Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Kurt Huhn - Solange das Herz schlägt (1950)
http://nemesis.marxists.org

Hansen

Die Sonne war schon tief gesunken. Der Himmel fahlte langsam aus. Rote Lichtwellen schimmerten und flimmerten dicht über dem flachen Wiesen- und Ackerland. Ein verspieltes Kiebitzpaar jagte sich. Die Posten in den Türmen lösten sich ab.
Ich saß vor der Baracke und starrte in das Farbspiel, das sein Rot immer mehr vertiefte und mich innerlich lebhafter machte. Wie ein Wald aus Fahnen und Transparenten beim Aufmarsch flammte das Licht.
Den ganzen Tag über hatte ich Zementsäcke geschleppt. Die Lastwagen kamen in so kurzen Abständen, dass die Arbeit selbst für geübte Abträger nicht mehr zumutbar war. Der Arbeitstag dauerte zwölf Stunden.
Wir Ablader huckten uns den Zement in die Nacken und trugen ihn in den Schuppen. Dabei ging es über drei schwankende, feuchte Bretter, die über Rieselgräben lagen. Am Lastwagen lauerte ein blutjunger Arbeitsdienstführer und im Schuppen feuerte uns der kommandoführende Kapo an. Pausenlos schleppten wir in flottem Gang und trabten im Laufschritt den Weg zurück. Verlangsamten wir das Tempo, dann zog uns hier der Kapo seinen Prügel über den Rücken, dort der Arbeitsdienstführer.
Über dem Wiesenland tanzten die ersten Falter, das junge Grün duftete, die Gräser und Kräuter, Stauden und Dornbüsche würzten die Luft. Vögel lockten und schwirrten. Durch die Gräben zogen in eifrigem Pendelschwung die Rudel der Kaulquappen.
Der Arbeitsdienstführer pfiff nach der Lilli Marleen. Aber bis Hamburg unter die rote Laterne war sein Weg noch weit. Er pfiff und pfiff. Zuerst schmalzig, dann immer forscher. Als seine verwilderte Leidenschaft ihn quälte, hieb er mit wütenden Fäusten auf uns ein. Wir ergriffen hastig die Zementsäcke, während er schlug, wohin er traf. Gedankenlos verrichtete er die Grausamkeit seines Handwerks. Mit wiehernder Jünglingsstimme rief er uns seine Verachtung nach.
Der Bussard schrie. Die Sonne lag auf der Erde und die Erde ließ das hellgrüne Gras sprießen. Wir beugten die Rücken unter der Last und schwiegen. Schweiß und Zementstaub mischten sich im Nacken. Beide fraßen wie Schmirgel auf der Haut. Die Schmerzen der Stockhiebe und der Last, die uns fast besinnungslos machten, nahmen wir still hin und erschütterten allmählich den Machtdünkel unseres politischen Erziehers. Unserem Schweigen war er auf die Dauer nicht gewachsen. Nach einigen ordinären Ausdrücken und zornigen Drohungen, jeden auf besondere Art ins Jenseits zu befördern, hockte er sich auf einen Feldstein. Wir atmeten schwer. Die Beine zitterten. Wir strengten uns an, ohne Sturz über die schwankenden Bretter zu kommen. Er hätte uns im Graben ertränkt wie junge Katzen, wenn ein Sack Zement verlorengegangen wäre.
Die Lastwagen kamen in längeren Abständen. Wir schleppten im gleichen Tempo wie bisher. In der Zwischenzeit sammelten wir Holzabschnitte, die vom Barackenbau umherlagen. Der Arbeitsdienstführer rauchte eine Zigarette. Er tat es ohne Genuss. Er blickte stumpfsinnig und gelangweilt in die Gegend. Dann vergaß er auch das und beschäftigte sich mit seinen Stiefelspitzen. Dabei grünte und blühte es doch auf der Erde. Von Stunde zu Stunde verschwanden die kahlen Stellen im Boden, als webten die Sonnenstrahlen einen Teppich. Feldspatzenschwärme zogen hin und her. Ach, es gab viel, woran sich ein Mensch begeistern konnte. Es bot sich mit Farben und Stimmen an. Mit weichen und jubelnden Tönen erfüllte es die Höhe, mit zartesten Farben trieb der Wildwuchs aus der Tiefe.
Der Lagerläufer kam in eiligen Sprüngen herbei. Er überbrachte dem Arbeitsdienstführer eine Meldung. Dann rief er mich an und wir rannten los. Ich wollte wissen, wohin wir liefen. Er antwortete jedoch nicht. Da blieb ich etwas hinter ihm zurück. Schließlich kamen wir an einem niedrigen Steingebäude an. Mir wurde unbehaglich, ja unheimlich, aber Zeit zu Überlegungen verblieb mir nicht. Der Läufer verschwand in dem Gebäude und ich hatte ihm zu folgen. Obwohl sich mein Leben völlig verändert hatte und jede Sekunde eine neue Unerträglichkeit brachte, die über Geist oder Körper zerstörend herfiel, die streng geübte Selbstzucht, allem Leid mit größter Gelassenheit, Trotz und Verachtung zu begegnen, hatte doch immer wieder Erschütterungen zu bestehen.
Ich betrat den Raum und war sofort an das Vergängliche erinnert. Die Stille und das Halbdunkel griffen an mein Herz. Es schlug nur träge. Ich roch eine beizende, chemische Flüssigkeit, doch konnte sie den Geruch des Todes nicht zurückdämmen, der den Raum stärker durchzog. Draußen war rohe menschliche Wildheit, hier innen war Stille und Dämmerung zwischen den steinernen Wänden. Kein Harmonium spielte, keine Blumen welkten, ich witterte gehobelte Bretter und grobe Späne und die Vergänglichkeit des Fleisches. Der Verwesungsgeruch kam aus dem düsteren Hintergrund, wo einige Häftlinge lautlos hantierten. Der Scharführer ließ mich stehen. Seine Stirn bekam Runzeln. Ich wunderte mich, dass er mir keinen Stoß versetzte. Ich lockerte meine vorschriftsmäßig steife Haltung. Der Scharführer legte sich einen Gazestreifen auf Mund und Nase. Er stahl sich hinaus, an die frische Luft.
Da befreite mich das Erscheinen des Fremdenlegionärs aus der Spannung. Er holte mich von einem fernen Trabanten auf die Erde zurück. Er war mir oft etwas behilflich, mir leichtere Arbeit zu übertragen. Nun sah er mich mit eisernem Blick an.
In der Legion hatte es der ehemalige erwerbslose Saarländer bis zum Offizier gebracht. Frau und Kinder lebten in Paris. Da er nicht schreiben durfte, hatten sie keine Ahnung, wo er sich befand. Hitler hatte an alle ehemaligen Saarländer appelliert, zur Abstimmung in die Heimat zu kommen. Kostenlose Reise und sicheres Geleit wurden ihnen zugesichert. Wohin das Vertrauen zu jenen Versprechungen führte, erlebte der Legionär nun täglich mit. Er fing an zu denken. Leben oder Untergang. Er hasste nun die organisierte Gewalt, die ihn mit Lügen in das Geburtsland gelockt hatte, ihn darauf jedoch des Vaterlandsverrats beschuldigte und der Freiheit beraubte. Malariaanfälle machten ihn als Vorarbeiter oft zum Wolf unter SS-Wölfen, hart, wütend, nach selbst durchlittener Seelennot und körperlicher Pein, doch ließ er sich von mir, wenn auch unwillig in derartigen Situationen, bändigen.
Jetzt nahm er mich gerührt am Arm und führte mich in den Hintergrund des Raumes an einen offenen Sarg. Fünf waren mit ihren miserabel gebeizten Deckeln verschlossen. Wie mit der gleichen Beize überzogen, lag eine Gestalt vor mir. Der Legionär zündete zwei Kerzenstummel an und ich erkannte Hansen unter Papierservietten und ersten Wiesenblumen.
Der Sturmführer hatte Geburtstag gefeiert. Servietten und Kerzenreste kamen von seinem Tisch. Der Legionär hatte sie für den toten Kumpel an sich genommen. Es würde ihm als Diebstahl ausgelegt werden. Das konnte für ihn Auspeitschung bedeuten, den Verlust des roten Winkels oder ein unter Marschstiefeln zertrampeltes neues Opfer. Der Legionär wusste das besser als ich.
Hansen war keineswegs sein Freund. Der Legionär ärgerte sich immer, wenn ich mit Hansen ausdauernd debattierte. Er geriet in Zorn, wenn Hansen auf dem Weg zur Erkenntnis viele Einwände machte. Er sympathisierte mit den Sozialdemokraten. In seinem Hirn waren viel Irrtümer hängengeblieben. Er versuchte jedoch zur Wahrheit durchzukommen. Also entstand unser politischer Zirkel. Die braune Staatsmaschine wollte uns stupide machen. Sie war der Meinung, dass sich die Arbeiterklasse hinter dem elektrischen Draht selbst auffraß. Es ging anders aus. Der Verstand ließ sich nicht einsperren, er organisierte die Solidarität.
Hansen hatte keine Fahne gekauft, keine Plaketten, keine Zeitungen der Faschisten. Als der Sohn des Amtswalters die älteste Hansentochter nicht gefügig bekam, schlug er sie zusammen und erreichte sein Ziel bei der Ohnmächtigen. Hansen machte Anzeige. Doch die Gestapo schenkte den gut vorbereiteten Aussagen des Amtswalters Glauben und nicht dem Mann, der weder Zeitungen, Plaketten noch Fahnen kaufte.
Hansen kam ins Lager. Wenn wir uns nach der Plackerei übermüdet auf die Strohsäcke fallen ließen, verhielten wir uns eine kurze Zeit ganz still und entspannten Muskel und Schädel. Wir lagen weit voneinander entfernt. Manchmal musste mir Hansen aus innerem Drang von seinen Töchtern erzählen. Dann leuchteten seine Augen vor Stolz. Er zauberte sie in die Baracke hinein, und das Geschrei um uns schwieg, der Gestank verflog, die zerfetzte Häftlingskleidung verschwand und die drei blühenden Schönheiten lächelten in die Grausamkeit der verhassten Gefangenschaft.
Vor drei Wochen fand ich nach dem Abendappell seinen Strohsack leer. Gestorben und begraben, unaufhaltsam folgte dieser und jener, verhungert, ertränkt, erschossen. Nun lag er vor mir, seine knochige Blöße mit gestohlenen Papierservietten bedeckt, Verwesung verbreitend.
Ach, wie hatten seine Augen gestrahlt, wenn sein Mund der Mutter seiner hübschen Töchter den innigsten Dank zu sagen wusste. Er hatte mich mit berauscht, begeistert und selig gemacht. Er hatte mir ihre Schönheit ins Herz gegeben. Mutter und Mädchen hielten jetzt meinen Schmerz auf, den ich bitter an den Lippen schmeckte.
Ich starrte in die flackernden Kerzen. Der Legionär nahm Haltung an. Wir rissen die Kopfbedeckung ab. Salut, Kumpel! Knisternd verlöschten die Kerzen. Wir nahmen Hansen auf die Schulter und trugen ihn hinaus in das Sonnenlicht. Es tropfte durch den Sarg. Meine Jacke wurde feucht.
Nun war wieder die jung erblühte Landschaft da, die Lerchen, die Falter, das Kapogebrüll und das SS-Gelächter. Der Lastwagen kam, wir schoben die sechs Särge hinauf, der Fahrer fluchte ordinär und fuhr los, als hätte eine Alarmsirene geheult.
Salut, Kumpel Hansen!
Der Legionär drückte mir die Hand. Er sah sich wohl selbst in den tropfenden Särgen davonfahren. Er ließ den Kopf hängen und sein Unterkiefer zitterte. Er dachte an den Toten, der irgendwo wie ein Stück Vieh im Winkel verendet war und dessen Verwesung aus unseren Jacken roch, als wären wir selbst schon soweit. Nein, er hatte kein Recht, so zu grübeln! Ich suchte
meine Gedanken zusammen, um ihm neue Hoffnung zu geben. Ich wollte zu sprechen beginnen, doch fand ich nicht die Worte, die alles deutlich gemacht hätten. Mein Herz klopfte wie eine Maschine. Auch das mochte Einbildung sein, und ich hörte in Wirklichkeit, wie unweit von uns die Ziegelpresse stampfte. Ich schlug dem Legionär heftig auf die Schulter und ging schweigend davon.
Gleich nach dem Appell setzte ich mich an die Baracke und blickte in die rote absinkende Sonne. Fahnen und Transparente zeichnete sie, vor eine Demonstration in der Hansens Frau und Töchter gegen die Wachtürme marschierten.

 

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur