Wiedersehen mit Vierlanden
Wenn ich an die Gegend von Vierlanden denke, ob im Traum oder im Wachsein, so taucht niemals zuerst das liebenswerte Dorfkirchlein von Altengamme mit seiner Umgebung auf. Ich bin nicht blind für diese gestaltete Einmaligkeit. Es gibt reichere Dörfer in Vierlanden. Kein Kirchlein existiert jedoch ringsum, das in seiner Ausstattung dem von Altengamme gleichkäme. Oft sind meine Fingerspitzen über das Intarsienholz und das Kunstschmiedeeisen geglitten, den unbekannten Handarbeitern für ihren Fleiß und die Geduld dankend. Strich ich über die überlieferten Kostbarkeiten, dann fingen die Künste an, in mir zu leben, die voraufgegangenen Gedankenspiele, wie auch die handwerkliche Geschicklichkeit, die uns Nachfolgenden verlorenging.
Aber dieses Bild ruhiger und schöner Linien entzieht und verhüllt sich in den nachfolgenden Erlebnissen hinter den Kronen zweier Apfelbäume am Wegrand von Neuengamme. Unauffällig fügen sie sich in die Tausende Apfelbäume ein, die Regen, Schnee und Sonne empfangen. Sie stehen nicht einmal einträchtig beieinander. Zäune und Straße trennen ihren Standort. Die unterschiedliche Qualität ihrer Früchte wird jedoch selbst auf weitere Entfernung hin sichtbar. Gut bin ich beiden Bäumen. Dem, der in meinen Nachempfindungen die minderen Früchte trägt, nicht größer als Walnüsse, wie dem, der die saftigen, bunten, halbpfündigen Kugeln im Gezweig schaukelt.
Die kleinen Äpfel begannen sich zu färben, und ich betrachtete sie damals wie eine hohle Katze das Vogelnest. Vier Wochen hintereinander dünne Kartoffelsuppe, vier Wochen lang miserable Mohrrüben und dann Tag um Tag langgezogenen Weißkohl mit einem zerbröckelten Lorbeerblatt wirkten wie ein Dorn im Gemüt. Lethargie und Hunger gingen zwischen den Baracken im gleichen Schritt mit dem Totengräber. Nicht jeder Häftling bestand die Sonnen-, Nebel- und Regenprobe, noch die schmale Kost zwischen Elbe und Doveelbe. Kein Arzt brauchte über die Art des Mordes zu entscheiden, woran der Mann zugrunde ging. Mochte das faulige Wasser, der Hunger oder der Knüppelhieb die Ursache sein, der Doktor Eisenbart zeichnete den Befund als Herzschwäche ab.
In der Nähe des Apfelbaumes mit den winzigen Früchten nährte ich die Hoffnung auf eine zusätzliche Verpflegung. Fast jedes der dürftigen, leichten Äpfelchen war mir bekannt, als hätte ich es in den Zweigen befestigt. Im Laufe der Monate hatte ich um Wachstum und Reife gebangt und den Wind befragt, ob er nicht wenigstens bald dieses oder jenes verkümmerte Äpfelchen in die Beete schütteln möchte. In bitteren Nächten, wenn der Hunger über den Schlaf siegte, wobei das Fleisch vor Schmerzen brannte und jedes Knöchlein im Leibe für sich entsetzlich drückte, beruhigte mich die Traumgestalt der Früchte, mit der Aussicht auf eine kommende festliche Tafelei.
Leider wurde es zur traurigen Tatsache, dass dies und jenes Äpfelchen, über Nacht sozusagen, spurlos verschwand. Befände sich außer mir noch jemand in diesem Gartenstück, müsste ich die Kühnheit anerkennen, mit der dieser blitzschnelle Obstpflücker vorging. Mit den Holzpantoffeln in der Hand sauste ich in den Garten, stand aufgeregt und klopfenden Herzens am Baum und sah Morgen um Morgen meine Aussicht, einen Apfel zu ergattern, vernichtet. Es dauerte Stunden, ehe ich mich beruhigte und glühend wünschte, nur diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Der Wachtposten konnte es nicht sein. Niemals würde er sich bei seiner Verpflegung mit diesen lächerlichen Gänseäpfeln den Geschmack verderben. Er bekam besseres Obst zum Nachtisch. Er hatte Geld und konnte sich Äpfel kaufen, sobald ihm der Sinn danach stand. Wenn er in einer Pächter- oder Bauernfamilie etwas Geselligkeit pflegte, dann waren ihm die reifsten, mürbsten und saftigsten Früchte so sicher wie das abschließende Amen von der Kanzel in Altengamme. Kein Mädchen wies ihm die Zunge, wenn es am Sonntagmorgen mit dem biblischen Buch in den Händen in das Geläut von Altengamme hineinschritt. Er pfiff wie ein Fink in die blonde Schar hinein, von der ein frohes Gelächter zurückschnellte. Sie winkten mit den himmlischen Lehren und den Engelsgesängen, während er federnd die Schuheisen zusammenschlug, die Knarre anzog und den Arm zur Mütze winkelte. Und das alles in gleichzeitiger Bewegung und so vollendet, dass die Mädchen sich's beim Heimgang gern wieder vorführen ließen.
Für mich war Heckenstrauch dazwischen. Das schußfertige Gesetz war an dem Stacheldraht postiert. Es hatte die Gestalt eines stämmigen, unentwegt gereizt spähenden Jünglings mit Wangenflaum. Seine Vorgesetzten hatten ihm erzählt, wir würden aus Übermut mit Dynamit die Eisenbahnbrücken sprengen, würden die Intelligenz des Landes vergiften, wandelten die Kirchen zu Schnapsbrennereien um, erhängten die allerfleißigsten Arbeiter und steckten die Dörfer in Brand, bis die ganze Welt durch Totschlag und Feuer untergegangen sei. Mit diesen durch Schule, Zeitungen und Radio täglich gesteigerten Kehrreimen ging er ängstlich durchs Leben, unsicher, unruhig und vor unserer Existenz schaudernd.
Während ich den Posten aus der Entfernung verstohlen betrachtete, einschätzte und so meinem Hirn eine Beschäftigung gab, die mich nicht fortwährend an die magere, unzureichende Kost erinnerte, kamen zwei Bauernkinder an den Zaun, sahen mir bei der Arbeit zu und liebkosten mit ihren Lippen die guten Äpfel, die sich am Baum des nachbarlichen Gartens rundeten. Mein beklommenes Ich suchte in ihnen eigene unbeschwerte Kindertage zu erkennen, und ich vergaß den Mann mit dem Gewehr, der mich wie ein gefährliches Tier im Auge behielt.
Gern hätte ich die Kleinen auf die Knie genommen und ihnen erzählt, wie Elbe und Doveelbe durch Arbeiter- und Bauernhände besser als bisher zu bezwingen wären. Ich wäre mit den Kleinen auch, wie die
Störche von den Strohdächern, nach Afrika geflogen, und wir hätten alle glücklich in den Flüssen gefischt. Aber wenn sie nicht so weit mochten, gäbe es auch allerlei Geschichten von der Zeit, in der die Großmutter ihre prächtige Trachtenkleidung herstellte, von der Kirmes und den Richtfesten. Schließlich war auch das Kirchlein da, das in Altengamme stand und läutete und von Meistern in Holz und Eisen die schönsten Verzierungen erhalten hatte. Aber ich konnte den Kindern nur stumm für ihre Anwesenheit danken. Der Kinderblick blinzelte durch Maschendraht und verschlungene Stachelwehr. Mich erfreute die Musik ihrer lückenhaften Zähnchen, die die Haut der saftigen Früchte durchbrachen, worauf die junge Unschuld am mürben Fleisch schabte, dass es nur so tropfte. Ihre Augen richteten sich ohne Furcht in mein gestreiftes Dasein. Ich hatte das angenehme Gefühl, dass alles aus meinem Bewusstsein entglitt, was mit der Gefangenschaft verbunden war. So hockte ich mich nieder und pusselte am Beet herum, um dem Buben und dem Mädchen recht lange zusehen zu können, wie die bunten Äpfel in den kleinen feuchten Mündern verschwanden.
Der Bube warf mir einen Apfel zu. Er hatte ihn wie einen doppelten Bauch in der Hose getragen. Die Frucht stöhnte beim Fall unter der Haut mit ihrem Saft. Durfte ich mit einer Harke den Apfel holen? Er war in die Sperrzone gefallen. Der Posten beobachtete jede meiner Bewegungen mit einem Gemisch von Schwäche und Brutalität. Er bog mir den Gewehrlauf zu. Nun schwebte schon der zweite Apfel über den Zaun, von dem flachsblonden Mädchen unter der Schürze hervorgezaubert. Wie ein Ausstellungsobjekt lag er unerreichbar im Wucherkraut der Todeslinie und lockte mit seiner Lackhaut. Aber die Mündung des Gewehrs warnte. Der Schütze warnte so wollüstig mit seiner Waffe, dass selbst die Kinder verstanden und erschraken. Sie hatten ganz rote Köpfe. Das Mädchen strich verschüchtert ihre Schürze glatt, während der Bub die Hände auf den Rücken legte, wie es der Großvater wohl am Sonntag tat, wenn er über die holprige Deichstraße bummelte und die Entschlüsse für die Wochenarbeit reifen ließ.
Als die Kinder weg waren, musste ich auf Befehl dem Posten die Äpfel bringen. Er gab noch die kritische Versicherung ab, dass es Prachtstücke wären. Rings um seinen Standort lagen viele Kernhäuser. Sie stammten von der verwilderten Sorte unserer Gartenäpfel.
Ich ging bestürzt davon.
Ob mir nicht wenigstens das erbärmlichste Äpfelchen nachflog? Nichts! Selbst ein frisches Kernhaus wäre etwas gewesen, das man genießerisch zwischen die Zähne hätte nehmen können, um den Geschmack von Obst auf der entwöhnten Zunge zu spüren. Fiebernd vor Verlangen nach dem entbehrten Apfelstück, machte ich mich an die Arbeit am Grünkohlbeet.
Am nächsten Morgen lagen an der Stelle, wo ich die Hackarbeit unterbrochen hatte, drei goldene Äpfel im
Gras. Sie waren so schön, dass ich nicht wusste, wohin mit dieser Pracht und Üppigkeit.
Aber sogleich begann der neue Kummer. Das begriff ich nicht, als ich die Äpfel aus der Entfernung begehrte, das begriff ich erst, als ich sie nun vor mir liegen sah. Diese Völlerei bedeutete nach dem Lagergesetz eine strafbare Handlung für mich und die Spender. Es gab ja nicht nur den Posten, der die elend dürren Äpfelchen ohne Skrupel vom Baum schlug, bevor er seinen Standort bezog. Auf der Straße wimmelten zu mancher Stunde die misstrauischen Wachtmänner daher, die in Erwartung von Urlaub und Beförderung aufpassten, dass ich bei der Arbeit nicht einschlief, keine arbeitsbehindernden Nahrungszuschüsse erhielt oder gar einen unterirdischen Gang grub, um ohne Entlassungsschein zu verschwinden. Die Machtbewahrer wollten mich wie einen Teufel im Sonnenbrand und strömenden Regen schuften sehen, weil das ein überaus amüsanter Anblick war.
So wühlte ich voller Hemmnis erst einmal ein Loch und deckte die Äpfel mit Erde zu. Darauf rupfte ich Unkraut, tat es in einen Kasten und trug Unkraut und Äpfel zum Komposthaufen. Auch hier lauerten Flinten und Augen in der Nähe. Es war gewiss kein schöner Ort. Ich kannte diesen Kompost durch und durch. Was im Tier- und Menschenmagen seine Pflicht erfüllt hatte, lag mit Pflanzenresten übereinandergeschichtet. Aber es gab keine andere Wahl, selbst wenn die kostbaren Äpfel nach kürzester Zeit im Versteck schlecht würden.
Am nächsten vernebelten Morgen lagen Birnen am Zaun, dann wieder Äpfel und so fort. Grad als ich die rechte Übung hatte, sie zu finden und sie im Versteck unter Hast zu verschlucken gelernt, wurde der Posten im vergitterten Bau eingeschlossen, und da fielen mir die letzten Gänseäpfel auch noch zu.
Aber wie ich nun nach dem Gewesenen wieder zwischen den Treibhäusern und Gehöften nach vielen Jahren gehe, liegt mir mehr auf den Schultern als die Erinnerung an die grellen Farben jener Episode. Ich möchte die ganze Vergangenheit mit dem Blick der Gegenwart übersehen.
Die Doveelbe blinzelt mich vertraut an, und die Weiden, die an ihrem Ufer emporsteigen, wuchern in den Köpfen mit hochgeschossenem Rutenholz. Es riecht herbstlich sumpfig. Wolken in vielfältiger Gestalt und wechselnder Farbzeichnung wälzen sich über den Himmel. Sie machen immer wieder der milden Sonne Platz.
Es kann nicht ausbleiben, dass ich hier oder dort über eine Hecke grüße, und dass dann zwischen dem bunten Schimmer der Herbstblumen höflich eine Kappe gezogen wird. Viel mehr wird es nicht. Zu einem Gespräch besteht noch keine Möglichkeit, da die Männer streitend und wertend die Ernte wiegen und packen. Die Großabnehmer haben ein Aufkaufabkommen für die Ernte. Heute drücken sie wieder einmal die Preise, weil die Hamburger Werftarbeiter im Streik stehen und der Obstabsatz gefährdet ist, so sagen sie. Die Pächter grollen nun den Großabnehmern, sie ärgern sich über die Hamburger Werftarbeiter und sind fuchsteufelswild auf die Vertreter der Treibhauslieferanten, denen sie auf das Abzahlungsgeschäft hereingefallen sind.
Die Großabnehmer haben zur gegebenen Zeit auch den für sie nötigen Fall an Absatzschwierigkeiten bei der Hand, mit dem sie ihren Gewinn sichern. Wenn die Blumen verwelken und die Früchte verfaulen, wer zahlt dann die Pacht? Wer zahlt die Summe für die modernen Gewächshäuser mit den Heizanlagen und der Berieselungsvorrichtung? Liegen nicht im Hafen die Überseeschiffe, die sofort heimwärts funken und eine riesige Flotte mit Früchten und Pflanzen bestellen, wenn die Pächter in Vierlanden ihre Hände in den Schoß legen?
Seit Hunderten von Jahren können sich die Menschen der Gartenbaubetriebe über ihre Situation nicht klarwerden. Sie führen einen prachtvollen Kampf um den ökonomisch bestgenutzten Quadratzentimeter Erde, um die reinste Blumenfarbe, um wohlschmeckendes frühes Gemüse. Sie machen in den Glashäusern der Natur das Vorrecht der Reife streitig, des Wachstums und des Farbzaubers. Aber sie stehen nicht neben der schaffenden Vorhut, die von der angreifenden Polizei Prügel bezieht, weil sie der sinkende Lebensstandard zum Streik herausfordert. Sie sehen nicht in der zum Kampf sich sammelnden Arbeiterschaft ihren eigentlichen Abnehmer, der durch die Willkür der Unternehmer vom Verbrauch ausgeschlossen wurde.
Sie geben der Landschaft mit ihren Gärten das Gesicht. Die roten Ziegel an den Häusern sind in hübschen Ornamenten gesetzt. Ihre Fugen sind schlohweiß gehalten, und das Fensterholz ist hellgrün bemalt. Mitunter ducken sich die Strohdächer fast unter die Deichstraße. Kleine Moospolster bilden sich auf dunkeldurchwettertem Stroh.
Äußerlich ändert sich kaum etwas an diesen Häusern. Aus dem Innern verschwindet jedoch manch Stück vom Urelternhausrat, vom Schmuck und den bislang behüteten Trachten.
Die neue Zeit hat auch neue Bedürfnisse, heißt es. Was die Vergangenheit schnitzte, schmiedete, nähte, stickte und malte, zieht aus, die Volkskunst verschwindet, und die Macht der Reklame verhilft einer industriellen Serienproduktion zum gewünschten Absatz.
Da nichts für sich allein geschieht, werden Volkslied, Volkstanz und die Märchen mitgerissen und vergessen. Die Reklame der Großunternehmer allein kann den Abfall vom überlieferten Brauch und der Volkskunstschöpfung nicht beschleunigen. Die handwerklichen Talente und die Gedanken für Neuschöpfungen sind mit den Jahren verkümmert, denn das Land unter den Treibhäusern fordert ständige Betreuung, und die Sorge um den preiswertesten Absatz der Gartenkulturen verbraucht Zeit und geistige Kraft. Was die Vorväter geschaffen und gesammelt haben, geht bei den Missernten verloren oder während der enttäuschenden Fehlzüchtungen. Die Erben verkaufen ein Stück überlieferter Volkskunst, sonst fallen Garten und Haus unter den Hammer.
Der holprige Deichweg, der sich mitunter vor den Häusern und Gärten großmacht und der den Lebensfaden für die Dörfer bildet, schiebt plötzlich einen Betonarm seitlich ins Land hinaus. Es ist die Straße, die ich mit anlegen half. Sie zieht sich schief und berstet. Die Erde darunter arbeitet beständig. In die Erde und in den Beton ist Schweiß und Blut der Männer eingezogen, die mit einem Feldstein erschlagen wurden, weil den Faschisten die Munition für sie zu schade war.
Vorsichtig setze ich meinen Fuß auf den Beton. Mein Herzschlag bleibt nicht mehr normal. Es geht ein frischer Wind, aber mir ist, als atme ich ein zähes, verbrauchtes Gemisch, das sich nicht definieren lässt. Der Wind weht mir ins Gesicht, doch der Blutdruck macht die Haut unempfindlich für seine lindernde Hilfe. Ich bin gezwungen, tief durch den Mund zu atmen.
Nur an die Apfelbäume will ich denken. Wenn auch viel härtere Erlebnisse das farbenreiche Tageslicht einst verdunkelt haben, die Apfelbäume geben den Anlass zu unruhigen Träumen, die den Schlaf zerreißen, ja sie erinnern mich zur Zeit des Fruchtangebotes in den Geschäften an die Stunde, da ein Gewehrlauf mir offenbarte, wie wertlos ein Leben sei und wie wertvoll eine Frucht, die nicht einmal dem Geschmack der anspruchslosesten Elster behagte.
Ich bin nach den Apfelbäumen unterwegs, die mich einst fürstlich bewirtet haben.
Vierlanden ist durch seine Frühkulturen, Blumenzucht und Obstsorten geachtet und berühmt. Jeder Pächter hat seine Attraktion. Doch ein Wörterbuch kann nicht das wünschenswerte Wort erbringen, um den Genuss zu ermitteln, an dem ich noch heute zehre, wenn ich die verbotenen Äpfel von damals im Traume nachkostend probiere.
Ich bin nun bis zu der Stelle vorgedrungen, wo ich den Apfelbaum wie eine hohle Katze umschlichen hatte.
Nein, er ist nicht mehr!
Ich vermisse keineswegs die Ziegelpresse, das Maschinenhaus, die Schmiede noch den Schuppen. Den Kümmerling vermisse ich, durch dessen Geäst meine Augen schweiften.
Unter seinem Blätterdach besaß ich etwas Regenschutz. Hinter seinem Stamm wich ich dem schneidenden Wind aus. Seine Blätter und die Rinde prüfte ich im Munde bis zur Erschöpfung. Er hielt vom kahlgeschorenen Schädel die Sonnenglut ab. Er war alt und unfruchtbar und war doch edel.
Er ruft mich noch im Traum und ist doch nicht mehr! Ein Mal aus Granit steht an seinem Platz. Jeder, der vorbeigeht, lässt in seiner Nähe jeden Scherz verstummen, weil um diese helle, nüchterne Säule die Stimmen der Toten aufklingen.
Sie starben und verdarben wie die Fliegen, im Frost und feuchten Nebel, im unerbittlichen prasselnden Regen, in der strahlenden Sonne. Sie verwesten, ehe sie in die Erde kamen. Sie welkten aus Nahrungsmangel dahin, sie stürzten und zerbrachen unter den Knüppelschlägen, erstickten im Latrinenkot, verbluteten unter der Gewehrkugel, versanken im Elbeschlick, die Ziegellast zertrümmerte ihre Wirbelsäule, die schwindenden Kräfte höhlten sie aus, das Heimatlose in der Heimat zerfraß die Seelen und brach die Herzen.
Dieses Dokument der unheimlichsten deutschen Vergangenheit spricht nicht einmal die Zahl der Verluste aus, die hier dem Faschismus zum Opfer gefallen sind.
Makellos ist die Farbe des Himmels und der sanfte Anhauch des Windes, und drüben hinter dem Gartenzaun reifen die saftigen Äpfel, von denen mir unsichtbare Hände eine Spende in den Häftlingsgarten warfen. Einige Blätter zeigen schon Bronzetöne. Die goldenen Flammen der Sonne spielen wie unirdische Lichter bis an den Stamm dieses überlebenden Freundes.
Ganz menschlich ist das Gespräch zwischen uns beiden. Er winkt mit den bunten Äpfeln, und ich versuche mein Lächeln so zu halten wie damals, als ich den faschistischen Streifenfetzen trug. Er ist starr vor Überraschung. Ich nicke ihm zu und brumme im widerspenstigen Halse, und er knarrt mit den Ästen. Der Häftlingsbaum starb mit dem Kommandanten und mit dem Verwalter, die im Astwerk angeknotet wurden. Der dürre Baum stand und hielt die Schlingen und hielt die Gegner so lange in der Luft, bis ihre Gesichter so finster waren wie ihre Seelen. Das erzählt mir der lebende Baum. Seine Äpfel sind noch fest. Für eine mürbe Aufmerksamkeit ist mein Besuch verfrüht. Er plaudert hastig, damit wir nach der langen, langen Trennung nicht mit feuchten Gesichtern herumstehen.
Wir sind uns einig, dass die Vergangenheit in uns nicht aufgehoben ist. Sie bestand und sie besteht, aber sie darf nicht auferstehen!
Er hebt den roten Apfel in seiner äußersten Spitze. Es sieht aus, als wäre er mit dem roten Winkelzeichen versehen, das man in der ganzen Welt kennt.
Wo die Betonstraße endet und die Deichstraße beginnt, steht ein wartender alter Mann. Er hat mich beim Gespräch belauscht, das ich mit dem Baum führte. Er hat gesehen, wie er sich beim Abschied hochwarf und mit dem Zeichen der Häftlinge winkte. Sein standhaftes Dasein berührte mich tief in der Brust.
Der alte Mann schlendert rüstig neben mir her. Er räuspert sich begreifend. Er will mich damit auf ganz saubere Art von den Wurzeln des Schmerzes trennen und ist zu höflich, um mit leichtfertigen Fragen die Situation zu nutzen. Er ist von jener verständigen Art, die das Abwarten ziert. Darum auch nur der hüstelnde Versuch, meine Lage zu erleichtern.
Der Geruch der Doveelbe steht in der Luft. Jetzt kann ich ihren Lauf gut sehen und ebenfalls die Kühe, die sich an ihrem Rande die Mäuler kühlen. Nun weiß ich auch meine Stimme bereit und erzähle dem alten Mann die Geschichte meiner Reise. Soweit es in meiner Macht ist, erzähle ich den ganzen Hergang. Manches rau und polternd, manches milder, weil es keine Kleinigkeit ist, vor dem Drang der inneren Bilder die Beherrschung zu behalten. Aber für den alten Mann füge ich wohl die Sätze wie zu einem Buch zusammen, auf das er längst gewartet hat.
Er duldet kaum, dass ich nebenher eine Elster betrachte oder die Schafe, um deren Leib sich die dicken Locken kräuseln, oder den Sperling am Zaun, der feingliedrig ist und mit klingender Stimme die Katze verschreit.
Für den alten Mann gibt es heute nichts mehr als meinen Bericht. Er bedeutet für ihn eine nie erfahrene Aussage.
Der alte Mann will die Geschichte ganz besitzen. Es ist nicht nur die Lust des Zuhörens in ihm, um dies oder jenes Detail wie einen Stein aus dem Mosaik zu heben und sich an dessen Farbe zu begnügen, er will das ganze Bild bewahren und es in die Häuser tragen, wo man nicht darum weiß, damit die Menschenwürde nicht wieder hinabstürzt in die Nacht.
Als sei heute ein Feiertag, so zieht er mit mir zur Bahn. Hier lüftet er den Hut. Noch nie hat er das graue Haupt entblößt, sondern stets fest und freundlich rundum die Hand gereicht und die Hutkrempe mit der Zeigefingerspitze berührt. Aber nun, als der Zug fährt, hebt er den Hut hoch, so wie der Baum in der Frühe sein vertrautes Zeichen gegeben hat. Schon sind wir einige Meter voneinander getrennt. Aus dem Schornstein der Maschine bricht eine rote Lohe. Der Zug rollt,
und um den alten Mann und sein silbernes Haupt sprüht und zuckt der Funkenregen ...
Wie bitter macht mich doch mitunter diese Landschaft, die weiche Ebene und die farbfreudigen Gärten, der weite, weite Himmel und das Singen der toten Kameraden im Wind ... ihr Opfer und ihr Glaube aber sind mir Hoffnung und Gewissheit für das Leben! |
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