Der Sänger aus Prag
Der Vorarbeiter hat mich mit Bruno zusammen im Wirtschaftsgebäude der Ziegelei eingeschlossen. Mit groben Verwünschungen als bewährtes Zeremoniell hat er uns vor den Posten abgekanzelt. Der herumstreichende Wind putzt ihm den Mund, so dass wir nicht alle Gemeinheiten hören müssen. Wir sollen die getrockneten Pflaumen, Birnen und Äpfel sortieren, die hier auf dem weiträumigen Boden lagern.
Auf den ersten Blick gefiel mir Bruno nicht gut. Sein Häftlingsanzug war tadellos sauber. Die Mütze stand ihm ausgezeichnet. Er war ein junger Mann mit vollem Gesicht und von wenig untersetzter Gestalt. Er machte den Eindruck, dass er beleidigt sei, in der ihm bisher allein gehörenden Einsamkeit durch mich gestört zu werden.
Draußen war er sicher elegant angezogen, stolz und eingebildet umherstolziert. Wirtschaftlich gehobene Stellung schrieb ich ihm zu. Sichere Existenz nennen das die Mütter heiratsfähiger Töchter, denn die Sehkraft ihrer bewertenden Augen durchdringt das Trojanische Pferd.
Wir mustern uns starr und ausdauernd. Unerwartet wird er verlegen und begibt sich ohne einen Laut in die entfernteste Ecke des Bodenraumes.
Ich weiß nicht, was ich hier arbeiten soll. Deshalb esse ich erst einmal von einer getrockneten Pflaume. Bruno wird das ja auch tun. Wenn er schon gegen mich ist, das Trockenobst wird er sicher nicht verachten.
Es ist einsam und still hier oben. Draußen klappert ununterbrochen die Ziegelpresse. Loren kommen bollernd gefahren. Die Drehscheibe quietscht. Unverständliche Wortfetzen, zur Leistung antreibend, erschüttern mich. Ich habe eine Pflaume im Mund. Sie ist süß und doch wieder bitter, denn ich habe die Empfindung, ich sei bei den Kumpeln an den Loren, die unter Magengeknurr und Schikanen zwischen Ziegelpresse und Tongrube pendeln. Bruno hält sich im Hintergrund versteckt. Die Stille wird zur Stahlklammer. Es ist scheußlich, einen Menschen mit im Raum zu wissen, der sich nicht rührt und sogar den Atem versteckt hält. Das reizt und peinigt.
Unentwegt kaue ich Trockenpflaumen. Es ist wie ein Zwang. Ich tippe darauf, dass Bruno mich nicht hierbehalten wird und beim Mittagsappell den Vorarbeiter mürbe macht. Der lässt mich dann wieder Zement schleppen oder Pfahllöcher graben. Was bleibt sonst übrig.
Der Staub und das Alter haben den Pflaumen den Duft genommen, aber ihre Süße spricht von den sonnigen Sommern, den erntenden Mädchenhänden, vom Gekicher und Übermut der Pflückerinnen. Ich will endlich Schluss machen, mich so vollzustopfen, und fange doch immer wieder an. Mit scharfer Deutlichkeit mahnt eine Stimme in mir: Immer essen, solange der Vorrat reicht, selbst wenn man sich dabei nicht mehr ähnlich bleibt. Was einmal im Magen steckt, das ist für den Staub und die Mäuse verloren. Etwas Schimmel ist zwar überall daran, aber es hat keinen Sinn, zu erklügeln, ob Trockenobst dem Magen so oder so bekömmlich ist. Auch wer es einmal angehäuft und dann vergessen hat, damit ich mir trotz seiner Abgunst den Magen vollschlage, ist von untergeordneter Bedeutung.
Ich höre die Loren über die Schienen klappern. Der Kipphebel wird ausgelöst, der Kübel schlägt herum und die graublaue Tonmasse fällt heraus. Das sind die einleitenden Paukenschläge. Dazu kann die Ziegelpresse nicht schweigen. Sie hebt ihre Stimme und der Lautschwall lärmt aus ihren Wellen und Rädern, klappert, heult und stampft, nagt, krächzt und schrillt.
Diese Geräusche beflügeln meine Phantasie und allmählich vergeht die wirkliche Umgebung. Ich bin auf einem Gang über den fernen Werkhof. Überall hämmern Männer, fauchen Heißluftströme, plätschert das Wasser über die Etagen der Kühltürme. Bleche, Röhren, Rohgußteile tanzen, überall eiserne Variationen, überall grüßende Kumpel. Zuerst müde im Gesicht, verdrossen, verbittert unter Ruß, Staub und Schmiere, blitzschnell dann freundlich verwandelt, heiter nachdenklich.
Ich höre Bruno mit Papier rascheln. Schließlich redet er flüsternd mit sich. Mein Traumflug ist zu Ende. Das Herz zieht sich zusammen. Bruno singt. Ich habe ihn und meine Umwelt aus den Sinnen verloren, er aber reißt mich zurück, knistert gedankenlos mit Papier und singt. Seine Melodie umgibt mich mit Wäldern, Bächen und Winden. Aber ich mache diesen Spaziergang nicht mit. Er führt nach der Rückkehr nur in größere Schwäche und Not.
Ich ertrug seinen anfangs leisen, dann anschwellenden Singsang nicht mehr. Es war böse genug, wenn die Erinnerungen lautlos zu reden anfingen, wenn eine zärtliche Stunde im Gaukelspiel der Einbildung das Herz berührte, dem man nachgab, um kurz darauf die Gegenwart härter zu empfinden als die schwächste Stunde des durchlebten Lebens. Neue Abgründe taten sich auf. Die Aussichtslosigkeit, davonzukommen, verstärkte sich, und mit erbarmungsloser Wucht gab die Wirklichkeit durch Schläge und Fußtritte der SS ihre Antwort.
Mein Widerstand gegen Bruno wuchs und wuchs.
Ich ging, die nackten Füße vorsichtig setzend, auf ihn zu. Die alten Bodenbretter knarrten. Durch die Dachluken fiel Sonnenlicht in seine Ecke. Mir war kalt bis in die verkrampften Fäuste hinein. Ich suchte nach einem schmerzenden Wort. Er sah meinen Zorn und wurde sofort still. Die Sonnenstrahlen verflogen und kehrten wieder, und sie beleuchteten den Packbogen, der voller Noten und Verse war.
Meine Fäuste entspannten sich. Statt eines garstigen Wortes drängten sich mir wärmere Töne auf, doch auch sie blieben tot an den bebenden Lippen hängen.
Bruno begann über sein Singspiel zu sprechen. Alte Texte und alte Melodien hatte er zusammengesucht, aber er wurde nicht mehr damit fertig. Es gab keine
Umkehr in die alte Welt. Man konnte die Gegenwart nicht weglügen. Deshalb hatte er den Vorarbeiter gebeten, dass ich ihm behilflich sei. Er sagte es leise und leidenschaftlich.
Bruno war Opernsänger.
Als er das ohne Betonung erwähnte, glitt ein vieldeutiges Lächeln über seine Lippen. Die SS brauchte eine Stimmungskanone. Wein, Weib, Gesang! Bruno sollte ihnen die Mädchen auf das Feldbett singen. Seine Stimme sollte das Wehgeschrei der Gemarterten überdecken. Deshalb durfte er im Hintergrund des Lagers bleiben. Hier experimentierte er an einem Programm für die Zeit, in der die Offiziersmesse von Lichtern erstrahlte, Sektpfropfen knallten und ein Orchester zum Tanz aufspielte, während in den Baracken der Tod umging.
Bruno dachte an Prag und an sein Stelldichein, um das ihn die Gestapo gebracht hatte. Er träumte von dem zierlichen Mädchen und hütete die Spuren des Erinnerns von der ersten Begegnung bis zum unfreiwilligen Abschied. Er hütete ihre verlockenden Augen, die errötenden Wangen, den weichen, lachenden Mund, der Schmeicheleien daherreden konnte oder kluge Gespräche führte, die abwägenden Geist verrieten.
Das erfuhr ich erst einige Monate später, als wir das riesige Erdbeerfeld für die Wachtruppe anlegten. Wir hatten schon mehrere Stunden nebeneinander gearbeitet. Von der Ziegelei, vom Zimmerplatz und dem Häftlingslager trug uns der Wind die antreibenden militärischen Stimmen der robusten SS her, die wieder einmal die schuftenden Kumpel schikanierten, weil eine Urlaubssperre für sie angekündigt war. Nun prügelten sie mit barbarischer Härte und brüllten unflätige Flüche. Wir waren zwar abseits, doch bewahrte uns das keineswegs vor der brutalen Macht, die unsere Rücken und Köpfe treffen konnte. Jeder Schmerzensschrei aus dem Munde eines Häftlings blieb nicht ohne Wirkung in unserem Gemüt, und wir trugen daran mit verschlossenem Gesicht. Jeder wich in sich selbst zurück. Wir handhabten unsere Spaten und Hacken und starrten auf die Erde, die Pflanzen und Dunghäufchen.
Nach Stunden konnten wir nicht mehr in uns halten, was sich angesammelt hatte und womit sich das Hirn beschäftigte, was es zu erforschen versuchte, jedes auf seine Art, doch ausgehend vom Nazifanatismus und der Sorge um den Bestand der Nationen. Es fiel uns schwer, mit verhaltenen Stimmen zu sprechen. So kamen auch keine eindeutigen Bezeichnungen zustande. Wir benutzten Wortspiele und Andeutungen nebst Doppelsinnigkeiten, um die Denkvorgänge mitzuteilen, da uns aus dem bündigen Wort die Gefahr drohte. Es war ein Kunstspiel vor den Ohren der Wachen, die innere Erregung einzudämmen, die sich mit jedem geflüsterten Wort kräftiger anmeldete. Die produktive Tätigkeit auf dem Gartenland durfte keinen Augenblick ruhen. Die Posten hätten uns in ihrer Wut zusammengeschlagen.
Bruno hatte sich auf dem Wenzelsplatz in einem
Cafe mit seiner Liebe verabredet. Sie hatte Geburtstag. Durcheinanderquirlende Melodien im Kopf, ging er durch die Straßen und kaufte den Fotoapparat, das Geschenk für sie. Sie hatte Geburtstag. Sein Herz war erregt und er wehrte sich, Arien summend, gegen dieses sich übersteigernde Gefühl in seiner Brust. Glückszustand und Befangenheit kamen nicht zur Ruhe. Wie im Traum ging er hin und her. Er fühlte eine Enttäuschung aufsteigen. Unsicherheit. Bedrohung. Sein Herz schlug zaghaft und als er darüber erschrak, sprang es unvermittelt heftiger und quälender. Da starrte ihn ein Mann an. Es traf ihn sein durchdringender musternder Blick. Ein offenkundig gehässiges Auge richtete sich auf ihn, so dass er seinen Schritt beschleunigte. Jedoch beruhigte er sich bald wieder. Er widmete sich dem bunten Treiben der Stadt und querte die Straßenzüge, die auf den Wenzelsplatz durchstießen. Ob er diesen Zustand auch lächerlich schalt, er ließ sich nicht unterbinden. Kein hinter ihm stöckelnder Frauenschritt konnte ihn mit der Vermutung narren, plötzlich auf das Mädchen zu stoßen, dem seine Gedanken zustrebten. Männeraugen, die ihn anstarrten, übersah er. Er dachte nur an die Verabredungsstunde. Viel harmlose Freude lag vor ihm. Er war voll zärtlicher Gedanken und summte törichte Weisen. Er besang diesen Tag, das Mädchen, das hoffnungsvolle Leben. Er fürchtete sich vor seiner Naivität, er schämte sich seiner ihm übertrieben dünkenden Gefühle und schätzte sich wiederum glücklich. Lebenshungrig und voll festlicher Takte, strebte er dem Zusammensein entgegen. Er lebte außerhalb der Zeit. Sein Studium, die Musik, der Gesang, die Bühne, das klatschende Publikum waren ihm Welt, Leben, Zeit. Die Schwärmerei für das Mädchen hatte sich neu hinzugesellt. Er sah sich auf den Gipfel gesanglicher Höhen kommen. Die Öffentlichkeit bewunderte ihn immer mehr. Es waren auch Schwierigkeiten da. Das Mädchen war eine Frau. Keine allzu glückliche Ehefrau. Zwangsverheiratet, wie sie sich ausdrückte. Zum Familienvorteil jung und unerfahren an einen guten Verdiener abgegeben. Das saß beiden wie ein Stachel im Fleisch. Die ihnen vorschwebenden Träume blieben stärker. Optimistisch deuteten sie die Ausblicke in die Zukunft.
Bruno schob sich durch den anschwellenden Passantenstrom über den Wenzelsplatz. Er malte sich schon die Überraschung aus, die der Fotoapparat verursachen würde. Er wand sich hier und dort zwischen Menschen hindurch. Auch sie musste kommen. Irgendwo musste sie auftauchen. Gleich würde sie ihn erreichen. Überwiegend Männer gingen hin und her, kreuzten seinen Weg und starrten ihn an. Er aber drängte vorwärts, entschwand und lachte. Die Zeit war heran! Er vermerkte die störende Enge, die Undurchlässigkeit des Menschenstromes, der heute seine Schritte hemmte. Als die Menschenmenge unerwartet aufschrie, fordernd, empört, da hatte ihn schon jemand im Würgegriff an der Gurgel. Der Fotoapparat rutschte weg. Er fühlte nur noch Fußtritte, Fäuste und Blut. Es gab keinerlei
Besinnung mehr. Weder auf dem Lastwagen noch in der Kaserne. Nur einen Schuh besaß er noch. Alles um ihn war prügelnde Handlung und unflätiges Gebrüll, wutverzerrte Gesichter. Er hörte davon, dass die Prager Universität einen Protestmarsch gegen den deutschen Faschismus versucht hatte. Das nahm er nur sehr matten Geistes auf. Er war um eine glückliche Stunde betrogen, um einen freundlichen Händedruck, ein strahlendes Gesicht. Singend war er einer reizenden Frau entgegengegangen und war der Unmenschlichkeit begegnet. Dieser Bruch in seinem sicheren Leben belastete sein Gemüt derart, dass er für die Zukunft nur noch Verachtung für den Menschen hegen wollte. Später, sich besinnend, sah er diese falsche Tendenz langsam ein.
Auf der Fahrt nach Deutschland, im Lager Sachsenhausen, gebärdete er sich zuerst wie ein Stummer unter seinen Mitgefangenen. Bruno aß nicht, schlief nur oder tat so und verzehrte sich an seinen inneren Qualen. Die Kameraden bangten um seine Gesundheit. Er hörte ihren Gesprächen zu und spürte ungenau und mit sich wiederum streitend, mit welcher Unerfahrenheit er bisher im Leben gestanden sei. Er begriff die politisch und sozial aktiven Antifaschisten, die ihm in der Freiheit kaum Gegenstand eines Gespräches gewesen waren. Allmählich erhellte sich ihm der Sinn des Widerstandes gegen das Eindringen der Faschisten in seine Heimat. Sein Standort dünkte ihm der eines gefangenen Vogels. Der Verprügelte und Verschleppte musste für sie singen. Er hatte sich den Auftritt in Deutschland einst ganz anders vorgestellt. Nun war er dem Lande gram. Seine Unbefangenheit war dahin.
Das stete Verlangen der Faschisten, ihn singen zu hören, ihre unklaren Andeutungen auf Hafterleichterung blieben nicht ohne Einfluss auf sein gefühlsgeladenes Vertrauen, wieder zurück nach Prag zu kommen. So stand er denn an einem faschistischen Festtag auf der Bühne. Den Saal überschauend, gewahrte er unter den vielen schwarzen Uniformen verschiedene Zivilisten, wie es denn auch nicht an gut gekleideten hübschen Frauen mangelte. Der Gefangene sang zur Zerstreuung seiner Peiniger. Später erfuhr er, dass ein guter Teil der Zivilisten im Saal ausländische Pressevertreter waren. Die SS schuf ihnen ein Beispiel für das Wunder eines totalitären Staates. Sie demonstrierte den Journalisten den Segen einer soldatischen Bewegung vor, die neben der harten Umerziehung etlicher Aufsässiger auch der Versöhnung nicht abgeneigt sei.
Bruno kannte den Kummer des Alltags, der seine schwarzen Flügel über das Lager breitete. Die düsteren Fittiche entstiegen den Krematoriumsschornsteinen. Die Häftlinge, die dort verbrannt wurden, hatten die SS-Siedlung errichtet, die Kasernen und Repräsentationsräume. Ihre täglichen Peiniger saßen fröhlich beieinander. Was ahnten die Reporter? Führte die Wahrheit ihre Feder?
Bruno begriff, weshalb er singen musste, wenn auch der Atem versagte und der Geist des Aufruhrs in ihm bohrte, der seine Stimme zu lähmen drohte. Er musste einer kommenden Generation seine Erkenntnisse erhalten, damit sie nie wieder im Alleinsein mit sich stürbe. |
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