicher Planbruch der Fabrik „Krassny Proletari'. Die Spezialisten erfüllen ihre Pflicht gegenüber dem sozialistischen Aufbau nicht. — Das ist eine Schande! Ganz davon zu schweigen, dass diese ganze Geschichte unserem verehrten Pjotr Petrowitsch wieder die größten Unannehmlichkeiten machen wird. Die Lokomotive Nr. 6 muss morgen abgeliefert werden!"
Strachow biss sich schweigend auf die Lippen. In den blauen Adern an seinen Schläfen klopfte das Blut.
„Ich bin nicht dazu imstande, das zu tun."
„Genosse Strachow!! Die Lokomotive muss abgeliefert werden!" forderte Kortschenko.
Turtschaninow beobachtete lächelnd Strachows Gesicht; er sah, wie Strachow die zuckenden Lippen öffnete und sie dann wieder schnell schloss, wie blaue Funken in den Augen aufsprühten und wieder erloschen.
„Ich bin jedoch verpflichtet, dem Inspektor Akatujew davon Mitteilung zu machen, dass die Lokomotive Defekte aufweist."
„Sie haben morgen die Lokomotive abzuliefern! Mit Akatujew haben nicht Sie zu sprechen, sondern der. Technische Direktor — Sie geht das gar nichts an!" schrie Kortschenko die Fäuste ballend.
Strachow riss erstaunt die Augen auf:
„Pjotr Petrowitsch, entschuldigen Sie, aber ich verstehe absolut nichts mehr. Die Verantwortung für die Lokomotive trage ich. Darum kann ich nicht schweigen. Sie können mich entlassen, aber dafür bin ich nicht zu haben." Er nahm seine Mütze vom Tisch, zerknüllte sie in den zitternden Fingern und stülpte sie so auf den Kopf, dass der Schirm hinten zu sitzen kam. Ohne es auch nur zu merken, wandte er sich zur Tür.
,Ja, allerdings, wenn sich die Sache so verhält, dann müssen wir uns eben trennen", schrie Kortschenko wütend hinter ihm her und betrachtete hasserfüllt den Rücken Strachows. „Ich dulde nicht, dass die Ingenieure der mir unterstellten Fabrik mehr auf die Meinung Akatujews geben als auf die des Direktors! Ich bin hier Herr im Hause und nicht Akatujew!"
Benjamin Pawlowitsch nickte zustimmend, und der Kneifer auf seiner Nase zitterte, bereit hinunterzugleiten.
Strachow ging hinaus, sorgfältig schloss er hinter sich die Tür.
„Hat man schon so was gesehen!" Turtschaninow lächelte zufrieden.
„Gegen diese Unverschämtheit muss gekämpft werden, Benjamin Pawlowitsch."
„Wir kämpfen dagegen, Pjotr Petrowitsch. Aber Sie haben ja nun selbst gesehen. Wir kämpfen ununterbrochen mit ihm und mit Akatujew. Geradezu wie Klassenfeinde. Wie Sie wissen, Pjotr Petrowitsch, habe ich bereits vor dem Kriege hier in der Fabrik gearbeitet. Und wissen Sie, es war damals genau dieselbe Geschichte. Nichts hat sich geändert! Buchstäblich nicht das geringste! Damals war es allerdings etwas leichter. Hin und wieder gab's mal ein Bankett, ein kleines Picknick beim Direktor... Und natürlich waren auch die Instruktionen dementsprechend leichter. He— he —he!" Wieder rückte Benjamin Pawlowitsch seinen widerspenstigen Kneifer 2urecht.
„Weiß der Teufel, was das alles heißen soll!" seufzte Kortschenko.
Er stellte sich einen Augenblick lang das Plenum des Okruschkom vor. Er auf der Tribüne, unten im Saal alle die Köpfe, die Aktentaschen. Die Seiten des Notizbuchs rascheln. Im ganzen Distrikt wird man diese verfluchten Ziffern herumschleppen... Eine Schande!
Benjamin Pawlowitsch nahm den Kneifer ab und suchte mit blinzelnden, kurzsichtigen Augen nach der Ursache, warum er nicht mehr fest auf der Nase sitzen wollte.
„Der Mechanismus ist schlaff."
„Was für ein Mechanismus?"
„Nein — ich meine meinen Kneifer... Der Mechanismus ist erschlafft, und es fehlt mir die Zeit, ihn zur Reparatur zu tragen. Ich bin schrecklich mit Arbeit überhäuft. Wissen Sie, Pjotr Petrowitsch, gestern war seit langem der erste Tag, an dem ich mich ein wenig ausgeruht habe — seit langem! Wir sind zusammengekommen, haben ein bisschen gequatscht und so. Jedoch auch bei dieser Gelegenheit habe ich's nicht ausgehalten und habe mich eine ganze Stunde mit Akatujew herumgestritten. Übrigens — er ist sehr unzufrieden, seine Wohnungsverhältnisse sind wirklich ganz unhaltbar. Ein altes Haus, Reparaturen werden" nicht vorgenommen. Sein ausgezeichneter Bechsteinflügel hat unter der Feuchtigkeit stark gelitten... "
Kraiski kam herein und meldete kurz und sachlich: der Bau der neuen Fabrik ist in Angriff genommen. Arbeiter treffen ein; dieser Tage werden die Maschinen für die Bau- und Erdarbeiten erwartet; die Pläne sind bis in alle Einzelheiten fertiggestellt. Er sei mit der Arbeit zufrieden und danke Kortschenko für das ihm, Kraiski, erwiesene Vertrauen. Nur eins verderbe ihm die Stimmung: die furchtbaren Zustände in der Martinabteilung... Aber anscheinend sei dies unvermeidlich, bis es Platow gelungen sein werde, den Betrieb in der Abteilung ganz zu überblicken. Es würde ihm sicherlich gelingen, er sei ja doch ein energischer, mit vielen Kenntnissen ausgestatteter Mensch...
Er verneigte sich, grüßte mit der heißen, feuchten Hand und hastete auf seinen kurzen, dicken Beinen davon.
„Ja... was werden wir denn aber machen, Benjamin Pawlowitsch?" Müde sank Kortschenko über seinen Aufstellungen in sich zusammen.
Turtschaninow setzte den Kneifer wieder auf die Nase, und hinter den dicken Gläsern schienen die Augen plötzlich wie geschwollen.
„Sehen Sie, Pjotr Petrowitsch... Alles in dieser Welt ist, wie man so sagt, relativ... Man kann ja doch den Zahlen schließlich die entsprechenden Kommentare beigeben. In Wirklichkeit sind ja auch die Lokomotiven Nr. 7 und 8 bereits fast fertig. Sie sind ja doch eigentlich schon gemacht. Einzelne Kleinigkeiten fehlen noch daran. Allerdings — wegen des Mangels an Scheiben können sie erst nach etwa einem Monat abgenommen werden; aber was kann uns hindern, sie in den Aufstellungen für den Ersten mit aufzuführen? Sie sind ja doch wirklich fast fertig! Allerdings wird dadurch die Produktion für August sinken, aber im August kann man einen Druck ausüben und das Fehlende nachholen ... "
Finster vertiefte sich Kortschenko in die Aufstellungen. Im Zimmer herrschte Stille. Von draußen drang das Summen eines Motors herein, das Kortschenko an die Sitzungen im Okruschkom gemahnte, bei denen stets ein elektrischer Ventilator surrte, und wieder sah er sich auf der Tribüne stehen.
Als Kortschenko hierher in die Fabrik geschickt worden war, hatte man ihm gesagt: „Nun — mach's gut! Vergiss nicht: das ist der ,Krassny Proletari' — der Gigant, verstehst du??" Und Kortschenko hatte geantwortet: „Seid unbesorgt."
Stets fühlte er die riesige Verantwortung für diesen Betrieb, für dessen Arbeit sich das ganze Land interessierte, und stets hatte er sich bemüht, so zu handeln, dass das Ansehen der Fabrik nicht Schaden leide. Er arbeitete unermüdlich, ehrlich und sorgfältig, und jedes Mal, wenn er auf der Tribüne stand, erklärte er aus tiefster, innerster Überzeugung: die Fabrik erfüllt den Plan und wird ihn auch hinfort erfüllen. Und als Antwort hörte Kortschenko stets den Beifall des Auditoriums, der seinen Glauben verstärkte und seine Kräfte verdoppelte. Niemals handelte oder sprach Kortschenko gegen sein Gewissen, stets sprach er von dem, was seine Augen sahen, was seine Überzeugung war. Er konnte und wollte die Partei über die Lage in der Fabrik nicht falsch unterrichten, und nun musste er also mitteilen, dass das Lokomotivbauprogramm nicht ausgeführt war. Und er wird es auch sagen — bestimmt.
„Man kann etwas von der Augustproduktion auf den 1. Juli tibertragen, Pjotr Petrowitsch."
„Ü bertragen? Ja, das ist doch aber..." „Ach, haben Sie sich doch nicht so, von einer Umstellung der zu addierenden Posten kann sich das Endresultat ja nicht ändern, und die Fabrik wird wenigstens ehrenvoll abschneiden. Wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass unsere Fabrik hinterdreintrottet, Pjotr Petrowitsch! Ich bin zwar nicht Parteimitglied, aber glauben Sie. mir, mir geht das alles nicht weniger nahe als Ihnen..." Wieder glitt der Kneifer von der Nase, aber mit altgewohnter Bewegung fing ihn Benjamin Pawlowitsch auf und transportierte ihn an seinen Platz zurück.
Draußen summte der Motor, als flöge eine Riesenbiene vor dem Fenster hin und her und fürchte sich, ins Zimmer hineinzukommen.
„Wirklich, — dachte Kortschenko — Lokomotiven und Waggons, alles ist schließlich vorhanden, nur ein paar Kleinigkeiten fehlen, und ganz allein wegen dieser idiotischen, bürokratischen Manier Akatujews figurieren sie in der Aufstellung nicht. Was kann schließlich die Fabrik dafür? Was können wir beide, ich und dieser sympathische alte Mann, Benjamin Pawlowitsch, schließlich dafür? Weshalb soll die Fabrik unter dieser bürokratischen Tatsachenverdreherei leiden und ihr Ansehen einbüßen?"
Kortschenko fühlte sich auf einmal stark und sagte bestimmt:
„Umschreiben."
„Recht so, Pjotr Petrowitsch! Heute Nacht werde ich ruhig schlafen, sonst, glauben Sie mir — wie ein Alpdruck hat es auf mir gelastet und hat mich nicht zur Ruhe kommen lassen..."
Da trat Platow ins Zimmer, und Turtschaninow verstummte.
Kortschenko entfaltete nervös die Aufstellung der Martinabteilung :
„In den letzten Tagen ist der Ausschuß der Martinabteilung ganz wider Erwarten ungeheuer gestiegen... Was hat das zu bedeuten, Genosse Platow?"
„Ja... der Ausschuß steigt... Ich beschäftige mich eben mit der Untersuchung dieser Angelegenheit..." Müde stützte sich Platow auf den Tisch und schaute in die Aufstellung.
„Mit solchen Untersuchungen hätten Sie sich auf der Hochschule befassen sollen; jetzt, wo wir Lokomotivteile brauchen, ist dazu keine Zeit!" erwiderte Kortschenko scharf.
„Soll ich Sie allein lassen?" fragte Benjamin Pawlowitsch und erhob sich.
„Nein... bleiben Sie. Also, was ist los, Genosse Platow? Sie haben die Abteilung von Kraiski in gutem Zustand übernommen. Der Ausschuß zeigte das niedrigste Niveau, aus diesem Grund hielt ich es ja auch für möglich, Kraiski den Bau der neuen Fabrik zu übertragen und Sie zum Leiter der Martinabteilung zu ernennen. Und Sie — wissen Sie noch?--Sie haben selbst erklärt, dass Sie sich vor der Verantwortung nicht fürchten. Und was sehen wir nun? Geradezu ungeheuerlich ist der Ausschuß bei den Rädern, den Achslagern... "
„Ich kann mir ebenfalls nicht erklären, woher das kommt", sagte Platow finster. „Es kann zahlreiche Gründe dafür geben... Zum Beispiel die Zusammensetzung der Beschickung... " „Nein — auf keinen Fall..." fiel Turtschaninow erregt ein. „Die Qualität des Gusses ist ausgezeichnet. Ich habe die Proben im Laboratorium gesehen."
„Vielleicht hat die Qualität der Formerarbeit sich verschlechtert", fuhr Platow fort.
„Es arbeiten aber doch dieselben Former in der Abteilung wie bei Kraiski. Jedenfalls liegt der Grund wo anders...", meinte Turtschaninow langgezogen und vielsagend. „Wo denn?" Platow richtete sich hoch auf. Kortschenko streifte mit einem Blick Platows wachsames, misstrauisches Gesicht, er sah die graugelben Flecke auf den eingefallenen Wangen („der sieht aber mitgenommen aus", dachte er bei sich) und sagte langsam, jedes Wort betonend:
„Die Sache ist jedenfalls die, dass Ihnen die Erfahrung und auch die... Kenntnisse fehlen, die Kraiski in hohem Maße besitzt. Und anstatt dass Sie sich diese Erfahrungen zunutze machen, ignorieren Sie sie. Erinnern Sie sich nur an Ihr Verhalten auf der Ingenieurversammlung... Ich muss mich nochmals Benjamin Pawlowitsch gegenüber Ihres Ausfalls wegen entschuldigen..."
„Oh, nein, bitte sehr! Ich habe das schon längst wieder vergessen." Turtschaninow sprang auf und streckte abwehrend die Hände aus. „So etwas kann doch vorkommen."
„Also, Genosse Platow, jetzt habe ich Ihnen das Geheimnis Ihres Misserfolgs aufgedeckt. Richten Sie sich danach. Derartige Verhältnisse kann ich in der Abteilung natürlich keinesfalls dulden. Entweder Sie werden innerhalb kürzester Frist Herr ihrer Aufgabe und bringen die Abteilung wieder auf die frühere Höhe, oder..."
„Oder ich gehe ganz von selbst!" unterbrach ihn Platow scharf.
„Wir hoffen immerhin, dass es dazu nicht kommen wird... ", sagte Turtschaninow mit weicher Stimme. „Wir brauchen junge frische Kräfte, brauchen den Enthusiasmus der Jugend so nötig..."
„Mit Enthusiasmus werden wir keine Lokomotive bauen, Benjamin Pawlowitsch. Dazu muss man in erster Linie ein guter Ingenieur sein", warf Kortschenko belehrend ein. „Und daran fehlt es uns gerade, und wie es uns daran fehlt!"
„Jawohl — daran fehlt es Ihnen!" konnte sich Platow nicht enthalten zu rufen und verließ schnell das Zimmer.
Kortschenko gab sich den Anschein, als habe er die Worte nicht verstanden, hüstelte und kramte wütend in seinen Papieren.
Turtschaninow suchte seine Aufstellungen zusammen und steckte sie in die Aktentasche.
„Wir haben doch denselben Weg?"
Sie gingen zusammen.
Draußen wälzte sich die dichte Menge aus der Hitze der glühenden Werkstätten dem Hauptausgang zu; sie riss Kortschenko und Turtschaninow mit sich und stieß mit dem Gegenstrom der Arbeiter zusammen, die nach dem Tor, das zum Bahnhof führt, eilten. Die Leute hasteten stoßend vorwärts.
Durchdringend und warnend pfiff der „Kuckuck", die Fabrikslokomotive; sie kreuzte den Weg der sich stauenden Menge.
„Ja, also... den wundervollen Bechsteinflügel hat die Feuchtigkeit verdorben! Das Fis ist verdorben! Wollen wir da gestern die ,Internationale' spielen, und das Fis funktioniert nicht. Es ist feucht geworden, das Fis!" schrie Turtschaninow ganz aufgeregt.
„Da sieht man doch Kulturmenschen", dachte Kortschenko, „arbeiten wie die Pferde, und dabei finden sie noch Zeit, sich um irgendein Fis aufzuregen. Was ist das: Fis?" Aber er fragte nicht danach, um nicht seine gänzliche Unkenntnis in musikalischen Dingen zu zeigen. Er seufzte nur tief auf, als er an die Dürftigkeit seines häuslichen Lebens, an die ewige Hetze dachte, und die Last, die sich auf sein Herz wälzte, presste ihm einen tiefen Seufzer ab. Er verachtete sich selbst für die Rückständigkeit seiner Lebensformen und seine Unzivilisiertheit. Da wuchsen seine Kinder wild heran, meist trieben sie sich irgendwo auf der Straße herum — denn seine Frau studierte an der Arbeiterfakultät, er selbst war stets beschäftigt. Man müsste den Kindern deutschen Unterricht erteilen lassen, auch Klavierunterricht wäre gut. Oder sollen wirklich auch seine Kinder so aufwachsen, wie er selbst aufgewachsen war? Der nicht einmal weiß, was Fis ist! Einfach eine Schande...
Als sich Kortschenko an der Straßenecke von Turtschaninow trennte, sagte er:
„Beauftragen Sie die Bauabteilung mit der Renovierung von Akatujews Wohnung."
„Ist gut, Pjotr Petrowitsch! Sie sind tatsächlich stets feinfühlig und entgegenkommend. Wirklich, wissen Sie, so ein wunderschöner Bechstein, und ganz von der Feuchtigkeit verdorben! Tatsächlich — wir stimmten die ,Internationale' an, und da ist an der einen Stelle so ein wunderbarer Übergang auf eine halbe Note: Reinen Ti—i—sch macht mit den Be—drä—ä—ngern", sang Turtschaninow halblaut mit tremolierendem Tenor, „Heer der Skla—a—ven, wa—a—che auf... das ist die Stelle: Wa—ache auf! .. Hier braucht man das Fis, und die Taste funktioniert nicht. Von der Nässe verdorben! Und dann nochmal an anderer Stelle: Ein Ni—i—chts zu sein, duldet nicht lä—ä—änger... wieder Fis"...
2
Mit hastigen, nervösen Schritten verließ Platow das Zimmer des Direktors. Er war so in die Gedanken vertieft, die das Gespräch mit Kortschenko in ihm wachgerufen hatte, dass er gar nicht hörte, wie ihn Olga auf dem Korridor anrief.
Sie lief schnell ein paar Schritte hinter ihm her; als sie aber sah, wie eilig er weiterging, blieb sie stehen. Weshalb lief sie eigentlich ? Sie wollte ihm ganz einfach ein paar Worte sagen... Vielleicht hatte er sie sogar gesehen und wollte nicht mit ihr sprechen? Er sah so finster aus. Natürlich — er hatte jetzt soviel zu tun, dass ihm jedenfalls keine Zeit für Unterhaltungen blieb ... Na, schön — es musste ja nicht sein! Etwas beleidigt wandte sich Olga um und ging zum Betriebsrat.
Platow aber eilte ganz in seine Gedanken versunken nach dem Festigkeitslaboratorium. Er wollte noch einmal die Qualität des Gusses kontrollieren: schon drei Tage lang musste er sämtliche Lokomotivräder als Ausschuß zurückweisen. Woran lag das? Er zerbrach sich den Kopf, Hunderte von Vermutungen stiegen in ihm auf, um sofort wieder verworfen zu werden; an ihre Stelle traten andere, aber nicht eine einzige führte zum Ziel. Alle eventuellen technischen Ursachen hatte er aufs genaueste untersucht — alles schien in Ordnung, die Abteilung arbeitete genau wie unter Kraiski, aber der Gussausschuss wuchs von Tag zu Tag geradezu katastrophal; die Martinabteilung führte die Aufträge der anderen Abteilungen nicht aus, das Lokomotivbauprogramm wurde gesprengt. Wie eine Seuche verheerte der Ausschuß die Martinabteilung und machte den Stahlguss zuschanden: Räder, Kesselstützen, Verbindungen, Achslager wurden in ganzen Partien 2um Fallwerk geschickt, und von da aus wanderten die zerfressenen, mit Lunkern bedeckten Teile wieder in den Martinofen zurück.
Pfatow sah, dass sein ganzes technisches Können dieser Pest gegenüber ohnmächtig war; aber er wollte sich seine Niederlage noch immer nicht eingestehen. Mitunter fühlte er sich von einer wilden Verzweiflung ergriffen — er saß ganze Nächte hindurch, wälzte sich auf seinem Diwan hin und her und seufzte schwer. Im Morgengrauen lief Platow dann wieder in die Abteilung zurück, stand stundenlang neben den Formern, aber das Formen wurde gut gemacht. Gestern war Titytsch sogar ganz beleidigt, als er den wachsamen Blick Platows auf sich ruhen fühlte.
„Was trampelst du mir hier so auf der Seele herum, he?
Denkst du vielleicht, der Alte arbeitet schlecht? Junge — das
ist ein Formkasten!" Stolz strich Titysch mit der Hand über den Formkasten. „Hier brauchst du nicht aufzupassen, Senja...
Was das anbelangt, da bin ich selbst Ingenieur, mein Lieber!"
Und beschämt und schweigend war Platow weitergegangen.
„Ich muss noch einmal die Proben von dem Guss ,M' genau untersuchen; wenn sie der Prüfung standhalten, dann... Ja — was dann?''
Er betrat das Laboratorium und war erstaunt über die Stille, die ihn plötzlich umfing: schweigend glänzten die vernickelten Apparate; die funkelnde Scheibe des Versuchspendels hing müde herab wie die untergehende Sonne und ließ das Kupfer der Schalter an der Wand und das golden gefletschte Gebiss Ostrowskis mit mattem Glanz auffunkeln.
Ostrowski lachte lautlos, wobei er in eine Ecke des Laboratoriums hinüberblinzelte, und der Bleistift in seinen Fingern tanzte umher und zeichnete mutwillige Linien auf das liniierte Papier, das vor ihm lag.
„Wera Pawlowna! Was haben Sie für Resultate?" fragte er mit dünner Stimme; als er plötzlich Platows ansichtig wurde, vertiefte er sich in seine Aufstellung.
Aus der Ecke, in die Ostrowski hinübergeblinzelt hatte, tönte jetzt das intensive Surren des Elektromotors, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Dann hörte er plötzlich ein donnerndes Krachen, als ob ein großer Metallklumpen herabfiele, und die Stille, die danach eintrat, wurde unterbrochen von einer Frauenstimme, die einen schwingenden Klang hatte, wie die Saite einer Gitarre:
„Das Resultat ist immer dasselbe. Das Probestück ist in der Mitte durchgebrochen... Die Struktur des Stahls ist ausgezeichnet."
Platow blickte verwundert nach der Richtung, aus der die
Stimme kam, und machte dann verwirrt Anstalt umzukehren.
„Wohin, Genosse Platow?" holte ihn dieselbe schwingende
Stimme an der Tür ein, und durch das dünne Gewebe seines
Hemds fühlte er auf der Schulter eine heiße Hand.
„Sie sind hier? Das habe ich gar nicht gewusst..." murmelte er und schritt weiter, der Tür zu. Aber Wera hielt ihn an der Schulter fest.
„Ja — ich bin schon seit drei Tagen hier und arbeite im Laboratorium. Und Sie sind, wie ich höre, Leiter der Martinabteilung geworden? Es geht also bergauf, Platow? Das ist schön! Ostrowski, das ist der, von dem ich gesprochen habe. Wir sind alte Freunde..." Ihre Stimme brach ab und erlosch. Ostrowski räusperte sich vielsagend, und Wera Pawlowna besann sich darauf, dass sie sich im Laboratorium befand.
„Ja übrigens, Platow, wir untersuchen hier gerade den Stahlguß. Sehen Sie nur, was für eine ausgezeichnete Bruchfläche!'1 Sie hielt Platow ein Stahlstück unter die Augen.
Platow sah, dass das Stahlstück in ihrer Hand leicht zitterte. „Ihre Abteilung liefert sehr guten Stahl, Platow. Sind sie zufrieden? Das ist doch etwas, worüber Sie sich freuen müssen, und statt dessen stehen Sie so finster da. Oder ist es Ihnen nicht angenehm, mich hier zu sehen?"
Platow richtete seinen Blick auf das lebhafte Gesicht Weras und fragte leise:
„Weshalb fangen Sie wieder... davon an? Wir sind doch in Freundschaft auseinandergegangen."
Ü ber das Gesicht Weras huschte ein leichter Schatten. Sie warf die Stahlstücke vor Ostrowski auf den Tisch, so dass sie aneinanderklirrten.
„Jawohl... In Freundschaft... Und darum will ich, dass wir einander auch freundschaftlich begegnen! Ostrowski, es ist ja schon vier Uhr. Ich bin also frei. Kommen Sie, Platow!"
Schnell ging sie hinaus, ihre Absätze klapperten laut auf dem Fußboden.
Mit lang gerecktem Hals sah ihnen Ostrowski aufmerksam nach, und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte er böse vor sich hin:
„So also liegt die Sache!"
Wera und Platow schritten über den still gewordenen Fabrikhof, dem Ausgangstor zu.
„Hören Sie, Platow... Dort im Laboratorium wird dreierlei geprüft: ich prüfe das Metall, ich prüfe mich selbst, und endlich unterzieht dieser ekelhafte Mensch, der Ostrowski, der mich immer an einen Wurm erinnert, mich einer eingehenden, schmerzhaften Untersuchung. Von diesen drei Prüfungen ist die letzte die schwierigste und unangenehmste... Er ist so ein schlüpfriger, ekelhafter, kalter Wurm... "
„Sind Sie denn nun. über sich im klaren, Wera? Oder schwanken Sie noch ebenso wie früher zwischen den beiden Polen unserer Epoche, auf der Suche nach dem ,verheißenen Land'?" lachte Platow.
„Nein, Platow! Ich habe mich davon überzeugt, dass ich mein verheißenes Land schon gefunden habe. Es ist... hier!" Wera warf voller Begeisterung die Arme in die Höhe. „Und ich bin hierher gekommen in dieses schöne, verheißene Land, um es zusammen mit tausenden anderen Menschen noch viel schöner zu machen. Und mein Suchen ist zu Ende. Ich habe ein für allemal die verfluchte Insel meines Kummers und meiner Einsamkeit verlassen."
„Aber auf dieser Insel lebt, wie mir scheint, immer noch Ihr ehrwürdiger Herr Papa?" sagte Platow lächelnd. Wera runzelte die hellen, dichten Brauen. „Mag er leben wie er will... Was geht mich das an." „Sie geht das nichts an? Mir scheint, aus diesen Worten spricht noch sehr viel von Ihrer verlassenen Insel. Sie sind genau dieselbe Individualistin wie früher, die sich nur für ihre eigene Welt interessiert. Er ist doch immerhin Ihr Vater."
„Wir wollen jetzt nicht davon sprechen... Ich bin so froh, dass ich Sie getroffen habe. Mein Leben hier erhält jetzt einen Sinn, Platow. Ich bin so froh! Sehen Sie! Erkennen Sie die Werotschka von früher?" Sie nahm einen Anlauf und sprang leicht über einen hohen Haufen verrosteter Schienen. Entzückt folgte Platow mit den Blicken der schlanken Gestalt.
Ja — das war dieselbe Werotschka, die er in den seltenen Augenblicken leichtsinnigen Studentenfrohsinns unter den lustigen Klängen einer Harmonika in dem engen Zimmer herumgewirbelt hatte. Wo war aber jene zweite Werotschka geblieben, die Platow hasste, jene, die kalte Verachtung für das Leben hegte? Musste er doch um jener zweiten Wera willen die erste vergessen, ihr geliebtes Bild aus seiner Seele löschen.
Und nun sieht er die frühere Werotschka wieder vor sich, sie geht dicht neben ihm, so dicht, dass er ihre Schulter berührt, und lacht vergnügt bei der Erinnerung an jene Studentenveranstaltungen in Moskau. Ihre Augen funkeln, sie ist voll überströmender, lachender Freude. Und Platow selbst wird von ihrer freudigen Erregung angesteckt.
Sie schritten durch die schwülen Straßen der Stadt. „Nicht wahr, Platow, wir werden wieder so wie früher Freundschaft halten? Ich habe Ihnen noch viel, sehr viel zu sagen, und darunter auch etwas sehr Wichtiges... Nun — davon später... Jetzt aber sagen Sie mir, warum waren Sie so aufgeregt und finster, als Sie ins Laboratorium kamen?
Warum haben Sie sofort wieder kehrtgemacht? Was ist mit Ihnen., Genosse Abteilungsleiter?"
Teilnehmend berührte sie seine Hand. „In der Martinabteilung ist irgend etwas nicht in Ordnung, und ich kann der Sache nicht auf den Grund kommen. Lunker und Risse zerfressen das Metall, die gegossenen Räder werden unter dem Fallwerk wie trockene Brezeln zertrümmert... manchmal scheint es mir schon, als bedecke ich mich selbst mit Rissen und Schrammen... Und das feste Vertrauen auf die eigene Kraft, das mich noch nie verlassen hat, wird auch brüchig..." Finster zog Platow die Brauen zusammen.
Als Wera in sein Gesicht blickte, das auf einmal um Jahre gealtert schien und ganz grau aussah, spürte sie plötzlich den heftigen Wunsch, ihm das, was sie für die Zukunft aufgespart hatte, sogleich zu erzählen.
Vielleicht stand das, was ihr bekannt geworden war, in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen Unheil bringenden Rissen? Vor ihren Augen stand plötzlich das hassverzerrte Gesicht ihres Vaters, die Schaumspritzer auf dem schmutzigen Aufschlag seiner Jacke, die boshaft verzogenen Lippen. Und wieder spürte sie alles das, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, den ganzen Schmerz, die heftige Spannung ihrer Nerven — alles das schien zurückgekehrt, und sie erbebte. „Was ist Ihnen?'
„Nichts... Mir ist nicht ganz wohl. Hören Sie, Senja... Kann ich Sie so nennen? Wie früher?"
„Es freut mich, Wera. Und es freut mich, dass Sie sich so sehr zum Guten verändert haben. Sie haben sich anscheinend ganz von Ihrem hässlichen Doppelgänger befreit, den ich so gar nicht leiden mochte. Ich war Ihnen gegenüber ja doch stets aufrichtig."
Wera drückte ihm stürmisch 'die Hand. „Senja! Sie haben mir mit Ihrer Aufrichtigkeit geholfen. Wissen Sie noch, sie nannten mich eine intellektuelle Träne'? Diese Träne ist jetzt getrocknet, Senja. Ich hasse meine Vergangenheit. Ich bin jetzt völlig von einem Gefühl ergriffen, das mir neu ist: von dem Gefühl der Achtung für die schwere körperliche Arbeit von Tausenden von Menschen, und für solche wie Sie, Senja, die zu Führern dieser Tausende werden, die das Leben im Sturm nehmen; ich bin ergriffen von einet grenzenlosen Begeisterung für alles, alles, was heute auf dieser wunderbaren, von mir entdeckten Erde geschieht!"
Platow betrachtete lächelnd ihr begeistertes Gesicht.
Wera schritt schneller aus.
„Nun — auf Wiedersehen!"
Olga hatte sie vom Fenster ihres Zimmers aus beobachtet. Sie hatte gesehen, wie leidenschaftlich sie miteinander gesprochen hatten, hatte den langen, kräftigen Händedruck beobachtet.
„So einer ist das! Jedenfalls hat er mich in der Fabrik auf dem Korridor gar nicht bemerkt. Na, an seine Fabrikangelegenheiten hat er wohl auch nicht gedacht, sondern eher an diese gezierte Jungfer da." Ein hässliches Gefühl durchwühlte ihre Brust, ihre blauen Augen verdunkelten sich, während sie den weißen Fleck verfolgten, der auf dem gelben Hintergrund der sandigen Straße langsam verschwand.
„Genosse Platow? Denken Sie immer noch an Ihren Ausschuß?" lachte Olga klingend hinter ihm her.
Platow blieb verwundert stehen; als er dann Olga entdeckte, zog ein breites Lächeln über sein Gesicht.
„Ich möchte den ganzen Ausschuß ausrotten, Olga!"
„Das ist wahr, Platow. Wir müssen unbedingt irgend etwas tun, denn alle unsere Plandrehbänke stehen still, es sind keine Räder da. Ihre Sache steht schlecht, Genosse Ingenieur!"
Platow hörte den Spott aus ihrer Stimme.
„Weshalb freuen Sie sich denn darüber? Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, Olga!"
Immer noch ganz aufgeregt über ihr Wiedersehen mit Platow, ging Wera mit großen, männlichen Schritten im Zimmer auf und ab. In Gedanken ging sie immer noch neben Platow her, sie fühlte seinen kräftigen, muskulösen Körper dicht neben sich und hörte seine etwas grobe, aber so anziehende Stimme. Die Finger schmerzten immer noch angenehm von seinem kräftigen Händedruck.
Lächelnd in Gedanken an irgend etwas warf sie das Kleid ab, zog einen leichten, hellblauen Schafrock an, setzte sich in einem Sessel zurecht und schlug ihr Tagebuch auf. Die unregelmäßigen Zeilen auf der ersten Seite erinnerten sie an jenen Tag, an dem sie zum ersten Mal die Leere und Unbefriedigtheit ihres Lebens gefühlt hatte. Damals hatte sie geschrieben:
„Ich verstehe dieses neue Leben, für das sich dieser Holzklotz Semjon Platow so begeistern kann, einfach nicht. Es steht allen meinen Gefühlen und Gedanken wie irgendein fremdes Ungeheuer gegenüber, das mich anstarrt und mich mit seinem schwarzen Rachen und seinen gefletschten Zähnen bedroht. Es ist ohne Mitleid den Menschen gegenüber, die Zärtlichkeit und Liebe für die Natur, für die Dinge, für all das Schöne bewahrt haben, ohne das es kein wahres Leben gibt. Es zertrümmert und zerbricht wahllos alle, die sich seiner toten Disziplin nicht unterordnen wollen. Es ist kalt und grausam. Es geht mit einer Schere umher und schert alle über einen Kamm, wie ein Gärtner. Ich will dieses Leben nicht haben! Ich lehne es ab. Und ich ziehe mich auf die öde und unzugängliche Insel der Einsamkeit zurück. Da werde ich warten. Dereinst wird mein Schiff kommen, und dann werde ich mich aufmachen, um das verheißene Land zu suchen, das die Menschen verloren haben. Und ich werde es finden. Seien Sie überzeugt davon — Genosse Platow!"
Wera musste vor sich hinlächeln, als sie diese Worte las, die wohl irgendeine Närrin geschrieben hatte. Ach — wie lag das alles weit zurück! Sie steht am Ufer eines neuen Landes... Dieses Land ist durchtränkt von menschlichem Schweiß und von Erdöl, es ist schwarz und unansehnlich, aber es ist ihr jetzt so teuer, dieses neue Land — ebenso teuer, wie dieser lächerliche Holzklotz, der Ingenieur Platow...
Sie warf das Tagebuch hinüber auf den Diwan, es glitt von dem glatten Leder und fiel auf den Teppich, und wieder öffnete es sich — wieder lag die erste Seite offen da. Wera zitterte, als sie diese finsteren, verzweiflungsvollen Zeilen von neuem vor sich sah, und sie setzte den Fuß auf das glatte Papier, als zertrete sie eine ekelhafte, kalte Kröte. Aber als sie den Fuß hob, fiel ihr Blick wieder auf die schiefen Zeilen, die sich wie Würmer schlängelten. Blass vor Wut packte sie das Tagebuch und schleuderte es in den Wäschekorb.
Leise und bescheiden wurde an ihre Tür geklopft:
„Wera! Kann ich zu dir kommen?"
Die Stimme klang dumpf und undeutlich. Dadurch, dass sie durch die geschlossene Tür drang, verlor sie den Ausdruck, wurde farblos und hölzern. Wera drückte sich tiefer in den
Sessel.
„Wera! Bist du noch wach? Ich möchte mit dir sprechen... "
Wera antwortete nicht. Mit geschlossenen Augen saß sie da. Sie biss sich mit scharfen Zähnen auf die Unterlippe, dass diese weiß wurden wie die Zähne selbst.
„Werussja! Es ist vielleicht das letzte Mal, dass ich mit dir spreche." Seine Stimme zitterte. „Werussja, heute ist mein Namenstag... Ich halte es nicht aus, so einsam...'
Ein gelber Lichtstrahl drang durch den Türspalt und schien den Körper Akatujews durchbohren zu wollen. Aber die Stille hinter der Tür wurde durch keinen Laut gebrochen.
Er stand eine Weile horchend da, dann ging er gebückt in sein Zimmer zurück. Verfluchtes Leben! Erst hatte es ihm die Aktien der „Vereinigten Lokomotiv- und Waggonfabriken und Schienenwalzwerke A.-G." genommen und ihm an ihrer Stelle ein Gewerkschaftsmitgliedsbuch gegeben, dann hatte es ihn auf diesem verfluchten Fabrikhof festgebannt, auf dem er nun wie ein Wolf in seinem Käfig elf Jahre lang herumlief, und nun hatte es ihm das Teuerste geraubt — die Waffe, die in dem ungleichen Kampf ihre Kraft eingebüßt hatte... Jetzt war diese Waffe in fremden Händen. Sollte wirklich alles verloren sein? Wera will nicht mit dem Vater sprechen... Sie sind Feinde...
Akatujew seufzt tief, und als er das wahnsinnige Klopfen seines Herzens spürt, zählt er mit zitternder Hand fünfzehn dunkle Tropfen ab, die er in ein Glas Wasser fallen lässt. Schwerer Baldriangeruch verbreitet sich im Zimmer. Nachdem sich Akatujew etwas beruhigt hat, kehrt er zum Schreibtisch zurück, auf dem überall eng beschriebene Blätter herumliegen. Akatujew taucht die Feder ins Tintenfass und sinnt nach...
Dreißig Jahre arbeitet er nun schon in dieser Fabrik. Er denkt an den Tag seiner Ankunft: es regnete stark, und er musste über die Pfützen springen (gepflasterte Straßen gab es damals nicht), um seine eleganten Schuhe und seine tressenbesetzten Hosen (wie sie damals Mode waren) nicht zu beschmutzen. Ehe er das Haus des Fabrikdirektors betrat, wischte er die Schuhe sorgfältig mit einem Taschentuch ab. Er sah sich wieder, wie er im Vorzimmer vor dem Spiegel stand, der seine schlanke, elastische Figur in der eleganten Uniformjacke mit den goldenen Knöpfen des Eisenbahnministeriums zurückwarf. Damals hing über dem Fabriktor ein Schild, das in großen Goldbuchstaben die Worte trug:
VEREINIGTE LOKOMOTIV- UND WAGGONBAUFABRIKEN
UND SCHIENENWALZWERKE A.-G.
Gegründet 1883
Ja, und Benjamin Pawlowitsch war damals elegant und flink, und sein Kneifer saß fest und sicher auf der Nase, ebenso wie das herablassende Lächeln auf den schmalen, hübsch geschwungenen Lippen.
Jahre sind seither vergangen. Akatujew hat die Revolution erlebt. Und Pawel Jakowiewitsch lebt, und auch Benjamin Pawlowitsch lebt, denn die Revolution braucht diese Pawel Jakowlewitsch und Benjamin Pawlowitsch, sie ist von ihnen abhängig. Sozialismus — das heißt Maschinen, Lokomotiven; Lokomotiven, das heißt Akatujew und Turtschaninow, der Sozialismus ist also undenkbar ohne die Akatujews. Hatte man nicht so die Schlussfolgerungen aufgebaut, als man im Gymnasium Logik studierte ? Alles im Leben ist weise eingerichtet und unwiderlegbar, es zieht seine Bahn, das Leben, genau wie der Zug auf den Schienen, und jeder Zug hat seine Endstation.
Und die Bahn seines Lebens verbuchte Akatujew in seiner Dienstliste, genau so wie der Diensthabende einer Station Buch führt über Ankunft und Abgang der einzelnen Züge:
„Eingetroffen um soundsoviel... Abgegangen um soundsoviel... Beschädigungen keine... "
Akatujew konnte stolz sein: er hatte den Weg seines Lebens ohne Beschädigungen zurückgelegt. An die Stelle des Eisenbahnministeriums war das NKPS getreten, aber die Bestimmungen über die Abnahme der Lokomotiven waren unverändert geblieben, und Akatujew war nach wie vor Inspektor. Allerdings — es gab ein paar Ergänzungen und neue Paragraphen, aber schließlich — man kann keine Revolution machen ohne ein paar Ergänzungsparagraphen...
Tagaus, tagein war er in diesen dreißig Jahren durch Werkstätten und Laboratorien gegangen, hatte die Montage der Lokomotiven und die Materialprüfung überwacht. An jedem neuen Tag wiederholte sich bis in alle Einzelheiten der Kreislauf des vorhergehenden Tages. Es entstanden bestimmte Gewohnheiten, feste Methoden. Alles um ihn herum kannte er in-und auswendig, so dass es ihn beinahe anwiderte, es gab nichts Interessantes mehr für ihn. Die Fabrikleitung schmeichelte ihm; hinter seinem Rücken nannten ihn die Ingenieure einen fetten Dachs, aber wenn sie ihn trafen, hielten sie es für nötig, ihm ihre tiefste Hochachtung auszusprechen. Akatujew konnte zufrieden sein. In materieller Hinsicht war er gesichert, eine spezielle Prämie, die er allmonatlich von der Fabrik „für die Normung der Lokomotiven" erhielt, verdreifachte sein Einkommen.
Immerhin aber beunruhigte die Revolution Akatujew durch alle möglichen Überraschungen und Aufregungen. So hatte man ihm z. B. gestern mitgeteilt, dass Wartanjan irgendwo geschrieben habe, dass er, Akatujew, „keine freiwillige Arbeit für die Allgemeinheit leiste".
Eines schönen Tages werden sie ihm das noch vorwerfen... Jedenfalls war das die Folge davon, dass er es irgend jemand in der Fabrikleitung nicht recht gemacht hatte. Die Angst um die Lage in der Fabrik hatte stets sein krankes Herz erregt (er litt an Herzsklerose), Herzklopfen und Beklemmungen stellten sich ein, und er musste sich zu Bett legen.
Heute aber muss er schreiben. Er wird kämpfen mit einer Waffe, die ganz sein eigen ist, die man ihm nicht so leicht entwinden kann. Fast druckfertig lag die von ihm geschriebene Broschüre „Praktischer Lokomotivbau (Methoden der Bearbeitung, des Zusammenbaus und der Prüfung der wichtigsten Teile)" vor ihm. Gestern hatte er geschrieben:
„II. DAS LOKOMOTIVGESTELL
Die Achsen
Als Material für die Achsen dient der den bestehenden technischen Vorschriften gemäß genormte Stahl. Fast jede Fabrik hat ihre eigene Methode für die Herstellung der Achsen. Wir wollen hier eine dieser Methoden kurz beschreiben.
Zuerst wird ein Ingot mit einem Gewicht von 57—59 Pud gegossen in einer gusseisernen Kokille mit einem Kopf aus Schamotte. Bevor der Ingot in den Glühofen kommt, wird er leicht angewärmt bis zu 50°, dann kommt er in den Ofen, wo er allmählich bis auf 1100° erhitzt wird; danach wird er unter die hydraulische Presse gebracht..."
Ruhig und sicher malte Akatujew seine hübschen Buchstaben auf das Papier:
„Er darf nunmehr nicht erkalten, sondern wird gleich von dem Kran in den Glühofen bei dem Dampfhammer geführt, und darauf wird er schon zu einer Achse ausgeschmiedet, mit den erforderlichen Bearbeitungszugaben und mit einer Zugabe auf der Seite des verlorenen Kopfes in Höhe von 16 Zoll zur Entnahme einer Materialprobe aus diesem Teil."
Dabei stellte sich Akatujew vor, wie der Teil für die Materialprüfung mit dem Meißel abgehauen wird, und lächelte herablassend.
„Aber das tun sie nicht, die Hundsfötter! Man müsste spaßeshalber mal kontrollieren. Auf einmal dastehen und sagen: Wo sind die Proben? Sind keine da? Aha—a--a, es sind keine da... Na, was soll man mit euch machen? Jetzt seht ihr, wie ich darüber ,nicht unterrichtet' war. Ich bin ja doch bloß ein ,fetter Dachs'!"
„Der Nabensitzdurchmesser muss um 0,2 mm größer sein als der Durchmesser der Bohrung im Rade; und zwar aus dem Grunde, weil das Rad mit der Achse ein Ganzes bilden soll. Das Aufpressen des Rades erfolgt gemäß den vom Ministerium für Verkehrswesen (schmunzelnd strich Akatujew das Wort „Ministerium" aus und setzte dafür „Volkskommissariat") geforderten Drucknormen... "
Das letzte Wort brachte sein Herz in stürmische Erregung — der brennende Hass, der ihn dabei ergriff, machte ihn erbeben.
„Ja—wo—o—hl! Sehr verehrte Genossen! Direktoren! Betriebsräte ! Raikoms! Zellen: Drucknormen!! Sie stehen unveränderlich fest, diese Drucknormen, sie sind dieselben — bei den Kapitalisten wie auch bei den Kommunisten. Fügt euch gefälligst der Technik, meine Herren! Dem Ingenieur! Der Drucknorm! Sie steht unumstößlich fest. Sie drückt und wird drücken. Fügt euch nur! Ihr habt mir meine Tochter gestohlen. So fügt euch den Druck der Wissenschaft!" Er merkte nicht, dass er diese Worte mitten in den Text der Broschüre hineinschrieb, er flüsterte vor sich hin, und aus dem Flüstern wurde ein unterdrücktes Ächzen, wobei er mit der Feder wütend auf den Tisch klopfte: „Fügt euch!"
Große Schweißperlen traten auf Akatujews Stirn, sie tropften auf das Papier, und die Worte „Fügt euch" verschwammen in einem großen Klecks.
Da holte Akatujew wütend aus und malte mit großen, schreienden Buchstaben hin:
„FÜGT EUCH DEN INGENIEUREN, IHR SCHWEINEHUNDE!"
Sein Herz wollte fast die Rippen brechen und die Brust sprengen. Akatujew fühlte, wie sein Hemd wie ein ekelhaftes, kaltes Pflaster am Rücken festklebte.
„Was den Übergang vom Nabensitz zum Achsschenkel anbelangt, so muss derselbe mit einem Ausrundungshalbmesser ausgeführt werden, der... "
Und wieder zitterte seine Hand in ohnmächtiger Wut.
„Mit einem Ausrundungshalbmesser, den ich euch nicht mitteilen werde! Dieser Halbmesser ist mein Eigentum, das mir keiner rauben kann", flüsterte Akatujew, und dabei fielen schwere Schweißtropfen auf das Manuskript. „Ich werde ihn euch nicht sagen. Nur zusammen mit meinem Herzen könnt ihr euch ihn aneignen..."
Fast von Sinnen, schrieb er mit zitternden, unleserlichen Buchstaben:
„Sergej Michailowitsch!
Ich muss Sie dringend so schnell wie möglich sprechen. Ich erwarte Sie.
P.Ak."
Und auf den Briefumschlag schrieb er die Adresse: S.M. Grajew
Moskau IX Kammergerskigasse 43, Wohnung 4.
Akatujew schloss die müden Augen. Wie im Nebel, sah er künftige Tage vor sich. „Ja — es kommt, dieses langerwartete Jahr. Und Pawel Jakowlewitsch Akatujew wird sein Herz öffnen, und alle werden die Waffe sehen, mit der er gekämpft hat... den Ausrundungshalbmesser. Nur zwei Jahre. Zwei Jahre lang... Monate ... Tage... Das Signal zeigt freie Durchfahrt. Und niemand weiß, welcher Lokomotive es den funkelnden Schienenweg freigibt."
Immer lauter wurde sein Flüstern. Die weißen Lippen bedeckten sich mit flockigem Schaum. Er saß mit geschlossenen Augen und fühlte, wie das Herz sich aufblähte und wieder zusammenfiel gleich einem leeren Sack, wie die Ermüdung durch seinen ganzen Körper kroch und ihn in Fesseln schlug — aber das war schon das qualvoll süße Vorgefühl der ersehnten Tage...
3
Die grauen Wände eines hinfälligen Bretterzauns, der von zahlreichen alten, verwitterten Pfählen gestützt wurde, umschlossen das kleine Gärtchen des „Chefs": fünf Apfelbäume, ein Birnbaum und drei Johannisbeersträucher, erschöpft von der sengenden Glut, umflossen vom Duft des Wermuts und all der namenlosen Gräser, die in der Sonne fast verdorrten.
Die Grillen klopften mit ihren tausend mikroskopischen Hämmerchen an die klingende Stille. Die schlanken Zweige der Apfelbäume wurden zur Erde niedergezogen von der Last der Früchte, die rubinroten Johannisbeertrauben an den hohen Sträuchern streiften das Gesicht des Alten: Er schüttelte einen Zweig, und die überreifen Beeren purzelten ins Gras. Sorgfältig sammelte er sie in die Mütze. Die Sonne irrlichterte in seinem Bart, sie blendete die geschlossenen Augen und erfüllte sie mit heißem roten Licht, und als der „Chef" die buschigen Wimpern aufschlug, da funkelten die Beeren wie rote Blutstropfen.
Der Alte schwankte und trat einen Schritt zurück. Woher kam das Blut? Weshalb war hier Blut, hier in diesem stillen von Licht und Leben erfüllten Garten? Ja — er hatte viel Blut gesehen in seinem Leben, rotes Menschenblut. In Strömen war es geflossen in den Straßen der alten Stadt in den Tagen, da der Lärm der Fabrik geschwiegen hatte und die Menschen schreiend die Gassen entlang gestürmt waren, um ihre Rücken vor den Schlägen der Knuten in Sicherheit zu bringen. In Strömen war es geflossen an jenem Tage, an dem Wolodja Pylajew an der Telegrafenstange hing — an dem Tage schrie die Pylajewa hinter diesem Zaun, im Hause Wolodjas, mit einer Stimme, dass einem die Haare zu Berge standen. Und zum letzten Male hatte Menschenblut den Alten aus den rotbraunen Flecken auf den Seiten des Notizbuchs seines Sohnes angeschaut...
Wollte es den Alten heute wieder quälen?
Drüben hinter dem alten Zaun, im Gemüsegarten der Pylajews, lachte Olga. Ihr klingendes Gelächter schlug in stürmischen Wellen an den morschen Bretterzaun, flatterte über ihn weg und drang in den Garten des Alten.
„Ach, Großmutter! Ach — ich lach mich ja krank! Das ist doch keine Mohrrübe, sondern ein Rettich! Ha—ha—ha!"
Durch die Ritzen des Bretterzauns schimmerte Olgas rotes Kopftuch.
„Olga!" rief der Alte, „komm mal her. Schau, die Johannisbeeren sind reif, und niemand will sie essen."
Olga kletterte flink auf den alten Zaun, so dass die Bretter krachten.
„Guten Tag, Kusmitsch! Ich hab' Johannisbeeren gern... schrecklich gern!"
Sie sprang in die Wermutbüschel hinab, fiel über den zunächst stehenden Johannisbeerstrauch her und riss lachend die vollen Trauben ab.
Zärtlich lächelnd betrachtete der „Chef" Olga, die sich mit kindlicher Hast den Mund voll Johannisbeeren stopfte...
„So ist sie, die Jugend..." sinnierte der „Chef". „Sonne, Johannisbeeren, Menschenblut, Lachen, Leben... Vielleicht sind in diesem fröhlichen Mädchen hier ein paar Tropfen von jenem geronnenen Blut wieder lebendig geworden, von dem das Notizbuch meines Sohnes Viktor durchtränkt war? Vielleicht ist es meines Viktors Blut, das durch die frischen Lippen dieses Mädchens schimmert, das den ganzen Garten mit Frohsinn und Lachen erfüllt? So ist es, das Leben, laut und sorglos bricht es in den Garten ein, fällt über die Johannisbeersträucher her, lacht und spritzt rosenroten Saft herum... "
„Olga! Lass doch wenigstens dem Ingenieur ein paar übrig", lachte der Alte und blinzelte mit den vom Alter verblichenen Augen.
„Ach, was kommt er nicht zur Zeit! Geschieht ihm ganz recht so! Warum läuft er den Zierpuppen nach!" ruft Olga lachend und ihr rotes Kopftuch verschwindet noch tiefer unter den Johannisbeersträuchern.
„Er ist ein stiller, zahmer Bursche, mein Ingenieur, Olga. Für Mädels hat er keine Zeit."
„Das kennt man schon, Kusmitsch. Keine Zeit! Hinter der Akatujewschen läuft er her."
„Hinter der Akatujewschen? Ist das vielleicht dem Pal Jaklytsch seine Tochter?"
„Ja, ja... die Wera!"
Der Strauch raschelte wie unter einem starken Windstoß.
„So, so... Sieh mal einer an, der Senja!... Und du, Olga, dir gibt's einen Stich durchs Herz, was?"
„Mir?... Ich pfeife drauf. Was geht mich dein Ingenieur an!"
„Wer lässt hier seine Demagogie gegen die Spezialisten spielen? Wo ist der Spezialistenfresser?"
Platow stand plötzlich unter dem Apfelbaum; in den Johannisbeerbüschen war alles still.
„Such' ihn mal, Senja, such' ihn mal!" ermunterte ihn der Alte.
Platow war mit einem Sprung bei dem Strauch, aber einer Eidechse gleich war Olga weggehuscht. Er lief ihr nach. Olga war im nächsten Augenblick am Zaun und hatte schon den Fuß gehoben, um hochzuklettern, als sie plötzlich ihren Körper von festen Händen umklammert fühlte, die sie unter den Schatten des Apfelbaums trugen. Sie sträubte und wand sich unter dem festen Griff; aber die starken Hände umklammerten sie immer fester.
„Ich erge—e—be mich!" schrie sie und lag im nächsten Augenblick im hohen Gras. Über ihr stand, schwer atmend, Platow.
„So, so, Senja. Gib's ihr ordentlich. Sie hat dir die ganzen Johannisbeeren weggefressen und immerzu auf dich geschimpft. Mit der Akatujewschen läufst du herum, sagt sie, und sie hast du ganz vergessen... ", lächelte der „Chef".
„Aber das hab' ich ja gar nicht gesagt, Großvater!" fuhr Olga auf.
„Das hat sie also schon erzählt", dachte Platow, „also ist's ihr jedenfalls nicht einerlei, mit wem ich meine Zeit verbringe... " Er setzte sich neben sie und blickte ihr in das verlegene Gesicht. Olga band schnell ihr Kopftuch ab, und die üppigen blonden Haare fielen ihr ins Gesicht und verdeckten die Augen. Das eng anliegende, gestreifte Sportleibchen ließ deutlich die Umrisse ihrer hohen Brust erkennen, und Platow spürte die Elastizität dieses jungen Körpers. Er warf sich in das hohe Gras und sog den bitteren Wermutgeruch ein. Ein leichter Schwindel überfiel ihn.
Der Alte aber schaute auf ihn und Olga nieder, auf den leeren Johannisbeerstrauch, auf das rote Kopftuch, das sich in den Zweigen des Apfelbaums verfangen hatte, und zwirbelte lächelnd den Bart.
„Warum lachst du, Alter?" fragte Platow. „Darum, mein Täubchen, weil ich vielleicht das Glück gesehen habe."
„Hast du es wirklich mal gesehen, das Glück?" Der „Chef" presste die trockenen, runzligen Lippen zusammen und zupfte an seinem Bart herum.
„Ich hab's gesehen, mein Täubchen, mehr als einmal gesehen... "
„Das muss aber interessant sein, Großvater! Erzähl uns mal etwas davon! Wirklich — wie sieht es eigentlich aus, das Menschenglück ? Platow, vielleicht ist es auch nur so ein bürgerliches Vorurteil? Darf eine Komosomolka und Leiterin der Kinderbewegung in der Fabrik ,Krassny Proletari' auch von Glück träumen?"
„Jawohl", lachte Platow, „ich erlaube es... Und ich schließe mich Ihnen an, Olga... Nun los, Alter, erzähl' mal."
Olga kroch zu dem Johannisbeerstrauch, und langsam die letzten Beeren abreißend, barg sie ihr verwirrtes Gesicht in dem duftenden Schatten.
Der Alte rückte näher an den Apfelbaum, in den Schatten, hüstelte und begann:
„Geboren wurde ich, meine Kinder, nicht hier, sondern in Djengubowka, etwa sechzig Werst (Anm.: 1 Werst = 1,067 km) von hier. Das war Anno vierundsechzig. Nun rechnet euch mal aus, wie lange das her ist... Unser Dorf versank förmlich im Sumpf. Manchmal gab es keine Rettung vor den Stechmücken. Rund um das Dorf lagen dichte Wälder. Kein Gedanke an einen Acker— nicht einmal die Handvoll, die man um einen Baumstumpf herum aussät, ging auf. Der Herr aber verlangte das, was ihm zustand. Aber woher sollten wir es nehmen? Wir waren damals Leibeigene, wir gehörten dem Gutsbesitzer Suchojarow. Ein launischer Herr, das! Er zwang uns, im Wald Kanäle zu graben. Ihr tut sowieso nichts, hat er gesagt, ich habe nur wenig Ackerboden, grabt Kanäle! Und so mussten wir graben. Mitunter haben wir den ganzen Tag gegraben — die Beine waren uns so schwer, dass wir uns kaum mehr nach Hause schleppen konnten. Davon hat unser Dorf auch seinen Namen erhalten — Djengubowka — das bedeutet, wie ihr wisst, zugrunde gerichtete Tage. Denn wir richteten unsere Tage zugrunde, so quälten wir uns ab. Ich grub gar manchen Tag und dachte dabei: wann wird das einmal ein Ende haben? Soll ich nie in meinem Leben das Glück sehen?.
Wie dachte ich mir das Glück, auf das ich wartete? Erstens einmal wollte ich diese verfluchte Sklavenarbeit, das Kanalgraben, von mir werfen. Dann eine eigene Wirtschaft gründen, eine Kuh anschaffen, und so weiter. Jung war ich damals, so wie die Olga, kräftig und gesund. Ach, dachte ich, wenn ich so ein Stück Land unter die Finger kriegte! Ich wollte es kneten, dass es gar nicht anders könnte als mir eine fette Ernte liefern!
Und dann kam der Tag, wo uns das Manifest befreite. Da sammelten wir vor lauter Freude alle Spaten und alle Karren, legten sie auf einen Haufen zusammen und verbrannten sie.
Ganz trunken vor Freude waren wir! Das Glück war zu uns Tölpeln gekommen, aber wir Tölpel wussten es nicht zu fassen.
Nach und nach kamen wir dann zu uns. Wir fingen an, die Baumstümpfe im Walde auszubuddeln und dann Ackerland zu roden... Jetzt — dachten wir — jagen wir den ganzen Wald zum Teufel — überall soll Korn wachsen! Erdhütten gruben wir uns da auf dem Neuland. Tag und Nacht arbeiteten wir.
Das Korn wuchs — s—o—o hoch!" Der „Chef" hob die
Hand über seinen Kopf.
„Dann kam der Herbst Wir brauten Bier und liefen dann herum, trunken, und brüllten im Chor:
,Sie ist gekommen, die Freiheit..."
Aber als wir am Morgen erwachten, da standen sie da und wollten Geld von uns holen. ,Für das Land, das ihr bekommen habt, — hieß es — müsst ihr Geld bezahlen.' Wir bezahlten. Vor Kummer betranken wir uns wieder, tranken und wälzten uns herum. Und Korn war nicht da... Da ging's denn hierhin und dorthin, und schließlich zum gnädigen Herrn, zu Suchojarow, zu Vinzent Tarassytsch.
,Ihr geht mich jetzt nichts mehr an', antwortete der ,ihr seid jetzt... frei!'
Und so lebten wir denn — jahraus, jahrein. Die kleinen Kinder starben weg wie die Fliegen, vor Hunger. Bast schälten wir im Walde, flochten Bastschuhe, und wenn uns die Aufseher im Walde dabei ertappten, dann zogen sie uns die Kittel aus und schlugen uns ohne Erbarmen.
Zu jener Zeit hatte man mir eine Frau angetraut. Da fuhr ich denn mit meiner Katja aufs Feld, pflügen. Die Stute aber, die will weder vorwärts noch rückwärts, bleibt mit dem Pflug an einem Baumstumpf hängen, und der Pflug geht in tausend Stücke... Da wurde ich eines schönen Tages fuchsteufelswild und schlug mit dem Stock auf die Stute ein. Katja jammert und schreit, ich aber schlage die Stute mit dem Stock aufs Maul, und dabei heule ich selbst...
Mein Glück ist zerbrochen, denke ich. Und fast schien es mir leichter, die Suchojarowschen Kanäle zu graben.
Und dann kamen die Kinder. Das wird geboren und stirbt. Und wieder ein anderes — wird geboren und stirbt... Bei der schweren Arbeit nicht ausgetragen, kamen sie vorzeitig zur Welt. Mager und dürr wurde meine Katja. Wo ist mein Glück geblieben? dachte ich.
Und da kam plötzlich ein Gerücht auf: eine Eisenbahn sollte gebaut werden, hieß es, und die Fabrik da. Scharenweise gingen die Menschen hin, ich mit ihnen. Erst machten wir Erdarbeiten, dann wurden Arbeiter angenommen für die Fabrik. Maschinen kamen an. Rauch, Donnern und Krachen... Hier, wo wir jetzt sitzen, war damals dichter Nadelwald; die alten Föhren im Stadtpark sind noch von jener Zeit übrig geblieben.
Als ich die erste Maschine erblickte, da bekam ich's mit der Furcht zu tun. Das fauchte und rumorte, als wollte es einen akkurat verschlingen. Zu Hause bleibt dir sowieso nichts anderes übrig, als zu verhungern, dachte ich — und so ging ich auf die Fabrik. Man stellte mich in die Eisengießerei. Eine Hitze! Zum Ersticken! So steht du zwölf Stunden da und schwitzst, und für die Nacht geht's dann in die Baracke. Da schlägt man erschöpft auf den Fußboden nieder, alle Glieder wie gelähmt. Manchmal musste uns der Vorarbeiter morgens mit kaltem Wasser begießen, damit wir überhaupt wach wurden.
Aber so ohne Frau ging das nicht, das Leben in der Fabrik. Am Feiertag wurden die letzten Kopeken versoffen. Da ließ ich Katja kommen. Und dann bauten wir unser Haus. Nun, dachte ich, wird endlich bald das richtige Leben beginnen. Fünf Jahre lang bauten wir an dem Haus. Auch Katja arbeitete in der Fabrik. Manchmal kamen wir beide erst spät abends nach Hause und saßen einander dann schweigend gegenüber, kein Wort konnten wir hervorbringen.
Die vier Wände standen, einen Ofen setzten wir, und dann lebten wir fünf Jahre lang ohne Dach.
Aber es war doch wenigstens ein eigenes Heim. Den Birnbaum hier, den habe ich damals gepflanzt..."
Liebevoll strich der Alte über die raue Rinde des Birnbaums, in der eine tiefe schwarze Höhle gähnte. Olga lag langausgestreckt auf dem Rücken und blickte versonnen zum Himmel auf, an dem langsam lichte Abendwolken dahinzogen, von der untergehenden Sonne vergoldet. Der alte Birnbaum streckte seine knorrigen Äste zum Abendhimmel auf.
„... Ja, so war das Leben... Ich hasste diese rußige Fabrik, aber nach und nach gewöhnte ich mich an sie. Ein starker, geschickter Bursche war ich. Ein einziges Mal hab' ich mir glühendes Eisen über die Füße gegossen — es verbrannte den Stiefel und beschädigte den Knochen, aber sonst ist mir niemals etwas passiert. Andere aus meinem Dorf hielten es nicht aus, sie liefen fort. Aber ich — wohin sollte ich auch?
Allmählich verdiente ich besser; das Leben schien leichter. Ich hatte aufgehört, mich vor der Maschine zu fürchten. Mit einem Wort: ich war Arbeiter geworden. Ich formte Lokomotivräder. So meine sechs, manchmal auch sieben Groschen verdiente ich am Tag. Das Haus bekam ein Dach, Katja wurde ausstaffiert.
Damals meinte ich, dass mir das Leben nun endlich seine gute Seite zeigte. Viktor wurde geboren, und vor Freude betrank ich mich drei Tage hintereinander. Vierzig Jahre alt war ich damals gerade. Wenn doch dieser eine wenigstens feste Wurzeln fassen würde, dachte ich, dass er mir eine Stütze im Alter würde..." Der Alte stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Ein Jahr später kam Mitja zur Welt. Kinder, wie aus hartem Stahl gegossen, schwarz und stark, ganz wie die Mutter. Und Katja war schöner geworden, sie trug wie ein Städterin Röcke mit Volants. Endlich war das Glück auch zu mir Tölpel gekommen! Da habe ich die beiden Äpfelbäume hier gepflanzt — weiße Sorte und Antonowäpfel.
Das Werk hatte sich damals schon bis an den Fluss hin ausgedehnt; Das Kesselhaus war gebaut, ebenso die Nägelfabrik und das Walzwerk... Alles vor meinen Augen. Mindestens achttausend Arbeiter waren schon in der Fabrik beschäftigt. Die Stadt reichte bis an den Wald heran. Aus den Dörfern kamen Arbeiter, sie fürchteten sich vor den Maschinen, aber ich lachte sie aus. Ich arbeitete schon in der Dreherei, war zur Maschine übergegangen, und die Maschine gehorchte mir wie ein Hund. Dafür gewann ich die Maschine lieb, für ihren klugen Gehorsam: Ich bring' den Drehstahl an, und die Späne fliegen schon herunter. Ich aber steh' daneben und gucke zu. Das ist keine Stute mit einem Hakenpflug!
Ja — aber bald war es wieder vorbei mit meinem Glück... Neben mir arbeitete da ein Dreher, ein spindeldürrer Kerl, Panjuschkin hieß er. Er war schwach und ungeschickt, und mit den Maschinen kam er einfach nicht zurecht. Einmal hatte er einen Lokomotivkolben völlig verdorben. Einen teuren Teil, das Malheur war groß! Der Meister kam gerannt und gab ihm eine wuchtige Ohrfeige! Wie er stand, der Panjuschkin, so schlug er auf den, Support hin. Eine Sekunde, und die Maschine hatte ihn gepackt und schwang ihn herum. Ich sprang hinzu, hielt die Maschine an und zog Panjuschkin heraus. Er war besinnungslos. Der Meister aber, er hieß Kraft, ein Deutscher — der steht dabei und grinst über das ganze Gesicht. Da konnte ich nicht an mich halten... Ich hatte einen schweren Schraubenschlüssel in der Hand, mit dem schlug ich zu — da kippte er nur so um und war weg... Das war ein Tumult! Sie brachten mich ins Gefängnis. Aber die ganze Werkstatt war auf meiner Seite. Sie ließen die Arbeit stehen und liegen und stürmten ins Kontor. ,Lasst Kusmitsch frei, dann werden wir wieder arbeiten!' Der Dreherei schloss sich die Martinabteilung an, der Martinabteilung das Kesselhaus — die ganze Fabrik. Alles war in Aufruhr. Die Fabrikleitung rief Polizei herbei, aber unsere Jungens haben sie mit Steinwürfen empfangen. Alle Fenster im Kontor mussten dran glauben. Kraft wurde auf einer Karre aus der Fabrik hinausgefahren und in den Kanal geworfen. Mich holten sie aus dem Gefängnis und trugen mich auf den Händen davon... Schließlich kam Kavallerie aus der Gouvernementshauptstadt, und nun ging's los! Gegen Abend brannte es beim Hinterausgang. Dann ging's in der Dreherei los. In schwarzen Säulen stieg der Rauch zum Himmel. Das war ein Tumult, Kinder! Nicht zu beschreiben! Der Sand im Hof war schwarz von Blut. Einen ganzen Waggon voll Verhafteten hatten sie schließlich, kuppelten unsere neue Lokomotive davor, und fort ging's, unbekannt wohin. Mich haben sie hier im Garten gefasst, unter diesem Johannisbeerstrauch da... Mindestens drei Pfund Blut habe ich dagelassen. Sie schlugen mich mit Knuten, die Bleikugeln an den Enden surrten nur so... "
Zitternd stand Olga auf und trat an den Johannisbeerstrauch. Im Gras unten funkelte eine blutrote Beere, und Olga wich erschrocken zurück.
Still und blass setzte sie sich wieder unter den Apfelbaum. Sie hatte das Gefühl, als seien ihre Hände, an denen der Saft der Johannisbeeren klebte, voll Blut. Sie befeuchtete ihr Taschentuch und rieb nervös an den trockenen, klebrigen Flecken. Sie musste an die Straße mit der Telegrafenstange denken, an die langsam vorwärts schreitende schweigende Menge, an das unterdrückte Rattern des ungeduldigen Lastautos, das ganz unter den unheimlichen Blumen, die den Sarg bedeckten, verschwand, in jenen fernen Tagen...
Der „Chef" hockte schweigend im Gras, den weißen Kopf auf die Brust gesenkt.
Dunkellila Schatten schmiegten sich an die Bäume und den Rasen — der Abend kam. Irgendwo in weiter Ferne pfiff eine Lokomotive. Eine Harmonika klang auf und verstummte wieder. Die Grillen im Garten zirpten stärker.
„Nun, gut. Ich will euch noch von meinem letzten Glück erzählen, meine Lieben.
Ich saß meine Zeit ab. Als ich nach Hause kam, waren die Kinder schon aufgewachsen — wie junge Eichen. Nach und nach vernarbten die Wunden im Herzen. Es schien wieder alles wie früher. Bloß Katja magerte ab und hustete. Die Kinder nahm ich zu mir in die Dreherei. Sie waren nun selbst Arbeiter geworden. Nun, dachte ich, nun fängt das Leben an, Kusmitsch!
Viktor konnte gut auf der Harmonika spielen. In der ganzen Fabrik gab es keinen zweiten solchen Harmonikaspieler... Wenn er so loslegte: ,Der Vollmond glänzt', da hüpften die Beine ganz von selber. Dabei war ich damals schon sechzig Jahre alt. Wir tranken einen Schluck, und dann machten die Beine die wunderbarsten Kunststücke. Ach, auch im Alter ist das Glück so schön!
Und da auf einmal — der Krieg! Witja und Mitka wurden sofort eingezogen... Zum letzten Mal hörte ich die Harmonika auf dem Bahnhof. Katja starb bald darauf.
Und ein halbes Jahr später, da bekam ich eine Karte vom Roten Kreuz... Ich wollte einen Schluck trinken, zum Andenken an Witja und Mitka, wie es so üblich ist, und goss mir ein Glas voll ein — aber austrinken konnte ich es nicht, es wollte nicht hinunter, verdammt!
Da ging ich in die Dreherei... wollte meine Maschine, die verfluchte, in tausend Stücke zerschlagen!... Ich stand und sah sie an... Und drehte mich um und ging wieder weg. Ich konnte die Hand nicht heben... Und nun bin ich fünfundachtzig Jahre alt, Kinder .. "
Alles im Garten versank in dichtem, dunkelbraunem Nebel. Wie ein nächtliches Dach verflochten sich die Zweige über den Köpfen der Menschen. Nur die knorrigen Äste des absterbenden Birnbaums hoben sich wie schwarze Finger vom bleichen Himmel ab.
Platow lag da, ohne sich zu rühren — das Schicksal dieses fünfundachtzigjährigen Menschenlebens, das angefüllt war von Kummer und Blut, lastete wie ein Alp auf ihm.
Großväterchen, so hast du das wahre Glück eigentlich gar nicht gesehen?" fragte Olga mit zitternder Stimme.
„Vielleicht werde ich's noch sehen... Nur eine Sache hätte ich noch in Ordnung zu bringen... Ja, und einen Menschen möchte ich noch sehen, mit ihm sprechen..."
Er holte ein abgegriffenes Büchlein aus der Tasche hervor und strich mit der Hand darüber:
„Das ist Witjas Notizbuch. Ein Deutscher hat's mir geschickt, im Jahre achtzehn. Ein guter Mensch sicherlich. Dem hat der alte Vater leid getan. Karl heißt er. Du kannst ja deutsch, Senja... Nun, guck' mal her, was hat er hier unten hingeschrieben, dieser Karl?"
Platow strengte die Augen an, um in der Dunkelheit die Worte zu entziffern:
„'Auf Wiedersehen, Großvater', steht hier geschrieben."
„Was kann das heißen, Senja?"
Und Platow übersetzte ihm die Worte.
„Afidersehen... ! Das ist's also, Kinder, Afidersehen..."
Der Alte stand auf und schlurfte durch das trockene, raschelnde Gras dem Hause zu. Er murmelte unaufhörlich etwas vor sich hin, als fürchte er, das teure Wort aus dem Gedächtnis zu verlieren.
4
Eine lärmende, aufgeregte Menge füllte das kleine Stationsgebäude und drängte lachend und gestikulierend auf den Bahnsteig. Die außer Rand und Band geratenen Pioniere eilten geschäftig hin und her. Die Sonne funkelte in den Trompeten der Kapelle, die ihre Instrumente stimmte. Die Bahnhofsglocke läutete zweimal.
„Jetzt ist der Zug von der vorigen Station abgefahren."
Heftig stoßend und schreiend, drängte die Menge nach dem Stationsgebäude und gab die Schienen frei. Sascha Mochow sprang den hohen Bahndamm herab und kam angerannt.
„Hierher, Zeitlin! Hierher, fass an!'
Im Laufen entfaltete Zeitlin das rote, samtene Fahnentuch. Die Sonnenstrahlen glitten über die Goldbuchstaben, die vergoldete Kugel an der Fahnenspitze flammte glutrot auf — Sascha trug eine zweite, funkelnde Sonne über seinem Haupt.
„Sascha, Sascha! Hierher! Zu mir!" schrie Olga so laut, dass dem neben ihr stehenden Wartanjan die Ohren wehtaten. „Genosse Wartanjan, du stell' dich hierher, so. Ich in der Mitte, Sascha links. So — das ist die Kolonne der drei Generationen", kommandierte Olga.
Wartanjan spielte mit den silbernen Enden seines kaukasischen Gürtels und lachte:
„Zu Befehl, Genossin Kommandeur!" Mühsam drängte sich der „Chef" durch die Menge nach vorn. Als er Platow bemerkte, packte er ihn am Ärmel:
„Senja, komm mal einen Augenblick her." Man merkte dem Alten an, dass ihn irgend etwas erregte. „Sag' mir noch einmal das Wort von gestern. Wie ich heute morgen aufgewacht bin, konnt' mich nicht mehr darauf besinnen... Af Sidoren — oder wie war's?"
Platow half seinem Gedächtnis nach. Das schwere Wort vor sich hinmurmelnd, bahnte sich der Alte einen Weg nach der Stelle, wo die Fahne flatterte, und stellte sich still zur Seite.
Wartanjan überlegte sich noch einmal seine Begrüßungsrede, aber das Lärmen der Menge und der heiße Atem Olgas, der ihn streifte, verwirrten seine Gedanken. Er sah sich um und bemerkte den Alten, der seine Brille auf der Nase zurechtrückte, wobei seine trockenen, blutlosen Lippen unaufhörlich etwas vor sich hinflüsterten.
„Wieder murmelt dieser komische Alte irgend etwas", lächelte Wartanjan.
„Du bist selbst komisch, Wartanjan", gab Olga zurück. Dieser Alte ist mehr wert als alle drei anderen Generationen zusammen). Kusmitsch! Komm hierher. So! Jetzt sind alle Generationen vertreten!"
Gehorsam stellte sich der Alte neben Wartanjan. „Guckt mal, Kinder, guckt mal! Der ,Chef'!" „Seht mal, sogar 'ne Brille hat er mitgebracht!"
„Der muss doch überall dabei sein, der Großvater." An der Gleisbiegung erschien der Zug. Trompetenstöße durchschmetterten die Luft, und die Klänge der „Internationale" mischten sich in das Heulen der Lokomotive.
„Zeig' mir den Deutschen." Der Alte tippte Wartanjan mit dem Finger an den Arm.
Den hellgelben, breitfenstrigen Waggons entstiegen Engländer, Deutsche, Amerikaner, Chinesen, Neger und waren im Nu von den dichten Haufen der Arbeiter umgeben. Von allen Seiten wurden ihnen Hände entgegengestreckt, nach allen Seiten hin tauschten sie Händedrücke. Fremde Sprachen ertönten, irgendeiner schrie „Hurra!" — und von Tausenden aufgegriffen, wälzte sich der Ruf über die Köpfe der Menge. Von allen Seiten wurden die ausländischen Gäste und die zur Begrüßung delegierten Vertreter der Betriebsorganisationen umdrängt. Mit Mühe und Not hielt Sascha Mochow in dem Tumult die Fahne hoch. All die feierlichen Begrüßungen, die man vorbereitet hatte, erwiesen sich als überflüssig, an ihre Stelle traten Freudenrufe, Lachen, Händeschütteln. Ein krausköpfiger Neger mit funkelnden Augen ergriff Sascha bei der Hand, hob ihn hoch empor und versetzte ihm einen schallenden Kuss. Sascha schien es, als berühre eine schwarze, brennende Sonne sein Gesicht, und vor lauter Verwirrung vergaß er zu rufen. „Allzeit bereit!" Wartanjan sagte zur Begrüßung der Gäste nur ein paar Worte, die in dem allgemeinen Lärm untergingen.
„Welcher von ihnen ist der Deutsche? Zeig' mir den Deutschen", flüsterte ihm der Alte unaufhörlich ins Ohr.
Schließlich nahm ihn Wartanjan bei der Hand und führte ihn zu einem blauäugigen Deutschen, der einen gestreiften Pullover anhatte. Der Alte wischte sich die Hand an seinem Kittel ab, rückte die Brille zurecht und streckte dem blonden lachenden Deutschen seine zitternde Hand entgegen:
„Auf Wiedersehen, mein Teurer", flüsterte der „Chef" dabei und nahm die Mütze ab. Funkelnder Sonnenschein fiel auf das weiße Haar des Alten; der Deutsche verneigte sich ehrerbietig und schüttelte dem Alten die Hand.
Niemand in der Menge, außer Platow und Olga, wusste, warum der „Chef" den deutschen Arbeiter so unverwandt anstarrte und warum seine Hände so stark zitterten. Ununterbrochen sah er diesen heiteren, blonden Menschen an, und tiefe Dankbarkeit sprach aus seinen alten, glanzlosen Augen.
Und als sich alle nach der Fabrik begaben, ging der „Chef" unentwegt hinter dem Deutschen her, ängstlich bemüht, den buntgestreiften Pullover nicht aus den Augen zu verlieren.
Mit trüber Miene blickte Andrjuschetschkin auf die staubigen, verblassten Plakate an den Wänden, sog die mit Tabakrauch getränkte Luft ein und dachte nach. Die „Rote Ecke" war leer, die Versammlung der Roten-Hilfe-Zelle hatte wieder nicht stattgefunden. Auf den Tischen lagen Zeitungen, Zeitschriften und zusammengeknülltes Frühstückspapier herum. Auf dem Schachbrett stand eine einzige Figur, ein Turm, er zog, so einsam im Feld, die Aufmerksamkeit Andrjuschetschkins auf sich — er selbst stand auch so allein im Winkel... Er ging auf den Fabrikhof.
Quer über den Fabrikhof war ein rotes Transparent gespannt:
„GRUSS AN DIE DELEGIERTEN DES KOMINTERN-KONGRESSES!"
Er klatschte sich mit der Hand auf die Oberschenkel und rannte schnell zum Raikom.
„Na, so was! Die einfachste Sache von der Welt hab' ich da vergessen!" Er riss die Tür zum Zimmer Wartanjans auf und blieb wie festgeschmiedet stehen.
Im Zimmer, um Wartanjan herum, saßen unbekannte, fremdartig gekleidete Menschen. Worte in fremden Sprachen erklangen, das Zimmer war von feinem Zigarettengeruch erfüllt. Andrjuschetschkin trat näher und betrachtete aufmerksam die Gesichter. Sie waren ruhig und scheinbar ermüdet. Wartanjan erzählte lebhaft vom Werk, vom Leben der Arbeiter, von der im Bau befindlichen neuen Fabrik, und dabei drehte er, wie stets, den Bleistift nervös zwischen den Fingern.
Andrjuschetschkin fiel besonders das Aussehen eines der Ausländer auf: er war außerordentlich mager, und trotz der Hitze hüllte er sich fröstelnd und hüstelnd in einen warmen Mantel. In seinem wachsbleichen Gesicht brannten grünlich schimmernde Augen. Dünne, flachsblonde Haare standen wirr um den Kopf.
Andrjuschetschkin konnte den Blick nicht von ihm lassen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Scharf und aufmerksam richtete sich der Blick der grünen Augen auf ihn. Andrjuschetschkin fühlte es und lächelte, denn er wusste nicht, wie er die Aufmerksamkeit des ausländischen Genossen anders beantworten sollte. Daraufhin huschte auch über das Gesicht des Gastes ein Lächeln, das sich in den Winkeln der trockenen Lippen niederließ.
„Na, Andrjuschetschkin, du willst Bekanntschaft schließen?" lachte Wartanjan. „Nun also, bitte: das ist einer unserer Arbeiter, Mitglied des Raikom, Sekretär der Zelle, Andrjuschetschkin. Ein guter Bursche, bloß ein bisschen ein Quengler..."
„Guten Tag, Genosse! Na, wie gefällt dir unsere Fabrik?"
„Eine schöne Fabrik, sehr schöne Fabrik!"
Die Ausländer sprachen hauptsächlich deutsch und englisch, hin und wieder radebrechte der eine oder andere ein paar Worte russisch.
„Guter Fabrik, bahnbrechend! Sowjet-Lokomotive — gutes Lokomotiv!"
„Noch nicht alles ist bei uns so, wie es sein sollte, Genossen", seufzte Wartanjan.
Der magere Pole trat an Andrjuschetschkin heran, versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter und sagte mit leiser, heiserer Stimme:
„Guten Tag. Ich heiße Losinski."
„Warum wickelst du dich bei der Hitze so fest in deinen Mantel? Bist du nicht gesund?"
„Nicht gesund, Genosse. Ich komm' aus dem Gefängnis, aus Pabjanice, hast du von dem gehört?"
Andrjuschetschkin, der sich freute, dass er unerwartet einen der Gäste russisch sprechen hörte, rief laut: „Das ist schön." Alle lachten.
„Ich meine nicht, dass er im Gefängnis war, ist schön, sondern dass ihr hierher zu uns gekommen seid, ist schön", erklärte Andrjuschetschkin. „Hör' mal, Genosse, halte mal einen Vortrag bei mir in der Rote-Hilfe-Zelle. Damit ich meine Mitglieder ein bisschen aufrüttle."
„Rote Hilfe? Die hat uns wirklich geholfen! Danke, Genosse!" Die grünen Augen des Ausländers schimmerten feucht. „Ach, wir haben ja bisher noch viel zu wenig getan, Genosse, eine direkte Schande! Vielleicht lässt du wirklich einen kleinen Vortrag vom Stapel, wie?"
Losinski gab seine Zustimmung.
Andrjuschetschkin brachte es fertig, noch vor der Pause die Abteilungen davon zu verständigen, dass ein polnischer Kommunist in der Rote-Hilfe-Versammlung einen Vortrag halten würde.
Die „Rote Ecke" war bald überfüllt. Andrjuschetschkin triumphierte und brachte überall an den Wänden Plakate an. „Genossen! Der Genosse Losinski wird uns sogleich berichten, wie unsere Genossen in den polnischen Gefängnissen schmachten. Er kommt soeben aus dem Zuchthaus. Genosse Losinski, du hast das Wort."
Die leise, heisere Stimme Losinskis drang nicht bis zu den hintersten Bänken. Die Arbeiter riefen: „Lauter!"
„Nichts zu hören!" Losinski erklärte, dass er nicht lauter sprechen könne. Seitdem man ihm kaltes Wasser mit Petroleum vermischt in den Mund gegossen habe, sei seine Kehle krank und schmerze. Alle wurden ganz still.
„Das machen die ganz einfach: der Betreffende wird an Händen und Füßen gefesselt. Dann öffnet man ihm gewaltsam den Mund und gießt Wasser hinein, einen Liter nach dem andern. Wasser ohne Ende. Der Kopf schlägt hin und her, scheint zu platzen. Der ganze Körper ist voller Wasser. Man möchte mit dem Finger ein Loch in den Leib stoßen und das Wasser hinauslassen, aber die Finger sind geschwollen vom Wasser, sie gehorchen nicht. Man beißt sich in die Hand, durchnagt die Haut, um das verfluchte Wasser hinaus zu lassen. Aber es kommt kein Wasser heraus, sondern Blut spritzt. Da verliert man das Bewusstsein. Und dann wieder Wasser — ein Liter nach dem andern, und wieder sehen deine Augen, wie der Leib anschwillt, als wolle er platzen. Diese Folter wenden die Henker am liebsten an — sie hinterlässt keine äußerlich sichtbaren Spuren... "
Wassja Trussow spuckte aus und fluchte. Losinski hielt ermüdet inne, und wieder war alles still. Die Arme auf den Tisch gestützt, saß Andrjuschetschkin blass und finster da. Er betrachtete die Gesichter der Arbeiter vor sich und sah, wie die müden Augen zu funkeln begannen.
Titytsch zerzauste wild seinen dünnen grauen Bart mit den ungewaschenen Fingern und schien ganz rasend. Trussow runzelte nervös die Stirn und zündete ein Streichholz nach dem andern an. Losinski zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die feuchte Stirn ab. Aller Blicke ruhten auf ihm. Titytsch vermeinte zu sehen, wie sich Hunderte von Armen von den Wänden her ihm entgegenstreckten, ihm Hunderte roter Fetzen aus vergitterten Fenstern zuwinkten. Er schloss die Augen, und die ganze Welt schien ihm ein einziges, riesiges, blutbesudeltes Gefängnis. Titytsch erhob sich aufgeregt, er wollte irgend etwas rufen, setzte sich aber wieder hin.
„Schließlich traten wir in den Hungerstreik. Das war unsere letzte Waffe in diesem ungleichen Kampf mit dem Klassenfeind. Wir hungerten dreißig Tage lang."
Dreißig Tage?!"
„Dreißig Tage gehungert!"
Hörst du?"
„Dreißig Tage! Wie hält einer das aus? Wenn man hier einmal nicht zu Mittag isst, da knurrt der Magen schon..." Die Ungläubigkeit Wassja Trussows weckte für einen Moment auch in den andern Zweifel, aber dann blickten sie auf den furchtbar mageren Losinski und schämten sich.
„Ich sage: dies ist die letzte Waffe, etwas anderes blieb uns nicht mehr übrig. Ihr, die ihr hier in der Sowjetunion lebt, könnt den Sinn unseres Hungerstreiks vielleicht nicht verstehen — ihr habt das nicht nötig. Aber in unserem Kampf mit dem Klassenfeind erzielen wir mit dieser Methode Erfolg. Nur aus diesem Grunde seht ihr mich hier vor euch... Wir haben gesiegt!"
Losinski setzte sich schwer atmend hin, er hustete und spuckte den Schleim in ein Fläschchen, das er bei sich trug. Dann fuhr er sitzend fort:
„Sie haben uns nicht gebrochen mit ihren Foltern, mit ihren Drohungen. Gefesselt lagen wir in einer steinernen Gruft, aus unseren Wunden strömte Blut. Und da schickte man uns eines Tages von draußen eine eurer Zeitungen. Wir stürzten uns auf sie, wir schlugen uns buchstäblich darum, wer sie zuerst lesen durfte. Denn, Genossen, vergesst das nicht: in unserem ungleichen Kampf hält uns nur der feste Glaube an den Sowjetaufbau aufrecht. Nachrichten von euren Erfolgen, die wir mit unseren Augen nicht sehen konnten, füllten unsere Adern mit frischem Blut, unsere Seelen mit neuer Kraft, rüsteten uns für den weiteren Kampf gegen den Klassenfeind. Und da lesen wir... in einigen großen Fabriken ist nicht alles in Ordnung... Rückstand... Planbruch... Das lesen wir! Und durch die drei Meter dicken Mauern unserer Kerker hindurch möchten wir euch zurufen, damit ihr es alle hört: Genossen! Ist das wahr?"
Losinskis Stimme war schrill geworden. Nach einer Weile fuhr er weich fort: „Und wenn das wahr ist, so wisset: der Feind freut sich über jeden Fehler bei euch. Jeder eurer Fehler schadet unserer gemeinsamen Sache, der Sache der Weltrevolution!"
Losinski sprudelte diese Worte hervor, als würden sie ihm die Kehle verbrennen, und plötzlich rief er, mit Aufgebot seiner letzten Kräfte:
„Genossen! Macht gute Lokomotiven! Macht sie für die zukünftigen Tage, wenn ihr 2u uns kommen werdet!"
Und als ob sie ein Versprechen leistete, rief die Menge wie aus einem Munde zurück:
„Wir werden kommen! Wir werden kommen!" Die Fensterscheiben klirrten unter dem Schrei. Titytsch schüttelte seine schwarzen Fäuste und brüllte: „Hier meine alten Fäuste! Dafür sind sie noch lange gut!" Trussow erschütterte die Luft mit seinem Bass: „Wir werden die Bourgeoisie zermalmen!" Andrjuschetschkin sah, wie helle Tropfen die eingefallenen Wangen Losinskis herabrollten.
„Ich habe eine Frage: wenn, sagen wir mal, einer von
unseren Genossen gekämpft und gekämpft hat, und sein Recht
doch nicht errungen hat... Kann er dann einen Hungerstreik
beginnen?" fragte jemand mit hastiger, aufgeregter Stimme.
Losinski lächelte:
„Warum soll er hungern, wo er doch der Herr im Lande ist? Da muss er die Kraft haben, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Sonst würde ich ihn einen Feigling, einen Deserteur seiner Klasse nennen, der der Sowjetunion Schande macht." „Na also, das habe ich ihm auch gesagt! Eine Schraube soll ihm aus dem Munde wachsen!" „Wem?" „Was sagt er?" „Was faselt der Esel da?" Aufgeregt erhoben sich die Arbeiter von ihren Plätzen.
Aber der Fragesteller war schon längst zur Tür und durch das hintere Fabriktor hinausgerannt.
Spät abends ging Andrjuschetschkin nach Hause. Als er die Treppe emporstieg, war er mit dem vergangenen Tage sehr zufrieden. Nach der Unterhaltung mit Losinski hatte er lange und leidenschaftlich für die Teilnahme an der Arbeit der Roten Hilfe gesprochen, hatte die Annahme einer Resolution über die Abführung eines Tagelohns an die Rote Hilfe zur Unterstützung der politischen Gefangenen in den kapitalistischen Ländern durchgesetzt, hatte Broschüren verkauft und zahlreiche neue Abonnenten für die Zeitschrift der Roten Hilfe geworben. Die Füße wurden ihm immer schwerer, je höher er die Treppe hinaufstieg, aber sein Herz schlug ruhig und froh.
Er riss die Tür weit auf:
„Da bin ich!"
Aus dem Zimmer strömte ihm die bekannte Atmosphäre entgegen, die Ruhe und Erholung verhieß. Im Rahmen des geöffneten Fensters schwankten die schlanken Zweige der Pappel, vom Licht der Bogenlampe auf der Straße hell beleuchtet.
Alles war an der gewohnten Stelle, aber Marussja war nicht zu Hause.
„Jedenfalls ist sie bei der Nachbarin... Die Wohnung ist ja nicht abgeschlossen. Also muss sie irgendwo in der Nähe sein..."
Er trat an den Tisch, um einen Schluck Wasser zu trinken, da bemerkte er einen kleinen Zettel, der neben der Karaffe lag.
„Grischa! Ich kann nicht länger mit Dir leben. Den ganzen Tag bin ich allein. Du bist entweder auf (der Arbeit oder auf Deinen Sitzungen und Versammlungen. Was ist das für ein Leben? Du denkst, Du kannst mich mit Büchern trösten, aber ich bin eine junge Frau. Ich gehe fort von Dir. Zu wem ich gehe, wirst Du erfahren. Versuche nicht, mich zurückzurufen.
Marussja."
Andrjuschetschkin saß unbeweglich da. Seine Augen hafteten an dem kurzen Satz, der so unerträglich schwer klang: „Ich gehe fort von Dir."
Als sein Blick in den Spiegel fiel, sah er ein graues, verstörtes Gesicht, und er musste an die Rote Ecke denken, an die Stille dort und an die einsame Figur auf dem Schachbrett.
Traurig und leer schien ihm alles. Er trat an die Wand, nahm die Fotografie seiner Frau und tat sie hinter den Spiegel.
Seine teeren Augen glitten über die Wände, als suchten sie irgend etwas Vergessenes. Dann trat er ans offene Fenster und setzte sich müde auf das Fensterbrett. Die Blätter der Pappel murmelten leise. In der Ferne schrie ununterbrochen und unruhig eine Lokomotive.
Die Sonne kroch an dem blassen Horizont hoch, und die stahlblaue Wolkenbank zerrann. Die Luft erhitzte sich, drückte auf die Brust und hinderte am Atmen. Die Metallhaufen hauchten unablässig ihre Glut. In zitternden Wellen lag die heiße Luft über der Erde. Zufrieden klirrte der Stahl, und die Werkstätten antworteten ihm mit lautem Donnern und Krachen.
Müde nahm Nossow die Mütze ab und wischte sich mit dem Handrücken den klebrigen Schweiß ab, der an den Schläfen entlanglief. Das Hemd klebte ihm nass auf dem Rücken und weckte ein unangenehmes Gefühl — es erinnerte ihn an seine Krankheit, erinnerte ihn daran, dass er unbedingt Urlaub haben und eine Heilanstalt aufsuchen musste, und dass dies ganz unmöglich war.
„Ja — das hat der Antonytsch gesagt. Aber wenn er es auch nicht gesagt hätte, es wäre doch unmöglich, auf Urlaub zu gehen, unmöglich und undenkbar..." Hasserfüllt betrachtete Nossow das kleine Stück Stahl in seiner Faust. Das lässt ihn nicht fort. Das kann er niemandem überlassen. Das herrscht über Nossows Leben, hat völlig von ihm Besitz ergriffen, erfüllt seine Seele mit dumpfer Unruhe. Nossow blickte sich um. Da kam der „Chef" und musterte ihn unruhig. Nossow gab sich den Anschein, als rauche er sich eine Zigarette an.
Immer war es so...
Tage, Monate, Jahre gingen dahin. Und dieses verfluchte kleine Stück Stahl, das beherrschte Nossows Leben. Ja, er hatte sich ihm damals ausgeliefert, um seinen alten Traum schneller verwirklicht zu sehen, um endlich das Haus mit den grünen Fensterläden zu bekommen. Dieses blank geschliffene Stück Stahl hatte ihm, wie der Zauberstab im Kindermärchen, die grünen Fensterläden, hatte ihm sein Haus gebracht. Nun hatte die Sonne die grünen Fensterläden schon ausgebleicht, aber die roten hektischen Flecke auf den Wangen Nossows hatte die Sonne nicht weggejagt, und mit jedem Tag ging Nossows Atem schwerer. Der Zauberstab hatte ihm das Haus mit einem Blechdach gedeckt, hatte saubere Gardinen vor seine Fenster gehängt, einen weichen Läufer auf den Fußboden gebreitet. Die langersehnte Ruhe war da. Aber um sich herum fühlte Nossow eine drückende Stille. Trinken konnte er nicht, seine Krankheit verbot es. Um die Beklemmung seines Herzens zu verjagen, hatte er ein Grammophon gekauft. Aber die blecherne Stimme beschwerte das Herz noch mehr.
Unruhe und Verzweiflung lasteten auf seiner Seele. Tränen würgten ihn in der Kehle, aber die Augen blieben trocken.
Nossow dachte daran, wie Andrjuschetschkin damals im Zirkel angefangen hatte, von den Grammophonen zu sprechen, die mit ihrer blechernen Stimme das Donnern der Epoche übertönen, und wie beklommen er sich bei diesem Gespräch gefühlt hatte, wie die Angst in ihm aufgestiegen war, dass alles entdeckt würde...
„Der Teufel soll ihn holen!" fluchte er vor sich hin und spuckte dicken gelben, von roten Fäden durchzogenen Schleim aus. Dann begann er, mit automatischen Bewegungen den Stempel aufzuprägen.
„Und hier ist die Prüfstelle für die Einzelteile... Jeder Teil der Lokomotive wird sorgfältig untersucht und kontrolliert, ehe er weitergegeben wird ... "
„Kontrolleur?"
Eine unbekannte Stimme weckte Nossow aus seinem Sinnen. Eine kleine Gruppe — Turtschaninow, Platow, der „Chef" und ein unbekannter Mensch in einem bunten Pullover — näherten sich.
„Kontrolleur? Guten Tag, Genosse!"
Vor Nossow stand ein blonder Mensch und streckte ihm freundlich lächelnd die Hand entgegen. Verwirrt schlug Nossow mit seiner feuchten Handfläche ein.
„Das ist ein deutscher Delegierter vom Kominternkongress, der Genosse Kampf. Er interessiert sich für unsere Arbeit..." sagte Turtschaninow.
Lächelnd schüttelte Kampf Nossows Hand. „Schwere Arbeit, Genosse, was? Ich bin auch Metallarbeiter, Kontrolleur. Genosse, ein guter Kontrolleur sein bedeutet, gute Sowjetlokomotiven liefern."
Turtschaninow machte den Dolmetscher: „Genosse Kampf sagt, Nossow, dass Sie ihre Arbeit so gut wie nur möglich verrichten mögen, damit die Sowjetlokomotive die beste Lokomotive der Welt wird. Er sieht stolz auf die Arbeiter der Sowjetunion. Er ist freudig erstaunt und erregt über das, was er hier bei uns gesehen hat. Er begrüßt die Sowjetlokomotive, die Lokomotive der Revolution!" schloss Benjamin Pawlowitsch feierlich seine Übersetzung und setzte den unruhigen Kneifer auf seiner Nase fest.
Die feuchte Faust um den heißen Stahl gepresst, sah Nossow verlegen den deutschen Delegierten an; und als dieser längst weitergegangen war, stand Nossow immer nach da wie eine gelbe, verkümmerte Erle, die ein früher Frost gebeugt hat, und sah ihm nach.
Er spürte immer noch den Druck der warmen Hand des fremden Genossen, immer noch sah er die blauen Augen und den bunten Pullover vor sich. Dann verschwand alles, und nur die Augen blieben übrig, die Augen, die Nossow offen und prüfend anblickten...
Nossow stieß einen schweren Seufzer aus und hustete. Erschöpft ließ er sich auf einen Stahlklumpen fallen und saß lange unbeweglich da, fröstelnd vor innerem Schauer.
Die großen strahlenden Augen des ausländischen Genossen hatten ihn vertrauensvoll angelächelt. Dieses Lächeln war schrecklich, war unerträglich, und in grenzenlosem Kummer bedeckte Nossow sein Gesicht mit beiden Händen.
Er stand auf und ging schwankend dem hinteren Ausgangstor zu. Er sah nicht, dass ein Zug der Werkbahn gerade auf ihn zukam, hörte nicht die warnenden Signale und das wütende Schimpfen des Lokomotivführers:
„Was läufst du mir gerade unter die Lokomotive, du Idiot
du!"
Die Puffer des im letzten Augenblick zum Stehen gebrachten Zuges prallten krachend aufeinander, aber Nossow sah und hörte nichts von alledem, er ging mechanisch weiter, über die Metallstücke stolpernd, die überall umherlagen. Auf einmal fühlte er auch hier noch die blauen Augen, als wären sie ihm dicht auf den Fersen. Da begann er zu laufen.
Zu Hause empfingen ihn die Kinder mit freudigem Lärm: „Papa! Pap! Wir haben einen Neger gesehen! Er hat Saschka Mochow einen Bleistift geschenkt. Wie schwa—a—arz der ist! Wie Pech!"
Die Frau, überzeugt von der Pünktlichkeit Nossows, klatschte verwundert in die Hände:
„Ach! Unsere Uhr muss wohl falsch gehen!" Wie im Traum ging Nossow an ihnen vorüber in das sauber aufgeräumte, kühle Wohnzimmer, nahm den nickelglänzenden Grammophontrichter und schlug ihn klirrend gegen die Wand: dann packte er das Grammophon und schleuderte es wütend auf die Erde. Außer sich vor Wut zerstampfte er die grüne Scheibe mit den Füßen, zerbrach die Membrane und schlug, begleitet von dem lauten Geschrei der Kinder und dem Weinen der Frau, den vernickelten Trichter wie toll auf den Fußboden, gegen die Wand, um das eigene verhasste, furchtbare Abbild zu zerstören, das ihn aus dem glänzenden Nickel anstarrte.
5
Langsam drehte sich die Lokomotivachse auf der Drehbank und bot dem Drehstahl ihre braune, vom Schmieden ungleichmäßige Fläche dar. Die dampfende, schräg geschliffene Schneidefläche des Drehstahls bohrte sich in den harten Stahl, und langsam rieselten die kurzen Späne herab. Mochow sah nachdenklich zu, wie sich das unansehnliche Metall in eine glänzende Lokomotivachse verwandelte.
Das Surren der Maschinen, das unaufhörliche Klingen des Stahls lasteten schwer auf Mochow und drückten ihn auf seine Maschine nieder; zusammengekrümmt stand er da und stützte sich mit den Händen auf das kühle, ölige Gestell. Er hätte sich gern umgeblickt, aber er fürchtete, auf den bekannten Gesichtern ein spöttisches Lächeln zu sehen, darum unterdrückte er diesen Wunsch. Er sah in die Höhe, senkte aber sofort wieder den Blick, denn gerade über seinem Kopf hing schweigend der Kran, und aus der Kabine schaute Olga gerade auf ihn hinunter. Nervös wischte Mochow die Stahlspäne von der Maschine. „Na, was gafft die mich denn so an... Auch eine Obrigkeit! ,Du darfst nicht schlagen!' Erst hab' mal selber ein Kind, dann kannst du befehlen. Noch nicht trocken hinter den Ohren... " Wütend stieß er die Stahlspäne mit dem Fuß beiseite.
In den letzten Tagen hatte sich wirklich alles gegen Mochow gewandt... als stände irgendein Tier mit gefletschten Zähnen vor ihm und verfolge jede seiner Bewegungen — aus den blitzenden Maschinen starrte es ihn an, aus dem Donnern und Krachen des Stahls brummte es ihm zornig entgegen. Es verfolgte ihn bis in sein Haus, dort barg es sich in irgendeiner Ecke und lastete auf seiner Seele mit unheimlichem Schweigen. Seine Frau schwieg. Sascha schwieg, die Augen zu Boden gesenkt.
Und das alles hatte Saschka verschuldet! Erst hatte er ihn vor den Freunden blamiert, er hat keinen Wodka gebracht; Mochow bekam ihn erst spät in der Nacht und musste noch dazu den Spekulanten den dreifachen Preis zahlen. Wenn Sascha der Mutter gehorcht und den Wodka rechtzeitig gebracht hätte, wäre Mochow sicherlich am anderen Morgen nicht zu spät zur Arbeit gekommen...
Sascha hatte dann diese nächtliche Geschichte mit den Fackeln und dem Glockengeläut organisiert, und alle hatten sehen können, wie sein Vater auf allen vieren ins Haus gekrochen war. Sascha hatte sich dann noch erlaubt, sich dort am Fabriktor über den alten Vater lustig zu machen. „Ist dir ganz recht geschehen so, misch' dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen! Das nächste Mal mach' ich's ebenso!"
Aber da fühlte er wieder den strengen Blick Olgas auf sich. Gestern hatte sie Mochow eine gelbe Vorladung gebracht.
„Du musst dich vor Gericht verantworten, Mochow... Es ist jetzt nicht mehr erlaubt, Kinder zu schlagen... "
Wütend hatte Mochow die Vorladung zerknüllt und in den Werkzeugkasten geworfen. Jetzt brauchte er notwendig den Schraubenschlüssel, aber er konnte auf keinen Fall an den Kasten gehen, da lag ja dieses verhasste Stück Papier drin.
Er, Mochow, Vorarbeiter in der Dreherei, sollte vor Gericht stehen! Was war denn das für eine verdrehte Welt heute? Er sollte nicht das Recht haben, über seinen Jungen zu verfügen, sollte nicht mehr das Recht besitzen, den Menschen frei in die Augen zu schauen ?... Er fühlte sich tief gekränkt.
Unter keinen Umständen würde er vor Gericht erscheinen. Er hatte niemanden ermordet, sich niemals fremden Besitz angeeignet. Er hatte seine Arbeit stets pünktlich geleistet... Immer mehr redete er sich ein, dass er im Recht sei, aber irgendwo in der Tiefe seiner Seele, da saß ein unruhiges Gefühl.
Und geben denn vielleicht alle diese Dreher, Bohrer und Fräser um ihn herum, die ihn jetzt mit höhnischen Blicken mustern, ihren Jungens nicht etwa hin und wieder mal eine Ohrfeige? Sicherlich! Und vielleicht sogar öfter als er. Was wollen sie also von ihm allein? Ist er vielleicht schlechter als andere? Und die Hauptsache: was geht das die Fabrik an und Olga und irgendeinen Zeitlin? Das war ganz allein seine Familienangelegenheit.
Mochow trat an den Werkzeugkasten, warf die gelbe Vorladung zum Fenster hinaus und nahm dann ruhig den Schraubenschlüssel zur Hand.
„Genosse Mochow? Einen Augenblick." Der kleine Zeitlin stand vor ihm.
„Hören Sie, Genosse Mochow, — ich komme im Auftrag der Pionierabteilung und des Komsomol. Übermorgen kommt Ihre Sache vor Gericht 2ur Verhandlung..." Zeitlin hielt verlegen inne.
„Von mir können keine Sachen zur Verhandlung kommen. Ich habe hier zu arbeiten, ich habe keine Zeit, mich mit solchem Unsinn zu befassen!" Mit einem kräftigen Hieb schlug er den zerbrochenen Drehstahl heraus.
„Seien Sie nicht böse, Genosse Mochow, aber dafür müssen Sie Zeit haben. Sie haben Sascha geschlagen, als er seine Pionierpflicht im Interesse der Allgemeinheit erfüllte. Das ist keine Kleinigkeit..." Zeitlin versuchte, streng die Stirn zu runzeln. Mit den Zähnen knirschend, drehte Mochow den Schraubenschlüssel herum.
„Ich bin in guter Absicht zu Ihnen gekommen... Wir wollen Sie doch nicht öffentlich blamieren, vielleicht kann man's anders machen... Na, sagen wir mal, wenn sie z. B. zu uns in die Pionierabteilung kommen und sich entschuldigen würden. Dann würden wir die Sache beim Gericht zurückziehen Mochow riss verwundert die Augen auf: „Was?! Ich mich entschuldigen vor euch Lausbuben? Ich habe fünfundzwanzig Jahre lang keine Buße getan und habe auch nicht die Absicht, es heute zu tun."
„Wählen Sie selbst, Genosse Mochow. Uns kann's ja egal sein. Bloß eins bedenken Sie: vor Gericht wird die Sache unangenehmer. Da wird die Schande größer sein. Morgen komme ich wieder zu Ihnen heran. Entscheiden Sie sich bis dahin." Simka Zeitlin ging, und jetzt erst fühlte Mochow, wie sich sein Herz in heißer Erbitterung zusammenkrampfte. Mit einem scharfen Griff zog er den Riemen auf die äußerste Linke, die kleinste Scheibe, und dröhnend drehte sich die Welle mit großer Geschwindigkeit, blitzend jagte die blanke Radfelge weiter. Krachend erbebte die Drehbank und streute nach allen Seiten heiße Stahlspäne.
„Du wirst die Maschine hin machen", rief der pockennarbige Koschkin, der neben Mochow an der Maschine Saizews arbeitete.
„Ich weiß selbst, was ich zu tun habe. Bleibt mir mit euren Ratschlägen vom Leibe!" schrie Mochow wütend zurück und betrachtete zufrieden die schnell rieselnden heißen Stahlspäne.
Erst gegen Abend legte sich seine Wut. Sein Herz schlug wieder ruhig. Langsam drehte sich die Achse, als sei sie von dem tollen Lauf ermüdet. Ruhig und sicher bearbeitete der Drehstahl die raue Oberfläche des Gussstücks, bis der glänzende Stahl zum Vorschein kam. Auf einmal sah Mochow, dass immer häufiger Risse und Lunker an der Oberfläche des Stahls zutage traten — feine Äderchen, und Unebenheiten, wie die Pockennarben auf dem Gesicht Koschkins. Fast hatte der Drehstahl die Achse schon weit genug abgedreht, aber die Narben auf der Achse wurden immer häufiger. Mochow wurde unruhig, er hielt die Maschine an und rief den Meister.
„Sieh mal, Bulawkin, was das hier für eine Achse wird, eine Schraube soll ihr aus dem Mund wachsen!"
Der Meister schüttelte den Kopf.
„Ein schweinischer Guss ist das jetzt. Na, sie werden die Risse eben verschweißen, es wird schon gehen... Simon Petrowitsch ist sowieso schon ganz ungeduldig: immer nur schnell, schnell... das Programm wird nicht erfüllt..."
Mochow blickte auf die ihm so gut bekannte Warze auf der Wange des Meisters und dachte bei sich: „Auch Menschen werden ja schließlich als Ausschuß geboren" ... Und da er den Meister seit langen Jahren kannte, in- und auswendig wie sich selber, verzieh er ihm die hässliche Warze und beruhigte sich.
„Richtig — 's wird schon gehen... Die müssen's ja besser wissen... "
Er maß den Durchmesser des Achsschenkels, schob den Support vor und schaltete die Maschine ein. In feiner, dünner Spirale rieselten die Späne herab.
Wieder brachte der Drehstahl, der sich in das Metall hineinfraß, Lunker und kleine, unheilkündende Risse zum Vorschein. Und je mehr Narben und Blasen erschienen, um so größer wurde die Unruhe Mochows; aber er führte diese Unruhe auf die Ereignisse vom Morgen zurück.
„Wenn ich nach Hause komme, werde ich ihm erst mal ordentlich eine runterhauen, damit er begreift, was es heißt, den Vater belehren zu wollen! Steck deine Nase nicht in Betriebsangelegenheiten. Ich werde dir schon zeigen... Vorladung... Gericht..." brummte Mochow auf dem Nachhauseweg vor sich hin.
Jeder hatte nach Mochows Meinung seinen Platz auf der Rangliste des Lebens. Und darauf gründet sich die Festigkeit und die Ordnung im Leben: auf der obersten Sprosse steht der Sekretär des Raikom, ein wenig tiefer der Direktor und die Ingenieure, unter ihnen stehen die Meister, noch weiter unten die Arbeiter wie er, Mochow selbst, und ganz unten, unter Mochow, kam dann seine Familie: Frau und Kinder...
Und nun sah er auf einmal, dass die Ordnung durcheinander geraten war: der Esel, der Saizew, will auf die Sprosse hinauf, die für die Ingenieure bestimmt ist; Saschka und Zeitlin, diese Nichtsnutze, wollen sogar auf die alleroberste Stufe hinauf, und er, Mochow, steht auf einmal tiefer wie sie alle, irgendwo ganz unten, und hat nichts, worauf er sich stützen kann... Das ganze Leben schien durcheinander geschüttelt, Ordnung und Festigkeit waren verschwunden.
„Ich werde ihnen ihr ,Gericht' schon zeigen. Bereuen soll ich! Sieh mal einer an, was sich da für ein neuer Pope gefunden hat!" Mochow konnte sich absolut nicht beruhigen.
Er ging an seinem Haus vorüber und lenkte seine Schritte nach Saizews Haus — er musste einmal nachschauen, wie es dem ging...
Vor dem Hause saß Nastja und musterte mit trüben Augen die von der Fabrik Kommenden.
„Na, wie geht's Mitja?"
Nastja machte schweigend eine matte Geste mit der Hand. Mochow trat ins Zimmer. Schwere Stille umfing ihn.
„Mitja, was machst du denn bloß — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!"
Vom Kissen her funkelten in starrer Unbeweglichkeit zwei schwarze Punkte.
„Wie geht's, Mitja?"
Die schwarzen Punkte huschten unruhig umher, dann waren sie wieder starr und unbeweglich. Das gelbe Gesicht Saizews war furchtbar abgezehrt. Mochow stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Das geht aber nicht weiter so, Mitja."
Und flüsternd kam die heisere Antwort:
„Ich muss, Mochow... "
„Was musst du, Mitja? Was soll das heißen?"
Müde schloss Saizew die Augen.
„Ich muss so... handeln... muss mir mein Recht erkämpfen."
Wild sprang Mochow in die Höhe.
„Also du... du machst das absichtlich? Aus Rache?!"
Er stand auf und fuchtelte erregt mit den Armen herum. „Bist du verrückt! Oder willst du Selbstmord begehen?"
„Ich will leben, Mochow, vielleicht ist dieser Wille in mir stärker als in dir. Aber man hat es mir gestohlen... das Leben... meine Zeichnungen... Ich habe doch stets nur an die Fabrik gedacht... Ich wollte, dass es besser würde... Und mich... mich... dieses Schwein... " Von einem Krampf geschüttelt, brach Saizew ab.
Mochow sprang auf, setzte sich wieder hin, dann setzte er die Mütze auf, nahm sie wieder ab und wischte sich den Schweiß fort, der ihm in dicken Tropfen auf die Stirn trat. Er sah plötzlich die schwache, elende Gestalt Losinskis vor sich, die eine ,so unerklärliche Macht ausströmte.
„Ich hasse alles... alle... "
„Aber das geht doch nicht so, das ist doch ganz unmöglich! Du musst ihm ein paar runterhauen dafür, Mitja! Eins in die verfluchte Fratze schlagen, Mitja!"
Saizew hob verwundert den Kopf aus den Kissen. Dieser Gedanke war ihm bisher noch gar nicht gekommen. Ging denn das? Er hielt sich für geschlagen in ungleichem Kampf, die Fabrik hatte sich von ihm abgewandt, und auch er wandte sich nun in schweigendem Kummer ab von diesen Schloten, den riesigen Werkstätten, vom Donnern und Krachen des Metalls. Er konnte absolut nicht verstehen, warum der Alte so aufgeregt war. Mochow aber schüttelte die geballten Fäuste, und seine grünen Augen funkelten zornig:
„Mitja! Du schadest dir ja selbst! Du schadest der Fabrik!
Du bist wie der Riss in einer Achse. Was stellst du bloß an?
Eine Schraube soll dir aus dem Mund... Das darfst du nicht! Da—a—arfst du nicht!" rief der Alte und stampfte dabei heftig mit den Füßen auf.
Nastja kam hereingelaufen. „Was brüllst du denn einen Kranken so an?" „Nastenka, bring Milch. Hast du warme? Gut, gieß sie in einen Becher!"
Saizew atmete schwer und stoßweise.
Mochow hob ihm den Kopf und führte den Becher mit Milch an seinen Mund. Die aufeinandergepressten Zähne waren dunkel angelaufen.
„Trink, Mitja! Eine Schraube soll dir... "
Vorsichtig leckte die dunkle Zunge die weißen Tropfen, dann endlich öffnete Saizew den Mund weit und begann gierig, die warme Milch zu schlucken.
Große Milchtropfen hingen in dem schwarzen Bart. Aus 282
den geschlossenen Augen rollten Tränen über die eingefallenen Wangen und vermischten sich mit den Milchtropfen.
Der erschöpfte Organismus verlangte gierig nach Nahrung, aber die Kehle widersetzte sich — ein Krampf presste sie zusammen, die Milch staute sich im Munde und kam in großem Bogen wieder zurück, troff auf das Bett, auf die zitternden Hände Mochows.
„Wie ein kleines Kind! Trink, Mitja, trink... Wie kann man denn nur so etwas machen? Du großer, alter Dummkopf du! Du bist ja dümmer wie mein Bengel, der Sascha."
Nastja, glücklich über den Erfolg, den Mochow gehabt hatte, klapperte laut mit Tellern, Schüsseln, Messern und Gabeln; sie bereitete ihrem Mann seine Leibspeise. Und dieses Messerklingen und Tellerklirren verschmolz zu einem einzigen Geräusch, über dem der Duft gebratener Zwiebeln schwebte. Der geschwächte Körper sog mit einem wohligen Gefühl diese wohlbekannten Klänge und Gerüche ein — er hatte wieder das Gefühl des Lebens, das er mit äußerster Willensanstrengung so lange unterdrückt hatte.
Saizew versuchte sich etwas aufzurichten und verfolgte mit gierigen Augen, was vor dem Fenster auf der Eisenbahnstrecke geschah. Mit Reparaturen beschäftigte Arbeiter schoben langsam eine mit Eisenbahnschwellen beladene Lore vor sich her, die rote Signalscheibe schwelte wie eine müde Sonne. Auf dem Reservegleis funkelte eine neue Lokomotive mit ihren blank lackierten Seiten: wie ein Feuerreif umzog sie der Kupfergürtel, der ihren Rumpf zusammenhielt; weiß schimmerte die Holzbekleidung an den sorgfältig eingehüllten Kurbeln; der Glanz der sauber geputzten Fensterscheiben blendete die Augen. Saizew fühlte sich von dieser Lokomotive mächtig angezogen — er hätte hingehen mögen, um die zum Lauf fertigen Räder mit den Händen zu betasten. Von der Fabrik klang unaufhörlicher Lärm herüber: die Sirenen der Lokomotiven heulten, die Kräne pfiffen, der Stahl donnerte und krachte. Und Saizew sah die Fabrik vor sich, die Arbeiter, Maschinen, seine Abteilung...
Und er hat zwanzig Tage so dagelegen und seinen Körper gepeinigt, zum Hungern gepresst, er war fast umgekommen in dieser fürchterlichen Einsamkeit... Wie ein schwarzer Abgrund gähnten ihn diese zwanzig Tage an. Saizew zitterte und zog die Decke hoch. Freudig und munter trat Nastja ein, eine dampfende Bratpfanne in den Händen.
„Iß, Mitja! Werde gesund, mein Teurer!" Hastig spießte Saizew ein Stück Fleisch auf die Gabel und führte es so gierig an den Mund, dass er sich die Lippen verbrannte. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und in die Fabrik gelaufen. Größte Ungeduld sprach aus allen seinen Bewegungen, ganz ergriffen fühlte er sich von dieser völlig neuen Entdeckung, die er soeben gemacht hatte: der Lärm, das Metall, der Rauch aus den hohen Essen der Martinöfen und die schweigsame Lokomotive — alles das bestand unabhängig von ihm weiter und wird auch morgen ebenso bestehen — das Leben machte nicht eine Sekunde halt.
Mit Schrecken erkannte Saizew seinen Irrtum, und in einem Anfall ohnmächtiger Wut über seinen kraftlosen, welken Körper warf er die Gabel zur Erde und verbiss sich mit den Zähnen in das Kopfkissen.
Ja, alles existierte weiter, genau so wie früher, alles lebte weiter, auch Kraiski... Nur er lag hier in dem heißen, verschwitzten Bett und wartete — worauf?
Er musste aufstehen. Er wird aufstehen und etwas unternehmen, damit Kraiski unschädlich gemacht wird...
Mit zitternden Händen zog Saizew sitzend die Hosen, die Jacke an, dann stand er auf — aber alles um ihm herum drehte sich wild wie ein Karussell, und langsam sank er wieder auf das Bett zurück. Er fiel sofort in tiefen Schlaf, der erschöpfte Organismus forderte, berauscht von der Nahrung, die ihm zugeführt worden war, seine Rechte.
Die ganze Nacht hindurch schlief er ruhig und tief, und als er am Morgen aufwachte, fühlte er seinen Körper von Kraft durchdrungen und von dem Wunsche zu leben.
Er erwachte sehr früh — die Sonne hatte soeben erst die Saatkrähen geweckt, die in lärmenden Schwärmen auf das Feld flogen, um sich Futter zu suchen. Saizew sprang aus dem Bett, betrachtete es voller Widerwillen und zog sich rasch an. Dann trat er auf die Straße. Er kletterte den sandigen Bahndamm hinauf und stand neben einer Lokomotive. Zwischen den Schienen hüpften einsame Krähen und pickten die Haferkörner auf, die verstreut herumlagen.
Saizew strich mit der Hand über den schwarzen Körper der Lokomotive, mit tiefem Genuss sog er den bekannten Geruch von Metall und frischer Farbe ein... Er beugte sich nieder, betastete die Lager und die Triebachse, betrachtete die Zeichen und Zahlen, die auf den Rädern eingeprägt waren, aber er fand die gewohnten Merkmale nicht: diese Achse hatten fremde Hände abgedreht.
„Fein, unsere Maschine, was?"
Saizew schüttelte die Verwirrung ab und bemerkte im Fenster des Führerhauses ein rundes, zufrieden lächelndes Gesicht.
„Ich fahre die Lokomotive abliefern. Ach, wieviel solcher Maschinen habe ich in meinem Leben schon abgeliefert."
Und zum ersten Mal fühlte Saizew, dass er hier kein Recht hatte, sich mitzufreuen, dass er nicht sagen konnte: „Unsere Maschine"... Von brennender Scham ergriffen, trat er schweigend zurück und entfernte sich nach der Station zu, dann bog er um eine Ecke und lenkte seine Schritte nach dem „Roten Weg", der zu beiden Seiten von hübschen Häusern eingefasst war.
Und als er die breiten Spiegelfenster sah, mit den zarten Spitzengardinen dahinter, da schlug sein Herz dumpf und heftig, vor den Augen drehten sich gelbe und grüne Kreise, und durch die Beine rann ein kaltes Zittern...
Fauchend fuhr ein Auto vorüber. Die fröhlichen Gesichter Wartanjans und Olgas huschten vorbei.
„Dort das kleine Haus. Mit dem Bretterzaun davor..." rief Olga dem Chauffeur zu, und schnaubend hielt das Auto vor der bezeichneten Haustür.
Olga sprang aus dem Auto und lief ins Haus.
Wartanjan folgte ihr, mit Vergnügen beobachtete er das Spiel der Muskeln an ihren nackten Waden.
In der Haustür erschien Nastja.
„Was wollen Sie?" Mit wenig freundlichen Blicken musterte sie Wartanjan und Olga.
„Wir wollen zu Saizew... Wir müssen ihn dringend sprechen", erwiderte Olga sanft.
„Er ist krank, was gibt's da mit ihm zu sprechen!" sagte Nastja grob. „Weshalb stören Sie einen kranken Menschen so in aller Frühe? Als er gesund war, da hat keiner den Weg hergefunden!" Aus ihrer Stimme sprach tiefste Erbitterung.
„Wir haben sehr wenig Zeit, Genossin, und die Sache ist sehr wichtig", mischte sich Wartanjan jetzt in das Gespräch. „Wir wollen ihn auch nur für eine Minute sprechen."
Hasserfüllt blickte Nastja auf das glänzende Auto, das zitternd und ratternd dastand.
„Sind Sie Ingenieur?"
„Nein, wir sind vom Parteikomitee... Bitte, sagen sie Saizew, dass wir ihn sprechen müssen."
„Warten Sie hier einen Augenblick. Und stellen Sie gefälligst Ihren verfluchten Motor da ab. Das rattert und donnert sowieso hier den ganzen Tag... Ein kranker Mensch muss Ruhe haben, und nun faucht das Auto da auch noch!" Wütend schlug Nastja die Tür hinter sich zu.
Sie schaute in das Zimmer ihres Mannes, und als sie das leere Bett sah, rief sie auf den Hof hinunter:
„Mitja, wo steckst du denn?"
Aufgeregt fuchtelte sie mit den Armen herum und ging in den Gemüsegarten um zu sehen, ob ihr Mann vielleicht dort wäre.
Wartanjan und Olga gingen ungeduldig neben dem Auto auf und ab.
„Ich kann mir absolut nicht denken, wohin er gegangen sein kann. Vielleicht zum Nachbar, zu Mochow?" Nastja klopfte bei Mochow, aber auch dort war Saizew nicht.
Enttäuscht blickte Wartanjan Olga an.
„Vielleicht warten wir noch ein wenig?" schlug Olga vor.
„Nein, wozu sollen wir warten. Vielleicht will er ganz einfach nicht mit uns sprechen... Außerdem müssen wir auch aufs Plenum des Okruschkom. Wir kommen sowieso schon zu spät. Also los! Dem Teleshkin wird es aber übel ergehen!"
6
Das Auto raste dem Bahnübergang zu. Der Schlagbaum war niedergelassen, ein Zug mit neuen Wagen fuhr vorüber, in der Mitte die neue Lokomotive, die mit ihren umwickelten Kurbeln winkte.
„Unsere Lokomotive!" sagte Olga stolz.
Wartanjan betrachtete die lange Reihe der dunkelroten Wagen und biss sich auf die Lippen. Er war unzufrieden mit sich selbst. Er hätte sich schon früher mit der Angelegenheit Saizews befassen müssen... Teleshkin hatte seinen Auftrag nicht ausgeführt, er aber hatte zu spät nach dem Rechten gesehen. Diese Unterlassung konnte sich Wartanjan nicht verzeihen; er war den anderen gegenüber streng, sich selbst gegenüber aber noch strenger.
„Für diese Lokomotive werden wir noch was zu hören kriegen, Olga", sagte er nachdenklich, „und mit Recht!"
Das Auto sprang über die unebene Chaussee, fuhr vorsichtig um die großen Wasserpfützen herum, eilte vorwärts, um dann wieder zögernd vor einer tiefen Wasserrinne zu bremsen.
„Olga, du bist entzückt von dieser Lokomotive, du freust dich über ihre Schönheit und Macht. Mit Recht natürlich. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was für eine schwere Last sich jedes Mal auf mich wälzt, wenn ich eine fertige Lokomotive vor mir sehe! Die Last der Verantwortung, die Last der Unruhe! Sie bedrückt mich, diese Unruhe, Tag für Tag, Nacht für Nacht... Heute bin ich um vier Uhr morgens zu Bett gegangen. Und so geht's fast täglich."
„Um vier Uhr morgens? Also haben Sie überhaupt nicht geschlafen? Aber das hält man doch nicht lange aus!" rief Olga und blickte mitleidig in das müde Gesicht Wartanjans.
„Das weiß ich, Olga, dass man das nicht lange aushält. Aber es ist nicht zu ändern. Wir sind im Angriff, Olga, und bei einem Angriff bringt man die Ruhe dem künftigen Sieg zum Opfer. Und erkämpft man einen Sieg vielleicht billig? Ohne Tote und Verwundete? Das Los unserer Generation ist Arbeit, Schlaflosigkeit und Unruhe. Siehst du, ich kann's nicht ermöglichen, ein paar Tage zu meinem kleinen Laso zu fahren. Jeden Tag will ich ihm einen Brief schreiben, und niemals bringe ich ihn zu Ende. Keine Zeit!"
„Aber so geht man ja zugrunde, Wartanjan! Der Mensch ist doch keine Maschine. Haben Sie wirklich an der Arbeit keine Freude, keinen Genuss? Sie sind immer so finster und verschlossen. Ihre struppigen Augenbrauen sind immer zornig zusammengezogen. Kann man denn so leben?"
„Ja — alle sagen, ich sei grob, finster und hart. Aber das sagen die, die ich für ihre schlampige Arbeit rügen muss. Denen gegenüber kenne ich freilich keine Nachsicht, und sie hassen mich ganz einfach... Aber ich bin nicht immer so. Ich kann auch lachen. Allerdings kommt das nicht oft vor. Freude und Genuss sind mir keineswegs fremd. Aber ich kann dir diese Gefühle jetzt nicht erklären, Olga. Sie sind sehr kompliziert. Und sonderbar — sie kommen über mich in den Momenten höchster Anspannung meiner Kräfte, stärkster Ermüdung. Mitunter bin ich, wenn die Nacht da ist, vollkommen erschöpft vor Müdigkeit, aber der Schlaf flieht mich. Dann sitz' ich stundenlang allein, denke nach, springe auf, gehe im Zimmer auf und ab, bis mir die Füße wehtun; und in solchen Momenten zieht mein ganzes Leben an mir vorüber, die Jahre, die ich der Revolution geopfert habe: die Front, Diskussionen, Siege und Niederlagen. Dann spüre ich eine tiefe moralische Befriedigung. Und daraus schöpfe ich neue Kraft und neuen Mut. Und wenn dann der Morgen da ist, dann geht die Unruhe von neuem los..."
Das Auto rattert über das holprige Pflaster der Distriktshauptstadt Swansk. Kleine, graue Häuser, holzgepflasterte Fußsteige, glockenlose Kirchen, Aushängeschilder — das Auto raste von einer Anhöhe herab, als wollte es sich auf die Glasdächer der Fabrikgebäude stürzen, die am Fuße des Abhangs lagen.
„Wie klein diese Fabrik ist! Kein Vergleich mit der unsrigen", meinte Olga. „Aber der Fluss ist hier sehr hübsch, Wartanjan, sehen Sie mal, die schöne Aussicht!"
„Wir werden heute etwas zu hören kriegen, Olga, und mit Recht!" murmelte Wartanjan; er war in Gedanken versunken und sah weder den Fluss noch die begeisterten Augen Olgas.
Die Mitglieder des Plenums waren bereits versammelt. Der glatzköpfige Sekretär des Okruschkom schwang die Glocke.
„Fangen wir an, ja?"
Wartanjan vertiefte sich in die neue Nummer der Zeitung Auf der ersten Spalte waren die heftig rauchenden Fabrikschlote zu sehen, die Lokomotive nahm eine halbe Seite ein; und unter ihr standen, wie Schienenstränge, die Worte.:
„Die Arbeit des ,Krassny Proletari' unter das Feuer der Selbstkritik!"
Wartanjan überflog den Leitartikel und schlug die zweite Seite auf. Da stand, sieben Spalten füllend, der Artikel Kraiskis: „Die Martinabteilung im Kampf für den Promfinplan" (Anm.: Industrie- und Finanzplan).
„Das Wort hat Genosse Kortschenko für seinen Bericht zum ersten Punkt der Tagesordnung."
Gemächlich bestieg Kortschenko die Rednertribüne und holte ein dickes Bündel Papiere aus seiner Aktentasche. Sorgfältig breitete er das Material vor sich aus und zog dann einen zweiten Stoß Papiere aus der Tasche.
„Oho—o—o! Das reicht ja mindestens für drei Stunden!" tönte eine knarrende, unzufriedene Stimme. „Geht's nicht etwas kürzer?"
Wartanjan wandte sich nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und drückte einem Mann in der Uniform der Roten Armee kräftig die Hand.
„Tag, Wolski. Was gefällt dir nicht? Du bist von deiner Organisation her gewöhnt, kurz und ohne viel Worte zu handeln. Aber bei uns geht das nicht so, mein Lieber."
„Genossen! Ich beginne meinen Bericht damit, dass ich euch kurz die Lage schildere, in der sich unsere Fabrik noch in jüngster Vergangenheit befand, damit ihr besser versteht, was wir im Laufe der letzten beiden Jahre erreicht haben, und unsere Erfolge richtig einschätzen könnt. Ich erinnere euch daran, Genossen, dass unser Betrieb sehr alt ist, dass er nur über sehr rückständige technische Einrichtungen und eine ganz primitive Betriebsorganisation verfügt... Alles das erschwert die Arbeit ganz außerordentlich, aber dessen ungeachtet haben wir bedeutende Erfolge zu verzeichnen..." Kortschenko hatte seinen Bericht geschickt aufgebaut.
Wolski beugte sich zu Wartanjan hinüber und flüsterte ihm ins Ohr:
„Ich liebe es nicht, wenn man mit den Erfolgen anfängt. Unaufrichtig..."
Von der anderen Seite her wandte sich Jusow an Wartanjan: „Na, gut zusammengestellt, das Material, wie? Ich hab' mir aber auch Mühe gegeben. Nicht genug damit, dass wir einen Leitartikel von zweihundert Zeilen runtergerissen haben, hab sogar das Feuilleton geschrieben. Lies mal das Feuilleton, Wartanjan."
„Genossen! Von entscheidender Bedeutung bei unserer Arbeit ist die richtige Ausnutzung der Spezialisten. Ich erinnere euch daran, dass Lenin seinerzeit diese Frage aufgeworfen hat. Schon 1919, auf dem 8. Parteitag, sagte Lenin, dass wir für die Spezialisten in der Übergangsperiode möglichst gute Lebensbedingungen schaffen müssen. Das wäre die beste Politik, die sparsamste Wirtschaftsmethode. Sonst würden wir ein paar Millionen sparen, könnten dabei aber soviel verlieren, dass die Aufwendung von Milliarden nicht imstande sein wird, das Verlorene wieder zurückzugewinnen. Ihr seht also, wie klar und einfach Genosse Lenin diese Frage aufgefasst hat. Und diesem bolschewistischen Prinzip getreu, hat die Fabrikleitung die Prämiierung der Spezialisten entsprechend der Planerfüllung der betreffenden Abteilung eingeführt. Wir haben für das technische und das Verwaltungspersonal einen fünfzigprozentigen Tarifzuschlag für die Erfüllung der Abteilungspläne und die Herabsetzung des Prozentsatzes des Ausschusses eingeführt. Damit aber jeder einzelne Spezialist an der Erfüllung des allgemeinen Betriebsplans interessiert ist, haben wir dafür weitere fünfundzwanzig Prozent ausgesetzt. Wir schlagen auf diese Weise also zwei Fliegen mit einer Klappe..."
„Pass nur auf, dass sie dir nicht alle beide wegfliegen !" Alle wandten sich um.
„Weißt du, wer das gerufen hat?" Jusow stieß Wartanjan an. „Ich kenne meine Pappenheimer... Das ist der Querulant, der Andrjuschetschkin. Der ist ja wohl bei euch Mitglied des Raikom? Das kann ich nicht begreifen!"
Kortschenko, in seinem Gedankengang gestört, blätterte nervös in den Papieren.
„Ich fahre fort... Anstatt hier Zwischenrufe zu machen, Andrjuschetschkin, solltet ihr in der Martinabteilung lieber besser arbeiten. Die Martinabteilung ist der wundeste Punkt im ganzen Betrieb. Dank den Bemühungen der Spezialisten, insbesondere des Ingenieurs Kraiski, hatten wir die Abteilung hochgebracht. Der Ausschuß war auf neun Prozent gesunken. Leider ist aber mit dem Ausscheiden Kraiskis aus der Abteilung — er ist mit dem Bau der neuen Fabrik beauftragt worden — das Unheil von neuem über die Martinabteilung hereingebrochen, trotzdem wir einen roten Spezialisten, den Genossen Platow, zu ihrem Leiter ernannt haben. Anscheinend waren wir zu voreilig und haben uns geirrt. Wir müssen wiederum die Dienste Kraiskis in Anspruch nehmen. Deshalb sind die spezialistenfeindlichen Stimmungen, die in der letzten Zeit besonders zunehmen, und zwar — davon bin ich fest überzeugt — auch bei den Leitern der Abteilungen, d. h. in Parteikreisen, ganz besonders schädlich. Wir müssen solche Spezialisten wie Kraiski besonders hochschätzen. Sie halten das Schicksal unserer Lokomotiven in ihren Händen..."
„Das Schicksal unserer Lokomotiven halten wir selbst in den Händen!" rief Platow erblassend.
„Sage uns lieber, welche Aufmerksamkeit du den Arbeitern angedeihen lässt. Und wie ihre Stimmung ist!" fügte Andrjuschetschkin hinzu.
Kortschenko beschloss, auf diese Zwischenrufe nicht zu antworten. Er war schon bei den Resultaten des letzten Halbjahrs angekommen, aber je mehr er sich den Aufstellungen näherte, von desto größerer Aufregung und Unruhe wurde er erfasst.
„Genossen! Die Vereinigung aller dieser Umstände gab uns die Möglichkeit, den Promfinplan erfolgreich zu erfüllen... Kortschenkos Augen ruhten auf der Endziffer, die mit roter Tinte verbessert war, aber er nannte sie nicht. „Allerdings müssen wir bei der Abnahme der Maschinen mit tausend bürokratischen Einwänden der Inspektion der NKPS rechnen, das erschwert unsere Arbeit sehr. Trotzdem aber..." Wieder fiel Kortschenkos Blick auf die röte Ziffer, und vor seinen Augen stiegen Lokomotiven ohne Schornsteine und Verkleidungen auf und zeigten warnend ihre nackten Körper. „Trotzdem aber ist es uns gelungen, das Juniprogramm zu erfüllen... " Er suchte nach Worten, wobei er sorgfältig die Zahlen vermied, die sich ihm in die Augen drängten. Er fühlte, dass eine Falschheit aus ihnen sprach. Vielleicht kam das daher, weil die roten Ziffern so schief an der Seite standen. Oder daher, weil durch die rote Tinte hindurch die schwarzen Ziffern einer anderen Summe blickten und sich vordrängten. Verwirrt verstummte er.
Hunderte von Augenpaaren waren auf Kortschenko gerichtet, sie folgten jeder Bewegung seiner Lippen.
„Weiter, Genosse Kortschenko!" rief ihm der Sekretär des Okruschkom zu.
Da erst kam es Kortschenko zum Bewusstsein, dass er hier schwieg, wehrlos in diesem Kampf zwischen schwarzen und roten Zahlen. Er war nicht gewöhnt zu lügen. Er hatte der Partei stets die Wahrheit gesagt. Er wird auch jetzt die Wahrheit sagen...
„Wir haben also diese Periode mit folgenden Endresultaten abgeschlossen, in denen die ungünstigen Bedingungen dieses Jahres zutage treten..."
Aufmerksam setzten die Mitglieder des Plenums den Bleistift an.
„Dieses Endresultat ist folgendes: auf dem Gebiet das Lokomotivbaus haben wir das Programm mit einem geringen..." Er sah die schwarzen Ziffern durchschimmern und fühlte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.
„...Nein — es geht nicht! Die Leute erwarten Erfolge vom ,Krassny Proletari'. Morgen wird es der ganze Distrikt, wird es ganz Moskau wissen... "
Er blickte in den Saal, und da sah er das böse Gesicht Andrjuschetschkins und begegnete dem feindseligen, wachsamen Blick Platows.
„... Mit einem allerdings nur geringen, aber immerhin... mit einem Plus erfüllt, nämlich zu 100,5 Prozent..."
„Alle Achtung!"
„Ich hab's ja gesagt, dass Kortschenko uns nicht sitzen lässt." Jusow stieß Wartanjan an.
„Ebenso liegen die Dinge auf dem Gebiete des Waggonbaus... Das Programm wurde zu 100,7 Prozent erfüllt, mit einem Plus in den wichtigsten Zweigen der Produktion."
Irgend jemand klatschte energisch in die Hände, gleich darauf erbebte der ganze Saal unter Beifallsstürmen. Kortschenko zündete sich beruhigt eine Zigarette an und vertiefte sich (in die Zeitung.
DAS STÄHLERNE HERZ Skizze von Jusow
Die Julisonne vermag das elektrische Licht nicht zu besiegen, das der donnernde Gigant verbreitet. Sie hat nicht die Kraft, das strahlende Licht mit ihrem matten, alten Glanz zu überstrahlen. Ich sehe, wie der Schweißer, mit den Elektroden gewappnet, die Sonne herausfordert. Der Strahl brodelt und zischt. Die Elektrizität flattert mit violetten Flügeln wie ein märchenhafter Paradiesvogel. Aus dem Stahlblock wird ein viereckiges Stück herausgeschnitten. Seine Bestimmung kenne ich nicht, und ich will den Schweißer nicht durch Fragen stören. Ich schreibe mir nur die Gussnummer des Blocks in mein Notizbuch: Nr. 1007. Ich weiß nur, dass sich dieses Stück Metall auf seinem weiten Rundlauf durch die Fabrik in das stählerne Herz der flinken Schnellzugslokomotive ,SU' — des Stolzes des ,Krassny Proletari' — verwandelt. Und wenn ich ein paar Stunden später das Laboratorium betrete, sehe ich dasselbe Stück Stahl, das hierher gewandert ist, um geprüft zu werden. Es wird auf seine Widerstandsfähigkeit gegen Bruch und Stoß, auf Sprödigkeit und Härte geprüft. Es wird gepresst, gezogen — aber es ist unverwüstlich und hält allen Versuchungen stand. Aus einer Höhe von zwei Metern schlägt ein zehn Kilogramm schwerer Fallbär auf das Stück Stahl auf, fünfzehnmal auf ein und dieselbe Stelle, und der Stahl hält auch dieser harten Prüfung stand. Dann kommt der Stahl in den Pendelprüfapparat, wo seine Sprödigkeit geprüft wird; ein fünfundzwanzig Kilogramm schwerer, nickelglänzender Pendel reißt donnernd das Metall auseinander und ein Zeiger zeigt die ausgezeichnete Qualität des Stahls. Ich sehe das zufriedene Gesicht des Ingenieurs Ostrowski, der zärtlich mit der Hand über den Stahl streicht und sagt: ,Ausgezeichneter Guss, Genosse Jusow! Eine solche Lokomotivachse hält Hunderttausenden von Kilometern stand.'
Und da habe ich verstanden, dass die Arbeit des Schweißers, der den Stahlblock auseinander schneidet, und die Arbeit des Ingenieurs ein und demselben Ziel dienen: eine feste, widerstandsfähige Triebachse für die Schnellzugslokomotive ,SU' herzustellen.
Die ,SU' ist der Stolz der Fabrik. Ihr leichter, eleganter Körper ist ein Sinnbild der Schnelligkeit, des Vorwärsstrebens, ein Sinnbild des neuen Tempos des sozialistischen Aufbaus.
Und das ganze sechzehntausend Mann starke Kollektiv der Fabrik, vom Schweißer bis zum Ingenieur, ist durchdrungen vom Enthusiasmus dieser grandiosen Epoche."
„Ausgezeichnet!" brummte Kortschenko zufrieden.
„Zu idealisiert", warf Wolski ein.
Jusow schüttelte herablassend lächelnd den Kopf.
„Genossen, ihr könnt natürlich hier schwerlich meine Richter sein; ihr dürft nicht vergessen: der proletarische Künstler kämpft für das Ideal seiner Klasse, für den Umbau des Lebens, er verurteilt seine Feinde mit rücksichtsloser Schärfe, kritisiert die eine Seite der Wirklichkeit und — wenn ihr so wollt — idealisiert die andere Seite. Das ist ja doch das ABC des künstlerischen Schaffens. Jawohl — er idealisiert!"
„Aber, Genosse Autor, wo ,kritisierst' du denn hier deine ,Feinde mit rücksichtsloser Schärfe'? Ich merke nichts davon. Nichts weiter wie blanke Belletristik!" warf Wolski verächtlich hin und wandte sich ab, um aufmerksam das finstere Gesicht Andrjuschetschkins zu betrachten.
Kortschenko wurde plötzlich unruhig.
„Hör' mal, Jusow, du hast aber hier etwas verwechselt... Die Gussproben werden doch nicht von den Stahlblöcken, sondern von dem Schmiedestück der Achse genommen. Wahrhaftig, du hast alles verdreht. Was hast du denn eigentlich gesehen: eine Achse oder einen Stahlblock oder eine Kuh?"
Jusow vertiefte sich verwirrt in sein Feuilleton, die Zeilen vor seinen Augen verschwammen zu einer einzigen grauen Masse, und wütend schob er die Zeitung in die Aktentasche.
Und Kortschenko sagte spöttisch und gedehnt, ganz im Tone Wolskis:
„Ach, ihr Federfuchser!"
Andrjuschetschkin zog finster die Brauen zusammen und stützte den Kopf in die kurzfingrigen Hände. Der Beifallssturm umtoste ihn mit aufreizenden Wellen, dröhnte ihm in den Ohren und verwirrte die Gedanken. Das kam jedenfalls daher, weil er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Er hatte es in dem leeren Zimmer nicht ausgehalten — Marussja war fort... „Versuche nicht, mich zurückzurufen"... Er hatte den Zettel zerrissen und war hinausgelaufen auf die Straße.
Eine warme Julinacht hatte ihn umfangen. Am dunklen Himmel funkelten silbrige Sterne. Das Licht in den Häusern war längst erloschen, stumm und schwarz lagen die sandigen Straßen, nur in der Ferne glitzerten die Lichter der Fabrik.
Im Park, in der Nähe der Fabrik, hatte Andrjuschetschkin bis zum Morgengrauen mit leerem Gehirn auf einer Bank gesessen. Fröstelnd von dem kühlen Morgentau hatte er dann, lange bevor die Sirene rief, die Abteilung aufgesucht. Und das, was er dort gesehen, das hatte er mitgebracht, hierher in dieses Zimmer, das mit hohen Fächerpalmen geschmückt war.
Er war hierher gekommen, um es zu sagen, um es vielleicht so hinauszuschreien, wie gestern Losinski geschrieen hatte, vom Feuer der Erregung ergriffen.
„Na, Kortschenko hat's dir ordentlich gegeben, was?" Andrjuschetschkin fing den mitleidigen Blick Platows auf — eilig kritzelte er etwas in sein Notizbuch. Dann wurde die Diskussion eröffnet, und ganz überraschend für sich selbst hatte Andrjuschetschkin als erster ums Wort gebeten.
Sein kleiner Körper wurde völlig vom Rednerpult verdeckt, nur sein runder, klobiger Kopf schaute hervor. Er sah die enttäuschten Gesichter und bezog diese Enttäuschung auf sich.
„Ich werde euch nicht lange aufhalten, Genossen. Aufstellungen stehen mir nicht zur Verfügung und Zahlen auch nicht. Aber ich erkläre, dass ich an die Zahlen des Genossen Kortschenko nicht glaube... Jawohl — nicht einen Augenblick glaube ich an diese Zahlen! Er hat gesagt, dass dank den Anstrengungen Kraiskis der Ausschuß in der Martinabteilung auf neun Prozent gesunken sei. Ich glaube das nicht..."
„Tatsachen! Kannst du Tatsachen anführen?" unterbrach ihn Kortschenko nervös.
Andrjuschetschkin sah, wie sich die plötzlich belebten Gesichter auf die Tribüne richteten, als zöge sie die Blicke an wie der Magnet ein Eisenstück.
„Genosse Kortschenko hat hier von der individuellen Leitung gesprochen und sich dabei auf das Zentralkomitee bezogen. Ich aber sage: wenn ich morgen das Rad eines Schnellzugs mit Rissen in den Speichen sehe, so werde ich ganz einfach den Arbeiter und den Spezialisten dafür verantwortlich machen, die so etwas zulassen. Wie ist das überhaupt möglich: ich habe zu gehorchen und mich nicht einzumischen in Sachen, die mich nichts angehen? Ich sage ganz offen, das tue ich nicht! Zum Teufel mit einem solchen System der individuellen Leitung, wenn der Leiter das Unterste zu oberst kehrt! Jetzt, was die Spezialisten anbelangt..."
Jusow wurde ans Telefon gerufen. Als er an Andrjuschetschkin vorbeiging, flüsterte er ihm giftig zu:
„Du bist ja ein bekannter Spezialistenfresser!"
„Genosse Kortschenko hat sich hier sogar auf den Genossen Lenin bezogen... Ich weiß es nicht, ich hab' das nicht gelesen, vielleicht hat Lenin das von den Spezialisten wirklich geschrieben. Mag er es geschrieben haben... Gut! Aber ich schwöre euch, Genossen, wenn Genosse Lenin jetzt aus seinem Mausoleum auferstehen und in unsere Fabrik kommen und unsere Spezialisten sehen würde, da würde er folgendes Zitat aussprechen : ,Nicht bloß keine Prämien, sondern schleunigst raus aus der Fabrik'!"
Brausendes Gelächter tönte durch den Saal.
„Tatsachen! Das ist alles Demagogie!" Kortschenko sprang erregt auf.
„Ich wiederhole noch einmal: ich traue den ,Spezen' nicht, für die sich der Genosse Kortschenko hier so heftig ins Zeug gelegt hat. Ihr müsstet mal die Gespräche in der Abteilung hören! Alle Arbeiter sind gegen die Spezialisten aufgebracht, und das ist recht so, Genossen, ganz recht so! Sie sind alle miteinander so!"
„Ich muss den Genossen Andrjuschetschkin zur Ordnung rufen..." Der Sekretär des Okruschkom erhob sich. „Das ist ja schon böswillige Spezialistenfresserei!"
„Ich bin sowieso zu Ende." Der aufgeregte Andrjuschetschkin verließ die Rednertribüne, und, auf seinem Platz angekommen, rief er noch einmal durchdringend: „Ich glaube nicht an die Zahlen! Ich traue den ,Spezen' nicht!"
Unterstützung suchend schaute er sich im Saale um. Aber er begegnete überall nur kalten und verurteilenden Blicken. In diesem Moment kam Jusow wieder herein und warf dem Präsidium einen Zettel auf den Tisch.
„Hier habt ihr eine Illustration zu der Rede Andrjuschetschkins:
Telefonogramm. An die Redaktion des ,Swansker Arbeiters'.
Heute früh hat der Arbeiter der Fabrik ,Krassny Proletari' Saizew den früheren Leiter der Martinabteilung, Kraiski, überfallen und misshandelt. Saizew lauerte Kraiski auf, als dieser aus seiner Wohnung trat, und warf mit Steinen nach ihm. Nur dank dem Eingreifen zufällig anwesender Ingenieure wurde ein Totschlag verhindert, und Kraiski kam mit einer unbedeutenden Schramme davon. Es wurde festgestellt, dass Saizew unlängst die Arbeit in der Fabrik niedergelegt hat, nachdem er einen wertvollen Maschinenteil verdorben hatte. In letzter Zeit litt er an einer Nervenerkrankung und hat das Haus nicht verlassen. Man nimmt an, dass Saizew den Überfall in einem Anfall geistiger Umnachtung unternommen hat, was auch von Kraiski selbst bestätigt wird. Saizew wurde zwecks Untersuchung seines Geisteszustandes in eine Nervenheilanstalt gebracht. Der Betriebsrat schloss Saizew auf einet besonderen Sitzung aus der Gewerkschaft aus. Mit der Untersuchung der Angelegenheit wurde der Untersuchungsrichter beim Distriktgericht, Gläser, betraut."
Alle im Saale Anwesenden beobachteten gespannt das Präsidium. Jusow sah Andrjuschetschkin an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
Jetzt betrat Wartanjan die Tribüne.
„Genossen! Soeben haben wir die Nachricht von einem Überfall auf den Ingenieur Kraiski erhalten. Das ist der zweite derartige Fall in der letzten Zeit. Wir müssen daher so spezialistenfeindliche Äußerungen wie die Rede Andrjuschetschkins energisch verurteilen. Die Sache ist anscheinend bereits sehr weit fortgeschritten, wir müssen also die nötigen Schlüsse ziehen ... "
Kortschenko blickte Platow an und lächelte vielsagend. „Nun zur Sache... Ich verstehe den Genossen Kortschenko selbstverständlich vollkommen; er möchte, dass der ,Krassny Proletari' allen voranschreitet. Das ist der Wunsch aller, die hier im Saale sitzen... Aber ich bin der Meinung, dass wir seinen Bericht einer ernsten Kritik unterziehen müssen, und zwar in erster Linie aus dem Grunde, weil der Direktor die Frage der Qualität der Produktion hier vollständig umgangen hat. Und damit steht es bei uns sehr schlecht. Die Arbeiter des Kursker Depots haben uns in dieser Hinsicht eine Warnung signalisiert. Die Fabrikleitung hat jedoch diesen Fall nicht weiter beachtet, sie hat ihren Apparat nicht kontrolliert, seine Arbeit nicht auf die nötige Höhe gebracht. Die Qualität der Produktion muss ein Prüfstein für die Qualität des Apparats und der wirtschaftlichen Leitung sein. In dieser Beziehung ist nichts getan worden. Uns drohen für die Zukunft die größten Unannehmlichkeiten, wenn wir in dieser Hinsicht nicht Herr der Lage werden. Es kann in der Tat soweit kommen, dass man uns den Bau der zweiten mechanisierten Fabrik nicht gestatten wird." Wartanjan sprach auch über die ungenügende Aufmerksamkeit gegenüber der Stimmung der Arbeiterschaft, er führte das Beispiel der Entlassung Saizews an und erklärte, dass das Raikom genötigt sein würde, den Vorsitzenden des Betriebsrats, Teleshkin, seines Amtes zu entheben.
„Zum Schluss will ich mit voller bolschewistischer Offenheit erklären: die Arbeit der Fabrik befriedigt mich nicht. Ich baue meine Bewertung hier nicht auf den sehr ansehnlichen Prozentsätzen auf, die Kortschenko angeführt hat. Ich ziehe sie auch nicht etwa in Zweifel, aber als Leiter der Parteiorganisation, der Fabrik muss ich bei der Bewertung der Leistungen der Fabrik von einer Reihe anderer Tatsachen sehr unangenehmen Charakters ausgehen. Mir fällt es schwerer darüber zu sprechen als irgendeinem anderen, aber dennoch muss ich hier erklären: wir arbeiten schlecht, es ist in der Fabrik irgend etwas nicht in Ordnung!"
Die Erklärung Wartanjans rief im Saale großen Lärm hervor. Zum ersten Mal stand das Plenum einem derartigen Unterschied in der Bewertung der Arbeit der Fabrik durch ihre Leiter gegenüber.
„Sie sind sich mit Wartanjan nicht einig?" fragte der Sekretär des Okruschkom leise Kortschenko.
Kortschenko schwieg. Eine solche Wendung hatte er nicht; im entferntesten erwartet. Er hatte sich zu diesem Kompromiss mit seinem Parteigewissen bereit gefunden, hatte die rote Ziffer gewählt, nur um das Ansehen der Fabrik nicht zu verletzen. Er hatte einen langen und schweren Kampf mit sich gekämpft. Und nun war das alles vergeblich. Natürlich — Wartanjan wollte sich mit dieser Selbstkritik politisches Kapital erwerben, das er sehr nötig brauchte, damit ihm seine früheren Sünden verziehen würden. Klar... nun brauchte nur noch Platow zu sprechen, und er, Kortschenko, war erledigt.
Aber Platow sprach nicht. Er saß schweigend da, biss sich auf die Lippen und dachte über irgend etwas angestrengt nach.
Die Mundwinkel Kortschenkos zuckten gekränkt, als er sein Schlusswort begann:
„Ich bin nicht hierher gekommen, um meine Sünden zu bereuen, wie dies Wartanjan gern sehen möchte. Das ist anscheinend zur Profession gewisser Leute geworden, die sich häufig irren, also häufig bereuen müssen. Ich habe vorläufig noch nichts zu bereuen. Jawohl, es sind noch viele Mängel vorhanden, aber muss gleich darum eine Panik ausbrechen? Das ist natürlich sehr leicht, zu sagen: ,Alles ist schlecht und verkehrt!' Viel schwieriger ist es, das nicht zu sagen, sondern es besser zu machen. Ich will mich nicht auf eine Polemik einlassen. Wir brauchen solche Zuversicht und Überzeugungskraft wie die, von der das prachtvolle Feuilleton Jusows durchdrungen ist. Ich empfehle denen, die nur alles schwarz sehen, es zu lesen.
Jede Zeile des Artikels weckt in dem Leser Begeisterung und Stolz auf seine Sowjetfabrik. Und mit dem Gefühl dieses proletarischen Stolzes verlasse ich auch heute diese Tribüne."
Leise, schüchterne Beifallsäußerungen ertönten, um sofort wieder schamhaft zu verstummen. Der Sekretär des Okruschkom betrat die Rednertribüne, eine Resolution in der Hand.
„Genossen! Wir sind immerhin alle mit Wartanjan einverstanden. Er hat gesprochen wie ein Bolschewik."
Die Resolution wurde unter drückendem Schweigen angenommen. Sie enthielt das, was Wartanjan ausgesprochen hatte.
Erst nachts kehrten sie zurück. Kortschenko fuhr den schweigenden Platow in seinem Auto nach Hause und stieg dann vor seiner Wohnung selbst wie zerschlagen aus. In seinem Zimmer fand er unter einem Glas kalter Milch auf seinem Schreibtisch ein Telegramm. Es roch nach frischem Kleister, die aufgeklebten Papierstreifen waren noch feucht. Müde faltete Kortschenko es auseinander und schlürfte dabei langsam die Milch. Und auf einmal schwankte das Glas in seiner Hand, die Milch floss auf den Tisch und tropfte von da langsam auf den Fußboden.
Mit vor Müdigkeit angeschwollenen und rot entzündeten Augen suchte Kortschenko die abgerissenen Telegrammworte zu entziffern. Laut aufklatschend rannen die Milchtropfen auf das Linoleum.
Ein Nachfalter kam zum offenen Fenster hereingeflattert, mit vibrierenden Flügeln ließ er sich auf den Rand des Milchglases nieder und saß, bezaubert vom Schein des elektrischen Lichts, regungslos da.
Von irgendwoher kamen die Klänge eines Klaviers und gedämpfter Gesang. Was gesungen wurde, konnte man nicht heraushören, aber Kortschenko erinnerten diese Klänge an die Gestalt Turtschaninows. Der Kneifer, der immerfort vom Nasenrücken rutscht, sieht aus wie dieser Schmetterling da...
Mit einer heftigen Bewegung schleuderte Kortschenko den Falter vom Glas, er fiel auf den Tisch und kroch hilflos, mit zitternden Flügeln weiter.
„Hallo! Diensthabender! Suchen Sie Turtschaninow! Er soll zu. mir kommen! Jawohl! Sofort!" Mit heiserer Stimme sprach er in die Telefonmuschel, dann stand er wieder wie erstarrt und beobachtete den Falter, der bei dem vergeblichen Versuch zu fliegen seine gebrochenen Flügel langsam öffnete und wieder zusammenklappte und feinen, gelben Flügelstaub um sich streute.
7
„Entschuldigen Sie, Andrej Sergejewitsch, aber Sie sind kein weit blickender Mensch... Sie sind sogar sehr kurzsichtig."
Mit schlauem Lächeln blickte Turtschaninow Strachow an und schlürfte langsam seinen kaltgewordenen Tee.
Strachow saß in einem geflochtenen Schaukelstuhl und dachte angestrengt über etwas nach; dabei fiel die Asche seiner Zigarette auf sein bastseidenes Hemd.
„Andrjuscha! Du wirst das Hemd noch versengen. Wissen Sie, Benjamin Pawlowitsch, mein Mann ist so zerstreut in letzter Zeit!" Und sorgfältig stäubte Lalja die Asche mit ihrem Taschentuch weg.
„Ihr Andrej Sergejewitsch müsste etwas weniger eifrig nachdenken, das ist es... Dabei kann einer ja krank werden. Ich bewundere immer Ihren Charakter, Andrej Sergejewitsch. Alles erledigen Sie pünktlich, Ihre Arbeit, Ihre Familienangelegenheiten (Lalja wurde rot und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu)... Woher nehmen Sie bloß die Energie? Freilich. Sie sind eben noch jung. Ihr Blut pulsiert noch kräftig, wie man so sagt. Ich dagegen — Augen und Herz, die sind bei mir wie ein gesprungener Lokomotivzylinder... Ich möchte mich schon gern aufmachen ins Paradies, aber, wie man so sagt — die Jugendsünden lassen's nicht zu... Hi—hi—hi..."
Der Kneifer auf der Nase wackelte, die Hand, die ein Praline hielt, kam zu spät, der Kneifer fiel zur Erde. Strachow sah die eingefallenen, blinzelnden Augen und die rote Rinne, die der Kneifer auf dem Nasenrücken eingegraben hatte. Die dünne, gekrümmte Nase glich einem Schnabel, und Strachow sah zum ersten Mal, dass die Augen Benjamin Pawlowitschs ein stark ausgeprägtes drittes Lid besaßen, eine violette Haut wie bei einem verschlafenen Huhn, die fast die Hälfte des Augapfels bedeckte.
„Eine sehr interessante Bestätigung der Darwinschen Theorie", dachte Strachow. „Der Blinddarm — dieser überflüssige Darmauswuchs. Haare am Körper ... Ein drittes Lid, ein Erbe des Vogeldaseins unserer Ahnen. Was für ein zähes Leben doch diese Überreste aus der zoologischen Periode des Menschen haben ... "
Er betrachtete das Zimmer, das mit weichen, mit Schutzüberzügen versehenen Polstersesseln ausgestattet war; hinter den Scheiben einer Rokokovitrine sah man allerhand unnützen Krimskrams, an den Fenstern hingen dunkle Samtportieren, die der Sonne den Eintritt verwehrten; Strachow meinte, eine gewisse Verwandtschaft zwischen diesen mit einem dritten Vogellid behafteten Augen und den in Schutzüberzügen steckenden Möbeln zu erkennen.
Auf dem schäbigen Ledersofa saßen Kraiski, Bruck und Sorin. Der affektierte Ostrowski lief vor ihnen auf und ab und erzählte irgend etwas Komisches. Kraiski stützte seinen verbundenen Kopf gegen die Sofalehne und sah Strachow aufmerksam an; offensichtlich interessierte ihn das Gespräch, das da geführt wurde, mehr als die Witze Ostrowskis.
„Ja—a—a... Der Mechanismus ist nicht in Ordnung" , sagte Benjamin Pawlowitsch betrübt und betastete mit den Fingern den Kneifer. „Sehen Sie, ich bin von Natur aus auch kurzsichtig, aber die Technik, die Optik, stattet mich mit dem mir Fehlenden aus. Sie aber, Andrej Sergejewitsch, macht die Liebe zur Technik im Gegenteil waffenlos, kurzsichtig... Konnten Sie wirklich damals, im Zimmer des Direktors, denken, dass ich auch nur im entferntesten seine Meinung teilte?"
Strachow hob verwundert den Kopf.
„Aber Benjamin Pawlowitsch, Sie sagten doch damals, dass ich von einer krankhaften Empfindlichkeit sei, dass ich dadurch die Ablieferung der Lokomotiven verzögere, die Ausführung des Programms hindere... Das alles haben Sie doch gesagt?!" „Jawohl, gewiss, Andrej Sergejewitsch, das alles habe ich gesagt!" Turtschaninow nickte vielsagend lächelnd mit dem Kopf, so dass der Kneifer wieder zu wackeln begann und sich zu einem neuen Sturz vorbereitete.
„Dann verstehe ich absolut nichts mehr." Strachow machte einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und stieß dicke, blaue Rauchwolken hervor.
„Nun, ich sage es ja, Sie sind nicht weit blickend. Sie sind gekommen und sofort mit der Tür ins Haus gefallen: ,Das kann ich nicht!' War das vielleicht die richtige Weise, mit ihm zu sprechen? Denken Sie vielleicht, dass ich so offen wie Sie mit ihm spreche? Ein Esel müsste ich sein! Ich würde mich überhaupt nicht mehr achten, Andrej Sergejewitsch. Der Chef will, dass etwas rechtzeitig gemacht wird. Also machen Sie's." „Wie soll ich das machen? Es gibt verschiedene Methoden." „Lieber Gott! Sie sind aber wirklich ein zu naiver Mensch... Sehen Sie, sogar Lalja wird ganz rot... Machen Sie's, wie Sie wollen, aber beruhigen Sie den Mann... Wissen Sie, Andrej Sergejewitsch, Sie arbeiten drei Jahre hier in der Fabrik, ich aber dreiunddreißig Jahre, und ich habe allein nach der Revolution hier elf Direktoren überlebt. Bedenken Sie, elf Direktoren! Und es hat mir nichts geschadet. Sie aber wollen sich gleich beim ersten, bei dem Kortschenko, das Genick brechen. ,Ich kann es nicht!' Eine Prinzipienreiterei wie ein grüner Lausbub auf seinem Steckenpferd! Nicht wei—eit—blickend!"
Strachow zündete sich eine neue Zigarette an und zerbrach nervös ein Streichholz nach dem andern.
„Benjamin Pawlowitsch, ich bin vielleicht kein Politiker, vieles an der Gegenwart verstehe ich nicht; aber ich liebe die Maschine... so, wie, sagen wir mal, ein Vater sein Kind liebt.
Kann sich aber ein Vater freuen, wenn sein Sohn mit krummen Fingern geboren wird? Dabei ist er an einem solchen Defekt nicht einmal eigentlich schuld... Ich aber baue die Maschine zusammen. Und ich sehe, wie jedes einzelne dieser toten Teile zusammengefügt wird und wie sie dann nur auf den ersten Atemzug der Triebachse warten, um sich zu beleben und zu rühren. Stellen Sie sich meine Scham vor, als ich da im Kursker Depot meine Lokomotiven sah — verstaubt, in drückendem Schweigen stehen sie da... Und ich? Soll ich da etwa schweigen? Still an ihnen vorübergehen? Dann hätte ja jeder Arbeiter das Recht, mich einen Halunken zu nennen. Meine Ehre ist mir teuer. Niemals werde ich gegen mein Gewissen handeln!" Erregt erhob er sich. „Jawohl. Die Direktoren wechseln. Es können ihrer elf sein oder mehr — was geht's mich an. Aber die Gesetze der gegenseitigen Einwirkung der Teile der Lokomotive, die meine Hände schaffen, die Hände des Technikers, des Spezialisten — die Gesetze ändern sich nicht. Sie sind Kenner des Lokomotivbaus, Benjamin Pawlowitsch, Sie müssen wissen, dass von der genauen Lage der Gegenkurbel der Triebachse die Arbeit der gesamten Steuerung abhängt, das ist die Seele der Lokomotive..."
„Genug, genug!" wehrte Benjamin Pawlowitsch scherzhaft ab. „Sie halten ja einen richtigen Vortrag! Sie sind ein unverbesserlicher Träumer. ,Die Seele der Lokomotive'! Denken Sie lieber an Ihre eigene Seele, Andrej Sergejewitsch. Sie will essen und trinken, Ihre sündige Seele. Und dabei etwas anders leben, als wir heute leben. Ach, ist denn das vielleicht ein Leben!" Wütend stieß er sein Glas beiseite, wobei er den Tee verschüttete und seinen Kneifer wieder in Gefahr brachte. „Sehen Sie, da auf dem Teller liegt ein Dutzend schlechte Pralines, das ist alles, was wir Spezialisten, Leute des Gehirns, des Wissens, für die Seele der Lokomotiven erhalten..." Mit einem schiefen Lachen senkte er seine Vogelnase.
Das Ledersofa geriet plötzlich in Bewegung. Kraiski hielt sich den Bauch, den ein gestreifter Pullover umspannte, und brach in heiseres Lachen aus. Brück wollte vor Lachen schier bersten, Ostrowski kicherte wie ein Backfisch.
„Für die See—ee—le... Ha—ha—ha—a!" brüllte Kraiski mit seinem starken Bass...
„Für die Seele!" wiederholte Bruck und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Das dicke Ledersofa erbebte und knarrte, als wollte dieses wiehernde Gelächter seinen schwarzen Leib aufreißen, dass die klingenden Sprungfedern hervorschnellten.
Strachows Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Er trat ans Fenster. Unten auf der Straße gingen lachend und schwatzend festtäglich gekleidete Menschen vorüber. Die Fabrikjugend eilte auf blitzenden Fahrrädern vorbei. Es war Sonntag. Vom Markt her trugen die Menschen schwere Körbe. Lachen ertönte, die untergehende Sonne vergoldete die gebräunten nackten Arme.
Strachow wurde es schwül hier in diesem dämmrigen Zimmer ; die vielen Sachen und das unnatürliche Gelächter bedrückten ihn. Er wandte sich schnell zum Tisch zurück und reichte Benjamin Pawlowitsch die Hand.
„Nun, Lalja, es ist Zeit zum Nachhausegehen."
Turtschaninow saß lange Zeit schweigend da, den Blick auf die Schale mit dem Konfekt gerichtet, dann sprang er plötzlich auf und lief im Zimmer hin und her.
„Nein, mit dem ist nichts anzufangen! Das heißt nutzlos seine Zeit vergeuden. So ein Quatsch: Ehre, Liebe zur Maschine. Berufsstolz! Idiot! Idiot!! Zum Teufel mit ihm! Los, wir wollen uns ausruhen und ein bisschen lachen. Kraiski, fangen Sie an, erzählen Sie einen Witz."
„Adam Adamytsch ist an der Reihe."
„Nein, ich nicht, ich habe Sie schon voriges Mal unterhalten. Das geht nicht, immer mich auszubeuten, Benjamin Palytsch. Bei Gott, das geht nicht..."
Bruck goss sich ein Glas Bier ein und schloss heftig abwehrend :
„Ich bitte mich heute freizustellen."
„Heute müssen Sie ihre Hausherrnpflicht erfüllen, Benjamin Pawlowitsch. Hier werden nicht Sie über uns, sondern wir über Sie verfügen, nicht wahr, Kollegen?" Kraiski schob mit der rechten Hand den Verband zur Seite, so dass eine rote Schramme auf der Wange sichtbar wurde.
„Na schön! Gegen Sie kann ich ja nicht aufkommen." Lächelnd rückte Turtschaninow seinen Kneifer auf der Nase zurecht. „Also: eines schönen Tages kommt Akatujew ins Laboratorium..."
„Wieder von dem Akatujew! Lassen Sie doch diesen alten Esel beiseite, um Gottes willen", bat Ostrowski.
„Alt und dumm, wie Akatujew selbst", fügte Sorin hinzu.
„Etwas Neues, Benjamin Pawlowitsch, etwas recht Pikantes!" redete Kraiski auf Turtschaninow ein.
Benjamin Pawlowitsch lachte gutmütig.
„Das Neue und Pikante kommt zum Schluss... Jetzt erst mal etwas von dem unsterblichen Akatujew. Zerspringen werden Sie vor Lachen!"
Alle bereiteten sich vor zuzuhören. Kraiski drückte sich tiefer in das Sofa, Ostrowski wandte sein Gesicht dem Erzähler zu und erstarrte in andächtiger Pose. Bruck trank in kleinen Zügen das kalte Bier und aß Gebäck dazu. Der dicke Simon Petrowitsch Sorin knüpfte sich den Kragen auf.
„Also ich beginne... Da kommt eines schönen Tages Akatujew ins Festigkeitslaboratorium. Er sieht die Leute arbeiten. Sie machen Zerreißproben, Schlagproben und so weiter. Ausgerechnet kommt da der Kontrolleur Borezki mit den Proben hereingesaust. Ohne zu merken, dass Akatujew anwesend ist, platzt er heraus:
,Nehmt die Proben, aber vorsichtig, damit nicht etwa Akatujew dazukommt.'
Da meldet sich Akatujew: ,Was haben Sie da gesagt, Antonytsch? Warum vorsichtig?'
Borezki merkt, dass er sich verraten hat. Was nun?
,Ach, Pal Jaklytsch, ich meine wegen des Brandes. Es wurde soeben angerufen und gemeldet: es brennt irgendwo in der Nähe von Akatujew. Und darum sage ich: vorsichtig... regt Pal Jaklytsch nicht unnötig auf, er hat ja ein krankes Herz'.
,Es brennt? Ach, und ich sitze hier... Warum sagen Sie das nicht gleich?'
Na also — als ob ihn der Wind hinweggefegt hätte! Antonytsch aber rief telefonisch den Wächter am Tor an:
,Wenn Akatujew am Tor vorbeilaufen wird, so sagen Sie ihm, vom Depot aus habe man angerufen, alles sei in Ordnung, es sei nur glühender Ruß ausgeschleudert worden'."
„Ach, ihr Bande!" kicherte Ostrowski, „sich so was auszudenken !'
„He—he—he—he—e—e! He—he!" lachte Bruck. „Ruß ausgeschleudert! Der Ostrowski aber, der kennt seine Sache; eins, zwei, drei — Zerreißprobe! Eins, zwei, drei — Schlagprobe. — Nun, jetzt weiter...
Kommt da neulich eine Kommission vom NKPS hereingeschneit. Wir wollen kontrollieren, heißt es, wie es mit der Ablieferung der Produktion steht. Zeigen Sie die Waggons, die per 1. Juli abgeliefert werden sollen, heißt es... Mir — Sie verstehen — mir fiel das Herz in die Hosen vor Angst... Die Waggons! Es waren ja keine d—a—a—a! Die Kommission aber, die packt also ihre Papiere aus, unsere Abrechnungen, Aufstellungen und so weiter. Also bitte, heißt es, die Waggons von Nr. 240 600 bis Nr. 240 750. Die Waggons, Sie verstehen, sind aber gar nicht vorhanden. Was tun? ,Genossen', — sage ich da — ,Sie kommen direkt von der Bahn, und gleich an die Arbeit? Das nenne ich Missachtung der Gesundheit, Genossen! Ruhen Sie sich erst mal gefälligst etwas aus, und morgen früh, da werden wir Ihnen alle diese Waggons zeigen, da können Sie kontrollieren.'
Na also, damit waren sie einverstanden. Da ging's mal erst ausschlafen. Ich aber schnurstracks zu Akatujew: ,Pal Jakowlewitsch', sage ich, ,haben Sie den Akt über die Abnahme der Waggons Nr. 240 600 bis 240 750 unterzeichnet?'
,Das weiß ich nicht mehr genau, ich glaube ja.' Er schaut in sein Buch — jawohl, er hat ihn unterzeichnet.
,Wir müssen die Waggons vorführen, eine Kommission ist eingetroffen.'
Wie ich ihm das sage, da schlägt er mir lang aufs Sofa hin und liegt wie tot. Sein Herz ist doch gar nichts mehr wert. ,Sie haben mich vernichtet, — stöhnt er — vernichtet!' und seine Lippen sind käsebleich. ,Was nun? Die Waggons sind ja gar nicht vorhanden, Sie haben ja doch den Akt schon für einen Monat voraus von mir bekommen!'
Ja, diese Waggons sind nicht vorhanden', antworte ich.
Wieder liegt er da und presst die Hand aufs Herz. Teils musste ich über ihn lachen, teils mich ärgern. Wenn er mir hier wegstirbt, dachte ich, wo kriegen wir da einen zweiten solchen Ingenieur her? Und tatsächlich, bedenken Sie, wo würden wir so einen hernehmen?"
Benjamin Pawlowitsch blickte sich fragend im Kreise um, und alle stimmten ihm zu:
„Wirklich — woher?"
„Ja, wo sollten wir so einen hernehmen?"
„Einen zweiten Akatujew finden wir niemals wieder!" erklärte Kraiski kategorisch.
„Also, schätzen Sie ihn gebührend ein, den Pawel Jakowlewitsch!" Benjamin Pawlowitsch fing den Kneifer auf, der wieder herunterfallen wollte, und fuhr in seiner Erzählung fort:
„Wissen Sie, wie wir uns glücklich aus der Affäre gezogen haben?"
Alle schwiegen, es schien ihnen geradezu eine Unmöglichkeit, sich aus einer solchen Affäre glücklich herauszuziehen.
„Für die Nacht wurden also sämtliche Maler mobil gemacht, jeder hat einen Tscherwonez gekriegt, und am Morgen standen die Waggons fertig da: auf den Maiwaggons waren die Nummern in, die der Juniwaggons umgepinselt worden ... "
„O — das ist ja Meisterleistung!" rief der Deutsche Bruck.
„Ausgezeichnet!" kicherte Ostrowski.
„Aber das Interessanteste kommt noch", fügte Benjamin Pawlowitsch hinzu.
Alle rückten näher heran, Sorin sah gelangweilt nach der Uhr, nahm seine Mütze und verzog das Gesicht.
„Also, eines Tages wacht Akatujew auf und sieht, dass gerade vor seinem Haus Ziegelsteine abgeladen werden. Er hat die Hosenträger noch nicht richtig angeknöpft, und so läuft er hinaus auf die Straße und fragt, was das heißen soll. ,Hier lässt die Fabrikleitung ein Arbeiterwohnhaus bauen', sagt man ihm. ,Was, ein Haus? Mir vor die Nase? Damit ich die ganze Aussicht auf die Straße verliere und mein Haus zum Hinterhaus wird? Das gibt's nicht, das erlaube ich nicht!" schreit er. Na, den Fuhrleuten ist es natürlich ganz egal, ob da Akatujew oder irgendein anderer schreit; sie laden eben ihre Steine ab. Er aber ruft mich an: ,Was soll denn das heißen, Benjamin Pawlowitsch?' Ich gab mir natürlich den Anschein, als wüsste ich von nichts. ,Das ist absolut unmöglich!' brüllte er in die Muschel. Ich antwortete ihm sehr ruhig: ,Pal Jaklytsch, es gibt in der Welt nichts Unmögliches, geben Sie den Akt für die Julilokomotiven her.' ,Lassen Sie ihn holen', sagt er. Den Akt habe ich bekommen, und dank dem Akt haben wir alle unsere Juniprämien erhalten. Verstehen Sie? Und Kortschenko hat auf seinem Plenum glänzend abgeschnitten, und alles ist hübsch rund, wie ein Osterei..." „Und die Bausteine?"
„Die Bausteine wurden wieder aufgeladen und wo anders hingefahren. Für die Arbeiterwohnungen wurde draußen in der Vorstadt ein Platz angewiesen. Denen kann es ja schließlich ganz gleich sein, wo sie wohnen. Allerdings hat die Geschichte etwas gekostet, aber, wie man sagt, Politik kostet Geld. He— he—he..."
Alle waren einfach starr über die Findigkeit von Benjamin Pawlowitsch und betrachteten voller Hochachtung seine dürre Nase, die den Kneifer absolut nicht tragen wollte. Ostrowski saß unbeweglich auf dem Stuhl. Aus seinen Augen sprach tiefste Bewunderung für Turtschaninow. Sein aufgedunsenes, karminrotes Gesicht war unbeweglich wie eine hölzerne Maske, aber auf einmal platzte diese Maske, Ostrowskis Nase flog in die Höhe, der Kopf rutschte hintenüber, die Lippen klafften auseinander und entblößten die goldfunkelnden Zähne, und aus der Kehle kam wieherndes, kläffendes Gelächter. Er schüttelte sich vor Lachen, winselte förmlich und bekam einen heftigen Schlucken. Kraiski schaute ihn an und brüllte laut los. Bruck prustete und bespritzte Sorin wie mit einer Fontäne. Das ganze Zimmer hallte wider von stürmischem Gelächter.
Am lautesten lachte Bruck. Sein weitaufgerissener Mund sah aus wie ein Grammophontrichter, das Lachen drang in kurzen, bellenden Stößen daraus hervor. Sein nackter Schädel glänzte wie eine Billardkugel. Erschöpft wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und hob die Hand.
„Kollegen, jetzt will ich Witz erzählen. Kürzlich kam ich in der Lokomotiv-Montagehalle. Ein Arbeiter machte die Kulisse, Sie wissen nicht, was das ist: Kulisse? Ausgezeichnet! Männer der Technik müssen wissen, was eine Kulisse ist: Aber ich kann es Ihnen erklären kurz. In der Kulisse wird ein Stein enthalten, nicht etwa gewöhnlicher Stein, kein Pflasterstein. Sogar eigentlich gar kein Stein, sondern kleiner Rechteck. Es gleitet an dem bogenförmige Ausschnitt der Kulisse entlang, es beeinflusst Dampfeinlassen in den Zylinder und verändert die Bewegung dem Lokomotive — nach vorwärts oder rückwärts! Dieser Stein spielt große Rolle. Dieselbe Rolle wie der Ingenieur in der Fabrik. Da trat der Direktor Kortschenko heran. Ich schaute zu, und er schaute zu. Arbeiter steckte das Zapfen der Hängestange in das Kulissenlager. Dann muss er den Stein in die Kulisse bringen.
Aber Stein ist nicht da. Kommt öfters vor, so etwas, Stein ist eben weg. Ich sehe aber, dass er neben Kortschenko liegt. Und auch der Arbeiter sieht Stein und hat geruft:
,Genosse Kortschenko, gib mal Stein her!'
Kortschenko blickt sich verwundert um, versteht absolut nicht, welchen Stein er soll geben. Er wird über und über rot, wie ein junges Mädel beim Frauenarzt.
,Gib den Stein her!' schreit Arbeiter schon ganz ärgerlich.
Da ich sehe, wie der Direktor Kortschenko in eine Ecke rennt, einen Ziegelstein vom Boden aufnimmt und ihn die Arbeiter reicht. Tableau! Der Arbeiter hat nicht schlecht auf den Direktor geschimpft, in alle Tonarten, dass es nur so eine Art hatte! Ich aber mir dachte im stillen: mit solch einem Direktor kann man wahrscheinlich eine Lokomotive aus Ziegelsteinen bauen! Und wurde ich so vergnügt wie ein Mädel, dem der Arzt gesagt hat, dass nichts passiert sei... Hi—hi—hi... Sehr gut, was?!"
Schmunzelnd trank Bruck sein Bier aus.
Benjamin Pawlowitsch nahm den Kneifer ab, wischte sich die Tränen aus den Vogelaugen und beobachtete Kraiskis Leib, der, in seinem grünlich gestreiften Pullover an eine Kröte erinnernd, beim Lachen auf- und niederhüpfte.
„Nun kommt das Pikante", sagte Benjamin Pawlowitsch.
Sorin stand auf.
„Es ist spät, ich muss gehen, meine Frau wird räsonieren. Außerdem fühle ich mich nicht ganz wohl", brummte er und zog seinen Mantel an. Er tauschte schlappe Händedrücke aus und ging fort.
„Meine Frau wird räsonieren! Fühle mich nicht ganz wohl! Feigling! Dreckkerl!" schimpfte Turtschaninow wütend. „Na, warte nur, es wird eine Zeit kommen, da wirst du auf allen vieren vor uns kriechen, aber dann wird's zu spät sein. Dann wirst du dich, du Sumpfkröte, wirklich nicht ganz wohl fühlen!"
Ostrowski verzog sein Gesicht zu einer lächerlichen Grimasse :
„O! Mir tut auch der Bauch weh!"
„Du hast einen kräftigen Bauch, einen wahren Popenbauch.
Auf deinem Bauch werden wir bald die Kommunisten verdreschen."
„Ausgezeichnet!" kicherte der geschmeichelte Ostrowski.
Aber auf einmal brach das vielstimmige Gelächter ab — lange und andauernd klingelte das Telefon und erfüllte das Zimmer mit Unruhe. Der Zeiger der Uhr stand auf halb eins. Die Stadt schläft, aber das Telefon läutet lange und durchdringend und verjagt die letzten Überreste des vergnügten Gelächters von den Lippen.
„Benjamin Pawlowitsch! Sofort in die Wohnung des Direktors. Aber bitte sofort! Eine sehr eilige Angelegenheit!" rief der diensttuende Milizionär so laut, dass das Mikrophon klirrte.
Als Platow vom Plenum zurückkam, fand er den alten Kusmitsch in sehr vergnügter Stimmung vor. Munter ging er auf dem knarrenden Fußboden auf und ab, dabei summte er vor sich hin; seine spitzen Schulterblätter zeichneten sich deutlich unter dem Hemd ab, seine ganze, knochige Gestalt schien leicht und elastisch.
„Nanu, Großvater, du schläfst ja noch nicht?"
„Ich hab' auf dich gewartet, Senja, Tee gekocht... Ich dachte mir, du würdest hungrig sein, wenn du kommst..."
„Warum bist du denn so vergnügt?"
„Das Alter ist mir keine Last, Senja. Bis ans Ende meiner Tage werde ich nun vergnügt herumlaufen. Mein vorletztes Glück habe ich gesehen, mein Junge."
„Ach, den Deutschen meinst du? Und was soll denn nun das letzte Glück sein, Großvater?"
„Das ist am allerschwersten zu erringen... Auch dir, siehst du, gelingt es nicht. Du hast ein ganz eingefallenes, fahles Gesicht gekriegt, grau wie Erde, Senja. Es ist schwer, mein Junge, Chef zu sein, was? Es ist schwer, ich weiß es. Ich habe mein ganzes Leben lang unten gestanden, und auch das war nicht immer leicht. Du aber, mein Junge, bist auf die Höhe hinaufgeklettert. Es gibt jetzt viele solche wie du. Und ihr müsst euch festhalten, mit den Zähnen festbeißen, Senja — halte dich, schwanke nicht. Ich werde dir eine Stütze bringen... Aber die Akatujewsche, die kann dir keine Stütze sein, Senja, die wird in der entscheidenden Stunde brechen. Es ist natürlich deine Sache, Senja, ich will dir bloß einen Rat geben, wie alte Leute es halt gern tun. Halt' dich mehr an den Arbeiterstamm, Senja, der wird nicht brechen... Und was deine Sorgen anbelangt, so geht mir da ein Gedanke nicht aus dem Kopf. Nur noch einmal prüfen muss ich die Sache. Dann werde ich vor Freude tanzen! Höre, Senja, jetzt muss ich einen Gang tun, und morgen früh werde ich dir dann alles haarklein erzählen... Einen ganzen Monat bin ich schon hinterher
Der Alte zog seine harten, steifen Stiefel an, nahm seinen Krückstock aus Birkenholz und ging in die finstre Nacht hinaus.
„Wie viel Lebenskraft doch dieser alte Mann besitzt", dachte Platow bewundernd, während er dem gebeugten Rücken des Alten mit den Augen folgte. „Wie er sich ans Leben klammert! Die starke Energie der Klasse erfüllt diesen abgenutzten Organismus mit Kraft. Da besiegt die Jugend der Klasse das körperliche Alter!"
Platow sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Da draußen, in dieser warmen, dichten Finsternis, lief der alte Kusmitsch irgendwo herum...
Gelassen wies der Alte am Fabriktor seinen Passierschein vor und stapfte auf die finster daliegende Martinabteilung zu, Sicher schritt er aus, sich mit dem Stock zwischen Formkästen und Gussstücken seinen Weg tastend. Am Eingang der Guss-Putzerei blieb er stehen und musterte aufmerksam das Chaos der Gussstücke.
Ganz am Rand der Gussputzerei flackerte ein grünlicher Lichtschein. Dunkle Gestalten bewegten sich hin und her, ihre riesigen schwarzen Schatten huschten an der Wand auf und nieder, verschmolzen miteinander und trennten sich wieder.
Der „Chef" schlich sich leise näher und blieb dann unbeweglich stehen.
„Na, wird's bald, Trussow? Schneid' schnell ab, ich hab noch die ganze Nacht zu tun."
„Gleich, gleich, Antonytsch. Der Stahl ist mächtig hart. Na, Sharow, hilf mal ein bisschen."
„Ja, der Stahl hier ist besser... Erste Sorte. Fertig? Sharow, du nimmst die abgeschnittenen Stücke und trägst sie in die Dreherei. In welche? In die Dreherei bei der Martinabteilung gegenüber vom zweiten Schornstein. Ein Idiot bist du doch!"
Der Alte wich zurück, lief leise aus der Abteilung, überholte Sharow und drückte dann auf die ölbeschmierte Klinke einer kleinen Tür, die sich lautlos öffnete. Ein paar Drehbänke glänzten matt im Schein der einzigen elektrischen Birne, die brannte. Der Alte drückte sich in eine dunkle Ecke, in der Stahlstücke herumlagen.
Gleich darauf öffnete sich die Tür ein zweites Mal geräuschlos, um den unter seiner Last keuchenden Sharow einzulassen.
„Na, du bist aber mal ein Schwächling, Sharow! Das kommt alles vom Saufen."
„Nein, Antonytsch, das kommt von der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Wenn ich's erst geschafft haben werde, dann werde ich aufhören zu saufen. Ich bin mir selbst zuwider. Aber deinen Weg werde ich nicht betreten, Antonytsch. Du bist ein Aas! Du hast auch den Sergej auf Abwege gebracht!"
„Quatsch nur noch lange, du Trottel. Lauf lieber hin und hol' das zweite Stück."
Sharow verschwand. Die Maschine lief an und erfüllte die kleine Werkstatt mit dem Krachen des Drehstahls. Borezki legte einen Stab, dessen Ende er unbearbeitet ließ, auf das Gestell einer Drehbank. Der Alte strengte seine Augen an, um den Stab genau zu betrachten. So also wurden die Proben bearbeitet, die dem Laboratorium zur Prüfung übergeben wurden! Von jedem Guss werden solche Stahlstücke in Form von kleinen Stäben hergestellt. Diese Stäbe werden dann in die Prüfmaschinen gespannt, werden gezogen, gerissen, gebrochen, um auf diese Art die Qualität des Stahls feststellen zu lassen.
Das glänzende Probestück hob sich deutlich von dem schwarzen Gestell ab. Mit unüberwindlicher Macht zog es den Alten an. Den Atem angehalten verfolgte er, wie die Probestücke eins neben das andere sich funkelnd aneinander reihten. Es stimmte also: sein Verdacht erwies sich als richtig! Morgen früh wird er Senja Platow die Krankheit aufdecken, die an seiner Abteilung zehrt.
„So, so, Antonytsch", flüsterte der Alte. „So verschaffst du dir also weiter das leichte und satte Leben! Damals bist du ja auch als erster wieder an die Maschine gegangen, damals, als die ganze Fabrik in wildem Hass loderte und einen Verzweiflungskampf um ihr Leben führte. Auch jetzt wieder verrätst du Tausende von Arbeiterhänden und bedeckst meine Fabrik mit Schande. Du bist es also, der meine Lokomotiven ins Verderben stürzt, verfluchter Hund!"
Ganz wider Willen schrie der „Chef" die letzten leidenschaftlichen Worte, die ihm die Kehle verbrannten, laut hinaus, so laut, dass es ihm selbst vorkam, als habe nicht er, sondern ein anderer gerufen, so stark und drohend war der Schrei. Im nächsten Augenblick fühlte er einen schweren Druck, der ihn an die Wand presste.
„Was hast du hier zu suchen, du blöder Teufel, was?"
Und kalte Finger tasteten nach der Kehle des Alten, wie wenn eine gigantische Spinne ihn zu umklammern suchte. Kusmitsch fühlte, wie ihm die Luft wegblieb. Auf den Boden niedersinkend, flüsterte er heiser, mit Anstrengung seiner letzten Kräfte:
„Dieb! Wie früher, stiehlst du den Menschen ihr Glück! Du E—len—der... ich ha ... be... dich... entdeckt..."
Seine Stimme zischte zu Füßen Borezkis wie ein erlöschendes Feuer und mischte sich mit dem Rascheln der herumliegenden Stahlspäne.
„Ent... deckt... ha... be ich... "
Da blitzte der eisenbeschlagene Absatz Borezkis auf und traf den Alten an der Stelle, wo über den eingefallenen Schläfen die weißen Haare schimmerten wie vergossene Milch. Röchelnd erlosch die Stimme.
Eine zitternde Acht, rauschte der Riemen im Leerlauf, die Glühbirne flatterte über der Maschine hin und her wie eine Fledermaus, und gierig fraßen die Schatten die rötlich glänzende Pfütze, die über die verrosteten Stahlstücke sickerte.
Über den Maschinen lag tödliche Stille. |
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