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Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
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Ruhr
(Zur Erinnerung geschrieben)

Früher ist das alles einmal Lust gewesen, die grüne Weite und das Wolkenspiel, das in wunderlichem Geflecht am Himmel zerrinnt, ein singender Vogel und der taumelnde bunte Falter über den Büschen und Beeten. Lust ist es gewesen. Das Auge des Gefangenen zielt in jene Sichtbarkeit, die ihn in Gedanken begleitet. Er sucht die Freiheit, stößt in die Vergangenheit. Doch anders brennt die Sonne dem Häftling ins Gesicht, anders riecht die Erde, anders ist der Regenbogen, der seine Farbenbrücke schlägt.
Auf allen vieren schiebe ich mich durch die Wege eines Hausgartens. Zwischen Kresse, Zwiebel-, Mohrrüben- und Rettichbeeten schleiche ich hin und zupfe Unkraut, das hier in großer Fülle auftritt und hinterlistig und gefährlich all dem nahrhaften Gewächs des Lagerkommandanten den Platz an der Sonne streitig macht. Aber ich bin kein großer Gärtner mit Kannen und Harken und Parkplänen im Kopf. Die Ruhr hat mich gepackt! Wohl wurde vom Arzt das Wasser untersucht und festgestellt, dass es weder Trink- noch Kochwasser für den menschlichen Gebrauch sei, doch daraus macht sich der Lagerkommandant von Neuengamme nichts.
Nun hat es mich umgehauen, wie es schon manchen Kumpel erraffte. Schlaff sind nicht nur Beine und Hände, schlaff werden auch die Augen und die Wünsche nach Leben, wenn die Krankheit entscheidet. Seit acht Tagen schlucke ich Kohle, wenn der Magen
rebelliert. Ich weiß nicht, wie viel Holz der Kamerad Dachdecker schon abgebrannt und in mich hineingestopft hat. Ich weiß nur, dass mir seine Priemtüte besser schmeckt, aber er zwingt mich immer dringlicher an seinen Holzvorrat. Was soll all die Erkenntnis der kleinen Lebensmöglichkeiten, wenn man fühlt, es geht zu Ende. Das strömende Wunder des Blutes mit seinem Zauber an Kraft, das mich schuf und erhielt, flieht aus mir und macht mich in Kürze zum Abfallhaufen. Während ich von Erdbeerpflanze zu Erdbeerpflanze krieche, sterbe ich eines mehrfachen, schmerzhaften Todes. Zementtüten sind in die Hose eingelegt. Ich bin wund von Blut und Schleim. Der feuchte Zementrest brennt an dem Gesäß, und die Läuse fressen sich voll und plagen mich mit Juckreiz. Sollten dabei Blumen und Pflanzen, Vogel und pelzige Raupe mit all ihren Farb- und Lebenswundern meinem Dasein etwas Gewicht verleihen? Zweifel und Hoffnung stellen Fragen.
Seit fünf Wochen kommt von zu Hause keine Post, als sei man sich auch dort schon klar, dass ich nun bald die große Reise durch den Schornstein antreten werde. Furcht wäre lächerlich, hat man doch so viele Kumpel über den Schultern auf den gleichen Weg getragen. Diese Möglichkeit steht für jeden jede Minute fest, damit rechnet er. Bald ist es Sehnsucht, bald zorniges Grausen, man sucht durch Optimismus die Tatsachen zu fälschen und zu verwandeln, um sich auf Umwegen ins Leben zu schleichen, aber auf den Griff des dürren Rippenmannes bleibt man gefasst. Unsagbare Schmerzen kommen und gehen, ungesäubert krieche ich, elender als der erbärmlichste Wurm, den Scharführern aus den Augen, denn den freien Tag gönne ich ihnen nicht, den sie an meiner Haut verdienen wollen.
Auch die Kumpel wollen mich nicht missen. Die Guten stützen mich auf dem Marsch vom Arbeitsplatz zum Lager. Sie leisten mir Hilfe beim Appell und halten mich mit ihren Schultern in der Reihe fest, wenn ich wanke und der Schmerz den Körper zur Erde reißen will. Sie verstecken mich im Gemüsegarten, füllen Holzkohle in den geplagten Magen, machen ein Flöz aus ihm und warten, dass die Ruhe auch Krafterneuerung bringen wird.
Es tut mir leid, dass ich ihnen soviel Mühe mache. Sie aber meinen, es sei eine Schande zu glauben, mit neunzig Pfund ließe sich's nicht mehr leben.
Aber ich weiß genau, wie Atze Hilbrich zugrunde ging, und Atze war ein Kerl von hundertachtzig Pfund. Auch er hat geduldig gewartet, dass wir den Stacheldraht einst bezwingen, ihn zerfetzen von innen und außen. Er lebte und bebte in den Vorstellungen um diesen Tag und flüsterte voll Ehrfurcht von der Reise, die uns in die Heimat führte, an die Tür der Wohnung, die der gekrümmte Fingerknöchel beklopfte, damit sie sich mit aller Vertrautheit öffne für den Verdammten.
Atze wurde noch wahnsinnig vor dem Ende und verteidigte den Kehricht, die leeren Konservendosen und Sirupbüchsen der Posten, solange sie sich die Zeit mit ihm vertreiben wollten in dieser Umgebung von
Elend. Sie sind ja in allen Lagerschrecken bewandert und können jetzt mit ihren Händen foltern oder Henkerdienste leisten und mit diesen selben Händen ein Mädchen umarmen und sich die Freiheit dafür mit einem raschen Schuss in den Häftlingsrücken einhandeln. Atze hatte kein Glück mit einer schnellen Erlösung. Es waren keine Mädchen am Zaun und auch allgemeine Urlaubssperre. Alle Schmutzigen und Niedrigen umschwirrten ihn daher wie Fliegen, stießen, höhnten, reizten ihn und bewarfen den Wimmernden mit Staub und Steinen. Sein Geist war ja tot, doch noch fühlte sein Leib, und er besaß noch die wechselnd flehende, ängstliche, müde und gereizte Stimme, um den Angriff erschöpft und bitter zu quittieren. Atze kroch zum Abflussgraben, als ihn der Nebel des Staubes verhüllte und der Sand ihm Augen und Nase verschloss. Als die Schuhspitzen der Posten in Ruhe gingen und sich die Wolke legte, war Atze im Graben ertrunken. Und wie werde ich verenden? In die Revierstube werde ich nicht aufgenommen. Mit Hilfe meiner Kumpel überstehe ich wieder den Marsch von der Arbeitsstelle ins Häftlingslager. Die Klotzpantinen quirlen den Staub der Landstraße hoch, wir marschieren in erstickender Dreckwolke und singen, singen, dass die Scheiben im Dorfe klirren, als sei unser Leben eine Lustigkeit, und die Arbeit hätte uns erst so recht flott gemacht, als müsste uns eine Welt beneiden, so singen wir.
Beim Appell erreicht mich der Befehl, sofort die
Schreibstube aufzusuchen. Sicher droht eine Lagerstrafe, da ein Posten meine Nummer notierte, als ich wie ein Wurm zwischen den Beeten hinkroch.
Und da stehe ich nun in der Schreibstube, Mütze und Hände an der Hosennaht, stehe und bin ein Licht, ein steifer Pfahl, und versuche die Situation zu erfassen, als mich schon die Fäuste der Scharführer treffen, die schweren Stiefel zutreten und hämmern und der heiße Rachen des Wachhundes nach mir schnappt. Doch das Tier hat nicht dieselbe tückische Seele wie die Männer, die es hetzen. Sein Biss bleibt ein Spiel. Der Hund übt Zurückhaltung, ohne mich zu kennen. Wenn ihn auch Befehl um Befehl erreicht, ihn anstachelt, aufreizt und Zeichen des Zornes mit den Marschstiefeln gegen seine Flanken prasseln, das Tier kommt zu keinem anderen Entschluss, als mich mit seinem Leib zu decken, während es scharf und herausfordernd bellt.
Dann reißen sie mich hoch an den Schreibtisch und führen die Hand zur Unterschrift, Marken und Briefbogen empfangen zu haben. Seit fünf Wochen ist uns das vorenthalten worden, und die Anfrage aus der Heimat beantworten sie mit dieser Orgie des Hasses und der Wut. Sie sparen nicht mit volltönenden Kraftausdrücken, sie spucken auf die Erde und scharren mit den Füßen darüber. Nur der Hund verhält sich still und ist unter den Tisch gegangen, um mich von dort sacht mit seiner kühlen Nase zu berühren.
Ich fühle, wie mir das Blut aus dem Munde läuft. Für den Schmerz fehlt jede Empfindung. Und während
die Hand dann die Zeile schreibt: „Mir geht es gut, bin gesund und munter", weiß ich noch nicht, dass mich diese Zeile fünf Zähne kostet.
Vor der Schreibstube lauern die Kumpel und fangen mich auf. Sie lächeln, die guten Kerle, sie greifen nach dem welken Leben und legen mich auf dem verlausten Strohsack zurecht, während ich sie den Kehrreim summen höre: „Uns geht die Sonne nicht unter!"

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