DRITTES BUCH
1
Unruhig blickte Wartanjan auf den großen Haufen Postsachen, die soeben eingetroffen waren. Dicke, schwere, mit festen Siegeln versehene Pakete blickten vielsagend aus dem Haufen der dünnen Briefe und der grauen, mit Kreuzband verschnürten Broschüren hervor. Der zweite Band der Werke Lenins in dem festen hellbraunen Pappdeckel erinnerte Wartanjan an ein Lederetui mit der Geländekarte der Roten Armee. Und dieses Bild weckt plötzlich in Wartanjan längst Vergangenes, das mit verblüffender Deutlichkeit, mit allen Einzelheiten vor seinen Augen steht... Es war ein heller, klarer Septembertag. An dem dürren, gelben Gras hängen silberglänzende Spinnwebfäden, Altweibersommer. Auf die auf der Erde liegende, rot und blau angekreuzte Geländekarte fallen leise raschelnd herbstlich bunte Blätter. Aufpeitschende Unruhe spricht aus dieser Karte, aus den Generalstabsmeldungen, aus den Augen der Kommandeure, aus den tiefen Falten, die Sorge und Übermüdung in ihre Gesichter eingegraben haben... Eine schwierige Situation — der Feind versucht, die Division mit schlauen Manövern zu umzingeln. Die Meldungen, die von den einzelnen Stellungen eintreffen, widersprechen einander, verwirren die Pläne und werfen sie über den Haufen. Aber unaufhaltsam rinnen die Stunden, der Zusammenstoß ist unvermeidlich, rückt immer näher heran. Ein Entschluss tut not... Aber das Spinngewebe des Zweifels hüllt die Köpfe ein, die sich tief über die Karte, tief über die Meldungen beugen...
Warum steigt gerade heute die Erinnerung an diesen fernen Tag so klar und deutlich in Wartanjan auf, warum spürt er gerade jetzt den scharfen Geruch des vom Lagerfeuer aufsteigenden Rauchs, warum wird gerade heute, genau wie damals, sein Herz von jener lähmenden Unruhe erfasst?!
Ungeduldig reißt Wartanjan das Siegel von einem dicken Paket ab, überfliegt die Zeilen flüchtig mit den Augen und schleudert das Papier mit einer heftigen Gebärde in seine Aktentasche. Dann nimmt er das rotgebundene Buch aus dem Schutzumschlag.
„Du beschäftigst dich wohl mit Philosophie?" schreckte ihn plötzlich eine überlegene, ironische Stimme auf.
Wartanjan warf einen kalten, feindseligen Blick auf den Sprecher — über den Tisch geneigt, stand Kortschenko vor ihm.
„Nun, wie steht's?"
„Ich bringe dir eine gute Nachricht, Wartanjan... " Kortschenko faltete lächelnd seine Papiere auseinander. „Im Laufe dieses Monats ist der Ausschuß bedeutend gesunken, von 15 auf 8 Prozent."
Nachdenklich drehte Wartanjan den Bleistift zwischen den dünnen, geschmeidigen Fingern.
„Ich verstehe nicht ganz... Du hast doch noch vor einem Monat behauptet, der Ausschuß käme daher, dass Bauern die Martinabteilung überschwemmen. Habt ihr die Bauern im Laufe eines einzigen Monats gelehrt, besser zu arbeiten?"
„Das ist nun schon ein Geheimnis!" Kortschenko lächelte selbstzufrieden. „Es ist eben ein Wunder, obgleich ja heutzutage angeblich keine Wunder mehr passieren. Alles das wurde durch die Prämiierung der Spezialisten und Werkmeister erreicht. Alles das ist dem Rubel zu verdanken! Denk dir nur, wie sich die Meister anstrengen: sie arbeiten zwei Schichten hintereinander. Gestern Nacht komme ich da in die Martinabteilung, und die Arbeit ist in vollem Gange! Ein feiner Kerl ist doch der Borezki — sogar den Trussow und den Liederjan, den Sharow, hat er dazu gekriegt zu arbeiten. Er hat es verstanden sie anzuspornen."
„Du bist der Meinung, dass der Rubel heute die einzige Triebkraft bildet?" Wartanjan zog langsam die Brauen zusammen.
„Weißt du, Wartanjan, ich bin nicht gewöhnt, mich auf lange Erörterungen einzulassen, ich befasse mich überhaupt nicht mit abstrakter Philosophie." Kortschenko betonte besonders die letzten Worte. „Diese Angelegenheit hat für mich rein praktische Bedeutung — und hier hast du das Resultat: der Prozentsatz des Ausschusses ist um die Hälfte gesunken, die Qualität unserer Lokomotiven ist tadellos. Das bestätig!: sogar der Ingenieur Akatujew, und der weiß Bescheid. Bei der Masse ist's natürlich der Enthusiasmus und alles mögliche andere, wie das Jusow da in seinen Leitartikeln so schön schreibt.,. Aber die Entscheidung liegt immerhin bei den Ingenieuren und Meistern, — die wissen, wo sie anpacken müssen. Sie sind die Macht, Wartanjan, und diese Macht habe ich jetzt in der Hand. Und hier muss man mit großer Vorsicht zu Werke gehen... Ich meine die Sache mit Platow. Kaum ist er in der Fabrik, und schon fangen die Unannehmlichkeiten an. Er ist temperamentvoll, jung, voller Selbstbewusstsein und Draufgängertum — daraus kann jetzt großer Schaden entstehen. Weißt du, was er sich gestern auf der Ingenieurversammlung geleistet hat? Turtschaninow hielt einen Vortrag über die ,Ermüdung der Metalle' — er ist wohl unser einziger Spezialist auf diesem Gebiet, hat verschiedene Bücher darüber geschrieben usw. Das Problem ist außerordentlich kompliziert. Ich beispielsweise habe mich mindestens dreimal soviel mit Metallen beschäftigt wie Platow, und trotzdem hüte ich mich, darüber öffentlich zu sprechen. Das ist eben eine zu komplizierte Sache! Platow aber stellt sich da hin und erklärt: ,Diese Theorie erinnert mich an das Pfaffenmärchen von der Sündigkeit der Menschen... ' Tableau! Turtschaninow verließ demonstrativ die Versammlung... Mit Mühe und Not gelang es mir, die anderen Ingenieure zu beruhigen."
Kortschenko ging aufgeregt im Zimmer auf und ab, eine Zigarette im Mund.
„Aber Platow ist trotzdem einer von den Unsrigen", unterbrach ihn Wartanjan, „außerdem ist er ehemaliger Arbeiter. Er war im Ausland. Roter Spezialist. Es ist nur natürlich, dass er alles anzweifelt, selbständig nach neuen Wegen sucht... Da sind Zusammenstöße unvermeidlich... Das ist ja doch eine der Formen des Klassenkampfes unter den heutigen Verhältnissen bei uns."
Kortschenko drehte sich plötzlich scharf, mit einer Schnelligkeit, die im Gegensatz zu seiner Körperfülle stand, auf dem Absatz herum.
„Also auch du ziehst es vor zu zweifeln?"
Wartanjans Gesicht verfinsterte sich, er klopfte nervös mit dem Bleistift auf den Tisch und wandte sich dem Fenster zu.
„Du redest Unsinn, Kortschenko, oder aber, du willst mich einfach nicht verstehen. Vielleicht hab' ich mich auch nicht richtig ausgedrückt. Es handelt sich hier weniger um das Recht zu zweifeln, als vielmehr um die Pflicht eines jeden, nicht aufs Wort zu glauben. Ich meine hiermit nicht dich als Parteigenossen, den ich achte, und ich spreche nicht von der Partei. Ich meine die Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind. Und es gibt noch viele Klassenfeinde mit der Ingenieurmütze auf dem Kopf. In dieser Beziehung werde ich Platow stets unterstützen, Kortschenko., und du brauchst mir keine Vorlesung zu halten, keine Ermahnungen zuteil werden lassen!" Er warf heftig den Bleistift auf den Tisch.
„Nur nicht gleich so heftig, du kaukasischer Hitzkopf, du!" Etwas verlegen lächelnd ging Kortschenko hinaus.
An den Lippen nagend, las Wartanjan die eben eingegangene Post. Eine klingende Stille lag ihm in den Ohren, als sei das Zimmer angefüllt von summenden und surrenden Bienen — ein neurasthenischer Anfall war im Anzug. Wartanjan schüttete ein Pulver auf die Zunge, spülte es mit einem Schluck Wasser hinunter und sah unruhig auf die Uhr — sie stand. Er drehte sie verwundert in der Hand hin und her, schüttelte sie — das Uhrwerk schwieg still. „Sollte sie wirklich schon kaputt sein? Ich hab' sie doch erst kürzlich gekauft. Er öffnete die Kapsel mit einem Messer — kein Rädchen bewegte sich. Die Rubine funkelten ihn an wie rötliche Kaninchenaugen. „Ich muss sie zum Uhrmacher tragen." Gedankenlos begann er am Knopf zu drehen, und die Uhr tickte munter los. Er hatte gestern abend ganz einfach vergessen sie aufzuziehen. Wartanjan lachte kurz auf und ging in die Fabrik.
Schwer atmend lag die Erde da, gedrückt von der Hitze und von den Tausenden von Tonnen Stahl, Eisen und Kupfer, die auf ihr lastete, zusammengeschnürt von dem engen Netz der Schienenstränge. Ein Arbeiter mit bloßem Oberkörper schlug mit einem Hammer auf einen rostigen Eisenbalken ein, der unter den Schlägen erzitterte und stöhnte. „Könnte man den Balken nicht mit einer Maschine durchsägen?" fragte sich Wartanjan. „Aber wer weiß, vielleicht ist es so richtig?" Er musste unwillkürlich an die Sache mit der Uhr denken. So war es auch mit der Fabrik: seine Augen erfassten nur die äußeren Erscheinungen des Fabriklebens. Die Abteilungen arbeiten. Die Maschinen donnern. Sechzehntausend Menschen sind bei der Arbeit. Aber in das Innere dieses komplizierten Mechanismus, der dem einer Uhr gleicht, kann er nicht eindringen. Dabei ist irgendetwas an diesem Mechanismus nicht in Ordnung. Die Qualität der Lokomotiven ist unbefriedigend. Aber er selbst ist außerstande, die Ursache dieser Mängel in dem komplizierten Räderwerk der Fabrik zu erkennen. Man muss den „Uhrmacher" Kortschenko fragen, und man muss ihm aufs Wort glauben... Er, Wartanjan, kann höchstens den Mechanismus aufziehen, aber ihn reparieren kann er nicht. Wer leitet denn aber in diesem Fall die Fabrik — er oder Kortschenko? Nun sollte er sich in diese unangenehme Geschichte einmischen, in den Zusammenstoß Platows mit Turtschaninow.
Was ist das: „Ermüdung der Metalle"? Das ist irgend etwas äußerst Kompliziertes, etwas rein Technisches. Aber eingreifen muss er auf jeden Fall...
Er war mit sich selbst unzufrieden. Langsam ging er an der Dreherei vorbei, Bekannten einen Gruß zunickend. Um ihn herum summten und surrten die Maschinen, die Treibriemen klatschten. Zwischen all diesen Hunderten von Drehbänken, Fräsmaschinen, Bohrmaschinen, die das Metall bohrten, schliffen und schnitten, standen einzig und allein die Planscheiben, die Lokomotivrädern ähnelten, still und unbeweglich.
Wartanjan trat zu Mochow heran, der in das Betrachten einer Achse versunken war, die sich auf seiner Maschine funkelnd
drehte.
„Warum steht diese Maschine hier still? Ist keine Arbeit da?"
„Keine Arbeit?? Du liebe Zeit — soviel Sie wollen! Aber wer soll denn dran arbeiten? Um an dieser Maschine zu arbeiten, muss man einen schlauen Kopf haben----sie hat vier
Supports. Die Triebsachse fordert größte Genauigkeit. Bei der geringsten Kleinigkeit ist sie hin. An der Maschine da hat ein Dreher gearbeitet, wie selten einer, unser bester Dreher... Und nun ist er weg."
„Wo ist er denn?"
„Sie haben ihn entlassen." Mürrisch trat Mochow an den Werkzeugkasten.
„Warum?"
„Die Vorgesetzten wissen's besser, warum... Er hatte einen Radsatz verdorben — das ist freilich ein teures Stück... "
„Aber du sagst doch selbst, er war ein guter Dreher. Wie konnte das denn passieren?"
Mochow konnte selbst nicht begreifen, wie es hatte passieren können, dass der beste Dreher einen Radsatz verdorben hatte. Er hatte keine Ahnung von den Ereignissen, die sich da vor seinen Augen abgespielt hatten. Er fühlte nur, dass Saizew irgendeine Ungerechtigkeit geschehen war, sah seine unruhig flackernden Augen vor sich, die Zeitungsnotiz, die Saizew erbleichen und schwanken machte, als er sie las; aber er konnte alle diese Tatsachen nicht miteinander in Verbindung bringen und zuckte nur mit den Schultern, als Wartanjan Näheres wissen wollte. „Jedenfalls kam es von der Aufregung... Er ist ein Sinnierer, hat immer dagesessen und über die Maschine nachgegrübelt. Oder er hat die Maschine irgendeiner Kleinigkeit wegen angehalten und dann angefangen dran herumzumurksen, stundenlang. Die Maschinen haben's ihm angetan! Vielleicht dachte er's besser zu machen als der Ingenieur. Na, und so ist eben das Ganze gekommen!"
Wartanjan konnte aus dieser ganzen Rede überhaupt nicht klug werden. Mochow sprach so, als ob er laut dächte, als ob er sich selbst von irgend etwas überzeugen wollte. „Und die Gewerkschaft — weiß die von der Sache?" „Die Gewerkschaft!... Was kann schon die Gewerkschaft davon verstehen? Die Gewerkschaft hat bei uns einen Weiberrock an. Also handelt sie auch nach Weibermanier. Und so kann man's nicht zwingen."
„Wer ist denn Gewerkschaftsobmann?" „Da oben auf dem Kran hängt er... Olga! Komm mal runter! Genosse Martenjan will dich sehen." Mochow sprach diesen für ihn schwierigen Namen auf seine Weise aus; aus seiner Stimme klang dabei höchste Achtung für diesen Mann mit den lebhaften Augen, die schwarzen Johannisbeeren glichen. In jenem vielstöckigen Hause, als das sich Mochow die Fabrik und das ganze Leben vorstellte und in dem er, Mochow, jedem seine Etage bestimmt hatte, hatte Wartanjan für ihn das alleroberste Stockwerk inne, denn er wurde auf jeder Versammlung zum Vorsitzenden gewählt, eröffnete alle Meetings und sprach klug und verständlich zu den Arbeitern. Und Mochow stellte sich lebhaft vor, wie Wartanjan von seinem obersten Stockwerk aus mit seinen flinken schwarzen Augen alles beobachtete, wie das ganze Leben mit allen Einzelheiten wie auf der Handfläche ausgebreitet vor ihm dalag.
„Das ist eine ziemlich verwickelte Sache, Genosse Martemja... Hier muss man geschickt anpacken, wenn man sich auskennen will. Der Mensch ist gewissermaßen auch eine Maschine. Es kann ja sein, dass auch bei dem Saizew irgendeine Feder gesprungen ist..."
Elastisch und schlank wie eine junge Tanne, mit leichten, federnden Schritten kam Olga zu Wartanjan heran. Der eng anliegende blaue Arbeitskittel, in der Taille von einem Gürtel fest zusammengehalten, ließ die Umrisse ihres leichten, festen Körpers deutlich erkennen. Die schwarzen, öligen. Hände und die muskulösen Beine, die bis an die Knie hinauf nackt waren, stachen seltsam ab von der zarten Haut ihres Gesichts, die durchsichtig war, und wie von innen heraus rosig durchleuchtet; von diesem rosa Hintergrund hoben sich die blauen, lachenden Augen besonders strahlend ab.
„Sie wünschen etwas von mir, Genosse Wartanjan?" Wartanjan, dem das hübsche, schlanke Mädel gut gefiel, erwiderte den hellen, funkensprühenden Blick dieser blauen Augen unwillkürlich mit einem freundlichen Lächeln.
„Ich wollte gern wissen, was mit dem Dreher Saizew los ist?"
„Ach, das ist eine ganze Geschichte. Der beste Dreher der Abteilung, mit einemmal hat er einen teuren Maschinenteil vollkommen verdorben und die Arbeit mittendrin stehen und liegen lassen. Es war eine Kommission zur Untersuchung eingesetzt. Der Meister und Sorin, der Leiter der Abteilung, sagen, er hat sich demonstrativ geweigert, die neue, erhöhte Arbeitsnorm zu leisten und hat absichtlich den Radsatz verdorben."
„Und was haben Sie als Gewerkschaftsbevollmächtigte der Abteilung für eine Meinung?"
Olga wurde plötzlich verlegen, und ihre Wangen bedeckten sich mit einer dunklen Röte.
„Ich habe meine Meinung gesagt, aber man will sie nicht berücksichtigen. Ich hab' Lärm geschlagen und hab' mich geweigert, das Protokoll zu unterzeichnen; aber Teleshkin hat sich dem Urteil der Kommission angeschlossen, und Saizew wurde entlassen. Meiner Meinung nach ist hier eine Ungerechtigkeit begangen worden."
Wartanjan musste an die verächtliche Bemerkung Mochows über den Gewerkschaftsobmann im Weiberrock denken und unwillkürlich lächeln. „Wie heißen Sie?" „Pylajewa."
„Pylajewa? Pylajew war also Ihr Vater?" „Jawohl, mein Vater...", antwortete Olga, noch röter werdend, als sie den aufmerksamen Blick Wartanjans auf sich haften fühlte. Sie machte sich an ihrem Kopftuch zu schaffen, aber die widerspenstigen Haare gehorchten ihr nicht, sie quollen in dichten Wellen darunter hervor.
„Nun, und wie geht's der alten Pylaicha?" „Ich sehe sie jetzt fast gar nicht mehr. Sie verbringt den ganzen Tag im Museum. Da sitzt sie in der Ecke, wo jene Telegrafenstange steht. Sie fegt da aus. Vor den Menschen hat sie jetzt nicht mehr so große Angst. Der Museumsleiter bezahlt ihr ihre Arbeit, aber sie kann die Kopeke vom Rubel nicht unterscheiden. Ich habe nun zwei ,Melancholische' im Hause: die Großmutter und den Kusmitsch. Es ist richtig komisch mit ihnen!" erzählte Olga mit gutmütigem Lächeln. An der Tür der Abteilung wandte sich Wartanjan noch einmal um, und als er sah, dass Olga mit flammend rotem Gesicht immer nach dastand, rief er zurück: „Du musst auch weiter Lärm schlagen, Olga!" Er ging weiter von Abteilung zu Abteilung, und überall stieß er auf etwas Neues, was ihn aus dem Wirrwarr der Maschinen, der Metallhaufen, aus den Gesichtern der Menschen, aus allen Einzelheiten des Fabriklebens anschaute. Er war umringt vom Krachen des Stahls, eingehüllt vom Donnern der Maschinen, von den Wogen des Metallstaubs und scharfem Schweißgeruch; und er ging weiter, von Werkstatt 2u Werkstatt, von Maschine zu Maschine, beobachtete mit suchenden Augen die Bewegungen der Maschinen, der Werkbänke, der Menschenhände, die gespannte Aufmerksamkeit auf den Gesichtern der Arbeiter.
In der Martinabteilung blieb er stehen und beobachtete, wie ein langarmiger, mittelgroßer Arbeiter eine Barre Roheisen zerschlug. Mit Anstrengung hob er das große Eisenstück hoch und schlug es gegen die Schienen. Aber die Eisenbarre ergab sich nicht so leicht, sie glitt ihm aus den Fingern, und der Arbeiter musste seine Bewegungen von neuem wiederholen. Als die Eisenstange endlich in zwei Teile zerbarst, hockte sich der Arbeiter erschöpft auf die Erde nieder.
„Ist's schwer, Genosse?"
Der Arbeiter warf ihm einen bösen Blick zu.
„Du kannst's ja mal probieren! Was fragst du so dumm?"
Wartanjan wurde verlegen und wollte weitergehen, aber der Arbeiter hielt ihn mit seinem bösen Blick fest. Unentschlossen stand er da. Sollte er ihm ein paar freundliche Worte sagen? Aber was konnten Worte für diesen ermüdeten Menschen bedeuten? Sie würden ihn höchstens noch mehr aufbringen. Er fühlte, wie der schwere Blick des Arbeiters voller Verachtung auf ihm ruhte.
Ü ber Wartanjan hingen die glänzenden Kupferdrähte der Hochspannungsleitung. Sie durchschnitten direkt über seinem Kopf die Luft und zogen sich, leicht herabhängend, in die Weite, bis sie sich in der Ferne verloren. Die Linie, diese Linie, die er in Gedanken gezogen hatte und die über vier Hauptstädte hinwegführte, sie führte auch über die Fabrik, über Wartanjan, über diesen müden, am Boden sitzenden Arbeiter weg. Und wieder fühlte Wartanjan mit ihrer ganzen Schwere die Verantwortung für diese Fabrik, für diesen von der Ermüdung zu Boden gedrückten Arbeiter, für das Leben und die Arbeit dieser tausende Menschen. Ja, er, Wartanjan, musste alles wissen, musste ihre Gedanken, ihre Stimmungen, ihre Arbeit kennen, damit er das Recht hatte, diese Menschen zu leiten, die hier, unter der drohend den Äther durchschneidenden Linie der künftigen Tage, Lokomotiven bauten.
Er bückte sich, um die Eisenstange aufzuheben.
„Zieh' die Handschuhe an, sonst zerreißt du dir die Finger!" Der Arbeiter warf ihm die dicken Fäustlinge hin.
Wartanjan steckte seine Finger in die formlosen, schmutzigen Säcke und griff nach der Barre. Als er sie emporhob, fühlte er, wie schwer es war, sich wieder aufzurichten; alle Sehnen und Muskeln waren aufs äußerste angespannt, dabei hatte er die Barre erst bis in Kniehöhe gehoben. Er nahm alle Kräfte zusammen und stand nun aufrecht da, die Stange in den Händen; aber er wusste nun nicht, was er mit ihr machen sollte.
„Schlag zu!" kommandierte der Arbeiter, mit den Augen blinzelnd.
Wartanjan ließ die schwere Barre matt aus den Händen gleiten, sie kollerte über die Schienen, bis sie unversehrt im Sand liegen blieb. Wartanjan beugte sich wieder zur Erde. Jetzt schien ihm die Last schon leichter; als er aber die Stange hochheben wollte, um sie mit Gewalt auf die Schienen zu schleudern, schien es, als ob irgend jemand seine Arme unten festhielt, und die Stange sprang wieder weich wie ein Frosch in den Sand.
„Siehst du!" sagte der Arbeiter triumphierend. „Wenn du damit deinen Tag hingebracht hast, da trinkst du dann schon einen Schluck vor lauter Müdigkeit! Wie soll man überhaupt bei solcher Arbeit nicht trinken? Und wenn du trinkst, dann heißt es: ,Pfui, der schlechte Sharow!' Und wirklich — ich bin auch nicht zu halten, wenn ich besoffen bin!"
„Du musst dich aber doch beherrschen... Trink' nicht zuviel", sagte Wartanjan, schwer atmend.
Sharow schaute ihn lange und traurig an.
„Ich kann mich eben nicht beherrschen, mein Lieber. Mich hat es furchtbar gepackt! Zwei Jahre bin ich schon in der Fabrik, aber ich kann mich nicht beruhigen... Mit der Wurzel bin ich ausgerissen, mein Lieber! Und ich bin auch gar kein Sharow... Shurawlow bin ich... Bei uns in Dawydowka heißen alle Shurawlow... „Woher kommst du?"
„Von da drüben..." Sharow wies mit der Hand nach der Richtung, in der die glänzenden Kupferdrähte verschwanden. „Du bist also ein Bauer?"
„Ich war ein Bauer... " Über Sharows nachdenklich werdendes Gesicht zog ein finsterer Schatten.
„Was hat dich denn veranlasst, in die Fabrik zu gehen?" Wartanjan hörte nicht auf zu fragen. Sharow schnitt eine traurige Grimasse. „Wo soll ich denn sonst hin? Ein nackter elender Mensch bin ich. Nicht einmal das Hemd auf dem Leibe haben sie mir gelassen, mein Lieber!"
„Nun erzähl' mir mal, was dir passiert ist!" Wartanjan ließ sich neben Sharow nieder und schaute ihm ins Gesicht, das elend und kummervoll aussah.
„Du bist ja gar nicht los zu werden — klebst an einem wie die Badehose am Hintern!" lachte Sharow. „Ich hab' meine eigene Wirtschaft gehabt. Ein Pferd, eine Kuh und all das andere unbewegliche Gut. Aber sie haben mich einfach vernichtet, mit der Wurzel herausgerissen! Haben alles angezündet... Die Kinder sind verbrannt, und die Frau... Und das Pferd und die Kuh... Für meinen gerechten Sinn haben sie mich abbrennen lassen..." In sich zusammengesunken saß Sharow da, seine langen, wie mit dichtem, dunklem Pelz bedeckten Affenarme hingen matt herab. „Da bin ich in die Fabrik gegangen. Und die Arbeit ist schwer... Ich müsste eine Maschine in die Hand kriegen, dann würde ich wieder aufleben. Ich liebe die Maschinen. Wegen einer Maschine ist auch alles das bloß passiert. Ich habe eine gemeinschaftliche Dreschmaschine organisiert, und dafür haben sie den roten Hahn auf meinem Hof organisiert. Alles kaputt gemacht, mit der Wurzel herausgerissen! Ein verbitterter Mann bin ich heute!"
„Wer —,sie'?"
,Wer'! ,Wer'! — das weiß man schon, wer... ", seufzte Sharow und erhob sich. „Nun mal los — weiter schuften. Aber für die Gerechtigkeit, da steckte ich den Kopf ins Feuer. So bin ich nun mal! Ich kann ein richtiger Held sein!" Stolz streckte er die schmale Brust heraus. „Wenn ich bloß eine Maschine in die Hand kriegte!"
Er ergriff die Eisenbarre und ließ sie mit aller Kraft aufschlagen, so dass die glänzenden Metallstücke auseinanderkrachten.
Wartanjan betrachtete seine Hände: sie waren mit dichtem Metallstaub bedeckt, und deshalb schienen sie stark und schwer. Von der ungewohnten Arbeit lief ein feines Zittern durch die Finger, und der ganze Körper war von einer angenehmen Erregung durchdrungen. Die unmittelbare Berührung mit dieser Arbeit, die Tausende von Menschen tagaus, tagein verrichteten, die schwarzen Flecke an den Händen und der Schmerz im Rücken hatten ihm alles das verständlich gemacht und fühlbar nahegerückt, was gestern nur leere, allgemeine Abstraktion für ihn gewesen war: die trockenen Ziffern aus den Rechenschaftsberichten der Fabrikleitung und aus den Resolutionen verdichteten sich zu schweren Metallbarren, zum Donnern und Krachen der Maschinen, zu Bergen von Rädern, Achsen und funkelnden Lokomotivteilen, zu Haufen von Eisen und Stahl, zitterten im straffen Anziehen der Muskeln. Und jeder einzelne der sechzehntausend Arbeiter, die diese lärm- und raucherfüllten Werkstätten belebten, stand vor ihm, deutlich und eigenartig, wie dieser jämmerliche Sharow hier, mit einer eigenen, tiefen Innenwelt wie Sharow. Und diese sechzehntausend ganz verschiedenartigen, höchst persönlichen Leben wurden durch die Bewegung des Metalls von Maschine zu Maschine zu der mächtigen Einheit des Fabrikkollektivs verbunden — angefangen von Sharow mit seinen grauen Eisenstangen bis zu dem alten Nörgler Mochow und der schlanken Olga, die den Prozess des Maschinenbaus vollendeten. Und dieses ganze, tausendköpftge Fabrikkollektiv, das eingehüllt war in das Donnern des Metalls, in den Geruch von Erdöl und grauen, beißenden Rauch, hatte sich nun auf einmal belebt, seine graue Unpersönlichkeit war verschwunden, an ihre Stelle waren charakteristische Menschengesichter getreten — das Kollektiv in seiner unendlichen Vielfalt und Buntheit war auf einmal körperlich greifbar geworden.
Auf den Schienen kam langsam eine neue, soeben vollendete Lokomotive angerollt. Vor Anstrengung zitternd, schob sie ihren langen, von glänzenden Kupfergürteln umzogenen Körper fauchend vor, bahnte sich durch kurze, dreistimmige Schreie ihrer Dampfpfeife einen Weg durch das Getümmel der Fabrik. Der fünfzackige, flammende Kupferstern, der von der vordersten Wölbung ihrer Brust strahlte, blendete die Augen.
Wartanjan stand unbeweglich, gebannt vom Anblick diesen Lokomotive, dem weit ausgreifenden Schwung der Räder, der ruhigen Bewegung all der Teile, deren Namen er nicht kannte, dem Glanz der frisch aufgetragenen Lackierung, die wie ein schwarzer Spiegel die Gegenstände und Menschen, an denen die Lokomotive langsam vorüberfuhr, wiedergab. Und plötzlich fiel Wartanjan der Zweck seines Rundgangs durch die Fabrik wieder ein. Sollte etwa auch diese Lokomotive „genau so wie früher" gemacht sein? Sollte sie wirklich auch wieder so gemacht sein, dass sie morgen oder übermorgen zu einem neuen Vorwurf für die Fabrik wurde?
„Wie früher..." Wie sollte man das erfahren? Wie sollte man eindringen in ihr dampfendes Innere, um zu prüfen, ob auch wirklich alles in Ordnung war? Sollte man sich wieder an den „Uhrmacher" wenden? Vielleicht wusste der auch nicht mehr? Die Arbeiter fragen?... Aber deren Wissen beschränkt sich auf den einen bestimmten Teil, den sie herstellen. Wer ist denn aber imstande, eindeutig und bestimmt die Wahrheit zu sagen?
Mit wachen, unruhigen Blicken sah Wartanjan der davonfahrenden glänzenden Lokomotive nach — in dieser Wolke zischenden Dampfs, in dem Donnern von Stahl und Eisen fuhr da die gemeinschaftliche Arbeit von sechzehntausend Menschen an ihm vorüber, eine Arbeit, die ihm in ihrer Kompliziertheit beinahe unfassbar war. Er sah nur das, was jeder Reisende sah — die starke, große, schöne Lokomotive. Aber er ist nicht nur ein Reisender, er ist der politische Lokomotivführer... Und wieder wurde Wartanjan von starker Unruhe ergriffen, und er fühlte: ohne Vertrauen kann man nicht leiten; alles selbst wissen aber — das ist unmöglich. Ja — er vertraute diesen Sechzehntausend, er musste ihnen vertrauen. Sie bauen diese Lokomotiven für sich selbst, für ihren Staat. Dieser funkelnde Kupferstern da vorn an der Brust der Lokomotive, der ist selbstverständlich keine technische Notwendigkeit, das ist klar, man ist früher auch ohne diesen Schmuck mit Lokomotiven gefahren. Aber dieser Stern entstammt der Liebe zur Lokomotive, dem Wunsch, der Lokomotive ein schöneres Aussehen zu geben, dem Wunsch, das Schönheitsbedürfnis zu befriedigen, das Siegesbewusstsein auszudrücken und es auf die anderen zu übertragen. Der Stern — das ist die Kunst, die gewaltsam eindringt in die prosaische Sphäre der Produktion. Und er ist die unaufhaltsame Verkörperung der neuen Gefühle, die den Arbeiter beseelen, wenn er seine Lokomotive baut. Das ist der Aufschwung der Revolution auf eine höhere Stufe. So ist es... Sind aber die ganzen Sechzehntausend von diesen neuen Gefühlen durchdrungen?
Bei seinem Rundgang durch die Abteilungen sah er Arbeiter, die ihre Arbeit voller Hingabe verrichteten, die hartnäckig, angespannt und freudig schafften; aber er sah auch die gelangweilten Gesichter jener, die „auf alte Weise" ihr Pensum abhaspelten, mechanisch und ohne zu denken; er sah oberflächliche Schlamperei und nachlässige Hetzarbeit auf der Jagd nach hohen Akkordleistungen. Die meisten gehörten zu der ersten Gruppe, davon hatte sich Wartanjan mit eigenen Augen überzeugt. Aber in der fertigen Lokomotive ist die Arbeit aller verkörpert... die Arbeit derer, die voller Begeisterung die Brust der Lokomotive mit dem flammenden Stern schmücken, die Arbeit jener, die nur dem Rubel nachjagen und auch die Arbeit solcher wie Sharow — die zu den Getreuen gehören, aber die rohen Überreste bäuerlicher Kulturlosigkeit noch nicht abgeschliffen haben.
„Ja — man muss dafür sorgen, dass die Führung dieses tausendköpfigen Kollektivs Menschen übernehmen, die nicht nach alter Weise arbeiten. Darin liegt die Garantie... Man muss ihre Initiative auslösen. Dafür sorgen, dass sie, die ihre Arbeit an den Einzelteilen gut kennen, den gesamten Produktionsprozess erfassen. ,Uhrmacher' muss man aus ihnen machen. Ihnen vertrauen. Kortschenko nur bis zu einem gewissen Grade Glauben schenken. Forderungen stellen. Keine Ruhe geben!" Es fielen ihm die Worte ein, die Kortschenko übet die Ingenieure gesagt hatte: ,Sie sind die Macht. Und diese Macht habe ich jetzt in der Hand.' „Stimmt das? Das muss untersucht werden. Aber die Hauptsache: denen mehr Aufmerksamkeit schenken, die nicht mehr so wie früher, auf alte Weise arbeiten."
Saizew fiel ihm ein. Der beste Dreher. Entlassen. Hat seltsamerweise die Arbeit stehen und liegen lassen und ist fortgelaufen — mitten drin... Wartanjan ging zum Betriebsrat.
Da saß Teleshkin, den Kopf schief zur Seite geneigt, die Zungenspitze etwas herausgestreckt, und kritzelte eifrig mit der Feder auf einem Papier herum.
„Ach, Genosse Wartanjan! Ich bereite mich auf meinen Bericht für das Plenum des Betriebsrats vor. Zwei Stunden mindestens muss ich reden, Wartanjan, nicht weniger!"
Wartanjan unterbrach ihn ungeduldig:
„Weißt du etwas über die Entlassung von Saizew?"
„Natürlich, warum?"
„Wie hast du, der Vorsitzende des Betriebsrats, darauf reagiert?" „Was gibt’s da weiter zu reagieren! Die Sache ist ganz klar. Er ist gemäß den Vorschriften, der Betriebsordnung entlassen worden." „Gemäß den Vorschriften der Betriebsordnung... " wiederholte Wartanjan nachdenklich. „Hast du ihn auch, gemäß den Verpflichtungen der Gewerkschaftsarbeit, in seiner Wohnung aufgesucht?"
„Ich? Saizew in seiner Wohnung aufgesucht!?" Teleshkin riss erstaunt die Augen auf. „Du machst wohl einen Witz? Da gibt es Tausende von Wohnungen, wie soll ich die alle ablaufen? Wann soll ich denn arbeiten?" Und mit einem heftigen Ruck senkte Teleshkin seinen Kopf tief auf das Papier.
„So — o..." Wartanjans Augen funkelten Unheil verkündend. „Möchtest du mir vielleicht sagen, was du eigentlich ,arbeiten' nennst? Papier vollkritzeln? Du wirst so freundlich sein und gleich morgen zu Saizew in die Wohnung gehen."
Teleshkin warf den Federhalter auf den Tisch:
„Bin ich vielleicht ein Laufjunge, was? Ich werde nicht gehen!"
„Jawohl! Ein Laufjunge! Und wenn's dir nicht passt, dann scher' dich zum Teufel!" Wartanjan drehte sich schroff um, im Hinausgehen die Tür hinter sich zuwerfend, und Teleshkin, dem ganz heiß geworden war, hörte, wie auf dem Korridor der Fußboden unter seinen schweren, hastigen Schritten knarrte.
Am Abend ließ Wartanjan die Zellensekretäre aller Abteilungen zu sich kommen.
Er teilte ihnen seine Eindrücke von seinem Rundgang durch die Fabrik mit, sprach darüber, dass jeder Sekretär den Herstellungsprozess der Lokomotiven kennen und wissen müsse, wie jeder einzelne Arbeiter lebt; jede einzelne Abteilung müsse aufgerüttelt werden. „Die Qualität der Lokomotive", sagte er, „ist die Qualität derer, die die Lokomotive bauen: die Qualität der Arbeiter, der Werkmeister, der Ingenieure, des Direktors, die Qualität jedes Kommunisten in der Abteilung."
Andrjuschetschkin glaubte in der Flut der heißen, leidenschaftlich hervorgesprudelten Worte zu ersticken: beobachten und sehen, alles sehen, wissen, wo man vertrauen darf und wo nicht, die Arbeiter in ihren Wohnungen besuchen, sie anhören, alles wissen und alles tausendmal prüfen!
Das alles war neu, ungewöhnlich und unerwartet. Wartanjans Unruhe steckte an. Sie klang aus allen seinen Worten, funkelte aus den glänzenden schwarzen Augen, zitterte in seinen schlanken, blassen Fingern, die nervös ein Stück Papier in kleine Fetzen rissen.
2
Akatujew erwachte plötzlich mitten in der Nacht, geweckt von einem lauten Klopfen ans Fenster.
Ununterbrochen gespannte Wachsamkeit hatte sein ohnehin schwaches Herz gründlich ruiniert. Erschrocken fuhr er hoch, griff sich an die linke Seite — wollte sein Herz zerspringen? Dann wankte er ans Fenster. „Mach' auf, Papa! Ich bin es!"
„Wera? Warum so unerwartet! Sie sollte doch eigentlich nach dem Ural fahren." Freudig erregt über die Ankunft der Tochter, öffnete Akatujew mit zitternden Händen die zahlreichen Riegel und Schlösser, mit denen die Haustür verrammelt war.
„Na — machst du bald auf? Ich bin ganz erfroren!" rief Wera von draußen, und ihre Stimme, die Akatujew dumpf und unbekannt vorkam, verwirrte ihn noch mehr. Er konnte absolut nicht den Schlüssel herumdrehen, so sehr er sich auch bemühte.
„Sofort, Werusska, sofort... gleich mach' ich auf, mein Herzchen."
Endlich war die Tür geöffnet, und Wera trat zitternd vor Frost ins Vorzimmer.
„Ist es denn so frisch heute Nacht, dass du so frierst?" wunderte sich Akatujew und er küsste seine Tochter auf beide Wangen. „Mir schien es schwül..."
Wera rieb sich nervös zitternd die Hände. „Es ist jedenfalls von der Reise... Im Waggon war es sehr heiß, und an der frischen Luft wurde mir dann gleich kühl... Oder vielleicht fehlt mir irgend etwas..."
„Du schriebst doch, dass du nach dem Ural müsstest. Und auf einmal bist du hier? Na, ich bin sehr froh darüber, denn allein ist es furchtbar langweilig. Wirst du lange hier bleiben?" drang Akatujew in sie, seinen Rock zuknöpfend. „Du bist jedenfalls sehr müde?"
„Ja, ich hab' zwei Nächte nicht geschlafen... Ich werde mich niederlegen... Morgen werden wir plaudern, Papa... Also, ich bleibe bis zum Herbst. Ganz unerwartet hat man mich zur Praxis hierher geschickt."
„Ach, das ist ja fein. Da werden wir den ganzen Sommer zusammen sein. Ausgezeichnet!"
Wera kramte einen Brief aus ihrem Koffer und reichte ihn dem Vater; sie zitterte dabei, als ob sie stark fröstelte.
„Das ist für dich, Papa... Von deinen... Bekannten."
In ihren müden Augen entzündete sich plötzlich ein wachsamer Funke, sie blickte dem Vater scharf ins Gesicht, während ihre Finger am Taschentuch zerrten.
Akatujew griff hastig nach dem versiegelten Brief, musterte ihn mit einem schnellen, ungeduldigen Blick und erhob sich.
„Nun, Wera, leg' dich schlafen... Ruh' dich aus. Ich gehe in mein Zimmer hinüber..." und er schlurfte in seinen Pantoffeln aus dem Raum.
In seinem Zimmer öffnete Akatujew mit dem Taschenmesser vorsichtig das Kuvert und las hastig das eng mit Bleistift beschriebene Blatt. Mit jeder neuen Zeile wurde seine Erregung größer, seine Brauen zuckten auf und nieder, sein Herz klopfte wieder stark und unruhig.
Das längst zu Ende gelesene Blatt zitterte in seinen mageren, gichtgekrümmten Fingern. Über sein Gesicht huschte ein vages Lächeln, das sich in seinem harten Schnurrbart verlor.
Draußen dämmerte schon längst der Morgen, die Fensterscheiben färbten sich hellgrün; im Garten zeichneten sich deutlich die Konturen der Geißblattsträucher und Akazien ab, deren Blätter nass glänzten. Akatujew aber saß noch immer unbeweglich und lächelnd in seinem Sessel. Dann stand er auf und wanderte im Zimmer auf und ab. An Stelle des stillen Lächelns lag nun tiefe Nachdenklichkeit auf seinem Gesicht. Als die Sonne aufging, rief ihn Wera unerwartet an: „Papa, komm doch mal zu mir herein." Wera lag angekleidet auf dem Bett, die entzündeten Augen auf die Schnörkeleien an der Zimmerdecke geheftet.
„Papa... Ich hab' auch nicht geschlafen und hab' deine Schritte gehört... Ich muss mit dir sprechen... " Sie schwieg, als fände sie nicht gleich die passenden Worte.
Akatujew musterte unruhig ihre matt ausgestreckte Gestalt. „Ich höre, Werotschka..." „Papa... Ich weiß alles... " Durch Akatujews Körper lief ein Zittern. Mit ineinander verkrampften Händen starrte er in ihre grauen, plötzlich erloschenen Augen. Furcht und Freude, fortwährend miteinander wechselnd, verzerrten sein Gesicht zu einem furchtbaren Krampf. Die Braue über seinem linken Auge zuckte nervös.
„Nun... Wera — und du, Werusska... Du bist mit uns?" Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen, sein Herz klopfte wie wahnsinnig gegen die Rippen, als wollte es die Brust sprengen.
Wera richtete sich, auf die Ellbogen gestützt, auf und flüsterte mit vor Erregung heiserer Stimme: „Ich... ich bin... dagegen."
Sie glitt schnell vom Bett und trat schwankend ganz nahe an ihren Vater heran.
„Papa! Lass das alles... "
Mit einer schroffen Bewegung stieß Akatujew ihre zitternde, kalte Hand von seiner Schulter.
Die grauen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, die Braue über dem linken Auge flatterte unruhig hin und her.
Wera stand sonderbar ruhig vor ihm, schlank und grade wie eine dunkle, junge Tanne.
Er sah in ihre unerbittlichen grauen Augen und musste an ihre Mutter denken... genau ebensolche Kälte und Hass ausstrahlende, unerbittlich grausame Augen hatte auch sie gehabt. Und erschüttert über diese Ähnlichkeit, bedeckte er das Gesicht mit den Händen.
„Ja, Papa... ich bin mit einem festen und unerschütterlichen Entschluss gekommen. Er ist mir nicht leicht gefallen, aber ich..."
„Nun gut, geh! Zeig' uns an!" zischte Akatujew von seinem Schaukelstuhl her. „Geh! Mögen sie mich holen und erschießen! Mögen sie's tun! Ich werde von meinen Ideen nicht ablassen. Ich werde mich nicht ergeben! Ich werde um mich schlagen, beißen und kratzen — wenn ich auf der Erde liegen werde, so werde ich den Feind in die Beine beißen. Bis zur letzten Sekunde! Bis zum letzten Blutstropfen!... Geh! Zeig' mich an!!!" Völlig außer sich zischte er das alles hervor. Schaum stand ihm vor dem Mund und spritzte auf seinen dunklen Rock.
„Beruhige dich, Papa... Ich bin nicht hierher gekommen, um dich anzuzeigen. Ich will euch nur davon überzeugen, dass eure Sache aussichtslos ist... Ich weiß viel. Es ist noch nicht zu spät, zu liquidieren, den Rückzug anzutreten ... von neuem zu beginnen."
„Ich soll mein Leben von neuem beginnen?! Du bist verrückt! Ich — ein sechzigjähriger Mann? Und für wen? Für diese Halunken und Tagediebe? Für dieses öffentliche Bordell, das sie Sozialismus nennen?"
„Papa! Komm' zu dir, besinne dich, was du sprichst!" „Ich spreche von dem, was dich erwartet, wenn es zu unserer Niederlage kommen sollte. Du wirst es bedauern, wenn es zu spät sein wird, Wera!" Seine Stimme klang müde und bittend.
Wera schwieg und biss sich fest auf die zitternde Unterlippe.
„Werotschka! Werussja!" Akatujew fiel vor ihr nieder. „Ich liege auf den Knien vor dir wie ein Bettler... Wera! Meine Tochter! Besinne dich auf dich selbst, ich flehe dich an! 150
Sei wie früher mein liebes, geliebtes Mädchen. Ich weiß... Werotschka, liebe..." Seine Stimme brach und sank zu einem heiseren Flüstern herab.
Draußen stieg die Sonne hoch, sie funkelte in den Fensterscheiben und den blitzenden Tautropfen. Ihre Strahlen ließen die Tränen an den Wimpern der dunkelumränderten Augen Akatujews aufblitzen.
Wera erschauerte, als ob irgend etwas in ihrem Innern zerreiße. Mitleid mit ihrem Vater schoss ihr wie eine stürmische, warme Welle zum Herzen. Es würgte in ihrer Kehle, heiße Tränen stiegen in ihr auf. Sie wollte sich losreißen, aber der Vater hielt mit heißen, feuchten Fingern ihre Hand fest umklammert.
„Werotschka... Hab Mitleid mit deinem Vater... um der Mutter willen, hab Mitleid mit mir!"
Plötzlich aber sah Wera das schöne, gute Gesicht der Mutter vor sich, von der Aureole ihrer golden glänzenden Haare umgeben. Heftig stieß sie den Vater beiseite.
„Erinnere mich nicht an meine Mutter... Um so schlimmer für dich! Sie ist in diesen verfluchten Zimmern erloschen, erstickt zwischen Windeln und Daunenkissen, im Kummer und Hass auf alle diese Schränke und Betten, diese ganze warme Gemütlichkeit... Ich bin gegen euch! Ich will nicht, dass dieses saubere, satte, verfluchte Leben von früher wiederkommen soll! Auch mich hat es zu einem jämmerlichen Geschöpf gemacht, euer herrliches Leben. Ich habe viel gesehen und habe viel über alles nachgedacht Ich habe Menschen gesehen, die vom Arbeitsfieber ergriffen waren, die Nächte hintereinander nicht geschlafen hatten und dabei lachten wie Kinder... Das sind starke Menschen — wir aber, und alle, die mit uns sind, wir sind Jammerlappen, zum Untergang verurteilt. Wir lebende Leichname!" Die leidenschaftlich hervorgesprudelten Worte rissen ihr den Atem ab, erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl sinken.
Akatujew fiel in seinen Sessel zurück. Seine Ohnmacht, das Bewusstsein, dass all sein Bitten, die Liebkosungen und Tränen umsonst waren, drückte ihn nieder. Eine unbeschreibliche Schwäche durchdrang seinen schweren, hinfälligen Körper. Stille umgab ihn, nur das helle Zwitschern der Meisen drang zum halbgeöffneten Fenster herein. Akajutew hob den Kopf und begegnete wieder diesen fremden, kalten, undurchdringlichen Augen — er hatte einen Feind vor sich. Aber er hielt den Blick aus, und brennende Wut stieg in ihm hoch.
„Du wirst heute noch abreisen!" sagte er, ohne den feindseligen Blick von ihr zu wenden.
„Nein! Ich bleibe hier und werde hier, in diesem Zimmer wohnen. Ich werde auf keinen Fall abreisen, sondern werde hier im Festigkeitslaboratorium arbeiten. Und du... du kannst leben, wie du willst."
Auf schwachen, schwankenden Füßen verließ Akatujew das Zimmer. In seinem Arbeitszimmer wühlte er lange in seinen Papieren, nahm sie aus den Schubladen, ordnete sie und verschloss sie in einen Schrank. Dann 20g er sich an und ging fort. Auf halbem Wege kehrte er um, drückte die Klinke seines Zimmers nieder und überzeugte sich davon, dass die Tür verschlossen war. Dann verließ er leise wieder das Haus.
Nun sitzt er im Lager der Martinabteilung und starrt auf die Haufen von altem Eisen und Abfällen: Stahlspäne, abgenutzte Maschinenteile, verdorbene Schrauben, zerbrochene Eisenstangen. All diese zerbrochenen, verrosteten Eisen- und Stahlstücke hauchen einen Geruch von Ruhe, von Verwesung aus. Ein Triebrad, das der Rost fuchsrot gefärbt hat wie die untergehende Sonne, liegt da, als habe es sich im vollen Lauf in die heiße Erde hineingewühlt. Seine Reisen sind zu Ende, ruhig wartet es darauf, zurückzuwandern in den kochenden Martinofen. Und dieses verrostete Lokomotivrad, das die vielen Tausende von Kilometern, die es in seinem Leben durchrasen musste, abgenützt haben, schaut Akatujew an, wie das eigene Leben. „Ja, das unerbittliche Alter kommt heran, — ihr seid zum Untergang verurteilt..." Er musste an die Worte seiner Tochter denken, die sie ihm heute morgen bei Sonnenaufgang entgegengeschleudert hatte, und ein Zittern durchlief seinen Körper.
Heute war der Tag, an dem er vor dreißig Jahren seine Arbeit in dieser Fabrik begonnen hatte. Dreißigmal hatte sich die Sonne, bei der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings angekommen, über seinem Haupte geneigt — dreißig Jahre Inspektortätigkeit, Hunderttausende von Stempeln abgedrückt auf Lokomotivteile, Millionen von Minuten verlebt in Erwartung des letzten Tags. Dieser letzte Tag nahte nun. Immer kürzer wurden die Fristen für die Ereignisse, die Akatujew übersehen konnte. „Wera! (Anm.: Wera bedeutet auf russisch: Glaube) Welch eine Ironie birgt dieser Name! Sie weiß alles — aber sie glaubt nicht. Sie steht auf derselben Seite wie alle diese schweißigen Dreher und Gießer — und auf der anderen Seite stehen wir, die Akatujews, die Unversöhnlichen, Erbarmungslosen. Ob auch die zum Untergang Verurteilten... das werden wir sehen!"
Er erhob sich — seine schweren Füße schienen ihm den Dienst zu versagen. Er schlug die Richtung ein, aus der Hammerschläge ertönten.
Die Sonne hing über den Schloten der Martinabteilung wie
eine reife Frucht.
„Nossow! Hier, nimm den Stempel und arbeite! Ich gehe... Ich fühle mich nicht ganz wohl..."
Er zog einen kleinen Metallstempel aus der Tasche und gab
ihn Nossow.
„Gehen Sie ruhig nach Hause, Pal Jaklytsch. Ich werde
auch allein fertig."
Nossow wartete, bis Akatujew hinter den Fabrikgebäuden verschwunden war, dann machte er sich mit einem Seufzer der Erleichterung an die Arbeit. Hustend, mit gekrümmtem Rücken, betrachtete er die Maschinenteile und prägte mit einem Hammerschlag den Stempel auf die rötliche Oberfläche des Metalls - einen kleinen Kreis mit Hammer und Sichel in der Mitte.
Nossow zwängte sich durch die Pyramiden von fertiggegossenen Maschinenteilen, kroch in riesige stählerne Kästen und Zylinder, und wieder und wieder ertönte sein lauter Hammerschlag. Die Füße wurden ihm immer schwerer, als ob Eisenklumpen daran hingen, und die kranken Lungen sogen mühselig die von Sonne und Stahl erhitzte Luft ein und stießen sie in hastigen kurzen Atemzügen wieder aus. Schleim stieg ihm in der Kehle hoch, ein Hustenanfall würgte ihn, und gelber Auswurf fiel auf die rötlich schimmernde Haut des Metalls, dicht neben dem glänzenden Kreis mit Hammer und Sichel in der Mitte. Man hatte Nossow den ihm gesetzlich zustehenden Urlaub verweigert... Wer hatte eigentlich den Urlaub verweigert? Nossow wusste selbst nicht, wie das alles gekommen war. Borezki hatte ihm gesagt: „Du bist selbst daran schuld. Du hättest früher daran denken müssen." Ja, wirklich — er hätte früher daran denken müssen...
Von einem Radreifen her glänzt ein weißes Kreuz. Er muss daran vorbeigehen... Nossow tut einen Schritt, um sich von dem im Metall eingehauenen Kreuz zu entfernen. Es erinnert ihn an irgend etwas Unangenehmes, an das er nicht zu denken wagt... Aber da sieht er von weitem Borezki, der auf ihn zukommt; er kehrt um und prägt seinen Stempel auf den Radreifen, dicht neben das weiße Kreuz, als mache er das unheilvolle Zeichen dadurch unschädlich.
Borezki ruft ihm schon von weitem zu:
„Komm zur Nachtschicht wieder."
„Ich kann nicht, Antonytsch. Befreie mich von der Nachtschicht."
„Von der Nachtschicht befreien?? Wer hat denn gestern erst wieder drei Tscherwonzen (Anm.: 10 Rubel) gekriegt?"
Nossow räuspert sich lange und keucht endlich die Worte hervor:
„Ja, siehst du, ich hab' sie gebraucht, Antonytsch. Ich hab' da auf dem Markt einen schönen Schrank gesehen; und so billig! Eiche. Jetzt werden solche gar nicht mehr gemacht. Außerdem ist da noch eine Bettstelle zu verkaufen, eine vernickelte. Aber dazu hat mein Schießpulver nicht ausgereicht."
„Schießpulver kann ich dir noch aufschütten — aber dass du mir in der Nacht unbedingt antrittst!" Und Borezki holt zwei Tscherwonzen aus der Brusttasche hervor und reicht sie Nossow.
„Da will ich gleich hinlaufen, Antonytsch, sonst wird sie womöglich noch verkauft. Solche Bettstellen werden jetzt gar nicht mehr gemacht — mit Sprungfedermatratze und vernickelten Zapfen an den Ecken!"
„Ein habgieriger Bauer bleibst du doch! Na schnell — lauf!"
Nossow schleppt die Bettstelle vom Markt nach Hause. Sie hängt auf seinem Rücken und drückt ihn tief zur Erde nieder, er kann's kaum schaffen, stöhnt und ächzt, aber schleppt doch weiter. Der Weg nach seinem Hause, der durch die Anlagen führt, ist weit näher, aber Nossow benutzt diesen Weg nicht, sondern schleicht auf langen Umwegen durch die Seitengassen. Mühsam pfeift sein Atem, wie glühendes Eisen brennt das Bett auf seinen Schultern...
Wasska Trussow holt ihn ein.
„Du bist doch ein Idiot! Was quälst du dich so ab? Hast ja schon die Schwindsucht weg, alter Geizhals!" Er lacht dröhnend, sein ganzer schwerer Körper erzittert.
„Wasska, halt's Maul! Ach, ich kann kaum noch", röchelt Nossow und spannt die letzten Kräfte an, um schneller auszuschreiten und Wassja loszuwerden. Schon sieht er die grünen geschnitzten Fensterläden seines Häuschens. Die Sonne badet sich in den Fensterscheiben, die hellgrau schimmern wie flüssiger Stahl. Auf dem Dache liegen, wie unbeweglich dasitzende weiße Tauben, kleine Schneehaufen, die die Sonne noch nicht aufgeleckt hat.
Unter den kleinen, baufälligen Hütten schaut Nossows schmuckes Häuschen mit den sauberen, glänzenden Fensterscheiben wie ein fixer Bursche aus einem Haufen alter Weiber hervor. Hastig schleift Nossow das Bett in den Vorraum, der von einem zarten Harzduft erfüllt ist, und zieht, froh der frischen Kühle, die ihn umfängt, sein durchnässtes Hemd aus. Sofort fühlt er sich leicht und frei. Er lässt einen kalten Wasserstrahl über Hals und Brust laufen und frottiert dann mit einem rauen Handtuch Gesicht, Hals und Brust. Nun fühlt er sich wieder munterer.
Prüfend betrachtet er seinen mageren Körper und reibt ihn lange und kräftig; aber die Haut will keine rosige Färbung annehmen. Schnell hebt und senkt sich die mit dichten schwarzen Haaren bedeckte Brust und lässt die von matter gelblicher Haut überspannten Rippen hervortreten. Die Magerkeit seines Körpers ängstigt ihn; schnell zieht er ein reines Hemd über und stößt einen tiefen Seufzer aus bei den Gedanken, dass er wieder nicht nach dem Süden reisen soll. Der Harzgeruch, der von den Tannenbalken ausgeht, erfüllt das ganze Vorzimmer und erregt die Nerven. Nossow betrachtet seine knochigen Finger, und plötzlich sieht er ein Bild vor sich, das ihn erbeben lässt: mattglänzende Tannenbretter und wachsbleiche, unbeweglich über der Brust gefaltete Hände... Die Stille um ihm herum erdrückt ihn. In panischer Furcht reißt er die Tür auf und brüllt, diese furchtbare, von Harzduft erfüllte Stille hinwegfegend:
„Mittagessen fertig, ja?"
Die Kinder sitzen schweigend um den Tisch und stopfen sich den Mund voll Brot. Die Frau steht am Büfett, einen Haufen Teller an den runden Leib gepresst. Als die Tür krachend zuschlägt, gleiten der Frau die Teller aus den Händen und fallen klirrend zur Erde, zerspringen in tausend Scherben. Mit hassverzerrtem Gesicht und wütend geballten Fäusten stürzt Nossow auf die Frau los. Seine gelben, knochigen Finger hängen zusammengekrallt in der Luft. Aufhetzend flüstert die Wanduhr ihr „Tak — tak... tak — tak... tak... " Der siebenjährige Petka, ein dickes, sonnverbranntes Bürschchen, brach als erster die schwere Stille, die in der Stube hing. Mit den blauen Augen auf die furchtbaren Fäuste des Vaters starrend, schrie er durchdringend und flehend:
Papa! Nicht, n—i—cht... A—a—a—... "
Die Frau fühlte die Schwere des über ihr hängenden Schlages, verdeckte ihr Gesicht mit den Händen und ließ sich zu Boden gleiten. Nossow hämmerte mit den Fäusten auf ihren Kopf ein, doch sie ließ geduldig ihr Gesicht in die Porzellansplitter stoßen.
„Aas, verfluchtes! Hier! Da hast du's! Zum T—eu—fel! Kannst weiter nichts als alles zerschlagen, aber etwas verdienen, das kannst du nicht, das muss ich! Hi—ier! Hi—ier! So—o—o!"
Nossow schnaufte, seine Fäuste stießen in irgend etwas Weiches, Feuchtes, Warmes... Die Kinder schrieen gellend.
Nossow rückte polternd einen Stuhl zur Seite. Sein Blick schweifte über die verzerrten, tränennassen Gesichter der Kinder, fiel dann auf den Tisch und blieb an einer frischen Schramme in der neuen Wachstuchdecke haften.
„Wer hat das gemacht?" Drohend zeigte er mit dem Finger auf die Schramme.
In krampfhafter Angst schwiegen alle still. Nur die Uhr tickte gleichmütig. Die Gesichter der Kinder waren blass und starr wie Masken.
„Wer war's? Heraus mit der Sprache!!!" Und wieder krümmten sich die gelben, knochigen Finger in der Luft zu einer ekelhaften Faust.
Nossow sah Grischka an, den Ältesten, und Grischka senkte die Augen furchterfüllt und schuldbewusst zu Boden. Nossow hatte den Schuldigen erraten, und mit einem dumpfen Schlag sauste seine Faust auf den hellblonden Kopf des Jungen nieder. Grischka glitt auf den Fußboden, und sein entsetztes Winseln und Schreien erfüllte das Zimmer.
„Papa! Ich... hab' die Tischdecke..." rief plötzlich der kleine Petja, der Liebling des Vaters, tapfer die Tränen verschluckend. Da trommelte Nossow, dem nun ein Objekt fehlte, an dem er seine Wut auslassen konnte, mit den Fäusten auf den Tisch, dass das Geschirr durcheinanderkollerte.
„Ich werd's euch zeigen, ihr...!"
Dann sank er hinter der Bretterwand, die das Zimmer in zwei Hälften teilte, schwer aufs Bett nieder — erschöpft, schweißgebadet, von finstrer Wut erfüllt. Er konnte hören, wie nebenan die Frau die Scherben von der Erde aufsammelte und mit leiser Stimme auf die Kinder einsprach. Dumpf klirrten die Scherben aneinander („jedenfalls sammelt sie sie in den Rock", dachte er) und riefen Nossow wieder die zerschlagenen Teller und das zerschnittene Tischtuch ins Gedächtnis zurück; dann dachte er an seine Krankheit, und plötzlich sah er die aufgeprägten Stempel mit Hammer und Sichel vor sich und daneben die großen weißen Kreuze. Drüben in der Fabrik war es genau so wie im eigenen Hause — nirgends fand Nossow die Ruhe, die die grünen Fensterläden nach außen hin ausströmten. Es schien ihm, als ginge diese Unruhe von den Sonnenstrahlen aus, den sengenden, alles durchdringenden... Sie erhellten jeden Winkel, jeden Riss in den Holzbalken der Wände, in der Bretterwand, die das Zimmer teilte; sie spiegelten sich im Oval des Spiegels, in den Glasscheiben der Bilder an den Wänden, sie brannten schmerzhaft im Gehirn und weckten die geheimsten Gedanken.
Dieses Haus, in dem Nossow mit seiner Familie jetzt wohnte, war von Anfang an, seit er aus dem Dorfe gekommen und in die Fabrik eingetreten war, das Ziel seiner Wünsche gewesen. Er hatte damals auf das Unterkommen in der gemeinschaftlichen Wohnbaracke verzichtet, hatte sich am Ende der Stadt eine Erdhütte gegraben, und dort träumte er nun vom eigenen Haus. Drei Jahre lang hatte er gegeizt und gespart, hatte sich und der Familie fast das Allernotwendigste entzogen — aber für ein Dach reichte das Geld doch nicht aus. Und dann kam eines Tages Borezki und führte Nossow in den Wald, wo sie viel tranken, und am anderen Tag saß Nossow untertänig und schüchtern im Zimmer bei Borezki, in dem aus den Bilderrahmen an den Wänden alle die Männer mit den Dienstmützen auf dem Kopfe und in Ledermänteln auf ihn herabschauten. Der finstere Flügel in der einen Zimmerecke strahlte schwarze Kälte aus, die ihn mit starren Fingern umklammerte. In der anderen Ecke saß auf einem ausgetrockneten Birkenstumpf ein mächtiger Auerhahn, die roten Flügel weit gespreizt.
Von dem Tage an begann ein anderes Leben. Feiertäglich neu glänzte das rotgestrichene Blechdach, die glitzernden Fensterscheiben verbargen sich nachts hinter grünen, geschnitzten Läden. Aber innen war es immer noch leer — die aus dem Dorfe mitgebrachten Bettstellen verunzierten in ihrer armseligen Dürftigkeit die neuen, hellen, luftigen Zimmer. Nossow lief stundenlang auf dem Markt herum, beschnüffelte alles, feilschte lange und schleppte schließlich ächzend und stöhnend, weil ihm der Atem ausging, einen Schrank nach Hause oder einen mit geblümtem Kattun überzogenen kleinen Diwan.
Jetzt konnte er zufrieden sein: die Zimmer standen voll Möbel und hatten ein stolzes, städtisches Aussehen. Sonst, wenn Nossow von der Arbeit nach Hause kam, ruhte er hier vergnügt und zufrieden aus: heute aber waren seine Augen trübe, er fasste sich ängstlich an die Brust. Ein langer, furchtbarer Husten zerriss seine Lungen, und er spuckte die roten Fetzen, die ihm aus der Kehle quollen, auf den glänzenden, sauberen Fußboden. Wieder fühlte er das Nahen eines Anfalls...
Aus allen Ecken des Zimmers krochen die Dinge stumm und langsam auf ihn zu: der schwere Eichenschrank in der Ecke drüben, der mit seiner Last den Fußboden fast eindrückte; der Grammophontrichter, der sein zahnloses, staubgefülltes Maul weit aufgerissen hatte, funkelte ihn herausfordernd an; die Kommode drückte ihren dicken Leib vor und ließ ihre Kupferbeschläge in der Sonne glitzern wie Freund Gnussin, der Feuerwehrmann, der seinen dicken Kaufmannsbauch in einer glänzenden Paradeuniform barg...
Und plötzlich ersteht vor Nossow eine Vision: er ist gestorben und liegt im Sarg. Rund herum ist alles still. Leise flüstern nebenan die neugierigen Nachbarn; Freund Gnussin sitzt und schnauft vor Hitze. Aber die Gegenstände im Zimmer hüten die Stille, sie schweigen nach wie vor. Und der Grammophontrichter, der das Maul zu einem Schreckensschrei weit aufgerissen hat, scheint erstickt zu sein an dem Staub, der in seiner Kehle liegt.
Mit klebrigem Schweiß bedeckt springt Nossow auf, die erloschenen Augen irren unstet durchs Zimmer, und tiefstes Grauen erfasst ihn angesichts dieser stummen Verschwörung der Dinge um ihn. Ihre leblose, starre Schwere dringt bis an sein Herz. Eine wahnsinnige Angst ergriff ihn, er glaubte, sein Herz — erdrückt von dieser furchtbaren, lautlosen Stille — müsse aufhören zu schlagen, und er begann zu schreien:
„Petka! P—e—e—t! Pe—tja—a—a... !"
Sein Angstschrei weckte in dem vernickelten Grammophontrichter ein klingendes Echo, das den Staub leise aufwirbelte, dann schwieg der Trichter wieder, erstickt von der drückenden Stille...
3
Ohne dass es Sergej eigentlich gemerkt hatte, war sein Leben, gleich dem Fluss nach einer stürmischen Frühlingsüberschwemmung, hineingeglitten in das ruhige Bett der kleinen Freuden und Sorgen, die Marussja mitbrachte.
Marussja war kräftig geworden, sie hatte sich verjüngt und war aufgeblüht unter der Liebe Sergejs, wie eine Feldblume im Regen. Den Tag verbrachte sie in zitternder Erwartung des abendlichen Wiedersehens. Spät in der Nacht erst kam sie nach Hause, wenn Andrjuschetschkin schon schlief. Morgens ging Andrjuschetschkin zeitig zur Arbeit und ersparte Marussja somit unangenehme Erörterungen — er sah, dass seine Frau zufrieden war; die eigene Enttäuschung, den eigenen Kummer aber trug er schweigend und in sich gekehrt.
Sergej hatte eine so stürmische und leidenschaftliche Liebe, wie sie ihm Marussja schenkte, nicht erwartet. Die zufälligen Verbindungen mit Frauen, die er bisher ohne irgendwelche besondere Leidenschaft eingegangen war, hatten ihn, wie er geglaubt hatte, abgestumpft und ihm die Fähigkeit zu einer festen und dauernden Bindung geraubt, die ihm nichts als eine schwere und langweilige Last gedünkt hatte. Marussja aber nahm ihn mit ihrer heißen Seele, die so lange nach Liebe gehungert, völlig gefangen. Sergej fühlte nicht mehr das Bedürfnis sich zu betrinken, die Schwermut, die ihn bedrückt hatte, schien verflogen. Er kam regelmäßig zur Arbeit, und zum ersten Mal spürte er die Freude gesunder Ermüdung. Auch seine Mutter wurde heiterer und sprach oft abends mit Platow über das unverhoffte Glück, das ihr zuteil geworden.
Dabei saß sie auf dem wackligen Schusterschemel und erzählte Platow von ihrem unglücklichen Leben, und — merkwürdig genug — gerade die erschütterndsten Szenen der Misshandlungen durch ihren Mann schilderte sie mit zärtlicher Stimme, aus der die Liebe zu diesem rohen Menschen durchklang.
Schließlich ging dann die Wassiljewna schlafen, und nahm den alten, wackligen Schemel, von dem sie sich niemals trennte, mit — und dann kam Sergej nach Hause, müde und still. Nun begann eine endlose Unterhaltung: Platow erzählte von seinen Erlebnissen in den letzten fünf Jahren, von Moskau, vom Ausland, von den letzten Errungenschaften der Technik. Sergej hörte anfangs immer ruhig zu, später aber lenkte er das Gespräch auf die Fabrik, und dann entbrannte ein heftiger Streif. Wenn Platow sprach, musste sich Sergej davon überzeugen, dass er selbst überhaupt nichts wusste, und er schämte sich. Aber zu diesem Gefühl der Scham kam dann noch eine tiefe innere Erbitterung über sein Schicksal. Senka — ja, der hat es geschafft! Ist Ingenieur, kriegt Hunderte von Rubeln, er dagegen muss nach wie vor Eisenstaub schlucken und sich die Augen beim elektrischen Schweißen verderben. Er betrachtete die sauberen Hände Platows, den Haufen deutscher Zeitschriften, die für ihn böhmische Dörfer waren, und sein Herz füllte sich langsam mit herbem Neid. Dann wurde er verschlossen und sann lange darüber, wie er diesem Menschen einen Hieb versetzen und sich selbst über ihn erheben könnte. Meist begann er mit giftigen Witzen über die Kommunisten, dann ging er zu den Lebensmittelschwierigkeiten über, dem Brotmangel, zu den Schlangen vor den Schuhwarengeschäften, und zum Schluss erklärte er, dass alles dies ganz unvermeidlich sei, solange Tausende von Müßiggängern und Tagedieben der Arbeiterklasse im Nacken säßen.
Und auch heute erzählte er wieder, wie der Dickkopf Andrjuschetschkin in der Werkstatt herumflitze, wie er die Kommunisten von der Arbeit abhalte, mit ihnen in den Ecken herumstehe und flüstere, während die Arbeit daliege.
„Wie unsere Kommunisten arbeiten, das weiß man ja: mit dem Maul. Und er, ja, er muss die Qualität der Lokomotiven überwachen. Rennt in der Abteilung herum, als ob er Brennnesseln unterm Hintern hätte!"
Platow ließ die deutsche Fachzeitschrift, in der er blätterte, sinken und nahm die Hornbrille ab.
„Ja, um die Qualität der Lokomotiven ist es bei uns noch schlecht bestellt. Das ist unser wunder Punkt."
„Wozu habt ihr's denn übernommen? Wer's nicht kann, soll die Finger davon lassen... Da stellen sich eure Großschnauzen hin. und reißen das Maul auf — sperrangelweit, und füttern die Arbeiter mit ihren Phrasen. Und die Lokomotiven, die fällen wohl vom Himmel? Und nehmt bloß mal die vielen Vorgesetzten, die da in der Fabrik rumlaufen: im Kontor, in den Abteilungen, im Betriebsrat, im Raikom — zwei Direktoren, drei Stellvertreter, Hunderte von Ingenieuren... Und alle wollen sie bezahlt werden, so vier-, fünfhundert Rubel kriegt ein jeder. Und der Arbeiter, der hat genau wie früher nichts zu fressen und nichts anzuziehen. Und das nennt ihr dann Sozialismus!" entgegnete Sergej mit erregt funkelnden Augen.
„Wart' mal, Sergej, warte... Erstens bist du weder hungrig noch nackt. Zähl' mal, wieviel Paar Hosen du im Schrank hängen hast. Zweitens aber sind Schwierigkeiten natürlich unvermeidlich, es kann nicht alles von Anfang an glatt gehen. Natürlich sind Fehler gemacht worden, und es werden auch in Zukunft noch welche vorkommen. Wir werden lernen...!" „Auf Kosten der Arbeiter!" unterbrach ihn Sergej. „Gewiss. Die ganze Revolution ging auf Kosten der Arbeiter. Das ist doch keine Schande. Gewiss, die Arbeiter müssen vieles im Namen der Zukunft auf sich nehmen. Es ist wahr, dass wir hier und da noch schlecht wirtschaften. Aber vergisst doch nicht, dass wir, ganz abgesehen von unserer Unkultur, auch noch den Widerstand unserer Klassenfeinde über winden müssen... "
„Ach Quatsch, was redest du bei einer solchen Sache wie der Lokomotive vom Klassenfeind! Es fehlt euch ganz einfach an Verstand und Kenntnissen, um damit fertig zu werden."
„Na, wenn du es wissen willst, Sergej, so kann ich dir nur sagen, dass zum Beispiel jetzt eben aus dir der Klassenfeind spricht."
Sergej fuhr auf und ballte die Fäuste. Platow beobachtete ihn ruhig und lächelte. „Du brauchst gar nicht so schreckliche Augen zu machen Denk lieber über das nach, was du sprichst. Ich wundere mich überhaupt, woher du das eigentlich hast. Du bist doch ein Arbeiter!"
„Ja, ich verdiene mein Brot durch meiner eigenen Hände-Arbeit, ich lebe nicht auf Kosten anderer wie du, wie alle die Großmäuler, die Ingenieure und Direktoren. Und ich will, dass alle arbeiten sollen. Was das schon groß für Arbeit ist, durch die Werkstätten zu spazieren! Nein! Du arbeite mal so wie ich! Da faselt ihr vom Sozialismus, von Gleichheit und Brüderlichkeit und all dem andern Quatsch, aber dabei steht ihr da mit den Händen in den Hosentaschen. Wenn schon Gleichheit herrschen soll, dann zahl auch allen gleich, damit nicht wieder auf Kosten der Arbeiter eine Bourgeoisie entstehen kann. Aber was nutzt hier das Reden!" Und Sergej schleuderte wütend seine Zigarette in die Ecke.
„Sag' mir einmal offen, Sergej, was fehlt dir eigentlich?" fragte Platow. „Du verdienst gut, hundertfünzig Rubel im Monat. Das ist das Gehalt eines verantwortlichen Bezirksparteifunktionärs. Du bist jung und stark . Was räsonierst du eigentlich? Schließlich bist du doch ein Arbeiter und kein Marktweib."
Sergej wandte sich demonstrativ ab.
„Was das Marktweib anbelangt, so drücke dich ein bisschen vorsichtiger aus, ich remple dich ja auch nicht an, sondern spreche ganz allgemein... Jawohl — ich bin ein Arbeiter, aber kein solcher Arbeiter, wie ihr sie da auf euren Plakaten zeichnet: Brust raus, rote Fahne in der Faust, und alle die anderen Mätzchen. Du denkst wohl, so sind alle Arbeiter? Nein — es gibt auch andere..."
„Was für welche denn?"
„Na, eben andere..." wich Sergej der Frage aus und verstummte.
Platow ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Er hatte längst die Feindseligkeit Sergejs gemerkt, sie hatte ihn gleich beim ersten Wiedersehen in Erstaunen versetzt. Er hatte sich alles damit erklärt, dass Sergej durch seinen, Platows, Anblick daran erinnert wurde, dass sich sein Traum, selbst zu studieren, nicht erfüllt hatte und dass ihn dieser Gedanke erbitterte. Aber in letzter Zeit trat bei Sergej noch ein neuer Zug zutage — er begann mit irgendeiner Kleinigkeit, die er dann verallgemeinerte, als ob er bei diesen Streitereien einen ganz bestimmten Standpunkt innehätte. Aber irgendeinen neuen, eigenen Gedanken sprach Sergej dabei nicht aus, er wiederholte nur die alten, abgedroschenen Phrasen über Gleichheit und über die Schwierigkeiten des gegenwärtigen Lebens. Platow hatte versucht, den Quellen dieser Stimmungen auf den Grund zu gehen. Fünf Jahre hatte Sergej in der Fabrik zugebracht, er war durchaus kein dummer Bursche. Und nun plötzlich diese Redereien! Mit persönlicher Erbitterung allein ließ sich alles dies nicht erklären. Man konnte wohl schimpfen und räsonieren, wie dies alte Arbeiter oft zu tun pflegen, wenn sie mit einzelnen Mängeln und Missständen unzufrieden sind. Aber zu solchen Schlussfolgerungen wie Wekschin ließen sich diese Arbeiter niemals hinreißen. Die Kritik an einzelnen Missständen ging niemals soweit, dass sie die Arbeiter veranlasste, die Vorzüge des neuen Lebens zu leugnen, das sie liebten und schätzten und leidenschaftlich verteidigten, wenn es notwendig war. Sergej aber leugnete diese Vorzüge. Warum wohl?
Platow dachte zurück an die Jahre der Freundschaft, die ihn mit Sergej verbunden hatten, schöne, frohe Jahre. Stets hatte ihn der Überschuss an Kraft, die Lebhaftigkeit und überschäumende Lebensfreude Sergejs in Erstaunen versetzt — Sergej nahm damals an allen Veranstaltungen der Fabrikjugend teil, am Fußballspiel, Schlittschuhlaufen, an Ausflügen, er war überall da, wo die Jugend ihre lärmende und heitere Stimme hören ließ.
Die Tage der Träume vom gemeinschaftlichen Studium — unvergessliche Tage voller freudiger Erregung und Erwartung. Ja, Sergej leidet sicherlich, weil er von seinem Leben unbefriedigt ist. Seine Träume führen ihn über den schwarzen Alltag hinweg. Aber es gibt doch in der Fabrik jetzt soviel Interessantes: Das Leben pulsiert überall, er brauchte ja nur an diesem brodelnden Leben teilzunehmen, da würde er auch ein Tätigkeitsfeld für seine überschüssige Kraft finden. Aber Sergej hält sich abseits. Ganz allmählich hat er die Fühlung mit dem Komsomol (Anm.: Kommunistischer Jugendverband) verloren. Ein fremder, feindselig gesinnter Mensch, steht er Platow gegenüber. Was ist mit Sergej passiert? Persönlich geht es ihm anscheinend gut. Er ist ruhiger geworden, auch sein Gang ist anders als früher, gemessen und gewichtig... Platows Blick fiel zufällig auf den halb zerbrochenen, von Riemen zusammengehaltenen Schemel in der Ecke. Fast eine Minute lang betrachtete er den alten Schemel, der ihm gleichsam sein morsches Innere darbot. Der in Fetzen herabhängende Lederbeschlag, die verrosteten Nagelköpfe, die wie Wanzen aussahen, schienen zu leben und sich zu bewegen. Platow dachte an ferne Gesichter, an die Zeit, als auf diesem Schemel noch der alte Schuhmacher saß. Alles das verband sich mit den Gedanken, die sein Gehirn durchzogen, und auf einmal war ihm alles klar und verständlich. Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar und zupfte nach alter Gewohnheit an seinen Hosen hemm.
„Weißt du, Sergej, wo die Ursache für deine ganze Unzufriedenheit liegt? Aber sei nicht beleidigt, ich werde dir meine Meinung gerade heraus ins Gesicht sagen, als Arbeiter...
„Nun gut, wollen wir einmal auf die weise Rede lauschen, sagte der Esel, indem er dem Hammel zuhörte", spottete Sergej. „Also pass auf!" begann Platow und fuhr sich aufs neue mit der Hand durchs Haar. „In deinem Blut spukt das Erbe des unorganisierten Handwerkertums, das die disziplinierte Arbeit an der Maschine hasst. Dieser alte zerbrochene Schemel da erinnert mich an deinen Vater, den Schuhmachermeister, den Heimarbeiter. Die haben stets nur ihr persönliches Wohl im Auge und murren, wenn man sie zwingen will, fürs Allgemeinwohl zu arbeiten. Gleichheit! Gleichheit der Schusternägel, die einer neben den andern ins faule Sohlenleder hineingetrieben werden."
Sergej war aufgesprungen und schrie Platow zornig ins Gesicht:
Du lügst! Mein Vater hat ehrlich gearbeitet! Er war der beste Meister in der Stadt. Er hat ausgezeichnet gearbeitet!"
„Und hat sich ebenso ausgezeichnet mit der Sinnlosigkeit seines Lebens abgefunden... "
„Du lügst — er wollte nie, dass ich auch Schuster würde Er hat davon geträumt, dass eine Zeit kommen würde, die allen Gleichheit bringen wird. Er hat aus Kummer getrunken, es war sein heißer Wunsch, aus mir einen ganzen Menschen zu machen."
Sergej zitterte wie im Fieber, Platow fühlte den heißen Atem an seinem Gesicht, aber er lächelte ruhig:
„Geträumt! Der Arbeiter aber hat um diese Gleichheit gekämpft, hat sein Blut dafür vergossen. Eure Gleichheit — das ist die Gleichheit der Kleinbürger, die auf Kosten anderer ein besseres Leben gewinnen wollen."
Sergej ballte wütend die Fäuste:
„Senka! Geh nicht zu weit!"
„Ich konstatiere nur ganz ruhig Tatsachen. Du aber regst dich gleich auf. Das ist nicht deine Schuld, sondern dein Unglück. Und du bist nicht der einzige in der Fabrik, der so ist. Es gibt viele von deiner Sorte. Im ganzen Lande zählt ihr nach Millionen, und in tausenden kleinen Bächen ergießt ihr euch in den breiten Strom der Arbeiterklasse und schleppt den trüben Schlamm und Schmutz der verfluchten Vergangenheit mit euch. Das Proletariat hat euch aus diesem Schmutz aufgelesen, ihr aber bringt ihm neue Schwierigkeiten, richtet neue Hindernisse auf... Ihr werdet uns noch viel zu schaffen machen, ehe ihr endlich in die Arbeiterhaut hineinwachst."
Mit vor Wut entstelltem Gesicht sprang Sergej auf Platow zu:
„Was hast du gesagt...? Du sagst, ich sei ein Kleinbürger?! Mit meinem Schweiß verdiene ich dir deine fünfhundert Rubel Gehalt! Du lebst auf meine Kosten! Du und ihr alle — ihr alle seid Großmäuler, ihr seid die Parasiten, die uns Arbeitern im Nacken sitzen!"
Die erschrockene Wassiljewna war aus dem Bett gesprungen und stand nun zitternd da und bekreuzigte sich. Halb angekleidet kamen auch die Schwestern Sergejs zum Vorschein und rieben sich die verschlafenen Augen. Mitleidig blickte Platow Sergej an und schüttelte nur nachdenklich den Kopf.
Sergej maß ihn mit einem böse funkelnden Blick, er riss die Tür auf, im Vorzimmer fiel irgend etwas um; dann hörte man, wie die Haustür ins Schloss fiel.
4
Sergej schaltete den Strom ein, der Transformator begann zu surren, und der Zeiger des Amperemeters schnellte vorwärts.
Die buschigen Brauen zusammengezogen, beobachtete Andrjuschetschkin Sergej.
„Ja, — Sergej ist jung... Sogar wenn er wütend ist, ist sein Gesicht anziehend und hübsch." Er musste an die Geschichte mit Sharow denken, wie Sergej sich so aufgeregt hatte, und jetzt erst verstand er, was Marussja Sergej in die Arme getrieben hatte.
Schwer seufzend zog er die Maske vors Gesicht.
Sergej hatte gemerkt, dass Andrjuschetschkin ihn beobachtete; er hob feierlich die rechte Hand und deklamierte mit einem boshaften Lächeln:
„Genosse! Der Fliederduft bringt Gefahr übers Land, Nimm dein Herz und halt' es fest in der Hand. Hör auf, Nachtigall, mit deinem Gesange, Die Sitzung der Parteizelle ist im Gange."
Wasska Trussows dröhnendes Lachen übertönte das Donnern des Stahls und das Surren der Transformatoren. Andrjuschetschkin zog die Maske tiefer über das verlegene Gesicht. Wasska aber lachte noch immer :
„Och! Das ist glänzend! Das Herz fest in der Hand und die Frau fest hinter Schloss und Riegel."
Sergej nahm eine Elektrode, steckte sie in den Halter und bedeckte das Gesicht mit der Maske. Irgendwo in seinem Innern waren noch Spuren der Erregung vorhanden, das gestrige Gespräch mit Platow wirkte noch nach — die Erregung kam wieder und ergriff den ganzen Körper. Seine Hand zitterte, und die Schweißnaht wurde schief und krumm.
„Was hast du denn da für eine Naht zusammengeschustert? Du stopfst wohl alte Hosen, was? Pass auf, was du machst, wir brauchen gute Schweißung.1' Sergej stieß die Elektrode zur Seite:
„Scher dich weg oder du wirst was erleben! Was willst du von mir? Pass auf dich selber auf!" Und dann fügte er boshaft hinzu:
„Bist wohl eifersüchtig, was, Dickkopf?" Andrujeschtschkin prallte verwirrt zurück und ging schweigend und hilflos, wie ein ertappter Sünder, an seinen Apparat. Sergej ist jung, hübsch und frech... Dazu ist er noch begabt: geschickt hat er seine, Andrjuschetschkins, Verse parodiert; Verse, an denen er selbst wochenlang gearbeitet hat, die ihn manche schlaflose Nacht gekostet haben, leicht und witzig hat er sie parodiert, und nun hat sie Wasska Trussow aufgeschnappt, sie werden von Mund zu Mund, durch die ganze Abteilung gehen, und man wird ihn damit hänseln...
Verständnislos betrachtete Sergej das Lokomotivrad, das der Kran vor ihn hingelegt hatte: die ganze Oberfläche des Radreifens war mit kleinen Blasen bedeckt, als Hätte irgend jemand das Metall mit einem dünnen Pfriem durchstochen. Diese Blasen saßen stellenweise dicht nebeneinander, dann liefen sie nach allen Seiten hin über die Oberfläche auseinander, um sich an anderer Stelle wieder zu einem dichten Haufen zu vereinen. So machte das Metall den Eindruck eines gigantischen Schwammes. Das war ein schlechtes Zeichen. Irgendein Lunker im Stahl ist nicht schlimm, wenn er auch tief ist — aber wenn der Stahl durchlöchert ist wie ein Ameisenhaufen, dann kann man kein Vertrauen mehr zu ihm haben. „Durchlöchert wie ein Sieb."
„Na, was stehst du so steif herum? Ich habe dir doch gesagt, dass die Arbeit sehr eilig ist!"
Borezki stand neben ihm. Sein Blick war stechend und durchdringend.
„Aber sieh doch bloß, Antonytsch — wie ein Sieb... Geht denn das so? Ein Lokomotivrad ist doch gerade keine Kleinigkeit!"
„Weißt du was, Sergej, du musst weniger reden und mehr arbeiten. Die Martinabteilung ist schuld daran, dass die ganze Fabrik im Rückstand ist. Und die Direktion hat befohlen, unbedingt den Rückstand aufzuholen."
„Komisch kommt mir das vor..."
„Und was ist das hier?" Antonytsch wies auf den silbern gleißenden Stempel.
Sergej betrachtete Hammer und Sichel, die in dem runden Kreis kreuzweise übereinander lagen, und vor seinen Augen erstand die gewichtige Gestalt des Ingenieurs Akatujew. „Alles wird streng nach Vorschrift abgenommen?" „Alles streng nach Vorschrift, Sergej, streng nach Vorschrift, und nicht anders!"... Und Borezki sah zu, wie Wekschin den Lichtbogen anzündete. Ein wilder blauer Blitz loderte auf.
„Ja, es heißt arbeiten, Arbeit ist notwendig, und man muss sich unterordnen, wie sich Antonytsch untergeordnet hat; man muss ebenso sein wie er, unabhängig und stolz. Antonytsch ist sich seines Wertes bewusst, er verliert auch vor der Ingenieurmütze seine Fassung und Würde nicht. Er versteht es auch, diesem bebrillten Karrieremacher, dem Platow, eins draufzugeben, wie er's verdient... ,Kleinbürger'... Also auch Borezki ist solch ein ,Kleinbürger' ? Du bildest dir etwas zuviel ein, Genosse Platow"... Sergej arbeitete wütend drauf los; ohne sich Ruhe zu gönnen, schweißte er einen Maschinenteil nach dem andern, so dass sie bald voll von blauroten Stahlnarben waren...
„Sergej! Wekschin!! Du bist wohl taub, was?" Wieder stand Andrjuschetschkin neben ihm: „Bist du verrückt geworden? Was schweißt du denn da zusammen?!"
„Was denn??? Sieh doch hier den Abnahmestempel!"
Andrjuschetschkin schimpfte:
„Die Schweine! Was die da gemacht haben! Was die ge-gema-—acht haben!"
Dann drehte er sich um und war gleich darauf zwischen den Gussstücken verschwunden, die überall herumlagen. Sharow, der am Kran arbeitete, lächelte schlau in sich hinein:
„Ich sage ja immer: Sharow, was geht's dich an! Ihr habt mir zu sagen: hier deine Arbeit, Sharow, mach' sie! Und was anderes geht mich nichts an... "
Platow trat hinzu. Das Netzhemd auf seiner Brust war von Schweiß und Staub so braun wie seine sonnverbrannte Haut. Vor sich hinschmunzelnd, betrachtete Sharow den neuen Vorgesetzten, aber diese wohlbekannte Gestalt, an der der Fabrikschmutz deutliche Spuren zurückgelassen hatte, war nicht dazu angetan, ihm irgendwelchen Respekt einzuflößen. Das war ja doch derselbe Senka, der...
„Halt! Wer hat dieses Material zum Schweißen gegeben?"
Sharow war es, als sei dieser unansehnliche Platow plötzlich um einen halben Meter gewachsen, und sein Gesicht war auf einmal das eines Vorgesetzten, ernst und streng.
Platow warf einen flüchtigen Blick auf die Räder, die verschweißt werden sollten; eine Blutwelle schoss ihm die Wangen, hastig und nervös zog er die Hosen in die Höhe.
Sharow kicherte leise in sich hinein:
„Und du rackerst dich immer noch ab, Senka? Ziehst immer noch die Hosen hoch, die runterrutschen? Dein Gürtel ist verrutscht, Genosse Ingenieur. Was bist du schon für ein Ingenieur, Senka! Hi—hi—hi... Richtig, Sergej, was?"
„Wahrhaftig! Hundert Vorgesetzte, und jeder bestimmt was anderes... " Sergej bedeckte sein Gesicht mit der Maske und nahm die Elektrode zur Hand, die ihn sofort knatternd in lodernde Funken und blauen Rauch einhüllte.
Platow fühlte den prüfenden Blick der Arbeiter. An seine Adresse gerichtete Witze trafen sein Ohr.
„Guck' mal einer an! Unser Senka kommandiert!"
„Na, bei dem Sergej ist er an den Richtigen gekommen."
„Ja — der wird ihm schon Bescheid geben." „Wer wird denn auch auf Semjon hören! Das ist einer von uns, wir haben oft genug zusammen gebummelt."
„Guck mal, guck mal! Der Senka zieht sich die Hosen hoch." Und alle diese Scherze, die durchaus nichts Ungewöhnliches waren und keine Beleidigung enthielten, schnitten ihm in diesem Moment ins Herz. Es gab eine Zeit, da hatten sie einen heiteren Klang, und Semjon selbst lachte mit allen. Jetzt aber drangen die Witze wie scharfe Nadeln in sein Herz und schmerzten ihn. Man beobachtete ihn... Man vertraute ihm nicht so wie den alten Spezialisten. Er war für sie immer noch der vergnügte junge Former Senka.. Eines wurde ihm klar — hier musste er sich durchsetzen, er musste dem Blick dieser prüfenden Augen standhalten, musste die Herausforderung Sergejs annehmen, den Kampf beginnen. Nur ruhig... Nur nicht aufregen...
„Wekschin, hör' sofort auf zu arbeiten", sagte Platow ruhig und eindringlich, aber Sergej tat, als ob er nichts höre und fuhr fort zu schweißen.
Der Widerstand Wekschins und das spöttische Kichern Sharows machten Platow fast toll vor Wut. Aber er beherrschte sich unter den Blicken der Arbeiter, die prüfend auf ihm ruhten. Gelassen ging er an die Wand, drehte den Hebel um, und der Transformator stand still — die erloschene Elektrode in Wekschins Hand zitterte. Sergej richtete sich empor und schob die Maske in die Höhe, die drohend funkelnde Augen freigab.
Ihre Kräfte wägend, standen sie einander gegenüber. Die dünnen Lippen Sergejs waren verächtlich herabgezogen, seine Augenbrauen zitterten krampfhaft. Über seine Schulter starrte Sharow, das Gesicht in Erwartung des Ereignisses, das sich hier gleich abspielen musste, zu einem schadenfrohen Grinsen verzogen.
Und plötzlich musste Platow an den Zusammenstoß denken, den er vor fünf Jahren hier in dieser Abteilung gehabt, an den heißen, kaum zu überwindenden Wunsch, den er damals gespürt hatte, Kraiski mit der Faust ins Gesicht zu schlagen... Und jetzt sah er die Faust Sergejs, die sich um den Elektrodenhalter krampfte, trat einen Schritt zurück und fragte ruhig:
„Weshalb befolgst du den Befehl eines Vorgesetzten nicht, Wekschin?"
Ob es nun dieses Zurückweichen Platows war, das Sergej als Feigheit einschätzte, oder ob es die Worte „Befehl eines Vorgesetzten" waren, die ihn aufbrachten, jedenfalls geriet er in eine wahnsinnige Wut: er holte aus — das schwarze Kabel fuhr wie eine Schlange durch die Luft und traf Platow mitten ins Gesicht. In diesem Augenblick aber umfassten die langen Affenarme Sharows Sergej von hinten:
„Einen Scherz kannst du dir ja erlauben, Freundchen, aber so was lass man bleiben!" Sharow fühlte plötzlich ungeheure Kraft in sich und presste die Handgelenke Sergejs fest zusammen.
Jetzt kam auch Andrjuschetschkin gelaufen, mit der Hand die Maske hochschiebend, die ihm immer wieder auf die Augen hinabrutschte. Langsamen Schritts trat auch Borezki heran.
„Nein, Freundchen, hier sind keine Besoffenen, die du verhauen kannst! Warte mal, du!" rief Sharow; stolz über seinen Sieg reckte er die schmale, fast knabenhafte Brust.
Platow betastete mit der Hand die feuchte Schramme in seinem Gesicht und wandte sich mit vor Aufregung heiserer Stimme an Borezki:
„Diese Räder sind auf das Fehlgusslager zu schicken!"
Dann ging er zur Tür, begleitet von hundert erregten Blicken.
5
Die Lager der Martinabteilung sehen des Nachts aus wie eine verschlafene Stadt: vereinzelte Laternen werfen ihr trübes Licht auf die Haufen von Eisenteilen, die in schwarzen Türmen zur Decke aufsteigen; dazwischen erheben sich die schwarzen Umrisse der Formkästen und der Lokomotivrahmen, zu unordentlichen Haufen geschichtet; regellos und schmutzig wie die elenden Hütten der Vorstädte liegen zahllose Maschinenteile herum; matt glänzen die Schienen des Zufahrtgleises; irgendwo dröhnendes Rattern, es hört sich an, als jage ein einsamer, verspäteter Wagen rasselnd über das Steinpflaster der schlafenden Stadt.
Die Stadt des Metalls schläft und gibt sich nach der glühenden Hitze des Tages der Kühle des Nachtwinds hin. Glatt blinkt das Metall, in kalten Tautropfen spiegelt sich die Nacht. Sharow sucht seine Müdigkeit zu überwinden und befestigt eine Lokomotivkesselstütze am Kranhaken. Erzitternd und unzufrieden schnaufend wickelt die Kranwinde das Kabel auf die Trommel. Die Kesselstütze, über und über mit rotem, schuppigem Rost bedeckt, schwebt leise schaukelnd in die Höhe, hängt dann einen Augenblick unbeweglich in der Luft und lässt sich im nächsten Moment gehorsam vor Sergej nieder. Ein tiefer Riss geht unheilkündend durch die eine Seite der Stütze, er teilt sie fast in zwei Hälften und klafft wie eine Wunde. In rostigroten Tropfen quillt Blut daraus hervor.
Sergej betrachtet nachdenklich den Riss. Diese Stelle soll zusammengeschweißt werden und die Stütze in die Lokomotive wandern. Die schwere Last des Lokomotivkessels soll sie auf ihre Schultern nehmen; fauchend stößt die Lokomotive ihre weißen Dampfwolken aus und macht sich dann auf den weiten Weg, Tausende von Tonnen schleppt sie hinter sich her. Wird eine so verwundete, geflickte Kesselstütze diese Last aushalten ? Sergej wandte sich um und erkannte in der Ferne Antonytsch; seine dunkle Gestalt glitt wie ein Schatten durch das Lager, bald verschwindend, bald, vom Schein einer Laterne beleuchtet, wieder auftauchend. Er machte auf Sergej den Eindruck eines schlaflosen, finsteren Zauberers, der beim Schein des Monds sein dunkles Wesen treibt.
„Antonytsch? Das ist aber hier ein starker Riss!" sagte Sergej kopfschüttelnd.
„Los, los! Halt' dich nicht lange auf... Wir haben schon ganz andre Risse verschweißt", brummte Borezki ärgerlich, und Sergej, dessen Zweifel durch den verächtlichen, selbstsicheren Ton Borezkis gebrochen waren, zog die Maske vors Gesicht.
Ü ber Sergej, über dem Lager, über der ganzen Fabrik flammte das blauviolette Licht auf. Wie ein Bienenschwarm summte der Transformator des Schweißapparats, und die knatternden Funken schwärmten, roten Bienen gleich, nach allen Seiten auseinander.
Geweckt von den flammenden Lichtgarben, erwachte die Stadt des Metalls.
Sergej verschweißte den Riss mit aller Sorgfalt. Er bemühte sich, so ehrlich und sauber zu arbeiten, wie sein Vater die Stiefel besohlt hatte. Und zum ersten Mal erwachte in ihm der Wunsch, sich an seiner Arbeit zu freuen — er strich mit den Fingern über die raue Narbe der Schweißung und lächelte zufrieden: fest und gleichmäßig lag die Naht da.
Mitunter sah er das ernste, fast starre Gesicht Platows vor sich, und dann bemühte er sich jedes Mal, an etwas andres zu denken. Jedoch die Szene vom Morgen ging ihm nicht aus dem Sinn und erregte ihn. Es dämmerte ihm die Erkenntnis, dass er sich dem ehemaligen Freunde gegenüber schlecht benommen hatte. Aber er bemühte sich, seine Reue zu unterdrücken und die unruhigen Gedanken in rastloser Arbeit zu ersticken.
Noch niemals hatte er mit solchem Vergnügen gearbeitet wie in diesem Moment. Fest und sicher führte seine Hand die Elektrode über den Riss.
Müde, aber zufrieden mit sich selbst, hielt Sergej inne und erfreute sich an den flimmernden Sternen oben. Ein kühler Wind strich erfrischend über sein erhitztes Gesicht. Da trat Sharow hinzu, er gähnte und fröstelte vor Müdigkeit:
„Na, Sergej, weniger als fünfundzwanzig lass dir für die Nacht nicht bezahlen. Er ist geizig, der Borezki, aber er wird's schon 'rausrücken, es bleibt ihm ja nichts andres übrig."
„Was heißt das? Er wird soviel bezahlen, wie der Tarif vorschreibt, wie eben jeder kriegt."
„Soviel, wie der Tarif vorschreibt? Für diese Arbeit gibt's keinen Tarif. Die bezahlt Antonytsch selbst."
„Antonytsch selbst? Aus wessen Tasche denn?"
„Aus seiner eigenen, Sergej. Er hat eine dicke Tasche, der Antonytsch. Für das Geheimnis müsste man einen halben Hunderter nehmen!"
„Für das Geheimnis?" wiederholte Sergej verwundert.
Sharow gähnte gelangweilt. „Na ja, jede Sache hat eben ihr Geheimnis. Spiel' bloß nicht den Dummen. Du bist doch kein Kind mehr, was?"
Kalter Schweiß trat Sergej auf die Stirn. Seine Kehle war auf einmal wie ausgetrocknet.
Irgendwo in der Ferne donnerte ein Zug über die Schienen. Mit heiserer Stimme schrie die Lokomotive. Wie Grillen zirpten die dünnen Pfiffe der Rangierer.
Es dämmerte.
In der Morgendämmerung überkam Sergej ein widerliches Zittern. Er wollte weiterarbeiten, aber die Hand hatte keine Sicherheit mehr, die Elektrode sprang hin und her, und die Schweißnaht wurde unsicher und schlecht. Da warf er das Kabel beiseite und ging schwankend hinaus.
„Warum nimmst du die Maske mit?" hielt ihn der Wächter an. „Geh zurück und bring sie in die Abteilung."
Und als Sergej sich matt umwandte, rief der Wächter empört hinter ihm her: „So ein Spitzbubengesindel!"
Sergej zitterte, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt, ein tiefes Rot überzog seine Wangen, wie in den Kinderjahren, wenn er im Nachbargarten mit einem Apfel in der Hand ertappt wurde.
Müde kam er zu Hause an. Mit leerem Blick betrachtete er den Tisch; die Haufen von Büchern und Zeitschriften waren verschwunden, alles war verstaubt und voll Asche. Platows Bett war leer.
„Er ist also weg... Schnell... Na, schön... Eine Liebe ohne Freude — eine Trennung ohne Leid..." Er legte sich zu Bett und schloss die Augen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Irgend etwas beunruhigte ihn, kitzelte die schweren Lider. Er öffnete die Augen: die Sonne erfüllte das ganze Zimmer, malte feurige Kringel auf den Fußboden und spiegelte sich funkelnd in dem Fahrrad, das an der Wand lehnte.
Sergej stand auf, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und stieß das Fahrrad hinaus auf die Straße. Leicht und schnell glitt das Rad neben dem Bahndamm dahin. Bald war er im Walde und sog den erfrischenden Harzduft ein.
Hinter ihm donnerten die Schienen.
Eine Lokomotive machte ihre Probefahrt. Obgleich sie noch nicht verkleidet und am ganzen Körper mit Nietbeulen und mit weißen Farbflecken bedeckt war, erschien sie Strachow dennoch wie ein schönes, kluges, lebendiges Geschöpf. Strachow stand auf der seitlichen Plattform, hielt sich an der Haltestange fest und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen der Lokomotive. Angestrengt schlug das heiße Herz in dem langen, schmalen Körper der Maschine; der Dampf drückte gegen die Wände des Kessels, als wollte er die stählerne Hülle sprengen, und da er keinen Ausweg fand, stürmte er mit wilder Kraft in die Zylinder und stieß die Kolben vorwärts; der lange, trockene Arm der Schubstange umklammerte fest die Kurbel der Triebachse und jagte die Lokomotive vorwärts auf donnernden Rädern, die glänzten, als hätten sie sich im Laufe entzündet.
Für Strachow ist heute Feiertag — er hat seine dreihundertste Lokomotive fertiggestellt. Zweihundertneunundneunzig Lokomotiven — Schnellzug-, Personenzug-, Güterzuglokomotiven — durchkreuzen das unermessliche Land, blitzschnell jagen die kurzen Eilzüge auf den Schienen dahin, langsam kommen die endlosen Schlangen der Güterzüge angekrochen. Aber nicht das ist es, was Strachow freut; jene zweihundertneunundneunzig Lokomotiven sind ihm fremd geworden, er sieht sie nicht mehr und sie sagen ihm nichts mehr. Er lauscht jetzt angestrengt auf das erste, nervöse Fauchen der dreihundertsten Lokomotive. In dem komplizierten Ineinander greifen der Maschinenteile, in dem Atem des vom Dampf zum Leben erweckten Stahls, im Klopfen der Räder fühlt er sich selbst, den Leiter der Lokomotiv-Montagehalle — den Ingenieur Strachow.
Jeder einzelne Teil dieser Maschine, den er besichtigt und geprüft und dann mit Dutzenden anderer Stahlteile verbunden hat, lebt nun sein eigenes Leben und teilt seine Bewegung der Lokomotive mit. Und in dem heißen Atem des Kessels, den er voller Freude spürt, fühlt er das eigene Leben, das mit dieser Maschine zu einem untrennbaren Ganzen verbunden ist.
Die Lokomotive durchschnitt mit ihrer Brust den harzduftenden Kieferwald; hohe, schlanke Wipfel eilten ihnen entgegen und glitten in rasender Schnelligkeit vorbei. Aber Strachow sah weder den Wald noch die neugierigen Gesichter der Menschen an den Bahnübergängen — sein geübtes Ohr lauschte auf das Geräusch der einzelnen Maschinenteile in dem lauten Donnern, beobachtete prüfend den Pulsschlag des Mechanismus.
Die Lokomotive jagte mit immer größerer Geschwindigkeit vorwärts. Die Telegrafenstangen huschten schemenhaft vorüber, abwechselnd hoben und senkten sich die Drähte. In rasendem Lauf eilte ihnen die Erde entgegen. Der Wind peitschte die Haare Strachows, sie umflatterten wild seinen Kopf. Plötzlich lief ein Zittern durch den Körper der Lokomotive, und die nächste Telegrafenstange, die ihnen entgegeneilen wollte, blieb auf halben Wege stehen, wie festgemauert.
„Andrej Sergejewitsch! Es ist irgendwas mit der Triebachse nicht in Ordnung!" rief der Lokomotivführer, und schnell sprangen alle von der Lokomotive hinunter, in den tiefen Sand des Bahndamms.
Sie prüften die Achslager, die Radreifen, die Bremsbacken; besichtigten die Lagerung der stählernen Federblätter — suchten überall nach der Ursache der Störung. Die Lokomotive stand da, zitternd vor Ungeduld, und stieß zischende Dampfwolken aus, die den zarten Flaum des Löwenzahns, der am Abhang wuchs, in die Luft bliesen.
Strachow lag auf den Knien und untersuchte die Lager der Schubstange, der Triebachse, betastete die heißen, öltriefenden Maschinenteile; sein Gesicht nahm einen erregten und besorgten Ausdruck an.
Auf dem Rückweg fährt die Lokomotive langsam, wie ermüdet vom schnellen Lauf. Am Signal bleibt sie stehen und schreit in die Morgenluft hinaus. Ihr fordernder Ruf klopft an die Fenster des alten Häuschens, das — die Fassade der Bahnlinie zugewandt — verschlafen dasteht; er schreckt die Spatzen von dem Fliederbusch in dem kleinen Vorgärtchen auf, dringt, ein in das Zimmer und schlägt, wie das Dröhnen eines Schmiedehammers, dem Menschen ans Ohr, der da unbeweglich im Bett liegt.
Der Mensch vergräbt den Kopf in die Kissen und verstopft sich die Ohren, aber der Ruf der Lokomotive erreicht ihn doch und reißt an seinem Herzen.
Der Mann, der da liegt, bemüht sich mit allen Kräften, die ganze Umwelt aus seinem Bewusstsein zu löschen, aber mit dem Schrei der Lokomotive vor dem Signal, mit den Windstößen, die den Geruch verbrannter Kohle hereintragen, dringt diese Welt dennoch machtvoll in sein ganzes Wesen ein. Durch die eingefallenen, unrasierten Wangen stehen die spitzen Backenknochen und prägen dem Gesicht den Ausdruck tiefer Erschöpfung auf.
„Mitja! Mitjenka!... Was soll denn das nur heißen? Iß doch einen Teller Borschtsch (Anm.: Suppe aus roten Rüben) — ich hab' ihn so gut gekocht! Wie viel Tage liegst du nun schon so ohne Essen da... Was soll das nur werden?" Nastja birgt das bekümmerte Gesicht in den Händen, nur mit Mühe kann sie die Tränen zurückhalten. Saizew liegt unbeweglich da, nur die Falten im Gesicht vertiefen sich noch. Er fühlt eine sonderbare Leichtigkeit im ganzen Körper — dabei ist er aber nicht imstande sich zu bewegen.
Wie lange liegt er schon so da? Er weiß es nicht — wozu soll er auch die Tage zählen, die farblos und leer sind, einer dem andern gleich?
Dies Gefühl der inneren Leere ist verbunden mit dem starker körperlicher Schwäche — er will weder denken noch sich bewegen noch leben... Ein paarmal hatte er starke Hungeranfälle, träumte von gebratenem Fleisch mit Zwiebeln, glaubte den Geruch in der Nase zu spüren und konnte ihn eine Weile nicht loswerden. Aber dann hatte er nur noch das Gefühl einer stumpfen Gleichgültigkeit. Nun weckte ihn der Schrei der Lokomotive wieder zum Leben: scharf und gebieterisch schrie diese Lokomotive, sie erinnerte ihn an die Fabrik, an tätige Menschen und sausende Maschinen, sie drang fordernd auf den geschwächten Organismus ein. Saizew wollte diesen Ruf des Lebens verjagen, aber er drängte sich ihm auf, lärmte und schrie, krachte in den aufeinander prallenden Puffern der vorbeifahrenden Züge, war da draußen, hinter den Fenstern, in der ununterbrochen schreienden Lokomotive, in den Triebachsen, an denen seine Hände gearbeitet hatten.
Aber dann fuhr die Lokomotive weiter, und wieder herrschte tiefste Stille, die nur von dem leisen Ticken der Uhr unterbrochen wurde. Unter dem Schrank flitzte eine Maus hervor und setzte sich mit einer Brotrinde zwischen den Zähnen unbeweglich mitten ins Zimmer. Saizew starrte die Maus wie hypnotisiert an, irgendetwas an ihrem scheuen Gesicht kam ihm bekannt vor; die gierig funkelnden Äuglein erinnerten ihn an den Blick irgendeines Menschen, den er kannte. Und auf einmal schien dieses Mäuslein zu wachsen und menschliche Umrisse anzunehmen — da erkannte Saizew Kraiski, wie er, sich scheu zu Boden drückend, Saizews Schürze mit den Zähnen davonschleppt... Gleich wird er unter den Schrank schlüpfen und verschwinden...
Saizew sprang vom Bett auf und ergriff irgend etwas Hartes.
Der Geruch von Schimmel und Fäulnis stieg ihm in die Nase, ihm wurde übel, aber er hatte schon nicht mehr die Kraft, dem Gefühl des Hungers zu widerstehen und schlug krampfhaft die Zähne in eine steinharte Brotrinde.
Mit einem scharfen Klingeln des Telefons beginnt der Morgen im Arbeitszimmer Kortschenkos. Lange und wütend läutet der schwarze Tischapparat, bis ihm schließlich die Stimme überschnappt und er heiser weiterrasselt — aber es ist erst fünf Minuten vor sieben, und Kortschenko ist noch nicht da. Endlich verstummt das Telefon, eine Minute später jedoch fängt es wieder an, durchdringend zu läuten, diesmal aber unaufhörlich.
Punkt sieben Uhr tritt Kortschenko ins Zimmer und hebt den Hörer ans Ohr, noch ehe er den Mantel ausgezogen hat.
„Ja, ja — ich... Du bist's, Wartanjan? Sag mal, wann schläfst du eigentlich? In der Nacht hast du zweimal in der Wohnung bei mir angerufen, und jetzt bin ich kaum im Zimmer, da brüllt diese Weckeruhr auch schon wieder aus Leibeskräften? Wie es mit den Lokomotiven steht? Was kann ich dir so früh am Morgen auf diese Frage antworten? Wart' ein wenig, die Leute werden gleich kommen, ich werde mir das Material zusammenstellen lassen, und rufe dich dann an. Um zehn Uhr ? Gut, ich werde sehen, dass ich's schaffe... Ach, hör' auf mit deiner ewigen Hetzerei! Ist das ein Mensch!" Er wirft den Hörer hin und setzt sich an den Tisch.
Nein — so kann man nicht arbeiten. Jede Minute diese Anrufe. Und immer dieselbe Frage. „Wie steht's mit den Lokomotiven?" Dabei gehen die Nerven drauf, einfach unmöglich, so zu arbeiten. Er weiß schließlich selbst, was er zu tun hat, und braucht durchaus nicht alle Augenblicke daran erinnert zu werden. Wartanjan scheint zu denken, es sei eine Kleinigkeit, diese Fabrik hier zu leiten. Der sollte sich mal an seine Stelle setzen und es selber versuchen...
Er nimmt den Hörer auf.
„Bitte Turtschaninow. Benjamin Pawlowitsch? Wie steht's mit den Lokomotiven?" ...
Ein unruhiger Morgen. Ununterbrochen läutet das Telefon, unaufhörlich, ohrenbetäubend. Am Abend schmerzt das rechte Ohr von dem ewigen Anlegen des Hörers. Am Abend summen die Ohren wie eine Muschel.
Die Ingenieure kommen, die Abteilungsleiter, die Leiter der Unterabteilungen, die Buchhalter, der Sekretär. Auf dem Tisch häufen sich die Papiere: Produktionsberichte, Meldungen. Abrechnungen, Pläne, Verordnungen, Briefe, Postkarten, Telegramme, Zeitungen; das Zimmer ertrinkt in diesen Papierhaufen, in der sengenden Sonnenflut, in dem ohrenzerreißenden Läuten des Telefons.
„Was — für zehn Uhr hatte ich's dir versprochen? Na ja, siehst du, alles rund herum ist voller Menschen, ich ersaufe in Arbeit... Bitte, reg' dich nicht auf, Wartanjan. In einer halben Stunde rufe ich dich an!" Der Hörer fliegt am Telefon vorbei in den raschelnden Papierhaufen. Und wieder Ingenieure, Sekretäre, Buchhalter — Menschen, Post, Besprechungen...
„Schon wieder du, Wartanjan? Du liebe Güte, dabei muss der Mensch ja verrückt werden! Wo brennt's denn? Jawohl — wo es brennt?! Ich habe meinen Kopf auch voll, und das ewige Telefongeklingel von dir weicht mein Gehirn auf... In fünfzehn Minuten! Ja, j—a—a—a! Verdammt!"
Man kann den Hörer auf den Tisch werfen, man kann ihn zum Fenster hinausschleudern — aber helfen wird es doch nichts. Schließlich muss man noch selbst ins Raikom laufen, das ist noch schlimmer... Telefongespräche:
„Benjamin Pawlowitsch — wie steht's mit den Lokomotiven?"
„Nr. 7 ist, glaube ich, schon in der Malerwerkstatt, Pjotr Petrowitsch."
„Benjamin Pawlowitsch, mit Ihrem ,glaube ich' kann ich gar nichts anfangen. Sie sind doch der Technische Direktor. Also bitte: in zehn Minuten wünsche ich eine erschöpfende Antwort von Ihnen."
„Sehr richtig. Aber was kann ich tun, wenn mir die Abteilungen nicht rechtzeitig Bericht erstatten? Ich habe bereits mehrmals... Ja, ja, ich verstehe... Jawohl, gewiss doch! Wird gemacht, Pjotr Petrowitsch! Unbedingt ge..." Das Gespräch wird unterbrochen, „-macht", sagt Benjamin Pawlowitsch schon zu sich selbst.
„Wo ist Nr. 7? Auf Probefahrt? Ausgezeichnet! Welche sagen Sie, Adam Adamytsch, Nr. 6? Und Nr. 7? Wo ist Nr. 7?"
„Benjamin Pawlowitsch, Nr. 7 ist noch in der Montagehalle. Auf Probefahrt ist Nr. 6."
„Was! Nr. 6?? Warum Nr. 6? Heute ist der zwanzigste — verstehen Sie? Das ist einfach unmöglich, Adam Adamytsch! Unmö—ö—öglich! Soeben hat der Direktor angerufen. Wir sprengen ja das Programm. Sie sind der Leiter des Lokomotivbaus, Adam Adamytsch!"
„Wir sprengen das Programm, Benjamin Pawlowitsch. Aber wer ist schuld daran? Ich habe es Ihnen schon hundertmal gesagt. Die Kesselabteilung kann die Aufträge nicht ausführen, die Dreherei ebenfalls nicht. Die Martinabteilung liefert Ausschuß — lauter schlechte Einzelteile."
„Adam Adamytsch! Alles, was Sie da sagen, ist nicht stichhaltig. Nr. 7 muss zur rechten Zeit geliefert werden! Forcieren Sie die Ablieferung von Nr. 6! Quantität! Quantität — das ist die Losung. Daran sind wir ja doch interessiert. Üben Sie einen Druck aus auf Kraiski, auf Strachow, auf Stanislaw Antonytsch."
„Gut... Ich werde mich bemühen... "
„Hier Adam Adamytsch... Sind Sie's, Simon Petrowitsch? Hören Sie bitte: die Lokomotiv-Montagehalle klagt darüber, dass die Dreherei bei der Lieferung der Lokomotivteile im Rückstand bleibt. Das geht nicht, Simon Petrowitsch, das geht auf keinen Fall! Bitte, Sie müssen da unbedingt entsprechende Maßnahmen treffen."
„Adam Adamytsch, ich verstehe alles, und ich tue alles, was in meinen Kräften steht. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass die Martinabteilung außerordentlich viel Guss- und Schmiedeausschuss liefert."
„Simon Petrowitsch, Sie sprechen mir da von Ausschuß. Das ist nicht gut, Simon Petrowitsch. Ausschuß darf nicht vorkommen, darf es nicht geben! Was für ein Ausschuß soll das sein?? Verstehen Sie?"
„Ich verstehe, Adam Adamytsch... "
„Kraiski! Warum liefern Sie die Einzelteile zu spät?"
„Sehr einfach, Benjamin Pawlowitsch, weil ich keine habe. Ich werde lieber einen Augenblick hinüberkommen... "
„Dann aber etwas schnell..."
Prustend lässt sich Kraiski in einen Sessel fallen.
„So kann ich nicht länger arbeiten. Platow arbeitet in jeder Weise gegen mich. Jetzt hat er eine ganze Partie auf das Fehlgusslager geschickt."
„Na — und was sagt das Festigkeitslaboratorium? Wie waren die Proben?"
„Alles war tadellos."
Turtschaninow denkt eine Minute lang nach. Seine Raubvogelaugen hinter den Brillengläsern schimmern gelblich, die Pupillen erweitern sich, dann werden sie wieder klein, wie schwarze Stecknadelköpfe.
„Kraiski, ich werde Ihnen eine Lösung sagen: Sie verlassen vorübergehend die Abteilung und beschäftigen sich ausschließlich mit dem Bau der neuen Fabrik. Soll Platow mal die Martinabteilung allein leiten."
„... Wer spricht? Adam Adamytsch? Ich bin's — Strachow. Guten Tag! Jawohl — Nr. 6 ist von der Probefahrt zurück... Ja, wissen Sie, nicht so besonders! Die Federn schlottern. Die Federn, sage ich, schlottern! Und mit der Kurbel haben wir Scherereien. Wie lange das dauern wird? So ungefähr drei Tage... Nichts zu machen — ich bin dafür verantwortlich. Ich kann keine kranke Lokomotive aus der Fabrik lassen. Außerdem würde sie ja auch Akatujew keinesfalls durchlassen. Wie? Was? Was sagen Sie? Ich kann nicht, Adam Adamytsch. Bedaure außerordentlich, aber das kann ich auf keinen Fall."
„Also, Kortschenko, antworte mir gerade heraus und ohne Umschweife: wie steht's mit den Lokomotiven?"
„Was regst du dich auf, Wartanjan? Erst diesen Moment habe ich die Unterlagen bekommen. Nr. 7 ist in der Montagehalle, Nr. 6 ist von der Probefahrt zurück, morgen bekommt sie Akatujew. Nr. 7 hat eine kleine Verspätung, aber alles ist mobil gemacht... Also reg' dich nicht auf!"
„Wie soll ich mich nicht aufregen? Man muss sich immer aufregen, Kortschenko! Wir werden bald vor dem Okruschkom Rechenschaft ablegen müssen, Kortschenko, hast du das vergessen?"
„Ich wiederhole dir: es wird alles gemacht. Punktum! Wir werden uns nicht schämen müssen. Bloß hör' endlich auf, mich mit deiner verfluchten Telefoniererei zu quälen!"
„In die Verkleidungswerkstatt?"
„Jawohl — in die Verkleidungswerkstatt."
„Aber die Kurbel? Die Kurbel hat sich doch gelockert. Und die Federn..."
„Das geht dich nichts an! Es ist so verfügt worden... "
„Da soll der Teufel draus schlau werden... Der eine so, der andere so."
„Genosse Rjachow! Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie Nr. 6 in die Verkleidungswerkstatt schicken sollen? Die Fehler sind doch noch nicht behoben?"
„Genosse Strachow, weiß der Teufel, ich versteh' überhaupt nichts mehr! Mir ist gesagt worden: ,Strachow hat's bestimmt', und nun auf einmal ist's wieder anders!"
„Ich befehle Ihnen, die Lokomotive in die Montagehalle zurückzuschaffen. Haben Sie verstanden?"
„Selbstverständlich! Aber da soll einer draus klug werden... "
6
Sascha Mochow stand im Torweg und las die Bekanntmachungen, die auf flatternde Leinwandlappen geschrieben waren. Alles drehte sich um das eine kurze, unheilvolle Wort: „Planbruch."
„Planbruch... Planbruch... " — flüsterte Sascha vor sich hin und ging weiter. Er eilte in den Stadtpark, wo eine Versammlung der Pionierabteilung stattfinden sollte.
Am Bretterzaun der Fabrik klebte ein Plakat neben dem andern, eine Losung neben der andern:
BUMMLER UND SÄUFER
DIE DIE ARBEIT NUR STÖREN,
MÖGEN SICH SCHLEUNIGST
AUS DER FABRIK FORTSCHEREN!
Das gefiel Sascha ausnehmend, und vergnügt hüpfend summte er vor sich hin:
„Mögen sich schleunigst aus der Fabrik fortscheren! Fortscheren!"
Aber auf einmal verstummte er. Er musste daran denken, dass ja sein Vater auch trank. Allerdings blieb der alte Mochow der Arbeit nur selten fern, aber immerhin bezog sich dieses Plakat auch auf ihn. Sascha sang nicht mehr, nachdenklich und still ging er seines Wegs. Heute hatte der Vater Geburtstag. Zu diesem Tag lud er alljährlich seine Arbeitsgenossen ein, die alten Dreher, und dann wurde das Fest durch ein Saufgelage ordentlich gefeiert. Die Mutter stand schon seit dem frühen Morgen am Herd, ein Dutzend Mal war sie auf den Markt gelaufen, aber immer noch fehlte irgend etwas.
In der Nähe des Marktes traf Sascha die Mutter, sie schleppte zwei volle Körbe und blieb häufig stehen um zu verschnaufen. Von der Hitze und Anstrengung war ihr Gesicht rot wie eine reife Tomate. Sascha wollte schleunigst in der Menge verschwinden, aber die Mutter hatte ihn schon gesehen und rief ihn an:
„Sascha! Wart' mal, sieh mal die lange Schlange da vor dem Wodkaladen, ich hab' gestanden und gestanden und bin immer noch nicht dran, und derweil verbrennt mir zu Hause der Kuchen im Backofen! Saschenka, sei lieb, stell' dich an, und ich laufe rasch nach Hause. Hier hast du Geld!" Dabei steckte sie ihm einen Tscherwonez in die Hand, ergriff ihre Körbe und war auch schon verschwunden.
Verwirrt stand Sascha da und zerknüllte den Tscherwonez in der Hand. Er musste doch schnell zur Pionierabteilung, es war eine wichtige Versammlung heute — der Führer, Simka, hatte irgendeinen interessanten Vorschlag zu machen. Was sollte er bloß tun? Sich um Wodka anstellen? Wenn ihn einer dabei sähe! Einfach fortgehen? Das würde ihm der Vater nie verzeihen, wenn er seinen Geburtstag „trocken" feiern müsste. Unentschlossen näherte er sich dem Wodkaladen und schloss sich hinten an die Schlange an. Vor ihm stand ein zerlumpter Mann. Der stank nach irgendetwas Ekelhaftem, eine Wolke Fusel umschwebte ihn. Sascha wurde es beinahe schlecht. Die Hosen schlotterten dem Mann in Fetzen um die mageren Beine, spitze Ellbogen schauten aus dem zerrissenen Hemd. „Planbruch ... Planbruch... ", musste Sascha wieder denken. Da erkannte er in dem Manne Sharow und trat voller Ekel einen Schritt zurück.
„Und das will ein Pionier sein... schubst hier wie ein Betrunkener. Was trittst du mir auf die Füße, he?" brummte der hinter ihm Stehende ärgerlich.
Da fiel Sascha ein, dass er das rote Pionierhalstuch um hatte. Verwirrt schaute er sich nach allen Seiten um und zupfte dann den zerlumpten Sharow am Ärmel:
„Sharow — merk' dir bitte, ich stehe hinter dir, ich komme gleich wieder..."
Er lief hinter einen in der Nähe stehenden Zeitungskiosk, band schnell das rote Tuch ab und steckte es in die Tasche. Gleich kam die Reihe an ihn. Schon hatte er den Tscherwonez dem Kassierer hingelegt, als er plötzlich rufen hörte. „Sascha! Mochow!"
Saschas Hand zitterte. Er nahm schnell den Tscherwonez zurück. Die hinter ihm schimpften:
„Na, was ist denn los? Mach mal ein bisschen schneller!" „Sascha! Was machst du denn da?"
Mir raschen, leichten Schritten war der rotbäckige Simka Zeitlin an ihn herangetreten. Sascha wurde blass und senkte verlegen die Augen.
„Das ist... für den Vater... Die Mutter hat mich geschickt", stammelte er schließlich verwirrt.
Simka steckte den Kopf mit den schwarzen blanken Augen in das Fensterchen zu dem Kassierer hinein und rief laut:
„Sie haben doch gar nicht das Recht, an Kinder Wodka zu verkaufen! Ich werde sofort einen Milizionär holen!"
„Zeitlin — lass doch..." Sascha zog ihn am Ärmel und überredete ihn, keinen Lärm zu schlagen.
Sie traten auf die Straße hinaus. Zeitlin schimpfte und drohte, er würde die Sache der Komsomolzelle melden. Sascha schlich trübselig neben ihm her. Der Tscherwonez in der Hand war ganz zerknittert.
„Zeitlin, ich hab' jetzt direkt Angst, nach Hause zu gehen. Es gibt bestimmt Krach."
„Wir werden zusammen zu deiner Mutter gehen, ich werde mit ihr reden. Zum Teufel mit solchen Sachen!"
Sie traten gerade ins Haus, als Saschas Mutter den Kuchen aus dem Ofenrohr zog.
„Nun — hast du bekommen?"
Sascha trat schweigend ans Fenster, Simka steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte gewichtig:
„Ich hab's ihm verboten. Ihn trifft keine Schuld, Genossin Mochowa."
„Verb—o—o—ten! Genossin Mo—o—cho—wa! Verboten! Nun hör mal einer bloß diesen Säugling an! Sascha — hast du Wodka gebracht?"
„Pioniere dürfen nicht nach Wodka geschickt werden, Genossin Mochowa!"
Die Mochowa trat zu ihrem Jungen und rüttelte ihn heftig am Arm:
„Hast du etwa tatsächlich keinen Wodka gebracht? Es ist dir also ganz egal, was deine Mutter dir sagt? Mach' sofort, dass du hinauskommst, hörst Du?! Der eigene Sohn kann der Mutter nicht behilflich sein! Soweit ist es also mit euren roten Halstüchern gekommen... Was stehst du hier und hältst Maulaffen feil? Mach', dass du hinauskommst. Hinaus — alle beide!" Sie warf die Tür so heftig zu, dass die Fensterscheiben klirrten.
Bedrückt und schweigend traten Simka und Sascha auf die Straße. Zeitlin war es unangenehm, dass man ihn in Saschas Gegenwart einen „Säugling" genannt hatte — überhaupt hatte die Geschichte ein sehr dummes Ende genommen. Sascha fürchtete die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Vater.
Sie gingen in den Stadtpark und setzten sich auf eine Bank. Die Luft war von harzigem Fichtenduft erfüllt. Die Krähen, die in dichten Schwärmen auf den Ästen hockten, krächzten heiser, als hätte die Hitze ihre Kehlen ausgetrocknet.
„Sascha, heut gehst du nicht nach Hause. Da werden sie saufen, und dein Vater schlägt dich womöglich noch. Wir gehen jetzt in die Pionierabteilung, in der Nacht haben wir da sowieso eine Sache zu schmeißen. Aber dass du ja niemand etwas davon sagst!" Simka dämpfte die Stimme und flüsterte Sascha etwas ins Ohr.
Die Versammlung der Pionierabteilung hatte heute einen anderen Charakter als sonst, die Gesichter der Kinder trugen den Stempel irgendeines Geheimnisses. Alle spürten, dass Simka, der immer voller Einfälle steckte, sich diesmal etwas ganz Besonderes ausgedacht hatte. Sonst fand auch die Versammlung immer auf dem Platz vor dem Kino statt, heute dagegen war eine Stelle ganz am Ende des Parks gewählt worden, in einer jungen Schonung.
In engem Kreis standen die Pioniere um Simka herum. „Kommt mal näher heran und verhaltet euch ruhig. Es handelt sich um eine geheime Angelegenheit", teilte Simka flüsternd mit.
Mit angehaltenem Atem starrte Sascha auf Simkas Mund, in dem zwei Reihen weißer scharfer Zähne schimmerten. Simka kniff das rechte Auge zusammen, und da musste Sascha an den alten Moissej Grigorewitsch Zeitlin denken, der mit einer „alles durchdringenden" Glasscherbe im zusammengekniffenen Auge in Haufen alter Räder, Schrauben und Federn wühlte.
Grischa Nossow bemühte sich krampfhaft, mit der Handfläche einen blauen Fleck auf der Wange 2u verdecken, der von den väterlichen Faustschlägen herrührte, und hörte nur ganz zerstreut 2u. Er war erst am Abend vor dem häuslichen Auftritt in die Pionierabteilung aufgenommen worden, und der Gedanke, dass die Kameraden davon erfahren haben könnten, lastete ihm auf der Seele.
Der dicke, wichtigtuerische Wanja Kortschenko, der in der Abteilung den Spitznamen „Direktor" führte, nickte zustimmend mit dem Kopfe. Die Gesichter der Kinder waren ernst und nachdenklich. Zeitlin hatte sich eine große Sache ausgedacht. Nun wurden die Rollen verteilt. Simka sagte: „Nun noch etwas, Jungens. Gestern hat Grischa von seinem Vater Prügel bekommen. Was sollen wir tun?"
Grischa sah Simka erstaunt mit großen Augen an: woher er das bloß wusste? Aber Simka wusste eben alles, seinem scharfen Blick entging nichts, als habe er wie sein Vater ein „alles durchdringendes" Glas ins Auge geklemmt, das ihm alles sichtbar machte.
„Wir werden im Klub ein öffentliches Gericht über Nossow abhalten," sagte Wanja — der „Direktor" — eifrig.
„Na — um solcher Kleinigkeit wegen... das lohnt sich nicht", sagte Sascha. „Besser, wir bringen die Sache in der Zeitung zur Sprache."
Damit waren alle einverstanden. Die Kinder verließen den Park und gingen gruppenweise in die Stadt, um Brettchen, buntes Papier und Farbe aufzutreiben.
„Ach, ich würde gern was essen, seit dem frühen Morgen hab' ich noch nichts im Munde gehabt... Aber wir haben keine Zeit", seufzte Simka.
„Seit dem frühen Morgen — das ist nicht so arg. Aber unser Nachbar, der liegt schon zwei Wochen da und isst nichts und lebt dabei", sagte Sascha.
„Quatsch' doch nicht, Sascha, zwei Wochen! Das hält bloß ein Fakir aus."
„Ich weiß, die Fakire in Indien. Aber dieser ist kein Fakir, sondern ein Dreher", sagte Sascha heftig, beleidigt, dass er keinen Glauben fand. „Er hat mit meinem Vater zusammen in der Dreherei gearbeitet, und sein Haus steht gleich neben unserem... Er trinkt bloß ab und zu mal Wasser...
„Das ist interessant... Warum macht er das denn?" fragte Simka, in dem Anteilnahme für den Fall erwachte.
„Mein Vater sagt, dass er von zuviel Klugheit verrückt geworden ist. Er hat immer die ganzen Nächte aufgesessen und was gezeichnet."
„Siehst du wohl, das kommt davon!" sagte der kleine Zeitlin nachdenklich, und dabei kniff er das rechte Auge genau so zusammen wie der alte Moissej Grigorewitsch.
Langsam sank die Nacht herab und hüllte die Stadt in ihre warme Dunkelheit. Die Häuser blinzelten mit den gelben Augen ihrer matt erleuchteten Fenster, bereit einzuschlafen. Plötzlich aber wurden die finsteren Straßen vom Schein lodernder Flammen erhellt, die die Fenster der zum Schlaf rüstenden Häuser grell aufblinken ließen. Die Sturmglocke läutete mit aller Macht und trieb die Menschen aus den Betten. Die verschlafenen Augen reibend, liefen sie vor die Haustüren und suchten den Himmel mit den Augen ab, spähten nach dem Ursprung des Feuerscheins. Aber der Himmel hing undurchdringlich, schwarz und still über der Erde.
Die Glocke jedoch gellte immer weiter Sturm und machte die Fensterscheiben erzittern, und züngelnde Flammen krochen die Straße entlang durch die Dunkelheit.
Mochow sprang auf, stieß die wodkagefüllten Gläser auf dem Tisch und die Stühle in seiner Nähe um und rannte auf die Straße. Trunken schwankend, folgten ihm die Gäste. „Es brennt", dachte Mochow; im selben Augenblick machten die unheimlichen Fackeln vor seinem Hause halt, und sein Herz wurde von wilder Furcht ergriffen. Die Straße lärmte, Türen schlugen dröhnend zu, Fensterscheiben klirrten, Hunde bellten, und plötzlich schrie jemand heiser, panische Furcht in der Stimme:
„Marussja! Schnell — Wasser her!"
Aus der Richtung, wo prasselnd die Fackeln loderten, kam vielstimmig die Antwort:
„Faulenzer, Säufer, Tagediebe! Ihr hindert die Arbeit im Sowjetbetriebe. Wir woll'n die Fabrik von euch befrei'n, Für euch ist kein Platz in unseren Reih'n!"
Gellendes Kindergelächter zerriss die Dunkelheit, und Mochow merkte, dass die schwarze Finsternis ja ihn verspottete, der sich in seiner Trunkenheit kaum auf den Beinen halten konnte. Lachen und Schreien, Witze und Schimpfworte brachten die Nacht in Aufruhr, funkensprühende Fackeln zogen die Straßen auf und ab, und das Läuten der Sturmglocke tönte jetzt wie lautes Gelächter, das über die Dächer hinrollte.
Das Licht der Fackeln verschwand hinter der Straßenbiegung, und sofort hüllte wieder tiefste Finsternis die Straßen ein. Brummend und stolpernd kam der „Chef" daher, mühsam tastete er durch die Dunkelheit. Aber die alten Augen betrogen ihn. Da ging er einfach aufs Geratewohl, geführt von der Gewohnheit vieler Jahre, vom Geruch des Teers und Rauchs, den der Wind von der Fabrik herübertrug. Jetzt vertrieb der Lichtschein des Fackelzugs wieder die Nacht, und die Finsternis, die auf dem Alten lastete, schwand, weggejagt von dem fröhlichen Lachen der Kinderstimmen.
Also nicht er allein verbrachte die Nächte schlaflos? Der Alte kicherte vor sich hin und schritt fest und sicher der Fabrik zu. Heute muss er sich endgültig davon überzeugen... Er wird durch alle Abteilungen gehen und alles noch einmal nachprüfen, und morgen wird er dann vor den schwarzäugigen Sekretär hintreten und wird ihm alles erzählen — alles genau der Reihe nach. Da würde der endlich merken, dass der Alte durchaus noch nicht den Verstand verloren hat, dass er ihn vielmehr hütet für die Fabrik, für die Lokomotiven, die ihm so teuer sind, als wären es die eigenen Kinder! Schnell stieg er die Stufen zum Eingang empor. „Passierschein?"
Verwundert blickte sich der Alte um, als höre er dieses Wort zum ersten Mal in seinem Leben, und ging weiter.
„Alter! Hast du einen Passierschein?" Der Wächter holte ihn ein, als er schon das Fabriktor erreicht hatte und hielt ihn am Ärmel fest.
„Das ist mein Passierschein... " sagte der „Chef" und hielt dem Wächter die vom Rheumatismus verkrümmten Hände hin, deren Poren für immer mit Formererde imprägniert waren.
„Schlau bist du, Großvater", lachte der Wächter, „nun mach' aber mal schnell kehrt." Und er nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn um, dem Ausgang zu.
Der „Chef" sträubte sich, aber der Wächter war jung und kräftig, er ergriff seine Hand und führte ihn auf die Straße hinaus, wie ein Kind, das sich verirrt hat.
„Es ist strengstens befohlen worden, Großväterchen, dich nicht mehr in die Fabrik hineinzulassen. Du hättest hier nichts mehr zu suchen, heißt es. Du könntest noch unter irgendeine Maschine geraten. Gute Nacht, Großvater!" Und damit schlug der Wächter das Tor zu und schob den Riegel vor.
Verwirrt, von plötzlicher Schwäche ergriffen, stand der „Chef" in der Finsternis. Durch das Eisengitter fiel der zitternde Lichtschein der Torlaterne. Über den schwarzen Fabrikgebäuden hing in der Luft ein bläulicher Glanz wie das fahle Licht eines Blitzes.
Zum zweiten Mal im Leben stand der Alte, wider seinen Willen, außerhalb der Fabrik. Zum ersten Mal war das an jenem denkwürdigen Tage im Jahre neunzehnhundertvierzehn geschehen, einen Tag, nachdem die von ihm geschaffene Lokomotive seine beiden Söhne weggeführt hatte.
An jenem Tage wollte der Alte nicht arbeiten. Er ging von Werkstatt zu Werkstatt und erzählte von seinem Kummer. Alle Dreher, Schlosser und Gießer hatten dieselben von Sorgen und Gedanken zerfressenen Gesichter — jeder hatte seinen eigenen Kummer. Sie hörten ihm zu, dann ließen auch sie die Arbeit liegen, standen in Gruppen auf dem Hof herum, gingen durch die Straßen der Stadt, schüttelten die geballten Fäuste. Gegen Abend war dann alles still, und der Alte war wegen Agitation aus der Fabrik entlassen und stand ebenso wie jetzt draußen vor dem Tor.
Aber damals waren andere die Herren der Fabrik... Was war denn aber heute geschehen? Fabrikdirektor war Kortschenko, den er noch von der Kolomnaer Fabrik her kannte. Allerdings, damals war Pjotr Kortschenko einfacher, schlichter gewesen. Überall in der Fabrikleitung sitzen jetzt Arbeiter, sogar die Pioniere sind von der allgemeinen Sorge für die Fabrik ergriffen. Wer von all diesen kann jetzt auf den Alten böse sein? Da musste er an das ärgerliche Gesicht Benjamin Pawlowitschs dort beim Martinofen denken, und eine finstere Wut presste sein Herz zusammen. Die Fabrik brauchte ihn also nicht mehr, er war überflüssig, er war für alle nur der „melancholische" Alte...
Seufzend wandte er sich zum Gehen, und die Nacht schlug über ihm zusammen. Langsam stieg der Mond über der Stadt auf. Sein grünliches Licht ließ die Umrisse der Häuser scharf hervortreten. In der letzen Straße stieß der „Chef" auf einen Menschen, der zögernd da stand, als wisse er nicht, wohin er sich wenden sollte.
„Wo kommst du denn her, Alter?"
„Wer bist du denn?"
„Senka Platow... Kannst du dich nicht erinnern, Alter?"
„A—a... Semjon Petrowitsch. Nein, der Alte hat nichts vergessen. Ist immer noch bei Verstand. Hat auch dich nicht vergessen, und deinen Vater, Pjotr Nikolajewitsch, auch nicht, ich besinn' mich noch gut auf ihn. Du stehst doch nun ganz allein."
Platow lachte bitter auf.
„Ja, richtig! Ich hab' nicht mal ein Unterkommen für die Nacht!"
„Wieso nicht?"
„Das ist eine lange Geschichte, Alter... Ich möchte mich jetzt ausschlafen, ich bin müde wie ein Hund. Morgen heißt's früh bei der Arbeit sein."
„In welcher Abteilung arbeitest du, mein Herzchen?"
„In der Martinabteilung."
„So? Ich habe gehört, da bei euch in der Martinabteilung hat heute ein Arbeiter einen Ingenieur geschlagen."
„Mich hat er geschlagen."
Der „Chef" trat erstaunt einen Schritt zurück und betrachtete Platow aufmerksam.
„Was — du bist Ingenieur?" fragte der Alte misstrauisch und setzte sogar die Brille auf, um Platow besser betrachten zu können.
Platow erzählte mit ein paar Worten von sich und was ihm passiert war, und warum er diese Nacht nicht wusste, wo er schlafen sollte.
„Also auch dich verfolgt man, mein Liebchen? Da soll nun einer draus klug werden", wunderte sich der Alte. „Was das jetzt für ein Leben ist! Weißt du was, komm zu mir — mein Haus steht sowieso leer... "
Und so schritt Platow, beladen mit seinen nicht gerade umfangreichen aber schweren Habseligkeiten, hinter dem „Chef" her, der in sich hinein krächzte: „Das ist ein Leben jetzt!"
Zu Hause beim Schein der kleinen, blakenden Lampe öffnete er dann vorsichtig eines der dicken Bücher von Platow; als er die nichtrussischen Buchstaben sah, schloss er es behutsam wieder und bot Platow sein Bett an:
„Leg' dich hier hin, Semjon Petrowitsch. Du bist mir ein teurer Gast."
Platow legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Und sofort stand die heutige Szene mit erschütternder Deutlichkeit vor ihm: die gespannten Gesichter der Arbeiter, die bösen Augen Sergejs und die triumphierende Miene Sharows — in seinen Ohren vermeinte er das Krachen und Donnern des Stahls, das Rollen der Kräne, die giftigen Spöttereien, die an seine Adresse gerichtet waren, zu hören.
Ja — er war blamiert... Blamiert von der ganzen Abteilung, blamiert in den Augen aller, die ihn von früher kannten, für die er der Former Senka war, die ihm, dem Ingenieur Platow, von Anfang an mit Misstrauen begegnet waren. Platow fühlte heiße, brennende Scham. Ihm wurde so heiß, dass er die Decke abwarf, das Hemd auszog und das Fenster aufriss — aber trotzdem brachte ihm die nächtliche Kühle keine Erfrischung.
An die Stelle seiner anfänglichen Zuversicht und Ruhe war eine nervöse Erregung getreten, die ihn schwächte. Hatte er nicht eine Niederlage erlitten, die er in den Augen der Former und Gießer nicht wieder gutmachen konnte? Und würden die höhnischen Witze und das Gekicher denn morgen ein Ende nehmen? O ja, er wusste wohl — Achtung und Respekt hätten die spöttischen Witze verdrängt, wenn er Sergej in gleicher Weise geantwortet hatte. Dann wäre er sofort in den Augen jener gestiegen, die daran gewöhnt sind, die Kraft eines Menschen an seinem Faustschlag zu messen. Aber nicht darin liegt die Stärke des Ingenieurs Platow. Seine Stärke sind die Kultur und das Wissen, die er der Masse bringt. Aber diese Stärke sieht die Masse heute noch nicht so deutlich vor Augen wie die rote Schramme, die der Schlag mit dem Kabel auf der Wange Platows zurückgelassen hat...
Mit heißen Fingern betastete er die Wange, fühlte das geronnene Blut, und ein Gefühl tiefster Scham überflutete ihn. Welche Schande! Wütend knirschte Platow mit den Zähnen. Um ihn herum war alles dunkel und still — ab und zu knarrte der alte Diwan, auf dem sich der „Chef" unruhig hin- und herwälzte.
„Ich glaube, Semjon Petrowitsch, die Menschen von heute haben den Schlaf verloren. Nun sage mir doch bitte, woher kommt das?" fragte der „Chef", und ohne die Antwort abzuwarten, fügte er nachdenklich mit halber Stimme hinzu: „Davon — denke ich — weil das Leben jetzt so beweglich ist...'
In der Nähe des Fabriktors lief Zeitlin geschäftig hin und her und stellte seine Posten aus. Er war sehr ernst und ganz von dem Gefühl der Verantwortung für seine große Sache beherrscht. Stolz drückte er die Brust heraus. Hastig erteilte er Sascha die letzten Anweisungen.
„Nun, Sascha, halt' dich tapfer!" lachte Zeitlin und lief weg, fast geräuschlos huschten die weißen Turnschuhe über den Boden.
Sascha zupfte sein rotes Pionierhalstuch zurecht und stellte sich stramm neben dem schwarzen Brett auf, das am Eingang angebracht war. Zum zweiten Mal zerriss die Sirene mit ihrem gewöhnlichen langen Pfiff die Luft und machte sein Herz heftig und laut schlagen. Es regnete; Sascha, der von der kühlen Morgenluft und noch mehr vor Aufregung zitterte, ging vor dem schwarzen Brett auf und ab; er überlegte den ersten Satz, der ihm große Schwierigkeiten bereitete.
„Ach, wenn ich so reden könnte wie der Simka, das geht bei dem wie geschmiert. Wie hatte er doch gleich gesagt, dass ich anfangen soll? Ich glaube, es war so:
Genosse! Unsere Epoche besteht aus kostbaren Minuten, du aber kommst zu spät zur Arbeit und stiehlst der Fabrik eine ganze Stunde."
Nein — ganz so war es nicht... wie sollte er „ihn" Genosse nennen, wenn er womöglich grade einen Alten abfasste — das würde lächerlich sein. Und was konnte das schon für ein „Genosse" sein, der zu spät zur Arbeit kam! Und Sascha erinnerte sich, mit welcher Verachtung seine Mutter das Wort ausgesprochen hatte, als sie Simka nachäffte. Nein — es wird viel besser sein, wenn er einfach sagt: „Onkelchen — warum kommst du denn so spät?" Und wenn der dann verwirrt mit den Händen herumfuchteln wird, dann wird er ihn ordentlich beschämen und wird sagen: „Das geht doch nicht, Onkelchen, darum haben wir den Planbruch in der Fabrik!"
Die ersten Arbeiter passierten das enge Eingangstor; Sascha begleitete sie mit den Augen und dachte: „So ist's recht, die stehen früh auf..." Zum dritten Mal pfiff die Sirene, in dichten Scharen drängten die Arbeiter in den Fabrikhof, als würden sie von hinten gestoßen, und dann war der Menschenstrom auf einmal versiegt. Rund herum war alles still, aber in der Nähe, aus der Abteilung für Eisenkonstruktionen, hörte man schon die Schläge der Niethämmer. Langsam schlichen die Minuten der Erwartung dahin. Aufmerksam beobachtete Sascha den Eingang, damit nur niemand ungestraft an seinem schwarzen Brett vorbeiflitzte. Der Wächter, der ihn beobachtete, lacht gutmütig.
„Sieh mal einer an, die Lausejungen, was die sich da ausgedacht haben... "
Sascha ärgerte sich über den herablassenden Ton des Wächters, er wollte gerade etwas antworten, als schwere Schaftstiefel auf dem Holzpflaster heranklapperten und ein Mann zum Tor hineinlaufen wollte. Sascha streckte schnell den Arm aus und versperrte ihm den Weg.
„Genosse!" — das klang streng und solide — „Du kommst zu spät zur Arbeit! Unsere Epoche, Genosse, besteht..." Das nächste Wort saß ihm plötzlich in der Kehle fest, wie ein trockenes Stück Brot. Sascha trat einen Schritt zurück und ließ die Hände schlaff herabsinken.
„Sascha? Was machst du denn hier? Eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!"
Mochow konnte absolut nicht begreifen, wie sein Sascha hierher kam, und was das „Genosse" und „Epoche"... zu bedeuten hatte. Er musste schleunigst auf seinen Platz in der Dreherei, aber da stand Sascha und versperrte ihm den Weg.
„Lass mich schleunigst durch!" Und Mochow trat dicht an den Jungen heran und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht.
Aber Sascha, obwohl am ganzen Körper zitternd und den Vater furchtsam anstarrend, wich keinen Schritt aus dem Torweg. Plötzlich musste Mochow an die gestrige Geschichte mit dem Wodkaholen und an das plötzliche Verschwinden seines Sohnes denken; alles das brachte er nun mit der Anwesenheit des Jungen hier vor dem Tor und mit dieser dummen Frage, die er an ihn richtete, in Zusammenhang. Mit geballter Faust stürzte sich der Alte auf seinen Sohn.
„Weg hier, du Rotznase!"
Sascha sah, wie der Wächter niederträchtig grinste. Zitternd vor Scham behauptete er seinen Platz und drückte sich fest an das Geländer.
„Weg hier — eine Schraube soll dir aus dem Mund wachsen!" Mochow packte den Jungen beim Arm und stieß ihn mit Gewalt beiseite.
Sascha schrie auf vor Schmerz, aber es gelang ihm doch, sich am Rockärmel des Vaters festzuklammern, der ihn so hinter sich herschleifte. Wütend schüttelte Mochow den Jungen ab und schimpfte, was das Zeug hielt. Die Arbeiter auf dem Hof liefen auf den Lärm hin herbei und umringten den alten Mochow und seinen Sohn.
Da holte Mochow aus und gab Sascha eine schallende Ohrfeige.
Die Umstehenden lachten gutmütig. Sascha taumelte zurück und lief, die Hände vorm Gesicht, dem Ausgang zu. Die Wange brannte wie Feuer, und Sascha schien es, als ob alle, die Menschen, die Fabrikgebäude und sogar der Schornstein, seine Schande mit ansähen und ihn auslachten. Tränen liefen ihm über die Wangen, er wischte sie schnell ab, aber immer neue kamen.
„Kümmre dich lieber nicht um Dinge, die dich nichts angehen", lächelte der Wächter mitleidig.
Da platzte Sascha, beleidigt von diesem unerbetenen Mitgefühl, heraus:
„Dir ist, scheint's, der Planbruch ganz egal... Und mit solchen soll man nun arbeiten!"
Mit festem Schritt trat er an das schwarze Brett und schrieb mit weißer Kreide in großen Buchstaben darauf:
„MOCHOW —BUMMLE R."
Zufrieden mit der Größe der Buchstaben, ging Sascha unter den Blicken der Arbeiter stolz erhobenen Hauptes zum Fabriktor hinaus. Draußen aber knickten ihm die Beine zusammen, er konnte sich nicht mehr beherrschen, ein heißer Tränenstrom lief ihm die Wangen hinab, und an den Fabrikzaun gelehnt, weinte er laut und bitterlich.
7
Spät erst, als schon dichte graue Dämmerung in den Straßen hing, kam Wartanjan nach Hause.
Müde ließ er sich in den Ledersessel vor dem Schreibtisch fallen, streckte die Beine von sich und schloss die Augen.
Die Müdigkeit, die diesen Menschen den ganzen Tag anscheinend vergeblich verfolgt hatte, hatte ihn nun endlich eingeholt und trat in ihre Rechte. Sie ergriff Besitz von dem ganzen Körper und beherrschte ihn unumschränkt: seine Beine waren steif und schwer, sein Kopf, von den Eindrücken des Tages angefüllt und vom Tabakrauch vergiftet, schmerzte, als wollte er platzen; das Herz klopfte ungleichmäßig und sprunghaft, mitunter war es gar nicht zu spüren, dann wieder setzte es so heftig ein, als wollte es die Brust sprengen; schlaff und leblos hingen die Arme herab, der ganze Körper war wie eine Maschine, die man auseinandergenommen hatte...
„Nicht einmal das Metall kann der Müdigkeit widerstehen... ,Die Ingenieurpraxis kennt zahlreiche Beispiele der Zerstörung auf Grund der Ermüdung der Metalle'," — ganz plötzlich stand Wartanjan dieser Satz vor Augen. Wo hatte er ihn gelesen? Richtig — das war ja aus dem Artikel Turtschaninows, der heute in der Bezirkszeitung abgedruckt war. Und warum befasste sich Jusow mit solchen technischen Spezialfragen? Turtschaninow... Platow... Ermüdung der Metalle... Er musste da eingreifen... Platow hat schon einen Zusammenstoß gehabt...
Die Gedanken tanzten auf und versanken, ausgelöscht von der Müdigkeit, tauchten aber bald wieder von neuem auf und durchfurchten das Gehirn.
Vor seinen Augen standen Fabrikgebäude, Maschinen, menschliche Gesichter: lächelnd und kokett an ihrem Kittel herumzupfend, blickte ihn Olga Pylajewa an und zog ihn mit ihren hellen, blauen Augen übermächtig an. Wartanjan presste seine zitternden Lippen aufeinander, und Olga war verschwunden; aber an ihre Stelle trat der Alte mit der Brille auf der Nase. Mit seinem grünlichen, zottigen Bart kam er ganz nahe an Wartanjan heran: Särge machen sie... " Was für Särge? Werde ich wirklich auch einmal so ein alter, zittriger Greis sein, der zu nichts mehr nütze ist, der herumläuft und fantasiert? Sogar das Metall wird alt und morsch. Aber er ist doch erst dreißig Jahre alt. Er ist dreißig Jahre... Und wieder trat irgendwo aus dem Nebel die hübsche, schlanke Gestalt in dem blauen Arbeitskittel hervor. Wieder stand das Bild dieses jungen Mädchens vor ihm, mit dem blonden Haarbusch, dem weichen Oval des Gesichts, und die blauen, bezwingenden, sich alles unterwerfenden Augen sahen ihn an.
Olga ging dicht neben ihm, so dicht, dass ihre Schulter ihn berührte. Ihm wurde heiß. Er öffnete die Augen. Was geht mit ihm vor? „Genosse Wartanjan, du lässt dich gehen!" sagte er zu sich selbst und stand vom Sessel auf.
Dichte, dunkelbraune Finsternis umfing ihn. Schwarz zeichnete sich der Fensterrahmen ab. Die Leere und Unbehaglichkeit seiner einsamen Wohnung wollten ihn umklammern. Er schaltete das Licht ein, und sofort hatte das Zimmer ein freundliches Aussehen: vom Bücherbrett her glänzten die Einbände der Bücher, in der Glaskaraffe brachen sich funkelnd die Strahlen des elektrischen Lichts, aus dem Rahmen an der Wand schaute der pausbäckige Laso pfiffig lächelnd herab.
Wartanjan schlug sein Notizbuch auf, das eng beschrieben war. Aus seinen abgegriffenen Seiten schaute ihn der Tag an, der soeben zu Ende war. Mit den Augen die Notizen überfliegend, gab er sich selbst Rechenschaft:
„Rede an die Urlauber auf dem Bahnhof. — Habe über Kollektivwirtschaften, über Traktoren usw. gesprochen... "
„Rundgang durch die Abteilungen: Dreherei, Martinofen, Kesselabteilung — Kesselabteilung habe ich also wirklich nicht mehr geschafft. Morgen."
„Bericht über den Neubau an das Okruschkom. — Abgeschickt."
„Sieben Uhr Versammlung der Gruppenorganisatoren. — stattgefunden. Habe über die Hebund der Qualität gesprochen. Ach, wie das alles noch langsam geht!"
„Vortrag in der Walzwerkzelle. — Hab' ich gehalten."
„Unterredung mit Kortschenko. — O—o—ch!"
„Analyse des Wachstums der Parteiorganisation im Laufe des letzten Halbjahrs. — Es ist eine Schande!"
„Territorium der neuen Fabrik besichtigen. — Bin dagewesen. Hab' Staub und fettes Unkraut gesehen..."
Das Notizbuch platzte beinahe — es ging kaum noch ein Wort hinein. — Ränder, Ecken, alles war eng bekritzelt — sogar der Deckel. Und überall war er gewesen, hatte gesprochen, hatte alle angehört, hatte Anweisungen und Ratschläge erteilt, hatte den Leuten ins Gewissen geredet, wo es nötig war, hatte gewarnt, gelobt, gedroht. Und trotzdem war noch soviel zu tun übrig geblieben!
„Dem Teleshkin ordentlich Bescheid sagen."
„Kortschenko über die Mechanisierung der Zerkleinerung von Roheisen."
„Mit Platow über seinen Ausfall gegen Turtschaninow sprechen. — Da hat er richtig was angestellt, der Platow! Sozusagen frei von der Leber weg gesprochen auf Arbeiterart... Immerhin aber muss man mal etwas über die Ermüdung der Metalle lesen..."
„Der Fall am Fabriktor. — Ja, man muss sich unbedingt mit den Pionieren etwas beschäftigen. Väter und Söhne... Dabei schreibt die ,Komsomolka', dass es bei uns dieses Problem nicht mehr gebe... "
„Angriff auf Platow. — Ach, wieder die Martinabteilung!"
Wartanjan knurrte ärgerlich. „Man muss mal ein Wort gegen die ,Spezialistenfresserei' sagen."
„Empfang der Kominterndelegierten... "
„Brief der Arbeiter des Kursker Depots. — Wieder ein Skandal! Es ist eine Schmach!"
Die abgegriffenen Seiten des Notizbuchs raschelten leise, als ob sie Wartanjan flüsternd an die hundert Dinge, die seiner harrten, an die Besprechungen, Sitzungen, Referate erinnern wollten. Und wie er sich auch abhetzte den ganzen Tag über — kaum eine Minute hatte er gesessen, erst um acht Uhr abends hatte er zu Mittag gegessen — die Zeit reichte doch nicht dazu aus, überall hinzugehen, alles mit den eigenen misstrauischen Augen zu prüfen. Und alles geht wieder den alten Schlendrian... Dutzende von Versammlungen hatte er abgehalten, hatte gesprochen, erklärt ohne Ende — aber er hatte nicht die Überzeugung gewonnen, dass seine Anweisungen auch wirklich befolgt würden, er musste von neuem anfangen zu telefonieren, zu erinnern — und so ging alarmierende Unruhe von ihm aus, wie von der Feuerwehr...
Wartanjan saß da, den schmerzenden Kopf auf die Hände gestützt. Die dichten Brauen beschatteten die Augen und ließen die Ringe, die sie umzogen, fast schwarz erscheinen. Die Müdigkeit verschwand und machte einer nervösen Erregung Platz — ein Zeichen dafür, dass ihm eine schlaflose Nacht bevorstand.
Gleich dem Fluss, der einen See durchfließt, klärten sich die Eindrücke des Tages langsam in seinem Bewusstsein und wurden durchsichtig wie Kristall; er begann die Konturen dessen zu erkennen, was die Haupttriebkraft im Leben der Fabrik, der vielen tausend Menschen und des eigenen persönlichen Lebens darstellt: diese Kraft hatte seine Hände berührt, als er die Roheisenbarre zerschlug; sie hatte gefesselt in den Planscheiben der schweigenden Drehbank gelegen, und freudig funkelte diese Kraft in dem Kupferstern vorn an der Brust der Lokomotive, sie hatte den Zusammenstoß zwischen Vater und Sohn vor dem Fabriktor herbeigeführt, sie hatte aus seiner zornigen Stimme geklungen, als er Teleshkin zurechtwies, und hier sprach sie aus dem Brief der Kursker Eisenbahner. Sie kennt keine Hindernisse, zerbricht alle, die sich ihr in den Weg stellen, und treibt das Land vorwärts, verbindet Fabrik und Depot, Stadt und Dorf. Sie formt das Land um, sie schafft die mächtigen Elektrizitätswerke, sprengt die gefrorene sibirische Erde, baut Werke, so grandios, wie sie die Welt noch nicht gesehen.
Die stürmische Energie der Klasse... sie baut, schafft, siegt — entzündet Millionen von Menschen mit ihrer Schöpferkraft, wandelt das ganze Land in einen mächtigen Akkumulator. Sie ist es, die in unaufhaltsamen Wellen an unsichtbaren Drähten über diese Fabrik wegstürzt, nach Westen zu, sie ist es, die drohend über dem erschütterten Europa hängt und mit ihrem Strom die jahrhundertealten Schranken zwischen den Völkern niederreißt und sich mit der Welle der revolutionären Energie der Aufständischen, die ihr entgegeneilt, vereint.
Und übermorgen werden sich diese Wellen auf der abgelegenen, kleinen Station „Molwa" durch festen Händedruck mit den weißen, gelben und schwarzen Schmieden der neuen Welt verbinden.
Wartanjan dachte über den Empfang der Komiriterndelegierten nach und machte sich ein paar Notizen; dann kehrte er wieder zu seinen Gedanken über die Lokomotiven zurück, warf den Bleistift hin und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, bis ihn die Füße schmerzten und ihm schwindlig wurde. Da setzte er sich wieder hin und schüttete die dicke Aktentasche vor sich auf den Tisch aus, Briefe, Telegramme, Abrechnungen kamen zum Vorschein, und darunter ein vergessenes, blassblaues Blatt. Er führte es an die müden Augen und las mit zitternden Lippen:
„Mein kleiner Lockenkopf Laso!"
Dein Papa ist wirklich schlecht — er schreibt dir nicht und fährt nicht zu seinem Söhnchen. Aber sei deshalb nicht böse. Springe herum und fange deine Schmetterlinge... "
Nachdenklich drehte Wartanjan das Blatt in den Händen.
„Ja, Laso, mein kleines, flinkes Äffchen, spring' herum und fange Schmetterlinge. Ich muss heute noch einen Artikel schreiben." Er stieß einen Seufzer aus und beugte sich über den Tisch.
Und dann schrieb er den Leitartikel für die Fabrikszeitung: „Die wichtigste und entscheidende Aufgabe ist, die Energie der Arbeitermassen auszulösen und sie für den Kampf gegen die Mängel und Missstände in der Fabrik zu organisieren. Es verstehen, die Initiative der Massen zu wecken, sie auf die Überwindung der Schwierigkeiten im Leben der Fabrik zu lenken, jedem Bestreben, das sich in dieser Richtung äußert, die größte Aufmerksamkeit zu schenken — das ist die Pflicht eines jeden Kommunisten. Unsere Fabrik ist krank, und die beste Medizin für sie ist die schöpferische Kraft. Daran müssen alle denken, vom Direktor angefangen.
Sich nicht an den Schreibtischen hinter Stößen von Papier, in Sitzungen usw. vergraben! Sondern hinein in die Werkstätten, hören, was die Arbeiter sagen, von ihnen lernen .
Draußen weckte der kühle Morgenwind die Tannen, die leise schwankend ihre harten, stachligen Arme ausstreckten. Hinter dem Dach des Nachbarhauses stieg die Sonne empor. Wartanjan aber saß immer noch und schrieb, und die Feder hastete über das Papier, außerstande, die schnell voraneilenden Gedanken einzuholen.
„He, Andrjuschetschkin!" brüllte Trussow mit seinem mächtigen Bass. „Du sollst in der Pause ins Raikom kommen."
„Was ist da so Eiliges los?"
„Jedenfalls werden deine Verse besprochen", lachte Trussow neckend.
„Der ist unverbesserlich", ärgerte sich Andrjuschetschkin, dann aber dachte er bei sich: „Vielleicht ist es wirklich etwas, das mich persönlich angeht? In der Martinabteilung passiert doch jeden Tag etwas anderes. Nun wieder die Geschichte mit Platow."
Mit einem unruhigen Gefühl begab er sich ins Raikom — diese Extrasitzung schien unbedingt mit ihm persönlich etwas zu tun haben, und in Gedanken rechnete er nach, wie viel Versammlungen er abgehalten hatte, wieviel Mitglieder für die „Rote Hilfe", für „Osoaviachim" (Anm.: Gesellschaft zur Förderung den Luftschifffahrt und Chemie), für den „Kinderfreund" er geworben hatte — alle seine Verdienste führte er sich selbst vor Augen. Im Raikom setzte er sich in die hinterste Ecke neben Olga Pylajewa und hörte mit gerunzelten Brauen zu.
Wartanjan fasste sich kurz, wie stets. Er ließ die müden Blicke über die gespannten Gesichter gleiten und ging ohne Umschweife auf sein Thema los.
„Ich Habe heute diese außerordentliche Sitzung des Parteiaktivs einberufen, weil in der Fabrik nicht alles in Ordnung ist: wir arbeiten schlecht, wir liefern schlechte Lokomotiven. In der letzten Zeit ist besonders in der Martinabteilung die Atmosphäre sehr schwül geworden, ein Teil der Arbeiter ist schlecht gestimmt — der gestrige Angriff auf Platow ist charakteristisch: das Mißtrauen gegen die Spezialisten wächst; unter den Arbeitern laufen allerlei Gerüchte um; mit dem Bau der neuen Fabrik sind wir stecken geblieben... Was ist los?" Schweigend ließ Wartanjan seine Blicke über die Gesichter der Anwesenden schweifen, als erwartete er dort die Lösung des Rätsels zu finden.
„Ihr wisst alle, welche Rolle unsere Fabrik im Leben des Gebiets und in der Wirtschaft des gesamten Landes spielt: wir sind die proletarische Basis, von uns hängt die Arbeit des Transportwesens ab. Und was liefern wir? Hier — hört unsere ,Erfolge'." Wartanjan nahm ein Blatt Papier vom Tisch und begann zu lesen:
„Genossen! Im Namen der zweitausend Köpfe zählenden Versammlung der Eisenbahner des Kursker Depots wenden wir uns an Euch, die Leiter der Fabrik ,Krassny Proletari' mit einem flammenden Protest in bezug auf Eure Produktion. In unserem Depot stehen fünf Eurer Lokomotiven mit Defekten, die so schwer sind, dass sie aus den Reparaturwerkstätten überhaupt nicht herauskommen. Wir erwarten eine Antwort von den Arbeitern des ,Krassny Proletari' sowie eine Verbesserung der Qualität Eurer Lokomotiven. Ihr macht die Arbeit des Transportwesens im Lande zuschanden."
„Habt ihr gehört?" Langsam und deutlich wiederholte Wartanjan die letzten Worte: „Ihr macht die Arbeit des Transportwesens im Lande zuschanden."
Tiefste Stille. Nur das Papier raschelte unter Wartanjans Fingern.
Als erster ergriff Kortschenko das Wort. Er sprach wie immer langsam und knapp, und daher schien das, was er sagte, gewichtig und bedeutungsvoll.
„Das ist durchaus kein Wunder. Diese Lokomotiven wurden im vorigen Jahre hergestellt. Und ihr wisst, wie schlecht damals die Dinge in der Fabrik lagen. Jetzt können wir den Kursker Genossen voll aufrichtiger Überzeugung antworten: wir machen gute Lokomotiven. Wir hatten ungeheuerlichen Ausschuß am Guss; jetzt aber hat sich die Sachlage von Grund auf geändert. Hier die Zahlen: im Laufe des letzten Monats ist der Prozentsatz des Ausschusses von fünfzehn auf acht gesunken — und acht Prozent Ausschuß ist durchaus normal und unvermeidlich. Ist also da Grund zur Panik vorhanden? Durchaus nicht! Viel trauriger stehen die Dinge mit unserem Verhältnis zu den Spezialisten. Die ,Spezialistenfresserei' nimmt bei uns zu, und — was das Schlimmste ist — es finden sich sogar unter unseren Genossen solche, die sie unterstützen... Ich meine hier das Verhalten Platows, der Turtschaninow, unseren Technischen Direktor, ganz unverdienterweise beleidigt hat. Aber wer das Schwert aufhebt, der wird durch das Schwert umkommen — so hieß es ja wohl. Platow selbst hat gestern die ganze Gefährlichkeit dieser Waffe zu fühlen bekommen. Wir müssen die alten Spezialisten in Ehren halten... "
„Wir müssen die Arbeit Tausender von Arbeitern in Ehren halten!" klang eine junge Stimme, spröde und trocken wie Papier, aus der Ecke, und Wartanjan sah, wie Olgas zartes Gesicht einen erregten Ausdruck annahm; er musste lächeln. Kortschenkos Gesicht verfinsterte sich. „Ich werde auf diese Demagogie aus der Ecke dort hinten nicht eingehen. Lenin hat gesagt, dass wir den Sozialismus mit fremden Händen aufbauen werden... "
„Wir haben sechzehntausend Paar eigene Hände!" rief Andrjuschetschkin aufgeregt.
Das erregte Murmeln im Saal übertönte die Stimme Kortschenkos. Jusow, den Wartanjan ebenfalls aufgefordert hatte, der Sitzung beizuwohnen, schrieb hastig etwas in sein Notizbuch, dann trat er ans Telefon und sprach mit halber Stimme in den Apparat:
„Glasmann? Mit dem Umbruch der ersten Spalte wartet noch! Lasst Raum für eine Information über die Fabrik. Ich komme spät."
Er drängte sich zwischen den engen Stuhlreihen durch und nickte im Vorbeigehen Andrjuschetschkin gönnerhaft zu: „Na, du Querulant?" Andrjuschetschkin wandte sich ab.
Es waren stürmische Debatten zu erwarten. Im Saal herrschte fürchterlicher Lärm, irgend jemand schimpfte laut, der Tabakqualm wurde zusehends dicker. Wartanjan warf hin und wieder einen Blick nach Olgas Ecke hin; Andrjuschetschkin aber bezog diese Blicke auf sich, und er wunderte sich über das freundliche, aufmunternde Lächeln, das um die stets ernsten Lippen Wartanjans spielte. Olga fächelte mit einem Notizblock ihrem glühenden, erhitzten Gesicht Luft zu, dann kritzelte sie mit dem Bleistift irgend etwas auf den Block — sie bereitete sich darauf vor zu sprechen, und vor Erregung brannten ihre Wangen immer mehr.
„Genossen! Ich bin noch ein Neuling in der Fabrik, ich weiß noch nicht viel von ihr; aber in bezug auf die Ziffern, die Kortschenko hier vorgelesen hat, hege ich die stärksten Zweifel."
Alle verstummten.
Olga Pylajewa sah auf den Redner. Das gelbe Netzhemd, das die muskulösen Arme freiließ, die wie eine Bürste geschorenen Haare und das einfache Jungengesicht — alles das war nichts Auffälliges; der Redner unterschied sich in nichts von der Masse der im Saale anwesenden Arbeiter.
„Wer ist das?" wandte sich Olga an Andrjuschetschkin.
„Der neue stellvertretende Leiter der Martinabteilung. Einer von den ,roten Spezen'. Besinnst du dich nicht mehr auf den Former Senka?"
Prüfend betrachtete Olga Platow. „So sieht er also aus... " dachte sie. Und der „Chef" hatte von ihm erzählt: er ist im Ausland gewesen und liest Bücher in deutscher Sprache... So ganz gewöhnlich sah er aus...
„Ich bin der Meinung, dass die Fragen, die Wartanjan hier aufgeworfen hat, für das Schicksal unserer Fabrik entscheidend sind. In Moskau erwägt man bereits, ob der Neubau bei uns überhaupt einen Sinn hat — ich habe soeben einen Brief aus Moskau bekommen. Und das ist weiter kein Wunder. Leuten, die das in sie gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt haben, kann das Land keine neue mechanisierte Fabrik anvertrauen... "
„Was sind das für Anspielungen? Bitte etwas deutlicher!" rief Kortschenko, dessen Gesicht einen gespannten Ausdruck annahm.
„Ruhig, Kortschenko, stör' nicht!" Wartanjan klopfte mit dem Bleistift an das Wasserglas, das vor ihm stand.
„Ich spreche ohne alle ,Anspielungen', sondern sage klar und offen: die Fabrikleitung ist unfähig. Das kann man auch in der ,Prawda' lesen, in der ganz deutlich gesagt wird: die Qualität der Lokomotiven ist nach wie vor schlecht. Wovon spricht der Brief der Kursker Arbeiter? Von Ihrer ausgezeichneten Arbeit, Genosse Kortschenko! Das ganze System Ihrer Leitung, Genosse Kortschenko, ist derartig, dass nicht Sie, sondern die Turtschaninows, Kraiskis usw. die Leiter sind. Mir, einem jungen Spezialisten, wird das Arbeiten unmöglich gemacht. Gestern hat Kraiski eine Verfügung von mir aufgehoben. Ich bin zu Ihnen gekommen, Genosse Kortschenko, und was haben Sie mir gesagt? ,Kraiski — haben Sie gesagt — ist Ihr Vorgesetzter, und Sie haben sich ihm unterzuordnen'." „Wahrscheinlich war Ihre Verfügung falsch — jedenfalls hat er sie deshalb aufgehoben'', unterbrach ihn Kortschenko.
„,Jedenfalls'! Aber Sie haben sich nicht die Mühe genommen zu untersuchen, ob sie falsch war? Nein! Sie haben die Fabrik vollständig in die Hände der Spezialisten gelegt. Sie sind nicht Direktor, sondern..."
„Wartanjan! Mach' dieser Demagogie ein Ende!" Kortschenko konnte sich nicht länger beherrschen.
„Platow, bitte lass alles Persönliche aus dem Spiel. Sprich zur Sache", sagte Wartanjan.
Kortschenko sprang wieder auf.
„Die Art und Weise Platows ist ein deutlicher Beweis für die Gefahr, die in der Spezialistenfresserei liegt. Platow, selbst ein Ingenieur, klagt alle Spezialisten an. Das haben sie nicht verdient. Davon hast du dich ja gestern persönlich überzeugen können!"
Platow wartete ruhig ab, bis Kortschenko ausgesprochen
hatte.
„Werfen Sie mich hier nicht in einen Topf mit allen Ihren Ingenieuren, ich ... "
„Ach so, entschuldige — du bist ja was Besonderes! Du bist ja klüger als alle anderen!" Kortschenko konnte sich absolut nicht beruhigen.
Platow erblasste kaum merkbar, und seine kleinen schwarzen Augen begannen zu funkeln.
„Jawohl! Nennen Sie mich bitte nicht mit jenen in einem Atem. — Ich habe mir meine Ingenieurkenntnisse zu dem Zweck angeeignet, um diese anderen zu führen, sie zu überholen in bezug auf Technik und Sachkenntnis. Sie aber... " Kortschenko brach in lautes Gelächter aus. „Zu überholen! Du hast dich ja auf der Ingenieurversammlung mit deiner technischen Unkenntnis selbst blamiert und mich noch dazu mit blamiert! ,Die Ermüdung der Metalle ist dasselbe wie das Popenmärchen von der Sündigkeit der Menschen.' Zum Lachen!"
Kortschenko schüttelte sich vor Lachen, als sein Blick aber auf die Gesichter der im Saale Sitzenden fiel, verstummte er verlegen: alle sahen gespannt und ernst aus.
Platow schnellte wie eine Sprungfeder in die Höhe: „Jawohl — ich bin auch bereit, dies hier vor dem Genossen Jusow zu wiederholen, der so schädliche Vorträge noch popularisiert. Technisch können sie wohl begründet sein — aber ich bin nicht nur Techniker, sondern auch Kommunist, und ich bin der Meinung, dass jetzt, wo es gilt, die Fabrik zu retten, solche Theorien, wie die von der Ermüdung der Metalle, politisch schädlich sind. Und dumm sind!"
Verwundert blickte Jusow Platow an. Olga ließ kein Auge von diesem aufs äußerste gespannten, leidenschaftlichen Gesicht, das ihr noch vor einer Minute so grau und gewöhnlich erschienen war. Die Geradheit und Sicherheit des Tons, in dem Platow sprach, nahmen Olga gefangen — sie passten zu ihrer eigenen Stimmung.
„Richtig!" rief sie. „Wir brauchen keine Theorie, sondern Lokomotiven. Bei uns in der Fabrik aber stehen die Maschinen still."
„Ja, hol's der Teufel!" brummte Andrjuschetschkin.
„Und das sind die Knospen, die Früchte werden erst noch kommen... " verkündete Titytsch.
„Genossen!" Platow winkte mit der Hand, um den Lärm zu beschwichtigen. „Kortschenko hat hier darauf hingewiesen, dass ich selbst auch schon die Spezialistenfresserei zu spüren bekommen habe. Aber — wenn es sich auch komisch anhört: diese Spezialistenfresserei hat der Ingenieur Kraiski organisiert, der mich mit einer Atmosphäre des Misstrauens umgeben hat."
„Ein Arbeiter aber hat dich geschlagen und nicht Kraiski!" rief Kortschenko wieder dazwischen.
„Und warum gerade mich und nicht Kraiski? Was? Warum gerade mich? Antworten Sie mir!" schrie Platow, der nun auch die Selbstbeherrschung zu verlieren begann.
„Genossen! Ruhe! Ruhe!!" Kläglich und dünn klirrte das Glas unter dem Bleistift in Wartanjans Hand. Der Lärm, das Stühlescharren wurde immer stärker.
„Weil du persönliche Differenzen mit ihm hast!" rief Teleshkin etwas verspätet. „Ich habe diese Sache untersucht. Du hast ja sogar bei ihm gewohnt und bist noch dazu ein alter Freund von ihm."
Verblüfft blickte Platow auf Teleshkin; er hatte nicht erwartet, dass man seinem Konflikt mit Sergej den Charakter eines persönlichen Zerwürfnisses zuschreiben könnte. Alle im Saale waren still und lauschten aufmerksam.
„Das ist nicht wahr. Ich habe bei ihm gewohnt, das stimmt. Aber diese ganze Angelegenheit hat damit nichts zu tun, sie ist von allgemeiner Bedeutung."
„Das bestätige ich!" ließ sich Andrjuschetschkin vernehmen. „Ich kenne Wekschin, er ist ein Liederjan und Raufbold."
„Und ich weiß, dass Wekschin dir deine Frau abspenstig gemacht hat, und darum bist du wütend auf ihn!" unterbrach ihn Teleshkin boshaft. „Du möchtest ihm wohl den Hals umdrehen?"
Verwirrt schwieg Andrjuschetschkin. Dieser Ausfall Teleshkins traf ihn so unerwartet, dass er kein Wort der Erwiderung fand und mit offenem Mund dastand.
Er sah höchst komisch aus, so dass alle laut loslachten.
„Das hat Teleshkin ihm fein gegeben!"
Teleshkin reckte den langen Hals und sah sich mit einem zufriedenen Siegerlächeln um.
Die Stimmung der Anwesenden war mit einemmal umgeschlagen, und Kortschenko wusste diesen Moment geschickt auszunützen. Er sah das verwirrte Gesicht Platows, die schuldbewusste Miene Andrjuschetschkins, und begann zu sprechen. Er sprach darüber, dass die Versammlung irregeführt worden sei, dass es sich hier anscheinend viel mehr um persönliche Momente handle als um sachliche, er erinnerte daran, dass Platow früher einmal einen Zusammenstoß mit Kraiski gehabt habe und dass dieser sich nunmehr räche.
Platow und Andrjuschetschkin saßen verlegen und geschlagen da. Wie sollten sie der Versammlung erklären, was in Wirklichkeit geschehen war? Alles hatte sich zu einem wirren Knäuel geballt.
Schwang hier nicht ein Ton von Unruhe und Unsicherheit hinsichtlich Kortschenkos mit? Wartanjan war es bei den Worten Platows so vorgekommen, und er war froh gewesen, dass die Fabrikleitung von unten angegriffen wurde; das würde ihm die Ausführung seines Plans erleichtern: den Angriff auf die Seelenruhe Kortschenkos. Als er aber nun die entmutigten Gesichter Platows und Andrjuschetschkins sah, verlor er die Orientierung. Kortschenko aber zog indessen durch seine ruhige und überzeugende Rede die Versammlung auf seine Seite hinüber; er hatte sich wieder vollkommen in der Hand, nur die beleidigt herabgezogenen Mundwinkel verrieten seine innere Erregung.
Genau so hatte Wartanjan diesen Menschen damals bei den Frühlingsüberschwemmungen gesehen: die schwarzen Fluten zischten und brodelten und rissen alles weg, was sie auf ihrem Wege trafen, überschwemmten die teuren ausländischen Maschinen, schlugen mit den Baumstämmen, die sie mit sich führten, erbarmungslos auf sie ein und ruinierten sie; da beleuchtete das elektrische Licht grell die Augen Kortschenkos, der bis an die Brust im Wasser watete, gebeugt unter der Last der Metallbarren, die er herausschleppte, die Falten auf seiner Stirn sahen aus wie blutige Risse, als ob seine Haut vor Anstrengung
geplatzt wäre.
„Nein — dieser Mensch kann das Land nicht betrügen, er ist imstande, das Leben hinzugeben, wenn es die Partei braucht. Platow... der ist jung, temperamentvoll, selbstsicher. Wem geht das nicht so? Die Jugend ist imstande, am eigenen Feuer zu verbrennen... "
„Genossen! Wir kennen Kortschenko länger als nur einen Tag. Die Anschuldigungen, die Platow hier vorgebracht hat, sind zu ernst, als dass man sie ihm aufs Wort glauben könnte. Du hast viel Hitze und Temperament in dir, Platow. Deine Angriffe sind vielleicht von den besten Absichten diktiert, aber sie sind überflüssig. Du hast recht, wenn du zum Führer der Spezialisten werden willst, aber das muss man geschickt anfangen. Du musst gute Beziehungen zu den Leitern der Fabrik
herstellen... "
„Und zu den alten Spezialisten!" rief Kortschenko dazwischen.
„Ja — auch zu den alten Spezialisten."
Da rannte Platow zum Präsidiumstisch und schlug mit der Faust auf die Tischplatte:
„Zuerst werde ich mal mit ihnen kämpfen! Sie, Genosse Kortschenko, der Sie selbst nicht dazu imstande sind, die Fabrik zu leiten, Sie haben die alten Spezialisten mit einem grenzenlosen Vertrauen umgeben. Ich traue auch meinem Vorgesetzten Kraiski nicht!"
„Vielleicht sollen wir dich an Stelle von Kraiski zum Leitet der Abteilung ernennen?" fragte Kortschenko spöttisch lächelnd.
Platow kniff einen Moment die Augen zusammen:
„Wenn's nötig ist, bitte — ich weigere mich nicht. Meinetwegen morgen."
„Ich schließe mich dem Ingenieur Senka an, Genossen!" rief Andrjuschetschkin.
„Nun, wünscht noch jemand das Wort?"
„Ich habe schon lange ums Wort gebeten, Genosse Wartanjan."
„Ach richtig, Olga; bitte."
Mit Mühe zwängte sich Olga durch das heiße Gedränge der menschlichen Körper. Darüber, dass Wartanjan sie beim Vornamen genannt hatte, errötete sie heftig.
„Ich will noch folgendes sagen, Genossen. Hier hat jemand gesagt, dass die Arbeiter bei uns häufig die Maschinen zerbrechen. Ich aber sage, dass man bei uns häufig die Menschen zerbricht! Ich spreche hier von den Kindern. Damit weiß ich gut Bescheid, ich leite die Kinderbewegung in der Fabrik. Die Kinder werden zu Hause oft geschlagen... "
„Das gehört nicht zum Thema!" brummte Teleshkin.
„Schweig!"
„Halt's Maul!"
Und wieder schwoll der Lärm im Saal, der sich eben erst etwas gelegt hatte, hoch an.
„Lasst sie reden!"
Ärgerlich trommelte Wartanjan mit dem Bleistift ans Glas, und niemand merkte, dass es zersplittert zu Boden fiel.
„Es bezieht sich auf das Thema, Teleshkin. Und sogar sehr! Und es bezieht sich sogar direkt auf dich! Bezieht sich auf die Fabrik!" rief Olga leidenschaftlich. „Gestern hat ein Vater seinen Jungen, einen Pionier, am Fabrikeingang geohrfeigt. Heute hat man uns für die Zeitung eine Notiz über die Misshandlung eines Kindes in der Familie Nossow zugeschickt. Und niemand schenkt diesen Zuständen Aufmerksamkeit. Die Kinder helfen der Fabrik. Sogar sehr! Sie wollen arbeiten, aber die ältere Generation hat keine Zeit für sie übrig."
„Kürzer fassen, Olga", sagte Wartanjan freundlich, um die Ungeduld der Zuhörer zu dämpfen, obgleich er mit Vergnügen den warmen Worte der Pylajewa über die Kinder lauschte und dabei an seinen eigenen kleinen Laso dachte.
„Ich bin gleich am Ende... Auch Erwachsene werden bei uns unter die Räder geworfen. Ich weiß, was ich sage. Bei uns in der Fabrik wird die Arbeit gering eingeschätzt. Der Arbeiter will, dass man seine Arbeit schätzt, er opfert sich auf. Er ist vielleicht bereit sein Leben für die Fabrik hinzugeben. Wie viele Arbeiter sind im Bürgerkrieg umgekommen... " Ihre Stimme zitterte, und im Saal wurde es ganz still, man hörte die Blätter des Notizblocks in der Hand Olgas rascheln. „Gleich bin ich fertig, Genossen. Platow gebe ich vollkommen recht — er hat das Richtige gesagt. Mit den Ingenieuren ist bei uns nicht alles in Ordnung. Sie möchten die Arbeiter am liebsten mit Haut und Haar verschlucken. Bei uns in der Dreherei hat man einen Arbeiter ganz ungerechterweise entlassen, jetzt liegt er da und hungert..."
„Was heißt: hungert?" fuhr Wartanjan auf. „Hat er keine Mittel?"
„Er hat Geld und auch Brot und Fleisch, aber er hungert — wegen der Ungerechtigkeit, die man ihm angetan. Und dabei ist er ein guter Dreher ... "
Wartanjan blickte zu Teleshkin hinüber:
„Bist du bei ihm in der Wohnung gewesen?"
Teleshkin senkte mit schlechtem Gewissen den Blick:
„Ich werde morgen hingehen... Ich bin nicht dazu gekommen."
Der Bleistift in Wartanjans Hand brach knirschend mitten durch.
Jusow trat ans Telefon:
„Glasmann? Machen Sie den Umbruch der ersten Spalte fertig! Den zweiten Teil des Artikels über die Ermüdung der Metalle lassen Sie nicht weiter setzen. Als Leitartikel bringen Sie den Artikel aus der ,Prawda'. Über die Fabrik..."
Als sie das Raikom verließen und den Fabrikhof betraten, hatten alle von der erregten Auseinandersetzung erhitzte Gesichter, nur Wartanjans matte Wangen waren noch bleicher, und seine Augen lagen noch tiefer als sonst.
Kortschenko, bemüht, die Eindrücke der Versammlung möglichst zu verwischen, forderte Wartanjan und Jusow auf, sich die neue Turbine anzusehen. Wartanjan fasste Platow unter den Arm, und beide gingen hinter den andern her durch das Metalllager.
Links liegen graue Stahlplatten hoch aufgeschichtet; rechts schimmert rotgelbes Kupfer, in dem sich matt die Sonnenstrahlen spiegeln; zu einer ungeheuren Pyramide aufgespeichert liegen Kirchenglocken da, die vor stiller Wut grün angelaufen sind und ihre verrosteten Zungen herausstrecken. Sie bilden einen Teil der Metallvorräte der Fabrik. Schwer und tot lasten die dickwangigen Ungeheuer auf dem Boden, die Ränder zum Teil im Sande vergraben. Mit ihren lauten kupfernen Stimmen riefen sie einst die Menschen in die Kirche; breit flossen ihre Klänge über Wiesen und Felder, flößten den Menschen den Glauben ein an die Unerschütterlichkeit der von den Jahrhunderten eingerammten Grundfesten des Lebens; und wenn die Menschen die Stimmen des fetten Kupfers über ihren eigenen Feldern, ihren moosbewachsenen Dächern vernahmen, dann gingen sie ohne Eile, mit stillen, hoffnungslosen Schritten, ihre Erbitterung und die unklaren Gedanken, die in ihnen wogten, unterdrückend, zu den finsteren Ikonen in der Ecke. In diesem Kupferhaufen liegen auch kleine Glöckchen herum, die plapperten einstmals hastig und lustig drauf los, mit durchdringend hellem Klang, sie begleiteten mit ihrem sorglosen Geschwätz blumengeschmückte Wagen hinter schlanken Rennern, die Wolken undurchdringlichen Staubs aufwirbelten, während die Menschen, trunken von seltenen Gelagen, grölten und herumsprangen. Dagegen konnten die melancholischen Messglocken mit ihrem breiten Bass nicht aufkommen: sie kläfften heiser durch die Fastenzeit und hüllten die Seele der Menschen in Kummer.
Ihre kupfernen Stimmen klangen streng und richtend: sie erinnerten die Gläubigen an den Sündenfall der Menschen, sie löschten alles widerspenstige Nachdenken über die Ursachen der Unvollkommenheit und Ungeheuerlichkeit dieses verfluchten Lebens, das die Menschen zu Verbrechen zwingt; sie flößten den Menschen Entsagung ein, damit sie sich der jahrhundertealten Ordnung unterwarfen, und die Armen, zu Boden gedrückt von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, stammelten heuchlerische Beichten, dass sie Holz gestohlen im Walde, dass sie Ehebruch getrieben mit des Nächsten Weib, dass sie Wechsel ausgestellt, die den Partner ruinierten; aber am Tage darauf, da logen, betrogen und stahlen sie von neuem. Und manchmal weckte mitten in dunkler Nacht die Messglocke das Dorf mit lautem, aufgeregtem Schrei, und wahnsinnig vor Angst stürzten sich die Menschen im grellen Schein der Feuersbrunst auf die armselige Habe, um sie zu retten, sie suchten das Feuer, das rasende Element, mit einem Schöpflöffel Wasser zu besänftigen, sie beteten, schrieen wie Besessene, schimpften, fluchten und kamen um, besiegt von dem wilden Element des Feuers, dem sie schutzlos preisgegeben, und dem heuchlerischen Kupfer der Glocken. Und es gab auch Tage, an denen die Glocken die rasenden Massen zusammenriefen, die sich mit Sensen, Heugabeln und Äxten bewaffnet hatten, und wieder flammte der Himmel im Feuerschein, diesmal aber zogen die Menschen zum Sturm auf die stolzen Paläste mit ihren dickbäuchigen Marmorsäulen, zum Sturm auf die jahrhundertealte Ordnung ihres elenden Hungerdaseins. Am nächsten Tage rief dann dieselbe Glocke wieder und besänftigte die Menschen durch den Gedanken an den Tod, denn nun begleitete sie die Leichen derer, die ihre Widerspenstigkeit mit dem Tode bezahlt hatten, und mit krächzender Stimme befestigte sie heute wieder die Grundfesten der Ordnung, an denen sie gestern gerüttelt hatte.
Nun schweigen sie. Zum letzten Mal werden sie ihre Stimme erheben, wenn sie der unerbittliche Rammbär in Stücke reißt und sie als kupferne Lagerschalen in die Maschine wandern, in die Lokomotive oder in die Turbine, wo sie elektrischen Strom erzeugen werden.
Nachdenklich entzifferte Wartanjan die verschnörkelte Inschrift, die sich um eine Glocke ringelte.
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Gestiftet von dem Kaufmann zweiter Gilde Panuli Chrisanfow, für das Dorf Saussailowo, im Jahre des Heils eintausendachthundertneunzig, im Monat Januar."
Jusow blickte aufmerksam auf den Haufen Glocken und schrieb im Gehen eilig in sein Notizbuch :
„Glocken... sie erinnern an die Apotheose Wereschtschagins... Die alte Welt wird heute in den Martinöfen geschmolzen, umgegossen zum Sozialismus. Das ist übrigens eine Idee: man muss eine Kampagne für das Abnehmen der Glocken im ganzen Distrikt beginnen!"
Auf einmal sahen alle ein sonderbares Bild: aus dem Haufen alter Glocken ragten ein paar Beine in gestreiften Hosen hervor, die krampfhaft zappelten — es sah aus, als ob hier ein Mensch umkäme, erdrückt von der stummen Last des Kupfers. Platow griff nach den Hosenbeinen und versuchte sie hochzuziehen.
„Na, mach' mal, dass du da rauskommst, mein Lieber!"
„Weg — zum Teufel! Stör' mich nicht!" antwortete eine wütende Stimme.
Aber Platow ließ nicht locker, er zog die gestreiften Beine zu sich heran. Da rissen plötzlich die Hosen, der darin stak, sprang mit wutverzerrtem Gesicht hoch und öffnete den Mund zu einem empörten Schrei; als er aber Jusows ansichtig wurde, fiel sein Schrei bedeutend sanfter aus.
„Ach — ihr habt mir alles verdorben!" sagte er ärgerlich und spuckte aus.
„Sinkin! Was machst du denn hier?" rief Jusow, als er seinen Fotografen erkannte.
Sinkin klopfte den Dreck von den Hosen und machte nur eine verächtliche Handbewegung.
„Genosse Jusow, dieser unzivilisierte Kerl da hat mir meine letzte Platte verdorben... Ich hatte gerade ein so interessantes Rakurs auf der Linse — verstehen Sie, ich war gerade bereit zum Knipsen — das ist doch ein ausgezeichnetes Motiv: diese Riesenglocke da von innen und dazu die Unterschrift: „Ohne Stimme". Direkt originell! Und in solchem Moment kriegt mich der da zu packen!"
Wartanjan konnte nicht an sich halten und brach in stürmisches Gelächter aus, das sein Gesicht sonderbar verjüngte; wie ein Schuljunge stand er da und klatschte in die Hände.
„Bravo, Jusow. Dein Sinkin ist einfach kostbar!"
Auch Kortschenko sah man an, dass er gleich losplatzen würde, da kam ihm jedoch Platow vor die Augen, und sein Gesicht verfinsterte sich.
„Was ist das: ,Rakurs', Jusow?" fragte Wartanjan und wischte sich die Lachtränen ab.
Sinkin trat zu ihm heran.
„Sie wissen nicht, was das ist? Das ist der fotografische Gesichtswinkel. Ich werde es Ihnen gleich erklären. Stellen wir uns einmal vor, der Laternenanzünder steht auf der Leiter und steckt die Laterne an, ich liege auf dem Bauch und knipse. Dann erscheint der Gegenstand, das heißt, Sie verstehen, der Laternenanzünder, auf dem Bild wie ein Mensch, der auf einen Wolkenkratzer hinaufklettert. Das verleiht dem Motiv Originalität... Rauch! Rauch", brüllte Sinkin plötzlich, stürmte wie ein Besessener davon und war gleich darauf verschwunden.
„Ach, Jusow, ich kann nicht mehr! Ich habe schon Bauchschmerzen! Was für Rauch denn?" stöhnte Wartanjan, der sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten konnte.
„Das ist ein ausgezeichneter Fotograf, Wartanjan", sagte Jusow voller Begeisterung. „Er holt dir ein Motiv vom Meeresgrund, wenn du es brauchst, verstehst du? Einfach unersetzlich. Einmal..."
Aber in diesem Moment erschien Sinkin wieder auf der Bildfläche. Er stellte in fieberhafter Eile sein Stativ auf, schraubte an seinem Apparat herum und verschwand mit dem Kopf unter dem schwarzen Tuch, wobei er die Beine weit auseinanderspreizte und den Hintern mit dem geflickten Hosenboden herausstreckte. Er stellte den Apparat auf die hohen Schlote der Martinöfen ein, aus denen dicke nachtschwarze Rauchwolken zum Himmel emporqualmten.
„Genosse Jusow! Eine Minute... Ich habe noch zwei Platten da... Sehen Sie nur, ein wunderbares Motiv! Ausgezeichnet! Eine Sekunde..."
Kortschenko schaute mit selbstgefälligem Lächeln Wartanjan an, wobei er Platow mit einem schiefen Blick streifte.
„Genosse Jusow! Schauen Sie bloß auf die Mattscheibe! Wirklich sehr originell! Dieses Bild wird die Macht der Arbeit ausstrahlen... Rauchende Schlote, als Symbol des nahenden Sozialismus."
Auch Jusow verschwand unter dem schwarzen Tuch.
„Ja, tatsächlich gut... Dieses Bild bringen wir auf der ersten Seite... zum Bericht an das Plenum des Okruschkom. Du bist ein Mordskerl, Sinkin! Wirklich, Genossen, ganz ausgezeichnet. Guckt mal, wie die Sonne durch den Rauch hindurch will und wie ihre Strahlen die dicken Wolken nicht durchbrechen können. Genosse Platow, tun Sie mal einen Blick durchs Objektiv. Kortschenko! Wartanjan!"
Kortschenko und Wartanjan steckten einer nach dem andern den Kopf unter das schwarze Tuch, um das „Symbol des Sozialismus" zu betrachten.
Nur Platow rührte sich nicht und sah mit gerunzelten Brauen auf den Apparat.
„Was heißt denn Objektiv, Sinkin, und warum stehen die Schornsteine Kopf?" scherzte Wartanjan heiter.
Sinkin streckte gewichtig den rechten Zeigefinger in die Höhe.
„Das heißt — der objektive Gesichtspunkt... der Gesichtspunkt des Objektiven. Der Gegenstand, das heißt, der Mensch z. B. steht auf den Beinen, wenn Sie durchs Objektiv sehen, dann scheint alles umgekehrt, die Beine nach oben. Das ist ein technisches Gesetz der Fotografie."
„Was für ein Asiatentum!" schimpfte Platow. Er kümmerte sich nicht weiter um die anderen und lief zum Martinwerk hinüber.
„Was ist denn mit dem los! Der spielt hier den Neunmalklugen... " brummte Kortschenko „Das kommt daher, weil er im Ausland gewesen ist, die ,Ingenieur'würde hat ihm den Kopf verdreht... Den muss man mal erst zur Vernunft bringen."
Schweigend gingen sie aufs Martinwerk zu. Aus dem Generatorhaus kam ihnen langsamen und ruhigen Schritts Platow entgegen,
„Was ist passiert?" fragte Jusow ironisch.
„Wie gewöhnlich ist vergessen worden, für regelmäßige Beschickung der Feuerungen zu sorgen. Die Folge davon ist, dass der Brennstoff nicht vollkommen verbrennt und tonnenweise zum Schornstein hinausfliegt. Da haben Ihnen durchs Objektiv die schwarzen Rauchwolken so gut gefallen... Dieser schwarze, dicke Rauch ist unverbrannte Kohle, das schwarze Gold fliegt hier ungenutzt zum Schornstein hinaus. Und ihr steht dabei und freut euch und faselt von ,Rakursen' und vom ,objektiven Gesichtspunkt'! Schönes ,Symbol des Sozialismus'!" Platow machte kurz kehrt und verschwand in dem schwarzen Loch, das den Eingang zum Generatorhaus bildete.
Kortschenko wurde über und über rot und eilte in die Elektroschweißerei. Jusow verzog ironisch die Lippen und ging neben Wartanjan weiter.
„Der hat nicht das geringste ästhetische Gefühl. Er ist imstande, das Schönste und Beste mit seinen technischen Regeln zu erdrücken. Das ist diese amerikanische Geschäftigkeit unter der Maske des sozialistischen Aufbaus."
Jusow sprach davon, dass solche Leute wie Platow bereit seien, das Gefühl für das Schöne in den Müllkasten zu werfen, dass darin eine große Gefahr für den Sozialismus liege, der mit einer Blüte der Kunst und mit der Vervollkommnung der menschlichen Gefühle verbunden sei.
Wartanjan schaute sich um.
Aus den vier hohen, mit Eisenringen verstärkten Schornsteinen der Martinöfen stieg jetzt feiner, durchsichtiger Rauch auf, der sich sofort in der Luft auflöste, wie der leichte Atem eines gesunden Menschen bei starkem, erfrischendem Frost.
Wartanjan blickte Jusow an und lächelte, wie ein Mensch lächelt, der im Spiegel sein eigenes besudeltes, lächerliches Gesicht sieht... |
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