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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Achtes Kapitel

SOWJET-EUROPA ENTGEGEN!

Prinzipielle Vorbemerkung zum letzten Kapitel. — Kolonialwirren
Die Kriegsgaswolke am Horizont. — Arbeiter bewaffnen sich. Was bedeutet CHCl=CH)3As (Levisite)? — Die Farbstoff-Fabriken rebellieren. Das chemische Kampfstoffarsenal der USA: Edgewood. Der Sturm bricht los! — Der Kern der Sache. Abgefangene Radios aus Amerika. — Nachrichten aus aller Welt. Japans werktätige Massen brechen ihr Sklavenjoch. Sowjet-Russland marschiert. — Unsterbliche Opfer. Sowjet-Europa entgegen!

Ein preußischer Monarch hat am Ende des 18. Jahrhunderts einen klugen Satz geprägt: „Würden unsere Soldaten verstehen, weswegen wir Krieg führen, so hätte man keinen einzigen Krieg führen können." Der alte Preußenkönig war kein dummer Kerl. Wir aber können jetzt sagen, wenn wir unsere Lage mit derjenigen des preußischen Herrschers vergleichen: „Wir können kämpfen deshalb, weil die Massen wissen, weswegen sie kämpfen und kämpfen wollen, ungeachtet der unerhörten Opfer, weil sie wissen, dass sie verzweifelte, unsagbar schwere Opfer bringen, um ihre sozialistische Sache zu verteidigen im Kampfe Schulter an Schulter mit jenen Arbeitern in den anderen Ländern, die unsere Lage zu begreifen angefangen haben." Lenin

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Noch einmal ein letzter Appell vor dem Sturm, ein Manifest an alle, die menschenwürdig leben wollen, vor dem Generalangriff!

Kameraden!

Die Transmissionsriemen knattern, die Schleifräder spritzen Funken, 10000-PS-Motoren knurren... Und das ist ein Maschinenraum: an Millionen Hebeln zucken Millionen Händepaare herum, wie abgeschlagen vom Körper sind sie, aber an den Händen pulst noch ein Herz, eine Lunge atmet noch, ein Gehirn will denken: noch ist der Mensch nicht ganz tot, zwar ist's schon nicht mehr viel, was hier noch um das gütigst gewährte Existenzminimum ringt... Und die elektrischen Bogenlampen flimmern, die Expressluxuszüge knüpfen Weltende an Weltende, Riesendampfer schrauben sich wohlig und sicher herauf durch den Ozean: der eine Teil der Menschheit verlängert tausend Kilometer lang seine Glieder, dem anderen Teil der Menschheit schrumpfen sie, sterben sie ab... Phantastisch von kristallischen Lüstern erhellt, überblüht die Luxuskabine das armselige Schattendasein der vier Wände des Lohnarbeiters, aber — sind nicht aus seinem Herzblut, aus Schweiß und Herzblut des Lohnarbeiters die Paläste gegossen? Maschinen, Licht, Lebensluft, Wärme: ist es nicht sein Werk!? Und haben demnach diese anonymen Schöpfer jeder Lebenskraft nicht das Recht, nein, nicht die heilige Verpflichtung, sich im Fall, dass sie gewaltsam im Interesse einiger weniger, die schon im Urteil der Geschichte als Gesellschaftsverbrecher gebrandmarkt sind, aus dem Lebensprozess ausgeschaltet werden, hat diese Menschenmehrheit demnach nicht die Pflicht, die ihr zur Verfügung stehenden Notwehrmaßnahmen zu ergreifen, um der Verelendung, der sicheren Katastrophe, dem Lebensuntergang zu entgehen!
Das Natürlichste vom Natürlichen wäre es. Das Menschen-Selbstverständlichste...
Und die Trusts, die Kartelle, die Syndikate bewegen sich, bewegen sich gegeneinander, und jede ihrer Bewegungen schafft Kollisionen, zeugt Krisen, schaufelt das
Grab für Hunderttausende. Und hört ihr den Chor der Menschheitsvampire, zunächst noch als ein konspiratives Flüstern:

„O heilige pazifistische Ära!
Der ganze Weltraum trieft ja von Friedensgeläuten!
Halleluja donnern hinweg über den Ozean
Die Kanonenschlünde der Dreadnoughts:
,Friede auf Erden!'
Ach, nur in den stillen Kämmerlein
Unserer Staatslaboratorien
Fabrizieren wir gutes Giftgas.
Seht: den Staat haben wir uns geschaffen
Als unsere beste Waffe —
Und wenn es wieder mal losgeht:
Diesmal wird der Konkurrenzkampf geführt
Als chemischer Krieg...
(Sachbeschädigung ausgeschlossen.)
Phosphorbomben. Flugtorpedos. Elektrische Wellen—
Fünf Minuten —
Und (jede Pore exakt durchgiftet)
Liegt leblos so ein Riese
Wie zum Beispiel Chicago da...
Und wer bezahlt dann die Zeche!?
Zuviel Menschen sind ja sowieso auf der Welt.
Darüber sind wir uns einig...
Tastet inzwischen die Erde ab:
Wo riecht's nach Petroleum?!
Schade nur,
Dass der Mars noch nicht zu kolonisieren ist!"

Eine gespenstische Polonaise wandert indes hindurch durch den Weltraum die Millionen-Kolonne der körperlich und geistig Verhungerten, Mann an Mann, Weib an Weib, Kind an Kind... Warum!?... Genügt euch wirklich als Antwort darauf nur ein Achselzucken!? Ist das Grundgesetz der Gesellschaft für euch immer noch eine geheimnisvolle mystische Chiffre, ohne Schlüssel!? Rutscht ihr immer noch die Knie euch wund vor dem erbärmlichsten gesellschaftlichen Aberglauben: „Es ist immer so gewesen, es wird immer so sein... "

Ein Fünfsekunden-Querschnitt durch Zeitungskioske, Theater, Verlage: es ist zum... Es gleicht wohl einem Sprung durch eine Papierhölle. Alles was einmal groß, echt, gewaltig, lebendig war: verkauft, verwässert, entwertet, verraten... Alles ursprünglich Edle, Wahre, Heroische und Schöne in eine schleimige Korruptionstunke eingetaucht, jeder lautere Ton überkeift von einem zotigen Gemecker...
Aufgeplustert bis zum hysterischen Exzess, widerlich zerschminkt, bis zum Brechreiz bengalisch illuminiert: so stolzieren die modernen Revuen an, und desto erfolgreicher sind sie, desto inhaltsloser sie sind und desto nichts sagender und leerer ihre bedauernswerten Akteure daherplappern:  prächtig  maskierte  Volksseuchen...
Magazine, Journale, Sumpfliteratur, Auflageziffern bis 300000... Und wer sind sie, die armseligen Opfer dieser typischen Misthaufenerzeugnisse!? Im Cafe, in den Wartezimmern des Arztes: dort strömen sie ihren pestilenzartigen Geruch aus.
Der Film, in sich bergend ungeahnte Möglichkeiten, Was ist aus ihm, eingespannt in den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, geworden!? Man braucht, glauben wir, nicht mehr darüber zu sprechen. Film, Radio, Presse, Theater, Literatur: das sind nur die verschiedenen Ressorts jenes gewaltigen, immer mehr sich amerikanisierenden Propagandainstituts  zur Weiterzüchtung der menschlichen Dummheit. Hier sind die staatlich konzessionierten Fälscherzentralen und geistigen Bazillenfabriken, sie arbeiten so wundertätig wie unter der Aufsicht des lieben Gottes selbst, sie hebt kein Polizeikommando aus, aber sie produzieren ja auch so verflucht erfolgreich in nächster Nähe des Regierungsviertels und nicht in proletarischen Kellerwohnungen...

Aber bei klarer und nüchterner Überprüfung der Geschichte der Menschen und der Geschichte der Natur müsstet auch ihr eines Tages zu der Überzeugung kommen — nehmt alle Erfahrungen der letzten Jahrzehnte hinzu, euere Erlebnisse —, zu der Überzeugung, dass die heutige bürgerliche Gesellschaft samt ihrer so genannten Kultur rettungslos dem Untergang in die Zivilisationsbarbarei verfallen ist und dass sie nicht mehr dazu berufen sein kann, die wirtschaftlichen und geistigen Weltprobleme in einem wirklich schöpferischen Sinne zu lösen, dass sie nicht mehr dazu berufen sein kann, aus sich heraus das einzige Bollwerk gegen die herannahende Phase modernster chemischer Weltkriege zu errichten: die planmäßig organisierte Weltgemeinschaft aller Werktätigen.
Millionenmenschenmassen kreisen indes lautlos nieder auf den Grund in dem riesigen kapitalistischen Krisen-Wirbel...
Den Befreiungskampf des Menschen aus seinem gespenstischen Warendasein, den Befreiungskampf der Menschheit aus allen ökonomischen Zwangsformen, den
Krieg gegen den Krieg — und damit auch eueren Befreiungskampf, Kopfarbeiter, aus den Fesseln geistiger Lohnsklaverei, kämpft heute die Klasse der Unterdrücken: das Proletariat. Seine geschichtliche Mission, als einzige an der Verewigung dieses Gesellschaftszustandes nicht interessierte Klasse, ist es, die Hinfälligkeit und die barbarische Verlogenheit des heute noch herrschenden Systems zu erkennen und ihm den organisierten Widerspruch entgegenzustellen, die einheitlich geschlossene Kampffront aller Ausgebeuteten gegen die Ausbeuterwirtschaft und ihre Helfershelfer: den Massenterror aller Werktätigen, den Klassenkrieg auf Leben und Tod.
Diktatur der Bourgeoisie. Diktatur des Proletariats...
Ein Drittes, wie ihr es vielleicht gerne wahrhaben möchtet, gibt es nicht.
Kameraden! Welcher Front schließt ihr euch an? Entscheidet euch!
Verfallt dabei nicht in den dünkelhaften Fehler euerer Berufsschicht, dessen Quelle auf Grund des besonderen Arbeitsplatzes, den die meisten von euch auch heute noch im Produktionsprozess einnehmen, leicht auszuspüren ist, in den Fehler, dass ihr euch selbst vormacht, selbständig, unabhängig zu sein, euer eigener Herr zu sein, niemandem verpflichtet, keinem Rechenschaft oder Tribut schuldig... Ja, zu handeln wähnt ihr, aber um so besser werdet ihr, von der Illusion euerer Freiheit gut eingedeckt, gehandelt und verhandelt... Euere geistigen Positionen sind mehr, als ihr euch gewöhnlich zugeben wollt, recht kräftig materiell unterzementiert: drum, Augen auf, seht zu, wie alles, was ihr tut, sich heute notgezwungenermaßen objektiv, das heißt, von der Perspektive der Geschichte aus gesehen, auswirken muss! Macht euch gefeit gegen idealistischen Aberglauben, Jenseitstaumel und gegen jede Art von noch so interessanten Mystifikationsversuchen, gegen Nervenzauber und Seelenschmierereien, die gerade auf Grund der Tatsache heutzutage Kurswert erhalten können, als die Grundgesetze des Gesellschaftssystems und damit auch die Lehre von dessen Überwindung, die revolutionäre Theorie, nur verstandesmäßig zu erfassen sind. „Blickverschleierung tut Not" aber orakeln, und sie wissen nur zu gut warum, die Menschheitshyänen... Habt acht auf die offizielle, mit allen Kräften geförderte Fabrikation von Gehirnvergasungsapparaten und auf die weit verbreitete Produktion von mystischen Gehirnnebeln!
Helft mit! Entlarvt das pazifistische Gesabber von angeblich zukünftig humaneren Methoden im Austrag der Völkerkonflikte, das beinahe blutrünstige Gekeife von der „pazifistischen Ära" als das, was es ist: als ein verruchtes Ablenkungsmanöver, als den bewussten Betrugsversuch, „Atempause" und „Schonzeit" ideologisch als eine ewige Kategorie zu stabilisieren... Erkennt den Unterschied zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache! Acht gehabt nicht auf das, was der Mund spricht, sondern auf die Bewegung der Fäuste! Statt dass ihr Worte, Papierform, Verfassungsparagraphen ernst nehmt, stürzt euch, wenn ihr mit euerem Entschluss fertig werden wollt, auf das spezifische Gewicht einer Handlung, auf Berechnungen, auf Tatsachen!
So lasst aus den Arsenalen der jährlichen Statistiken die Millionenarmeen der Selbstmörder, der Verhungerten, der Tuberkulösen, der Skrofulösen, jenen Millionenhaufen der in diesem Gesellschaftszustand der Wirklichkeit nach völlig Entrechteten vor euch aufmarschieren, die Kriegsopfer der Kolonialkriege und die Tausende von Jahren zählenden Zuchthausstrafen der politischen Gefangenen, und ihr werdet einwandfrei feststellen können was es auf sich hat, wenn die Regierer aller Länder zynisch von den Parlamentstribünen meckern: „Friede auf Erden!"

Seht die Kommunistische Partei, die weit mehr als Partei ist, die die Vorhut einer neuen kommenden Weltordnung, die das gestaltgewordene neue Welt-Bewusstsein, die der Stoßtrupp der Zukunft ist! Deren Mitglieder von den nur allzu getreuen Hütern der Menschheitsverwesung in allen Reichen der Erde über alle Maßen grausam verfolgt und verleumdet sind, zu Tausenden und Abertausenden ermordet oder lebenslänglich in Zuchthäusern eingesperrt, aber in deren Reihen, trotz alledem, noch immer wach erhalten ist und wach erhalten bleiben wird: Opfermut, Solidaritätsgefühl, wahre Lebendigkeit, Disziplin, Kampfgeist!... Heraus mit euch aus euerer Knechtseligkeit, aus euerem von mörderischen Ketten umstrickten Todesschlaf, aus euerer Indifferenz, aus euerer stupiden, verantwortungslosen Eigenbrötelei! Heraus mit euch aus euerer abstrakten Atelier- und Studierstubenluft: wir beschwören euch: informiert euch endlich darüber, was konkret in der Welt vor sich geht! Folgt unseren Parolen: „Heran an den Feind! Nieder mit Phantomen und Schemen! Herunter von den Thronen mit den lebendigen gekrönten und ungekrönten Leichnamen! Der Mensch muss endlich zu sich selbst den Mut haben! Erobert euch die Wirklichkeit!... "
Kämpft gegen den Welt-Unsinn, gegen den Welt-Wahnsinn, gegen den Menschenmarkt, gegen das Menschen-Zuchthaus, gegen das Menschen-Schlachthaus! Kämpft gegen die im Interesse der Profitwirtschaft künstlich gezüchtete Menschendummheit, kämpft für Menschenfreiheit! Kämpft für die Wiedergeburt des Menschen aus der Menschen-Gemeinschaft!

„Meine Pflicht ist zu reden, ich will nicht mitschuldig werden!" Dieses stolze Wort Zolas haben unsere intellektuellen Hampelmänner, kautschuk-elastisch, wie sie nun einmal sind, und eingedenk der Tatsache, dass Zivilcourage in diesen bösartigen Zeiten unter Umständen zu einer recht brenzlichen Sache werden kann — dieses kühne Wort des französischen Sozialisten hat also unsere offizielle Intelligenz dahin abgewandelt, dass sie prinzipiell nur, wie nach einem geheimen Abkommen, über die Dinge redet, die nicht der Rede wert sind.
Es gibt aber auch eine Lebensstrategie und damit auch fundamentale Grundsätze dieser Lebensstrategie. Und die Grundlage für jeden Erfolg beruht eben bekanntlich in der Fähigkeit, den Gegner mit überlegenen Kräften am entscheidenden Punkt im richtigen Augenblick zu schlagen. Über überlegene Kräfte aber einmal verfügen zu können, das verlangt schon heute: den vollen Lebenseinsatz jedes einzelnen. Der entscheidende Punkt der gegnerischen Stellung, der springende Punkt, auf den zu alle Kräfte unserer Zeit sich bewegen werden, ist: das Problem der Ausbeutung. („Wer alles verteidigen will verteidigt nichts." Dies für Wesensschauer und reine Seelenmenschen!)
Was aber treiben objektiv unsere Intellektuellen?!
Sie treiben „Tarnung". (Oder Camouflage, wie es in Amerika heißt, und woraus man bereits eine ganze Wissenschaft gemacht hat... Popularisiert diesen Begriff!) Was ist Tarnung? Unter Tarnung versteht man die Kunst, den Gegner über die wahren Absichten, die man hegt, im unklaren zu lassen. Unter Tarnung verstand man zum Beispiel den Grasbüschel am Stahlhelm des MG-Schützen, und da bekanntlich auch der imperialistische Frieden' die Fortsetzung der Politik des imperialistischen Krieges mit besonderen Mitteln ist, so versteht man unter Tarnung in der so genannten pazifistischen Ära: die serienweise Fabrikation von Ideologien und Illusionen (Parlament, Demokratie, Völkerbund, Ableugnung des Klassencharakters des Staates, der Justiz, des Heeres, der Polizeigewalt usw. usw.), die dazu geeignet sind, den Gegner, d. h. den Klassengegner, das Proletariat, über die wahren Absichten der Volksverbrecher und der Massenblutsauger im unklaren zu lassen. Die Spitzen der Klassenkampfbewegung womöglich schon ideologisch und psychologisch abzubiegen und auf diese Weise sich die Profitrate beziehungsweise die höhere Profitrate zu sichern...
Selbstverständlich, so denken instinktsicher die Gewalthyänen, man kann es sich schon was kosten lassen, den verwesungstriefenden kapitalistischen Leichnam mit Girlanden zu umwickeln, wer wird auch seinen eigenen Gestank und seinen Totenschädel offen auf der Straße umhertragen! Ideologische Parfümeriefabriken tun bei dem allgemeinen Verwesungsgestank dringend Not: man muss die Verwesung wenigstens wohlriechend machen! Kulissen her! Man kann sich doch nicht so jämmerlich, wie man in Wirklichkeit ist, zeigen! Ja, denn es geht hart auf hart! Alle Kräfte mobilisiert zum Endkampf, heißt es da; hungern lassen, heißt es da, ausbeuten! Nur die Massen nicht in revolutionären Schwung kommen lassen,
nur die Haltung nicht verlieren. Nur jetzt nicht.. Verflucht, bleibt bald für das internationale Weltkapitel nur noch China übrig, immer spärlicher werden die Akkumulationsreste... und wenn man sich nicht mehr um Absatzgebiete hinmorden kann, was dann... Wie soll man weiterhin den Mehrwert realisieren!?... Die Welt ist aufgeteilt: nun muss man wohl bald dem Konkurrenten den Produktionsapparat selbst zerschlagen...
Und Worte sind in solchen Zeiten nicht mehr dazu da, um die Wahrheit zu sagen, sondern: um sie zu verdecken...
Nun, gut! Wir werden ihnen aber, wie man so sagt, mörderisch in ihr verruchtes Handwerk pfuschen. Wir werden reden, nicht um die Gegensätze zu verdecken, sondern um sie aufzureißen. Damit alle sie sehen können, werden wir die Wirklichkeit, nackt und brutal wie sie ist, in einen Kegel von Blendlicht stellen...
Ja, euere Pflicht wäre es zu reden, Intellektuelle, um die Klassenkräfte mit in Bewegung zu bringen, euere Pflicht wäre es, den Motor an der Kampfmaschine des Klassenwiderstreites mit anzukurbeln, für den nötigen Brennstoff mit zu sorgen, mit zu sorgen dafür, dass die Zündkerze intakt bleibt. Euere Pflicht wäre es, die proletarischen Klassenenergien mit zu entwickeln. Euere Pflicht wäre es, zu reden, um nicht an der drohenden Versackung ganzer Geschlechter im „absoluten Krieg", d. h. im „Gassumpf", mitschuldig zu werden.
Euere Pflicht wäre es, nicht nur zu reden, um nicht an dem stündlichen ungeheueren Menschheitsverbrechen mitschuldig zu werden, sondern...
Und wenn es euch auch den Kopf kostete!
Aber auch im Fall, dass euere Entscheidung für die Revolution ausfällt, auch in diesem Fall gilt es, mit einem festeingewurzelten Aberglauben gründlich aufzuräumen.
Denn Revolution bedeutet nicht nur gefühlsmäßige, begeisterungsflammende Hingabe an das revolutionäre Ideal. Damit ist bei weitem noch nicht alles getan. Revolution ist nicht nur der bewaffnete Aufstand, ist nicht nur das Stadium des Emporflammens der Massen-Empörung, Revolution bedeutet auch kleine zermürbende Parteiarbeit. Revolution ist auch die Klebekolonne. Revolution sind auch leere Versammlungen. Revolution ist Legalität und Illegalität. Die Kampfmaschine der Revolution: sie treibt einen ungeheueren Verschleiß an Menschenzahl und Menschenkraft. Revolution ist gründlichstes, exaktestes Wissen; sie ist das härteste, gewagteste und furchtbarste Lebenstraining dieser Welt; sie fordert deine Disziplin, deine Ausdauer, sie fordert dich hinein bis auf die letzte Nervenfaser; sie fordert dich ganz. Aber es ist unschwer, wie Lenin sagt, revolutionär zu sein, wenn die Revolution schon ausgebrochen ist und in Flammen steht. „Nicht der ist revolutionär, der beim Eintritt der Revolution revolutionär wird, sondern der, der auch zur Zeit des stärksten Wütens der Reaktion die Grundsätze und die Losungen der Revolution verficht..."

„Wir möchten es für euch wünschen, Kameraden, wir möchten es herzlichst für euch, in euerem eigenen Interesse wünschen: lernt wieder kennen Heroismus, Aufopferung, Kameradschaftlichkeit. Lernt wieder kennen, was es heißt, dass der Mensch nicht nur eine Ware ist, dass der Mensch nicht nur ein über alle Maßen gedemütigtes Ausbeutungs- und Spekulationsobjekt ist, sondern dass der
Mensch vor allen Dingen noch ein Wesen ist, das aus einem Herzen besteht, das schlagen will, aus einem Gehirn, das denken will, aus Fleisch und aus Blutteilen. Lernt wieder kennen, nachdem ein Ideal nach dem andern euch zertrümmert worden ist, lernt wieder kennen das Gefühl, einer Bewegung anzugehören, der die Zukunft gewiss ist und deren Sieg gleichbedeutend ist mit Menschenwürde und Menschenfreiheit. Hier findet ihr hoch hinaus über alle spielerische Formelfexerei und geheimnisgeile Spekulationskrämerei wieder einen kräftigen Lebensinhalt. Unser Leben hat einen wesentlichen, das heißt einen zukunftszeugenden Inhalt: das ist das einfachste und wunderbarste zugleich, was ein Mensch von sich aussagen kann. Ein Lebensinhalt, um den es sich zu leben und zu kämpfen lohnt, und ein Lebensinhalt, um den es sich, wenn es sein muss, auch zu sterben lohnt. Mehr als das, etwas Schöneres, Herrlicheres, Gewaltigeres gibt es nicht, was der Mensch dem Leben abzugewinnen vermag...
Kämpft mit uns, wenn ihr wirklich ernsthaft gewillt seid, dass endlich Schluss gemacht wird mit jenen uniformierten Folterbestien, kämpft mit uns, wenn ihr wirklich ernsthaft gewillt seid, dass endlich Schluss gemacht wird mit jener Minderheit von Mehrwertshyänen in Menschengestalt, die Glück, Freude, Leben, Gesundheit von Millionen und Abermillionen Menschen täglich, ja stündlich auf dem Gewissen haben! Kämpft mit, Kameraden, wenn ihr die Wiedergeburt des Menschen aus der Menschengemeinschaft wollt, kämpft mit uns, Schulter an Schulter mit dem klassenbewusstesten Teil des Proletariats, Schulter an Schulter mit der Kommunistischen Partei: für die Grundsätze und für die Losungen der Revolution ... "
Solche und ähnliche Aufrufe erschienen damals in allen Universitäten, Hochschulen... Und die idealgesinntesten und aktivsten Elemente der bürgerlichen Gesellschaft traten unter die rote Fahne. Es geschah, dass mancher Chemiker, Techniker, Künstler, Gelehrte, Arzt plötzlich, wie aus einem Lebensschlaf erwachend, die Augen sich rieb, staunte: „Ja, die Kommunisten sind ja gar nicht so... Die hab ich mir immer ganz anders vorgestellt!" Und mit einer ungeheueren Überzeugungswucht und einem fanatischen Bekennermut sich die gefährlichsten Kampflagen aussuchte.
Zahl, Kampfstärke der beiden Fronten änderten sich Tag für Tag.
An manchen Stellen war ein großes Überlaufen...
Zwischenstufen, Mischungen, seltsamste Kombinationen, Übergänge: die ganze Welt erschien in einem strudelnd flüssigen Zustand, und gespensterhaft phosphoreszierend. —

 

2

Ein kurzer, schlagartig einsetzender Generalstreik: das war das Vorspiel zum bewaffneten Aufstand. Nicht überall lösten sich gleich bewaffnete Kämpfe aus, wie denn überhaupt die ganze Lage nicht schematisch zu beurteilen war. Über manchen Landesteilen lagerte eine unheimliche Stille; war es Stille vor dem Sturm oder Grabesstille!? Es war Stille vor dem Sturm, wie sich bald herausstellte. Und jene Führer der Arbeiterbewegung hatten wieder einmal bitter Unrecht behalten, die auch damals von der Kampfmüdigkeit und von der Gelähmtheit der proletarischen Energien unkten. Wurde auch die Generalstreikparole nicht überall gleich restlos befolgt, beim Ruf zum bewaffneten Aufstand zögerten nur noch wenige...

Um diese Zeit starb auch plötzlich der hochbetagte Präsident der Republik am Schlagfluss.
„Berufsmörder!" — „Mit Orden ausgezeichneter Funktionär des Menschenmassenmords", fluchten die einen ihm ins Grab nach. „Deutschlands letzte Stütze!" — „Unsere letzte Hoffnung!" flennten die anderen.

„Deutschland über alles", hörte man damals das letzten Mal.
Deutschland war in den letzten Jahren immer mehr zur Bedeutungslosigkeit eines reinen Vasallenstaates, einer Industriekolonie, herabgesunken. Die nationalen Kreise, die mit der Parole „Nichterfüllung" ans Ruder kamen, wurden im Moment der Regierungsübernahme zu Vollstreckern der Verschacherung des deutschen Nationalguts. Immer raffiniertere Methoden im Volksbetrug wurden ausgebildet, bis diese eines Tages in einen ganz gemeinen offensichtlichen und plumpen Schwindel umschlugen. Dann wurde künstlich sofort das patriotische Delirium aufs höchste gesteigert, „Deutschland über alles" ertönte, wie immer, wenn ein ganz gerissenes Schiebermanöver im Gang war...
Die hin und wieder unter Ausbrüchen heilig-flammender Empörung gegen Deutschlands Vergewaltigung erhobenen Proteste wie auch das ganze Gefasel von der Wiedergutmachung der Schuldlüge usw. war ein vorher genau mit den einzelnen Staatengruppen abgekartetes Spiel, damit sich den gutgläubigen Kleinbürgern gegenüber die nationale Farbe der Regierungsträger nicht verwischen sollte. Ja, diese hatten sich durch die Bank
so brav und ordentlich gehalten, dass der Völkerbund ihnen sogar ihre einstigen Kolonien als Mandat übergab.-
Wie Hammerschläge zum Sarge des Reichsoberhauptes dröhnten jetzt die Geschütze in das Stadtinnere aus den Vororten herein, wo Militär und bewaffnete Arbeiterschaft miteinander im Kampfe lagen.
Von Stacheldrahtverhauen geschützt, bewegte sich der Leichenzug dem Dom zu, wo die Beisetzung stattfand. Auf Paraden und feierliches Gepränge hatte man, wie man öffentlich kundtat, in Anbetracht der traurigen Lage der deutschen Volksgemeinschaft verzichtet.
Vor dem Dom machte sich eine Gruppe von Provokateuren ans Werk, schleuderte eine Bombe ins Publikum, die fehlging, aber immerhin eine ungeheuere Panik hervorrief, bei der viele umkamen und es Hunderte von Verletzten gab; und eine Viertelstunde darauf ließ die Regierung bereits die Nachricht von einem kommunistischen Bombenanschlag verbreiten. Man erklärte die Kommunisten für vogelfrei. Die „Schwarz-Weiß-Roten" zogen auf Kommunistenjagd. —

Draußen in einem Arbeiterviertel auf einem weiten Platz waren in roten Särgen die ersten Revolutionsopfer aufgebahrt.
Als die KPD-Truppen anmarschierten: das klang hart, exakt, schneidend. Schlagartig, metallisch, knallend.
Der Revolutionsgesang war ein kräftiges, in Rhythmen gefasstes Klassenkampfbekenntnis, ein Schwur, eine Bürgerkriegsfanfare, eine unerbittliche Kampfansage.
Dieser Trauermarsch war ein Kriegsmarsch.
Ein Genosse sprach.
Er sprach von der roten Blutmauer der Föderierten: „Die Mauer der Föderierten auf dem Kirchhof Père-Lachaise, wo damals der Massenmord vollzogen wurde, steht noch heute, ein stummberedtes Zeugnis, welcher Raserei die herrschende Klasse fähig ist, sobald das Proletariat wagt, für sein Recht einzutreten. Dann kamen die Massenverhaftungen, als die Abschlachtung aller sich als unmöglich erwies, die Erschießung von willkürlich aus den Reihen der Gefangenen herausgesuchten Schlachtopfern, die Abführung des Restes in große Lager, wo sie der Vorführung vor die Kriegsgerichte harrten... " Und der Genosse schilderte weiter, wie diese Mauer durch alle Länder hindurch, über alle Meere hinweg sich hinzieht, wie sie mit Strömen Proletarierblut getränkt ist und wie diese Mauer auch heute wieder auferrichtet ist, turmhoch, wie an ihr das gesamte Proletariat steht, ausgesucht von der weißen Menschenbestie dazu, wehrlos niedergemetzelt zu werden... Aber wie das Proletariat nun selbst zur Mauer wird, jede Brust ein Stein, jede Gruppe von Proleten ein scharfkantiger Quader, und wie plötzlich sich diese proletarische Menschenmauer in Bewegung setzt, stampfend über die Leiber der Mörder sich hinwegwälzt... und das vergossene Blut in der Mauer zu leuchten beginnt, rotes Siegesblut und rotes Opferblut eins wird, glühend rot...
Und schloss mit den Worten Lenins: „Auf je hundert unserer Fehler, die die Bourgeoisie und ihre Speichellecker in die Welt hinausschreien, kommen zehntausend große Heldenakte, die um so größer und heldenhafter sind, als sie einfach und unscheinbar sind, sich im Alltag des Fabrikviertels, oder des entlegenen Dorfes abspielen und von Menschen begangen werden, die nicht gewohnt sind und auch keine Möglichkeit dazu haben, ihren Erfolg in die Welt hinauszutrompeten... " Unsterbliche Opfer...

Weiter ging der Kampf.
Maschinengewehrfeuer knatterte aus Flugzeugen, die dicht über die Dächer hinwegflogen. Proletarische Scharfschützen aber schossen in einem Stadtviertel aus Dachluken und hinter Kaminen hervor ein ganzes Geschwader ab. Ungemein beweglich war die Kampfesart, die sich im Verlauf der bewaffneten Aktion die Arbeiter zu eigen machten. In kleinen elastisch hin und her manövrierenden Trupps wurde gekämpft, die sich trennten, blitzschnell sich wieder vereinigten und. beinahe ohne Kommando sofort entschlossen zu einem Angriffsstoß ausholten. Polizeiwachen wurden erstürmt, niemand aber beging mehr den Fehler, sich darin festzusetzen und die anrückenden feindlichen Truppenteile aus der Verteidigungsstellung heraus zu bekämpfen. Jede erstürmte Stellung wurde sofort geräumt, geschickt maskiert, tagelang blockierte dann oft unter ungeheueren Verlusten der Feind solche Masken. Der Kampfgeist der „Weißen" wurde dadurch bedenklich zermürbt. Schweres Artilleriematerial, Flammenwerfer, Phosphor-Brandspritzen wurden mühsam herangeschafft, denn nur nach gründlichster Vorbereitung konnten die weißen Kommandos noch einen Sturm wagen. Bei übermäßigen Verlusten oder Rückschlägen ergab sich sofort eine Unzahl von Insubordinationen und Desertionen, nur die technische Überlegenheit verhinderte in diesem Moment noch den völligen Auflösungsprozess...
So bewegte sich auch auf einer Erkundungsfahrt ein Geschwader von Kampfwagen mitten in das Zentrum des Arbeiterviertels hinein.
Die Kampfwagen waren gasdicht abschließbar und mit Sauerstoffapparaten ausgerüstet.
Glühend heiß war es im Innern des Panzerwagens. Die Fünf-Mann-Besatzung schwitzte, und das eiserne Ungetüm holperte polternd über die aufgerissenen Straßenpflaster. Der Leutnant stand am Sehschlitz, brüllt die Kommandos. Wie ein Unterseeboot schwankt der Tank im hellen Gewässer des Tages einher.
Nichts ist zu sehen. Nur kurz und hart schlagen außen die Geschosse unsichtbarer Schützen auf dem Stahlpanzer auf.
„Hagelwetter bei heiterem Himmel."
Doch die Fünf-Mann-Besatzung ist nervös, es wird heiß und immer heißer bis zum Ersticken, man ist halbnackt und feuert, was die Kugelspritze hält, drauflos. Man stößt mit voller Kraft über die Straßenecken vor, vermeidet jeden toten Winkel, wendet kurz und schlenkert weiter im Zickzack straßeneinwärts. Hinter allen Fenstern spürt man Augen, Augen, die wie sengende Strahlen in das Wageninnere hineinbrennen, vorwärts, rückwärts, oben und unten: überall lauert der Feind. Und die Antenne ist schon kaputtgeschossen. Man ist abgeschnitten... Nur der Motor rauscht und summt.
Wieder um eine Ecke.
Haustüren weit offen... Man funkt hinein...
Der Leutnant sieht sich um: die vier Soldaten, Bauernjungens, machen giftige Gesichter. Reißen mit Wut an den Hebeln, ihre Bewegungen sind Stoß und Faustschlag...
Eine Leiche liegt mitten auf der Straße.
„Volle Fahrt!"
Drüber hinweg...
War es eine Leiche!?
Oder hat es sich im Tuch bewegt?!
Und der Leutnant schreit noch: „Jetzt Kinder, seid doch vernünftig, eine geballte Ladung! Achtung..."
Und während die vier Soldaten ihm an die Kehle springen, einer ihm das Messer zwischen die Rippen stößt, die Pistole ihm zwischen den Fingern hindurchfällt, flutet auch schon eine Feuerwelle durch den Panzerraum; zwei, drei kurze Detonationen... und die fünf Menschen hocken am Boden: in sich verkrümmt, wie verkohlte Baumstümpfe.
Auch die vier anderen Wagen des Geschwaders waren abgefangen. Die Mannschaften hatten sich bedingungslos ergeben.
Die Schäden waren leicht auszureparieren.
Genosse Max Herse gehörte zur Besatzung des Wagens „Roter Blitz", der auf Patrouille ausfuhr...

Wunderbare Dinge geschahen.
So kam einer die Straße herunter, ein gutgekleideter Mensch, mit dem Taschentuch winkend, auf den Wagen zu, meldet sich mit einer tränenerstickten Stimme: „Helft mir! Ich will wieder ein Mensch werden. Ich war es nur einmal in meinem Leben, drei Tage lang... Seitdem, ach..." Der sonderbare Überläufer wird im Wagen mitgenommen, kämpft später bei einer roten Sturmabteilung, fällt, ist schwerverwundet, und sein letztes Wort ist: „Ich kann euch nicht sagen, wie glücklich ich bin... nun ist ja alles gut so..." —
Das Kampfgebiet wurde mehr und mehr von den Arbeitervierteln weg in den Westen der Stadt verlegt, wo sich die Villenquartiere und die vornehmen Geschäftshäuser befanden.
Gemeinsam mit den roten Partisanen operieren die roten Kampfwagen.
„Nicht verbarrikadieren!" so heißt es immer wieder...
Da trifft die Nachricht ein:
„Die Funkstation ist besetzt."
„Der Generalsturm bricht los!"
„Überall in ganz Deutschland!"
„Russland mobilisiert. Russland marschiert."
„Über der polnischen Grenze steht schon das rote Gewitter."
So stark wirkte die Nachricht, dass zwei weitere Stadtviertel in dieser Nacht von den Arbeitern erstürmt wurden.

Die Arbeiter sind ihrer Sache sicher und siegesbewusst. „Die Welt wird unser sein!" — „Wir haben es lange genug nur gesungen."
Erwischt man einen von den „Schwarz-Weiß-Roten", so haut man ihm die Jacke voll, lässt ihn laufen...
Bis eines Tages ein „Roter" den „Weißen" entkommt, der Leib ist über und über mit Peitschen- und Säbelstriemen bedeckt, über zwanzig Bajonettstiche, das eine Auge ausgerissen... und er erzählt: an den Laternenpfählen... unmenschliche Martern... Spießrutenlaufen ... Vergewaltigung von Arbeiterfrauen... Hinschlachtung von politischen Gefangenen in den Gefängnissen... und Gas, Giftgas... die Vorbereitungen sind getroffen... Nehmt euch in acht!... Dicke Luft... Die Hauptsache, die kommt erst..."
Von mehreren Seiten werden jetzt kurz hintereinander diese Aussagen bestätigt.
Der Prolet beißt die Zähne fester zusammen. „Gut so, wenn sie es haben wollen... Von nun an wird kurzer Prozess gemacht!..."

 

3

Max wurde in besonderem Auftrag ins Reich geschickt.
Die Bahnhöfe, noch in den Händen der Regierungstruppen, waren gesperrt. Nur Munitionszüge und Truppentransporte verkehrten. Viele Brücken waren gesprengt, auf weite Strecken die Schienen aufgerissen, Züge flogen jeden Tag in die Luft.
Max fuhr mit dem Motorrad.
Serien von Landschaften zogen an ihm vorüber, kaleidoskopartig, wie ein Filmstreifen.
Die Aufträge, die er zu übermitteln hatte, waren in den verschiedenen Hohlteilen der Maschine gut untergebracht. Auch besaß er verschiedene Ausweise, darunter auch einen „schwarz-weiß-roten"...

So flog er an dunkelgrünen Wiesengründen vorbei, auf denen noch friedlich die Kühe weideten, an Äckern, die leicht gekräuselten Wellenbeeten glichen: so lag das Heu in Reihen... Durch Dörfer hindurch, wo ihm, Bittgebete leiernd, eine gebrechliche Prozession entgegenhinkte. Unbewegt stand noch so ein Dorf, wie ein träger zähflüssiger Tümpel, inmitten der gewaltigen Wirbelbewegung, die die Industriegebiete bereits längst ergriffen hatte.
Andere Orte wieder durchfuhr er, lange Autoreihen hielten vor prächtig und amerikanisch aufgemachten Hotels: die ausgewanderten Reichen waren hierher geflüchtet, hier hatten sie sich wie die Ratten bei einer Feuersbrunst in die Schlupflöcher verkrochen. Landhäuser, Villen mit Laubgängen und herrlichen Gartenanlagen grenzten an den See: wie viele Tausende von Menschen werden einst in diesen Erholungsheimen ihr Leben feiern! Schwer und solid gebaute Klöster standen vierschrötig auf Bergkuppen: auch hier, das ganze Land in dieser Gegend war ein tief wieder Lebensatem schöpfendes Ausruhen.
Auch Siedlungen: mit Freideutschen, Christussen und „Wandervögeln" darin, die sich selbst auf den Aussterbeetat gesetzt hatten, in die seltsamsten metaphysisch-verschrullten Gedankengänge verstrickt, dabei vegetierend und wurzelkauend. Eine zwanglose Selbstausschaltung dauernd Lebensuntüchtiger aus dem Gesellschaftsprozess, ein Ersatz für Irrenanstalten bei harmloseren Fällen von Geisteserkrankungen.
In der Nähe befanden sich einige ausgedehnte Konzentrationslager, in denen neue Armeen gebildet wurden, Büros zur Anwerbung von Freiwilligen waren fast in jeder Gemeinde untergebracht, die Pfaffen warben eifrig für diese Verbände im Beichtstuhl und von der Kanzel herab bei ihrer Predigt.
Weiter ging's.
Hier und dort hatten es die Regierer allerdings schon gründlich mit den Bauern verscherzt, die ihre Dörfer verlassen hatten und sich, wie das Gerücht ging, in einer bestimmten Gegend zu einem Heerhaufen sammelten. Manchmal waren Flammenschein und Rauchsäulen am Himmel: Gutshöfe und Kirchen brannten: die Bauernschaft war aufgestanden und hatte ihre Peiniger zu Paaren getrieben. Unbewegt wie holzgeschnitzte Figuren standen an Wegkreuzungen, rote Binden um den Arm, die bäuerlichen Wachtposten, und oft, durch einen kurzen Durchblick durch einen Wald hindurch, sah man: auf geschlungenen Feldpfaden Züge von Marschierenden An einer Stelle war es zum Zusammenstoß gekommen. Max musste einen Umweg machen, alle Straßen lagen unter einem schweren Feuerdruck.
An dem berüchtigten Zuchthaus kam Max vorbei, in dem ein halbes Tausend von politischen Gefangenen elend sein Leben fristete, über zweitausend Jahre Gefangenschaft saßen darin; dort in dem Mauerwinkel, über den großen Lindenbaum hinweg, war die Stelle, wo die Hinrichtungen mit dem Fallbeil stattfanden.
Kein Gefangener war hinter den Gittern zu erblicken.
Schlafen sie noch oder haben sie ihren Zwingkäfig bereits verlassen?
Der Nächstbeste unten im Dorf konnte ihn darüber aufklären.
Vor zwei Tagen, da war es, da hätten die Gefangenen gemeutert, seien unruhig geworden, man hätte es bis ins Dorf herunter gehört. Da habe die Gefängnisleitung die einzelnen Zellen mit Matratzen abdichten lassen, die Zellenräume vergast, in jede eine Giftgasflasche hineingelegt... Drei Minuten hat es gedauert und der Lärm, der in diesem Stadium dem Gebrüll von Tobsüchtigen glich, war zu Ende.
Es wird die Zeit kommen, knirschte Max grimmig, da man wieder dazu zurückkehren wird, Galgen öffentlich auf den Plätzen zu errichten, eine Hinrichtung zur Volksbelustigung zu machen, und wo man Torturen rücksichtslos anwenden wird. Da werden Reihen von Märtyrern auf den Tischen unter dem Strang stehen, eine weiße Kapuze über, um den Hals die Bulle des Todesurteils... und man wird den Tisch unter ihren Füßen hinweg-
ziehen, fest strafft sich der Strick, und die zwei oder drei Henkersgesellen hängen sich mit ihrem Gewicht noch an den Leib des Verurteilten... und die Sache ist erledigt. Man wird Menschen bis oben hin in Watte einwickeln, mit leicht brennbarem Öl begießen, anzünden und sie laufen lassen. Wir sind im Anfang einer Zeit von Grausamkeiten, Barbareien, Gräueln ohnegleichen, und bei all dem wird man verlogen, wie man ist, ver­ächtlich und human aufgeklärt auf die Geschichtsepoche der Inquisition und der Hexenprozesse herabblicken... Unsere Gerichte sind Fabriken, weiter nichts als Fabriken, in denen nach einem bestimmten Schema, Gesetz genannt, serienweise Urteile fabriziert werden. Wer in dem Besitz dieser Fabriken ist!? Na, wir werden dafür sorgen müssen, dass diese Betriebe möglichst bald betriebsunfähig gemacht werden!...

So kam Max bis ins Ruhrgebiet.
Eine gelbliche Nebelschicht lag in der Luft. Es war still, wie ein Feiertag. Max erinnerte sich an jene Bergwerkskatastrophe, die damals den ersten Anstoß zu seiner proletarischen Bewusstwerdung und zu seinem neuen Leben gegeben hatte. Was der Kollege Straßenbahner jetzt wohl machen mag!?... Und Wilhelm!? Ein jeder von denen stand auf seinem Posten, ein jeder hatte im großen Schlachtfeld seinen bestimmten Kampfplatz.
Auch Lene... Sie war seit der Ausrufung des bewaffneten Aufstands als Sanitäterin bei einer neu sich bildenden roten Armee in Ostpreußen...

Das gesamte Ruhrgebiet war ein einziges rotes Riesenbollwerk.
Fieberhaft wurde gearbeitet.
Überall Patrouillen, Sicherungen, Motorradfahrerabteilungen...
Die Erde war geplatzt: nicht eine Armee nur, nein drei, vier rote Armeen waren aus dieser mit Proletarierblut überreichlich gedüngten Erde herausgestampft.

Nach heftigsten und für beide Seiten verlustreichsten Kämpfen war die weiße Armee geschlagen worden, sie löste sich auf dem Rückzug vollends auf, und die rote Armeeleitung war eben dabei, einen groß angelegten Aufmarschplan gegen Norden, über Hannover, gegen Berlin auszuarbeiten.
Hier sah Max zum ersten Mal einen roten Panzerzug. Pfeifend und schnaubend, unter dem Gesang „Völker, hört die Signale" schob er sich ins grüne Land hinein.
„Glänzend organisiert", musste Max anerkennen. „Und was für eine Disziplin!"
„Kein Fall von Plünderung oder ähnlichem ist bei uns vorgekommen, ja ja, wir haben eben eine revolutionäre Tradition... Die vielen Kämpfe in den vorhergegangenen Jahren sind nicht umsonst gewesen... ", wurde ihm im Hauptquartier berichtet. Und Heldentaten wurden erzählt, ohne Namensnennung, jeder hatte sie vollbracht, sie gehörten alle zusammen...
Hier erfuhr Max weiter: Generalstreik in USA. Bewaffnete Demonstrationen gegen den imperialistischen Krieg in USA. Die Negervölker in den Kolonien stehen auf... Bis über Afrika, in Ägypten und Indien. Streik der chinesischen Arbeiter in den japanischen Spinnereien in Tsingtau. Sympathiestreik des japanischen Proletariats. Bewaffnete Zusammenstöße. Japans werktätige Massen sind in Aktion; Massen-Mobilisation; brechen ihr Sklavenjoch...
Den Nachrichten von Amerika gegenüber verhielt sich Max von Anfang an skeptisch.
Die Partei ist noch schwach. Und das kann einer revolutionären Bewegung immer das Genick brechen. Wie viel Schutt spült eine Revolution herauf: Desperados, Hochstapler, Hasardeure: wenn da nicht fest zugegriffen wird, und die Miesmacherschweine dazu und die Flautegeier...! Spitzel und Provokateure... ! Nur eine starke Organisation... sonst geht das Spiel blutig verloren... Alle gescheiterten Aufstände lassen sich auf den Mangel einer führenden Rolle der Partei zurückführen...
So 1919 zum Beispiel!
Vom Roland bis zur Viktoria standen die Massen Kopf an Kopf. Bis weit hinein in den Tiergarten standen sie. Sie hatten ihre Waffen mitgebracht, sie ließen ihre roten Banner wehen. Sie waren bereit, alles zu tun, alles zu geben, das Leben selbst. Eine Armee von zweihunderttausend Mann. Und da geschah das Unerhörte. Die Massen standen von neun Uhr früh an in Kälte und Nebel. Und irgendwo saßen die Führer und berieten. Der Nebel stieg, und die Massen standen weiter. Aber die Führer berieten. Der Mittag kam, und dazu die Kälte, der Hunger. Und die Führer berieten. Die Massen fieberten vor Erregung: sie wollten eine Tat, auch nur ein Wort, das ihre Erregung besänftigte. Doch keiner wusste, welches. Denn die Führer berieten. Der Nebel fiel weiter, und mit ihm die Dämmerung. Traurig gingen die Massen nach Hause: sie hatten Großes gewollt und nichts getan. Denn die Führer berieten. Im Marstall hatten sie beraten, dann gingen sie weiter ins Polizeipräsidium und berieten weiter. Draußen die Proletarier auf dem leeren Alexanderplatz, die Knarre in der Hand, mit leichten und schweren Maschinengewehren. Und drinnen berieten die Führer Im Präsidium wurden die Geschütze klargemacht, Matrosen standen an jeder Ecke der Gänge, im Vorderzimmer ein Gewimmel, Soldaten, Matrosen, Proletarier. Und drinnen saßen die Führer und berieten. Sie saßen den ganzen Abend und saßen die ganze Nacht und berieten, sie saßen am nächsten Morgen, als der Tag graute, teils noch, teils wieder, und berieten. Und wieder zogen die Scharen in die Siegesallee, und noch saßen die Führer und berieten ...
Nur war es mehr eine Frage der Führung als der einzelnen Führer, es war die Partei, die fehlte.
Die Konterrevolution aber arbeitete indessen nach einem einheitlichen Plan. Sie rechnete nicht nur mit Berlin, sondern mit dem ganzen Reiche. Ein Werbebüro nach dem andern wird eingerichtet, auf Lastautomobilen werden Waffen herbeigefahren. Kraftwagen aus Kasernen und Depots, ein ganzer Park von Fuhrwerken wird in Dahlem zusammengestellt, wohin inzwischen Noske und Oberst Reinhardt aus Berlin geflüchtet sind. Nach drei Tagen schon glich die Gegend einem Kriegslager. Es wurde mit fabelhaftem Eifer und großer Schnelligkeit gearbeitet. Auffüllung von Restbeständen der Gardekavallerieschützendivision in Berlin — Zusammenfassung kleiner Truppenteile in den märkischen Dörfern — eine letzte Besprechung und nach schleuniger Zusammenstellung von Einwohnerwehren in den Berliner Bourgeoisievierteln: Einmarsch, Sturm auf die von den Arbeitern besetzten Gebäude und fünf Tage darauf: Berlin, die stärkste Festung der deutschen Revolution, war gefallen.

„Und nun Glück auf die Reise, Max, wie ungeheuer wichtig das ist, was du durchzuführen hast, weißt du ja selbst..."
Und schon lag das Ruhrgebiet hinter ihm. Weiter ging's.
Max traute seinen Augen nicht: Da bewegte sich durch die Straßen eines Provinzstädtchens ein großer Festzug, Militärvereine und Musikkapellen waren in dem Zug, den verschiedene historische Gruppen „verschönerten". Auf zwei Wagen zogen die Pfahlbauern mit ihren Häusern daher. Ihnen folgte Hermann, der Cherusker, mit einem bewaffneten Gefolge. In Tierfelle gekleidet zeigten sich die Alemannen. Die Kreuzfahrer, ein gewisser Graf Eberhard im Bart, Landsknechte zu Fuß und zu Pferd. Stolz marschierte Theodor Körner in lebenswahrer Nachahmung, hinter ihm ritten die Schillschen Offiziere. Und gar welch ein erinnerungsvolles Bild bot die Kolonialtruppe, bei der ein mit acht Ochsen bespannter Wagen schwarze und weiße Bewohner der Kolonien mit sich führte...
Was war das nur!?
Max lachte aus vollen Kräften.
Es war ein Bezirkskriegertag.
Eine tragigroteske Illustration dafür, wie die Vorstellungen und die Ideen der Menschen noch lange an Zuständen haften bleiben, die bereits durch die tatsächliche materielle Entwicklung der Geschichte längst überholt sind...
Und schon tobten mit bärtigen Stimmen kerndeutsche Männerchöre gegeneinander, vielstimmig, und mit tremolierenden Gefühlsschnörkeln am Ende gesungen, ein Sängermassenwettstreit, ein echt arisches Wettsingen...
„Die Wacht am Rhein". „Heil dir im Siegerkranz". „Wer hat dich, du schöner Wald!"...
Fern schluchzte ein altmodisches Grammophönlein ganz blechern erbärmlich, und mollige Katzen schnurrten hinter den mit Geranien bewachsenen Fenstersimsen...
Die Zuschauer im Bratenrock und Zylinder mit gestickten Fahnen bildeten zu beiden Straßenseiten Spalier, wie schwarz anlackierte Menschenpuppen.
Auch die Bordellmutter Susanne stand mittendrin, notierte in Gedanken eine Bestellung auf Flaschenbier, leckte sich mit der Zunge die Lippen, faltete die Hände und schmunzelte...

Und dann wieder:
Violine, Cello, Klavier...
„Dabei lässt es sich zwar bis zum Schmelzen butterweich träumen, behaglich seelen-schmatzen, liebkosen, plauschen, schweifwedeln, und wenn es hochkommt, bestenfalls noch ein ,guter Mensch' werden... Nichts mehr. Also: Schluss damit!"
Max gab Vollgas und flitzte, sich immer noch vor Lachen schüttelnd, aus diesem gespenstischen Idyll von dannen...

Es kam noch eine Irren- und Siechenanstalt, im Pavillonsystem erbaut: die Blöden tappten mit eckig ungelenken Bewegungen schwerfällig hinter den Zäunen entlang, nickten und grinsten, manche waren ein gleichmäßiges ewiges Wandeln auf und ab, andere wieder wie zu einer Säule erstarrt. Das Heim der idiotischen Kinder war bei weitem das Grauenhafteste, Säufergeburten lagen in den Windeln da, mit unförmigen klumpigen Köpfen, die glanzlosen, wirr in sich verschlungenen Augen schrieen stumm eine entsetzliche Anklage...
Einmal, mit einer Krankenkassenkommission, hatte
auch Max schon einen Gang durch ein städtisches Krankenhaus gemacht. Gewiss, es war sauber, hygienisch, die Gänge, die Bettreihen blitzblank, die Ärzte, die Schwestern in ihren weißen Mänteln und Schürzen: dagegen war nichts zu sagen. Welch ein Widerspruch: die Reinlichkeit, die Pflege, die Barmherzigkeit: sie beginnt erst wenn der Mensch durch die skandalösesten unsaubersten Verhältnisse draußen, durch Gemeinheit, Profitjägerei und Menschenniedertracht unheilbar auf das Totenbett gestreckt ist! Wie viele dieser hier liegenden Gangräne Lungenvereiterungen, innerer Verletzungen hätte eine richtige Behandlung des betreffenden Menschen am Arbeitsplatz unmöglich gemacht. Zu neun Zehnteln bestimmt sind alle diese Krankheiten unnötig: diese durchjauchten Verbände, diese Kübel stinkenden Eiters, diese verstümmelten Menschenkadaver im Leichenschauhaus: eine technisch besser angelegte Gesellschaftsordnung wird auch im Laufe der Jahre diesen ganzen kostspieligen und mit so ungeheuerlichen Leiden verbundenen Menschheitsaussatz hinwegfegen... Und heute: die Mehrzahl der Menschen lebt nicht, sondern wird durchs Leben gehetzt; stirbt nicht, sondern verreckt...
Noch am Abend traf Max am Ziel seiner Fahrt ein.

Es war ein gewaltiger Komplex von Farbstoff-Fabriken, der sich über eine Fläche von mehreren Quadratkilometern erstreckte.
Bei einem Genossen fand Max Unterkunft.
In einem schäbigen Anzug meldete er sich am nächsten Morgen auf dem Arbeitsnachweis, zeigte seine Papiere vor und wurde auf Grund seiner „schwarz-weißroten" Empfehlung sofort genommen.
Am Tage darauf sollte die Arbeit in der Giftbude beginnen.
Wahrscheinlich, so erfuhr er durch die Genossen, werde er als Neuling gleich ins Gift gestellt...
Max trieb sich noch ein wenig in der Umgegend herum.
Einige Holzfabriken in der Nähe streikten. In Gruppen standen die Menschen vor den Telegrafenbüros.
Die Farbstoffindustrie, durch eine besonders zuverlässige Belegschaft ausgezeichnet, arbeitete nach wie vor mit Hochdruck.
Die Konzentration des Militärs war in dieser Gegend besonders stark. Zu Zusammenstößen war es bisher noch nicht gekommen. Überall war die Meldung verbreitet: „Aufstandsbewegung in Berlin niedergeworfen. Ruhe und Ordnung wiederhergestellt."
Die Farbstoffindustriearbeiter waren sofort an der gelblich fahlen Hautfarbe zu erkennen. Die Zähne waren auffallend schlecht, manche Münder wiesen mit eiterigen Geschwüren behaftete klaffende Lücken auf. Die Augen waren durchwegs entzündet.
Viele Arbeiter litten dazu noch an inneren Nasengeschwüren, an einer so genannten Stinknase...
Der größte Teil der Arbeiterschaft der chemischen Industrie war im Fabrikkomplex selbst in kleinen Backsteinhäuschen, mit einem spärlichen Gemüsegarten davor, angesiedelt. Sie durften augenblicklich nur mit besonderer Genehmigung der Fabrikverwaltung das Areal verlassen...
Es war ein älterer, gutmütig aussehender Genosse, mit dem Max ein längeres Gespräch anknüpfte.
„Mehr als höchstens ein Vierteljahr, Freundchen, hält es darin keiner aus. Wenn du an den Bottichen mit der
Gifttunke zu arbeiten hast oder beim Umfüllen in die Flaschen... in drei Monaten spätestens bist du eine Leiche... da heißt es, rasch Karriere machen oder aber... Hier leiden sie alle an Lungenkrebs, das ist sozusagen unsere Berufskrankheit... Und die vielen Fälle von Verbrennungen und Erblindungen... Na, richtige Krepierer sind das... Und überhaupt jetzt: täglich kommen fünfzig neue herein, täglich haben wir an die fünfzig Mann Abgang! Siehst du die Baracken da drüben: das sind die Hoffnungslosen, unser Sterbesalon... Ist eben auch die gefährlichste Industrie ... Und grad gegenwärtig: Hochbetrieb, Saison, Hochkonjunktur! Lohnzuschlag! Überstunden, dass es nur so kracht! Gewaltige Aufträge aus Amerika, sagte man. Heilmittelaufträge. Aber man munkelt allerlei. Ist eben alles noch ungewiss. Keiner weiß was Genaueres darüber..."
Max ließ den nichts ahnenden Genossen wiederholen. „Aufträge aus Amerika... Heilmittel..."
Dabei sah er ihn prüfend von unten an. „Glaubst du eigentlich selbst, was du sagst?..."
„Ja, wir werden ja vermutlich auch streiken... Soll aber bereits alles abgewürgt und eine aussichtslose Sache sein..."
„Eine bestochene, eine korrumpierte Bande seid ihr!" fuhr es Max heraus. „Was ihr produziert, na, vorerst Schwamm darüber...!"
Und Max klärte den Genossen zunächst über Berlin auf.
Dem Proleten standen dabei die Tränen in den Augen. „Nein, was du nicht sagst... Diese Erzgauner... So eine Lumperei..."
„Verlass dich drauf... Auch hier, wir werden schon Trieb dahinter setzen. Auf euch vor allem kommt es jetzt
Ihr habt das Schicksal der ganzen Bewegung in der Hand. Jetzt oder nie!... Morgen wird die Arbeit losgehn!... Parole: auf der ganzen Front ganze Arbeit!"

 

4

Am anderen Morgen wurde Max auch wirklich gleich mitten ins Gift gestellt.
Er hatte sich schon beizeiten auf den Weg gemacht, setzte sich noch vor Beginn der Arbeit mit den roten Zellenobleuten in Verbindung, ermittelte genau die Struktur der Belegschaft: wie viel Sozialdemokraten, Schwarz-Weiß-Rote, Persönliches usw., und besprach mit den Genossen kurz die Situation im Reich, besonders in den großen Industriestädten, worüber die Proleten, da die Regierung noch den gesamten Nachrichtenapparat besaß, völlig uninformiert waren. Dann ging er dazu über, ihnen klipp und klar das Wesen und die Bedeutung ihrer Tätigkeit zu erklären. Einige Flugschriften unterstützten das, doch im allgemeinen konnte man sagen, was das Gebiet der Technik des kommenden Krieges anbetraf, so war darin vom proletarischen Standpunkt aus nur recht wenig Brauchbares geleistet worden. Die Artikel der amerikanischen Genossen, die Resolution, hie und da Aufsätze in den revolutionären Tageszeitungen: aber mit Propaganda allein war eben nicht alles zu machen, und Erfahrung — die Genossen in der chemischen Industrie waren auf dem besten Wege dazu, sich diese möglichst teuer zu erkaufen.
Immer wieder kamen sie mit den Einwänden: „Stimmt ja gar nicht, was du sagst, diese Säuren braucht man zu Seife, und daraus werden Parfümerien gemacht, darüber
besteht doch gar kein Zweifel, sind doch genaueste Kontrollen da, lies doch das Buch der Schweizer Chemikerin, die erstens Kanone in ihrem Fach und zweitens noch dazu eine Pazifistin ist, die lässt sich doch sicher nicht so leicht was vormachen, ihre Kontrollvorschläge hat doch der Völkerbund einstimmig angenommen, und die ganze öffentliche Meinung der Welt ist gegen den Gaskrieg, na und überhaupt... Der Chemische Krieg ist doch verboten, und alle Nationen haben unter Abgabe feierlichster Versicherungen sich dagegen erklärt... Siehst du, Genosse, du magst es ja recht ehrlich meinen, aber wir, die wir jahrelang in der Bude stecken, wir müssen doch schließlich am Ende auch noch was davon verstehn: was wir zum Beispiel in letzter Zeit fabrizieren, sind lediglich Heilmittel, Aufträge nach Amerika, Salvarsan, davon wirst du ja gewiss auch schon gehört haben... Nicht wahr?... Und deshalb auch der Lohnzuschlag."
Man behandelte Max beinahe etwas herablassend wie einen Laien.
„Einen Vorschlag, Genosse Max! Alles, was du uns da sagst, hat weder Hand noch Fuß! Komm erst einmal in unseren Betrieb, schau dich einige Tage gründlich darin um und informiere dich!... Wir wollen dir gern dabei behilflich sein..."
„Gut so!" Max schlug ein.
„Verschrobene Vorstellungen! Inhaltsleere, blödsinnige Phantastereien, alles ein hanebüchener Schwindel, wenn man ihm ernsthaft auf den Grund geht. Ein Kinderschreck! Für alte Weiber und Flennbrüder! Da sieh nur mal her, Max, Märchenerzähler!" Und immer noch schüttelten sie ungläubig die Köpfe. Sie schleppten bürgerliche illustrierte Zeitungen an mit Beschreibungen mechanischer Polizeimänner, die gar gruselig anzusehen waren, mit Todesstrahlen, die mörderisch in den Lüften nach Fliegern herumstocherten und mit anderem ähnlichen Mumpitz.
Dann begannen aber doch einige der Genossen die Artikel der Amerikaner zu lesen, langsam und schwerfällig lasen sie, als ob sie buchstabierten.
Einer dachte schon nach.
Sah lang dabei in die Ferne.
Schüttelte wieder den Kopf, las wieder.
„So meinst du also, Genosse Max, das ganze so großartig ethisch und human aufgezogene Verbot des Gaskriegs durch den Völkerbund soll nichts weiter als nur ein ganz elendiglicher Bluff gewesen sein. Eine Beruhigungspille sozusagen... Um uns Proleten vor allem in Sicherheit zu wiegen... Und damit man um so ungestörter sich der Vorbereitung einer gewaltigen Massenhenkerarbeit widmen kann."
„Das allerdings meine ich", entgegnete Genosse Max.
Und fuhr fort: „Und die Bestätigung dieser Meinung wird nicht lange mehr auf sich warten lassen. Aber wir müssen unseren Gegnern zuvorkommen. Wir können nicht warten bis es soweit ist, da es dann unter Umständen auch bereits zu spät sein kann... "
Wieder kam ein anderer gelaufen. „Also, das... wir, wir Farbindustriearbeiter... Nein, das kann nicht möglich sein... das wäre ja... " Er machte eine Bewegung, als ob er sich krümmte.
Langsam und hartnäckig, mit viel Geduld, arbeitete sich Max in diese Schädel hinein, er gab nicht nach, hielt sie wie mit einer eisernen Umklammerung an ihrem eigenen Gedankengang fest, bohrte weiter und führte sie sicher aus ihren Illusionen heraus.
„Schwierigkeiten sind nur dazu da, um überwunden
zu werden. Schwierigkeiten lechzen geradezu nach ihrer Überwindung." Das war sein Leitspruch bei dieser Tätigkeit.
Immer nachdenklicher wurden die anderen.
Max gab ihnen ungeschminkte Wahrheit. Dadurch gewann er ihr volles Vertrauen. So schilderte er ihnen eindringlich, wie die Revolution ein langwieriger Prozess sei, voll von Aufopferung, Martern, Blut und Wunden, und dass gar nicht daran zu denken sei, dass die Lage der Arbeiterschaft bei der Machtübernahme sich gleich von heute auf morgen bessere. Im Gegenteil... „Wir Kommunisten gaukeln euch nichts vor. Wer die Wahrheit nicht ertragen kann, bitte sehr... Aber es gibt für euch Proleten gar keine andere Wahl. Entweder — oder. Ihr müsst kämpfen oder — untergehn."
„Nein, wir wollen nicht untergehn. Gewiss nicht... Und wenn, wie du uns mitgeteilt hast, unsere Brüder jetzt kämpfen..."
Max bemerkte schon: mit geschärften Augen beobachteten sie alles, was im Betrieb vor sich ging, oft verschwand der eine oder der andere für eine Weile, bis plötzlich eines Vormittags, grün vor Schrecken, einer der Obleute zurückkam und Max leise ins Ohr flüsterte: „Max, ich hab's, es stimmt, was du sagst... Hier ist die genaue Aufstellung... Eine ganze Liste... Also es ist festgestellt: seit drei Monaten fabrizieren wir weiter nichts als Giftgas."

Max beobachtete genau die Herstellungsverfahren.
Die Arbeiter hier in den Betrieben machten lediglich Vorarbeiten. Erst im letzten Stadium vollzog sich die Umwandlung der Produkte in chemische Kampfstoffe.
Diese Arbeit geschah in einem besonderen Gebäude, zu dem niemand Zutritt hatte. Die Arbeiter dort waren vertragsgemäß unkündbar auf mindestens zwölf Jahre verpflichtet. Vor dieser Zeit verließ auch keiner seinen Arbeitsplatz. Sie wohnten dort. Nur Unverheiratete wurden aufgenommen. Dieser Teil des Farbstoffwerkes hieß die „Falle" oder auch „Die feste Burg". Die meisten Arbeiter betrachteten die „Falle" als eine Art freiwilliger Quarantäne, da gewisse Arbeiten mit Ansteckungsgefahr verbunden waren. Nur besonders zuverlässige Leute, am liebsten aus den Vaterländischen Verbänden, wurden hier aufgenommen. Auch frühere Angehörige des Heeres, entlassene Unteroffiziere, Soldaten wurden mit Vorliebe eingestellt. Nach allen vier Himmelsrichtungen hin war die „Falle" von der übrigen Welt abgemauert, über die Mauer selbst aber zog sich noch ein zwei Meter hoher Stacheldraht, wie man vermutete, elektrisch geladen. „Versuche, das isolierte Gebiet zu betreten, mit Lebensgefahr verbunden!" warnten überall Tafeln. Durch ein doppeltes Geleise war dieser mysteriöse Teil des Farbstoffwerks direkt mit der Staatsbahn verbunden. Ununterbrochen rollten nachts Güterzüge ein und aus.
Was dort vor sich ging, darüber erfuhr man im übrigen Betrieb nichts.
Die Arbeiter kümmerten sich nur wenig um die „Falle".
Sie war beinahe von einer Legende umwoben und atmete ein geheimnisvolles Schweigen.
Nur einmal: da soll es zu einem Zwischenfall gekommen sein, als sich einer der Insassen aus dem Fenster stürzte im Wahnsinn, wie es hieß, der durch die unsachgemäße Behandlung von chemischen Mischungen erzeugt worden sei.
Dieser Vorfall kam damals auch in den Betrieben zur
Sprache und wurde in Zusammenhang gebracht mit einer Meldung aus Amerika, die über ein neues so genanntes „Wahnsinnsgas" berichtete.
Die Diskussion darüber dauerte vielleicht eine Woche.
Es kam nichts dabei heraus.
Man wollte zuerst eine Untersuchungskommission einsetzen.
Doch wie gesagt: eine Woche lang, und die erregten Gemüter beruhigten sich. —

Der Fabrikraum, in dem Max arbeitete, war bis aufs äußerste ausgenützt. Es war genau berechnet, wie viel Platz jeder Arbeiter brauchte, jede Arbeitsbewegung war kinematographisch festgestellt: ein elektrisch betriebenes Band rollte und führte dem Arbeiter die einzelnen Arbeitsprodukte zu, an denen jeder Arbeiter nur mit einem Handgriff eine bestimmte Prozedur vorzunehmen hatte. Zeit, Arbeitstempo waren bis auf die Sekunde geregelt. Und immer wieder wurden von den zu diesem Zweck besonders angestellten Arbeitstechnikern neue Methoden herausgefunden, die Arbeitsintensität zu steigern.
Sämtliche Arbeiter trugen zum Schutz gegen die giftigen Dämpfe haubenähnliche Masken, die Gläser der Sehschlitze waren gegen den Beschlag durch ätzende Säuren besonders eingefettet.
Trotzdem waren die Schutzmaßnahmen, hauptsächlich die an den in einem rasenden Tempo wirbelnden Maschinen, recht mangelhaft.
Die schönste Erholung war schließlich der „Sauerstoffraum", der nach je drei Stunden Arbeitszeit auf drei Minuten aufgesucht werden konnte.
Ein dunkles Zischen und Surren schwebte in der Luft, ein knatternder, gedämpfter Orkan, Eisenarme drehten sich und neigten sich vielgelenkig über; Bottiche, gefüllt mit dickklebrigen Brühen, schwenkten sich dicht unter der Decke dahin, ein harziger Brei schwemmte selbsttätig von Kübel zu Kübel, Wunderwerke von Präzisionsmaschinen nahmen die kompliziertesten Mischungen vor. Durch andere Räume hindurch, die großen Hallen glichen, sah man Kessel an Kessel, zwei- und dreistöckige Kessel sozusagen, an denen auf langen Leitern die Arbeiter herumstiegen. Mehrere Plattformen teilten so einen Kessel nach oben ab, Max schien es, als glichen sie ganz den gotischen Kirchen.

Mitten in der Arbeit hatte Max einmal die Vision.
Alles gast, dampft, spritzt; der ganze Raum ist mit fliegenden, spritzenden Säuren durchspannt; es knistert und flackert phosphoreszierend an den Böden, die krautig und haarig bewachsen sind, als Steinbrocken darin klotzige Knochenschädel, und das Ganze brennt tropisch glühend, eine morastige Landschaft, so heiß, dass die Haut unempfindlich wird und die Augen aus den Stirnhöhlen heraustropfen, dicke, perlenähnliche, weißlich-festgeronnene Blasen. Wesen hausen in auszementierten Schlupflöchern und in Gräbern als Unterständen, in schwere Gummianzüge gepresst, Masken-Helme aufgestülpt, durch die Worte nur noch als dumpfes Gurgeln und Röcheln vernehmbar sind. „Der neue Mensch!" dozierte jemand, und immer dichter und dichter ward das gasige Dickicht. „Jetzt endlich haben wir es!" dröhnte pathetisch und wohlig schnalzend eine Stimme. „Eine hochkonzentrierte Gaswolke, die die Möglichkeit bietet, den Gegner zu überrumpeln, und dabei noch die Eigenschaft hat, von
topographischen und meteorologischen Einflüssen völlig unabhängig zu sein... Dies Problem zu lösen, war in der Tat nicht ganz einfach..." Das Besondere an dieser visionären Landschaft war, dass sie geometrisch exakt und sauber aufgeteilt war, ja dass die zahllosen Einzelteile und Figuren in ihr aufs feinste ausgebildet und aufs strengste sich organisiert erwiesen, das Ganze aber durchaus chaotisch und einem mittelalterlichen Spuk und Hexensabbat vergleichbar. Alles drängte nach Auflösung, ein in Strudeln sich um und um drehender Abgrund schwamm, voll von Algen, Lurchen, Schnecken und Quallen. Gestaltgewordene eitertriefende Geschwüre wandelten dazwischen, Gewürme und stachlichte Riesenkletten: alles fabriziert, saugt, atmet Gas: verfärbt sich und verwandelt sich jeden Augenblick, Muscheltiere und Mollusken kommen hoch, ganze Haufen exotischer, mit schlingenden Fangarmen bewehrter fleischfressender Pflanzen, und darüber schillert und brennt es wieder magisch hinweg, man hört beinahe nichts: die Gashölle ist geruchlos und lautlos, und die Sonne in diesem modernen Inferno glüht eisern, roh ausgezackt und völlig unbewegt, schmettert sengend Strahl auf Strahl nieder, jede Luftschicht wirkt wieder, die Hitzgrade vervielfachend, als eine besondere Art atmosphärischen Brennspiegels: und darunter dickt die Luft sich von selbst ein, wird milchig, flockig und schwimmt, schleimige Fäden lassend, über dem Erdsumpf dahin als eine molkige Riesenwolke.. Alle Völker, alle Erdwesen sind durch die Giftgasschwemme hindurchgegangen. Ein neues Wüstengebiet entsteht: alles wie unter einer Bleiche gefleckt und knöcherig überkrustet. —
Max studierte die tabellarische Übersicht der wichtigsten chemischen Kampfstoffe. Es war klar, die neuesten Verfahren waren darunter nicht aufgezählt. Chemische Bezeichnung, chemische Formel, militärische Bezeichnung, militärisch-technischer Deckname, physiologische Wirkung, physikalische Beschaffenheit, Siedepunkt, Flüchtigkeit, Wasserbeständigkeit, das alles galt es gründlich durchzuarbeiten und zu erforschen.
Da erfuhr er, wie in der Geschichte der Entwicklung des Gaskampfes die Gase selbst wechselten. Das Chlor wurde vom Phosgen, einem Gas mit stärkerer Erstickungs- und Giftwirkung als Chlor, abgelöst. Phosgen verdichtet sich bereits bei acht Grad zur Flüssigkeit und war daher vom physikalischen Standpunkt aus kaum mehr als Gas anzusprechen. Auch waren fast alle Stoffe, die im Gaskampf künftighin zur Anwendung gelangten, unter gewöhnlicher Temperatur und Druck entweder Flüssigkeiten oder feste Körper. Die Bezeichnung „Gase" wurde nur beibehalten, weil diese Stoffe im Augenblick der Aktion sich entweder im dampfförmigen Zustande befanden oder dünn als Rauch oder Nebel zerstäubt wurden. Feste Stoffe, wie zum Beispiel einzelne Arsine, wurden bei der Explosion in feine Partikel zerstäubt und verharrten lange Zeit schwebend in der Luft...
Die chemischen Formeln schwankten ihm zunächst in langen, sich immer wieder zersetzenden und sich wieder verdichtenden abstrakten Reihen durch den Kopf. Endlich erreichte er dabei eine klare, konkret-lebendige, sachlich-nüchterne Vorstellung. Was bedeutet zum Beispiel:

(CHCl=CH)3As!?

Es war die Formel für Chlorovinyldichlorarsirt, eine Arsenverbindung, und die Bezeichnung für eine der drei Arten der vielgenannten amerikanischen Levisite.
Das Verfahren zu dessen Herstellung war zwar ungeheuer kompliziert, aber trotzdem mit den technischen Mitteln, die damals in jeder Farbstofffabrik vorhanden waren, unbedingt auszuführen.
Ebenso klar war: man konnte sich aber auch darauf nicht festlegen. Im Gegenteil: alles sprach dafür, dass auch dieser Kampfstoff überholt war. Doch diese Formel war ein Programm, ein Warnungssignal, ein Ausrufungszeichen, ein proletarischer Imperativ: „Wacht auf, Verdammte... "
Sie war sozusagen das Symbol des Nullpunktes, des Gefrierpunktes, auf dem jetzt die bürgerliche Kultur angelangt war. —

Dabei stieß Max auch auf die ungeheure Bedeutung des Normenwesens.
Die moderne Industrie, eingestellt auf Normisierung und Massenherstellung, ermöglichte es nämlich, in verhältnismäßig rascher Zeit anfangs experimentelle Erfolge bald auf Massenverarbeitung umzustellen, so dass bis zu einem gewissen Grade infolge der kolossalen Erweiterungsmöglichkeiten, die dann zu einer rein mechanischen Fortführung des gelungenen Experimentes werden, bei manchen Kriegsmitteln im Frieden die Ausgaben ohne Gefährdung für die militärische Schlagkraft beschränkt werden konnten. Daher legten schon seit langem sämtliche Staaten ein so starkes Gewicht, auch aus militärischen Gründen, auf die Durchführung einer strengen Normisierung innerhalb der verschiedenen Kriegsindustrien und der Industrie überhaupt, die die erhöhte militärische Schlagkraft gewährleistete. Die deutsche Industrie hatte gegenüber allen anderen Industrien schon vor dem Kriege 1914 bis 1918 ein verhältnismäßig stark entwickeltes Normenwesen gehabt. Trotzdem herrschte damals bei Kriegsbeginn in Deutschland auf den verschiedensten Gebieten ein wirres Neben- und Durcheinander von Modellen. Jede Truppengattung hatte beispielsweise Spaten und sonstiges Schanzzeug, aber kaum zwei hatten gleiche Modelle. Es gab unzählige Fahrzeuge, Fahrzeugteile, Beschläge, Beschirrung, optisches und Fernsprechgerät und noch vieles andere, was bei allen Waffengattungen hätte gleich sein können, aber doch nicht gleich war. Verschlimmert wurde diese Buntscheckigkeit durch die Zustände in der Industrie. Jede Fabrik hatte an ihren Erzeugnissen kleine Besonderheiten, die, an sich oft ziemlich belanglos, doch den Austausch und die Durcheinanderverwendung mit den Erzeugnissen anderer Fabriken ausschlossen. Um die Kriegsindustrie und auch die übrigen Industrien auf Massenproduktion von Kriegsmaterial vorzubereiten, wurden in verschiedenen Staaten, ähnlich wie längst in Deutschland, Normenausschüsse der Industrien, die natürlich mit den Generalstäben in enger Verbindung standen, geschaffen. — Man muss nur hören können, wie „das Gras wächst"! —

Mit konkretem Material konnte nun Max der Belegschaft gegenübertreten. „Der Kern der Sache —!?
Der Kern der Sache ist der Besitz der Produktionsmittel!...
Arbeiter der Farbstoffindustrie! Euere Brüder, euere Arbeitskollegen, euere Klassengenossen kämpfen in den Städten, und ihr: morgen, übermorgen werden euere Arbeitsprodukte die Entscheidung im Kampf herbeiführen euere Arbeitsprodukte, die chemischen Kampfstoffe, von Fliegern über den Arbeitervierteln abgeworfen werden. Arbeiter! An euer proletarisches Solidaritätsgefühl appelliere ich. Arbeiter, werdet Kampfgenossen! Schluss mit der menschenschlächterischen Arbeit, die ihr bisher, nichts ahnend, hier in dieser Giftbude verrichtet habt! Generalstreik! Sturm auf die ,Menschenfalle'!"
Die Belegschaftsversammlung war ein einziger Empörungsschrei.
„Heraus aus der Giftbude!"
„Sturm auf die ,Menschenfalle'!"
Schon klapperten auf dem Direktionsbüro flink die Telegrafen.
Aber auch von den umliegenden Ortschaften waren Arbeiter- und Landarbeitertrupps alarmiert.
„Nun aber, knorke, nun werden wir das Gesindel aus der ,Falle' herausholen."
So, wie sie gerade standen, rannten sie los, manche krempelten sich die Rockärmel hoch, manche mit dem Messer; sie waren nicht zurückzuhalten.
Nicht lange spie die „Falle" Maschinengewehrfeuer.
Ein langes, zischendes, brodelndes Geräusch kam:
„Gas!"
„Gas!"
„Gas!"

Mit ungeheueren Verlusten für die Arbeiter wurde der Sturm zurückgeschlagen.
Dabei geschah es, dass einem, vielleicht am Rockärmel, ein winziges Tröpfchen Gasflüssigkeit hängen blieb, er in einen Raum trat, das Tröpfchen Gasflüssigkeit verdampfte und er sich selbst samt ungefähr fünfzig seiner Kameraden tödlich ansteckte.
Das gab auch dem letzten, der noch immer nicht daran glauben wollte, den Rest.
Das ganze Farbstoffwerk musste geräumt werden.
Rings herum auf den Höhen, kilometerweit entfernt, lagen die Arbeiter. Dann: endlich war das Geschütz herbeigeschafft, und beim fünften Schuss stieg eine Flammenlohe hoch, wie ein Feuer-Geysir, prasselnd, fauchend, und zerstäubte über den ganzen Horizont hin, rings fächerartig geöffnet, als Glühregen.
Die „Falle" war in die Luft geflogen.
Erst in drei Tagen ging scharfer Wind.
Die Gasschwaden verzogen sich.
Die Arbeiter konnten wieder in ihren Werken einziehen. —

 

5

Die roten Arbeiter- und Farmerbataillone, die in Kolonnen von Hunderten von Lastkraftwagen bei Morgengrauen auf verschiedenen Anmarschstraßen dem amerikanischen Giftgas- und Waffenarsenal Edgewood zueilten, sahen in der aufgehenden Morgensonne plötzlich vor sich über eine schneeweiß schimmernde Ebene dahingestreckt ein riesiges Mohnfeld.
Die Blüten des Mohns schwangen im Wind, entfalteten sich, wehten und leuchteten...
Einen Augenblick stoppten die Kolonnen, mit Ferngläsern und Scherenfernrohren suchte man den Horizont ab: ein Freudenschrei, ein Schrei, der in einen gewaltigen Massengesang überschlug: Hunderte von roten Fahnen flatterten in der Ferne über den unzähligen weißlichen
Wellblechbaracken und auf den Giebeln der Verwaltungsgebäude, des Kontrollwerkes und der Elektrizitätsanstalt. Ja, der Blitzableiter jedes Fabrikschlotes trug ein rotes Fähnlein.
Edgewood war gefallen! Edgewood, das gewaltigste Kriegsarsenal der Welt, in den Händen der „Roten"! Hurra! Hurra! Hurra!
Wie drei Freudensalven knallte es aus Hunderttausenden von Mündern dahin...
Und in diesem Augenblick stieg es schon auf: Geschwader an Geschwader, Kampfflieger, Aufklärungsflugzeuge, Bombenflugzeuggeschwader: alle rote, lange, bänderartige Wimpel an den Tragflächen. Das ganze Tal überzog sich mit einer Schicht von Flaggenrot und Motorengeknatter: in ruhig geschwungenen Schleifen zogen die Geschwader dahin, in Spiralen tauchten sie auf und nieder in dem gläsernen Luftmeer und landeten dann unter dem gleichzeitigen Jauchzen von Hunderten von Fabriksirenen senkrecht abschießend auf den verschiedenen Flugplätzen...

Der rote Kriegsrat des Farbstofftrusts, dem Arbeiter, Matrosen, Soldaten, die Offiziere des revolutionären Offiziersbundes angehörten, beschloss einstimmig: der Angriff gegen die feindlichen Stellungen, Flugzeughäfen und Flottenstützpunkte hat unmittelbar zu beginnen. Die Operationsbasis ist durch die Industriegebiete und durch die eroberten militärischen Bollwerke gegeben, das Ziel: die rücksichtslose Niederkämpfung der feindlichen militärischen Macht. Zu gleicher Zeit wird ein umfangreicher Propagandaapparat eingesetzt, ein richtiger Feldzugsplan zur Zersetzung, zur moralischen und materiellen, der feindlichen Streitkräfte ist ausgearbeitet und wird in den einzelnen Punkten von den betreffenden Stellen noch heute durchgeführt. Es ist selbstverständlich, bei der geradezu bestialischen Art, mit der die Weißen den Bürgerkrieg zu führen belieben, dass von der chemischen Waffe zweckmäßig Gebrauch gemacht wird. Die Zweckmäßigkeitsfrage wird bei jeder taktischen Überlegung in den Mittelpunkt gestellt, Sentiments und Ressentiments sind restlos auszuschalten... Keiner Erwägung bedarf der Beschluss, sich mit den revolutionären Organisationen Japans, Europas, Russlands unverzüglich in Verbindung zu setzen... Wobei, was andere noch nicht revolutionierte Völker anbetrifft, zu bemerken ist; das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben... Schon sind Fälle ferner gemeldet worden, wonach die Regierungsflugzeuggeschwader die Reviere der revolutionären Bergarbeiter eingegast haben, man hat Kohlenschächte ersäuft, in denen man rebellische Belegschaften vermutete, und durch Überläufer und abgefangene Radios weiterhin festgestellt ist, dass umfangreiche Vorbereitungen getroffen sind, Edgewood durch einen groß angelegten Bombenfliegerangriff in einen Gassumpf zu verwandeln... Also: wir werden ihnen die Suppe gründlich zu schmecken geben, die sie uns zugedacht haben... Das ist selbstverständlich...

Wieder trillerten die Fabriksirenen.
Die roten Fahnen wurden eingezogen: grau und eisig lag Edgewood da.
Die Flugzeuge waren startbereit.
Auf einer elektrisch betriebenen Kleinbahn rollten die
schweren Riesenflügelbomben zum Flugplatz an: sie waren mausgrau, am Kopf dicklich und rund und hatten ganz das Aussehen von Walen. Ein Kommando.
Viele Klingeln schrillten. Leuchttafeln zuckten auf...
Ein Lautsprecher dröhnte —
Achtung!
Los!
Die erste Schlachtstaffel gleitet ab, schnellt senkrecht hoch. Die zweite...
Die Mannschaften unten winken mit den Mützen — Wieder: „Hurra! Hurra! Hurra!" Und die Flieger werfen die roten Wimpel ab... „Kameraden! Auf Wiedersehen!"
Der Führer der Schlachtstaffel III ist der Genosse Thomas.
„Na, mein Junge, noch ein Händedruck... Halt dich gut!... Wir werden die Sache schmeißen... Davon bin ich fest überzeugt... Glück auf die Reise... Ich hoffe: übermorgen!..."
Und der Genosse Frank umarmte den Genossen Thomas.
Dann küssten sich die Freunde. Frank bekam es dabei mit dem Schlucken... Ein Pfiff...
Und auch Schlachtstaffel III erhob sich...
Frank inspizierte die Gasläger. Die Bestandsaufnahme war fertig gestellt.
„Es genügt, um die ganze Welt einige Male mit Gas zu vergiften..."
Die Arbeiterschaft der verschiedenen Betriebe war inzwischen versammelt und besprach einen neuen Produktionsplan.
Die weitere Herstellung der Giftgase konnte bei der großen Menge der vorhandenen chemischen Kampfstoffe sofort eingestellt werden. Dagegen waren vom roten Kriegsrat Flugzeuge („Goliath"-Typ) und Kampfwagen in bedeutender Menge angefordert worden. Ebenfalls wieder einstimmig erklärten sich die Arbeiter bereit, alles aus sich herausholen zu wollen und die Arbeitszeit in keiner Weise nach unten hin zu beschränken.
„Für die kapitalistische Wirtschaft war uns jeder Knochen zu schade... wenn es für uns ist, für die Diktatur des Proletariats, dann mit Freuden alle Muskeln, das Herz, das Hirn, das Fleisch, alle Knochen... "
Auch eine große Anzahl von Chemikern, Technikern, Ingenieuren, die man im Augenblick der Übernahme der Macht absondern musste, stellten sich jetzt bedingungslos den Roten zur Verfügung.
„Es ist klar, die kapitalistische Produktionsweise ist einfach zu unrationell, wir können bei weitem produktiver wirtschaften, fünfzigmal soviel aus der Welt mit Leichtigkeit herausholen... Ihr Roten seid einfach die Vertreter einer technisch am modernsten konstruierten Organisationsform... Zu blöd, dass man diese Einsicht den Kapitalisten mit Blut abzapfen muss..."
Und zu gleicher Zeit entwickelte sich jene erste Phase gewaltiger Luftschlachten, die den weiteren Verlauf der Geschichte Amerikas entscheidend beeinflussen sollten. Die Flugzeuggeschwader der weißen und der roten Flugflotte stürzten sich aufeinander, hakten sich ineinander fest und, unlösbar ineinander verbissen, schossen sie, ein wirres Stahl- und Drahtknäueldurcheinander, erdab.
Andere Geschwader nebelten sich ein, blitzten plötzlich völlig unerwartet aus dem Hinterhalt des Nebelschleims hervor oder überstreuten den von den feindlichen Flugzeugen zu passierenden Luftraum mit einem dichten Netz von Giftgas.
Und unten auf der Erde marschierten die mechanischen Armeen auf: Tanks, Panzerzüge, Straßenpanzerwagen... Rauchwellen fluteten übers Land, quadratkilometergroße Herde von Giftrauchkerzen schwelten... Ganze Städte versanken in einem unergründlich tiefen und geheimnisvollen Gasgrund... Pflanzen, Wälder, Wiesengründe färbten sich: grün, blau, violett. Wunderbare und seltsamste Farbenspiele zauberten die Gasschwaden aus der Erde hervor. Lautlos überzogen ganze Landesteile wie mit einer Decke sich mit Todesschlaf...
Die Hochseeflotten liefen aus den Häfen aus: Kreuzer, Dreadnougths, Unterseeboote, Flugzeugmutterschiffe... Und auf der Hochseeflotte meuterte es, ein Kriegsschiff hisst die rote Fahne, noch eines, und die Forts auf Hawaii und die Küstenwerke im Panamakanal... Es war der Beginn einer gewaltigen Seeschlacht.
„Die Japaner kommen!" funkte es dazwischen. Aber trotzdem die beiden Flottengruppen sich immer vergrö­ßerten: es waren nur rote Flaggen zu sehen und weiße: die Nationalfarben hatten keine Bedeutung mehr.
In der Luft, auf der Erde, über Wasser und unter Wasser: stürzt es sich übereinander her, würgt sich zu Tod, es gibt kein Erbarmen.
Heldentaten, die unbeschreiblich sind, Qualen ohne Maß, Krämpfe und Zuckungen, wie sie die Erde seit ihrem Anbeginn noch nicht gesehen hat, Schmerzensschreie, Hilfeschreie, Todesgebrüll...
Jedes Lebewesen trug schon einen gespenstischen Flecken an sich, zum Zeichen: angeätzt von der Gaslauge ,..
Ein blutiger Sommer rauscht... —

„Genosse Thomas Butler gefallen in der Luftschlacht über Hawaii." Die Nachricht kommt nach Edgewood. Genosse Morrow springt ins Flugzeug. Festgeschnallt.
Sturzhelm und Gasmaske auf. Vorwärts! Los!
„Genosse Frank Morrow gefallen in der Luftschlacht mitten über dem Großen Ozean!"
Die Nachricht kommt nach Edgewood.
Ein zweiter, ein dritter, ein vierter springen ins Flugzeug.
Festgeschnallt.
Sturzhelm und Gasmaske auf. Vorwärts! Los!
„Der zweite, der dritte, der vierte gefallen in der Luftschlacht über dem Panama..."
Die Nachricht kommt nach Edgewood.
Jetzt drängen Hunderte an die startbereiten Flugzeuge heran.
Man stampft vor Wut, wenn man nicht mitkommt.
Jeder wartet nur auf das eine: „Wann endlich kommt die Reihe an mich... "
Nur eine Befürchtung, eine Todes- und Lebensangst: „Vielleicht ist dann schon der Krieg aus!"
Überall Butlers, überall Morrows, ob sie nun so heißen oder nicht...
„Russland marschiert! Das deutsche Proletariat im Kampf!"
Die Nachricht kommt nach Edgewood. „Ein Hurra dem deutschen Proletariat!" „Hoch Sowjet-Russland!"
„Auch wir sind im Kampf, Brüder, die amerikanischen Genossen: sie grüßen euch!"
„Japans werktätige Massen verhindern den Krieg! Yokohama im Aufruhr."
Auch diese Nachricht kommt nach Edgewood.
„Bravo, japanische Genossen!"
„Die Kolonialvölker, Indien, China, Afrika..."
„Hoch! Unsere Sache steht gut!"
„Würdig unserer Führerin, der Genossin Mary Green, gemordet auf dem elektrischen Hinrichtungsstuhl, eingedenk der Lehren unseres großen Meisters, des Genossen Lenin, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gedenkend und der Tausende, die von den weißen Banden aufs grausamste gemeuchelt worden sind... "
„Festgeschnallt..."
„Sturzhelm und Gasmaske auf!"
„Vorwärts! Los!" —

Die Milliardäre sitzen irgendwo hoch in den Bergen, wimmern: „Zu schade, nun ist es mit der Urbarmachung der Polarregion auch nichts... Und die Geologen versichern doch, gewaltige Kohlenläger seien vorhanden, deren Ausbeutung relativ einfach sei, nur mit geringen Unkosten verbunden, und der Tierreichtum... der Verlust für die Menschheit ist nicht auszudenken... O welch ein Gewinn!... Die kostspieligen Expeditionen, wenn man bedenkt, die schließlich doch wir finanziert haben, wie soll man das alles jetzt verkalkulieren... Es scheint, die Welt sehnt sich nach einer neuen Verrechnungsart... Ja, es scheint richtig so, was die Priester angedroht und die Spiritisten prophezeit haben: das Jahrtausend der Herrschaft des Pöbels beginnt. Das ist die Sintflut. Wie lange sie währen wird, um die Menschheit von ihren Sünden reinzuwaschen?! Sicher: wir haben nur immer das Beste gewollt..."
„Keine Angst, ihr ehrenwerten Herren Bürger!" kommt ein Radio aus Edgewood. „Wir verderben euch nicht eueren Lebensabend. Ein kärglich dosiertes Paradies ist euch sicher. Das ist nur recht und billig. Auf einer Insel irgendwo. Bei Kokosnüssen und Affenjagd, bei Brotbäumen, bei Fischfang und Holzfällen... Kriecht ruhig aus eueren Berghöhlen heraus... Wir vergreifen uns nicht an Leichen, wenn sie auch noch wie ihr ein wenig parfümierten Lebensodem ausströmen..."
Die Lebensgreise aber knurren durch die künstlichen Goldgebisse hindurch im Chor: „Wir kapitulieren nicht! - Rache!"
Und-
Ein blutiger Sommer rauscht...

 

6

„Bombenflug und Sauerstoff!" fluchte Max.
„Nur den Verstand nicht verlieren!" redete ihm Wilhelm gut zu, dem dabei aber selbst die Tränen über die Backen herunterliefen.
Viele Genossen knirschten laut auf.
Die Nachricht, die soeben aus Amerika eintraf, war in der Tat niederschmetternd.
Alle im ersten Anlauf eroberten Positionen mussten bis auf Edgewood, aufgegeben werden. Edgewood selbst lag seit drei Tagen bereits unter schwerstem Gasfeuer, bis auf ein Drittel ungefähr war der ganze Komplex gasverseucht. An ein weiteres Durchhalten war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken.
Kurz und gut: die revolutionäre Aufstandsbewegung, im Anbeginn unerwarteterweise siegreich vordringend, war niedergeschlagen. In Anbetracht der ungeheueren blutigen Verluste, mit denen, der ganzen Sachlage nach, bestimmt zu rechnen war, schien ein Wiederaufflackern des bewaffneten Aufstandes in absehbarer Zeit völlig ausgeschlossen.
Ja, die amerikanische Regierung konnte schon wieder ernsthaft in Betracht ziehen, die Feindseligkeiten gegen Japan zu eröffnen.
Wenn man sich die weitere Wirkung, die diese Nachricht auf die breiten Massen des Proletariats ausüben wird, vorstellt: es war zum Verzweifeln. Schon jetzt: jeder Tag bringt neue Schwierigkeiten, schon jetzt melden sich immer lauter die Stimmen derer an, die unter verhältnismäßig anständigen Bedingungen den ganzen Aufstand zu liquidieren bereit sind... immer häufiger wird das Geschwätz von den festen, neunundneunzigprozentigen realen Garantien für den Sieg... Jetzt heißt es: alle Kraft zusammennehmen, nur jetzt nicht lockerlassen, mit eiserner rücksichtsloser Energie allen derartigen aktionslähmenden Versuchen entgegentreten, und, in welcher Form sie sich auch äußern mögen: erbarmungslos nieder mit ihnen. Nur unter keinen Umständen Flautestimmungen und Krisenmachereien aufkommen lassen, nur jetzt nicht! Solche Situationen waren noch immer Keimbeete, Treibhausboden, richtiges Nährfutter für Verrätereien, Verzicht, Hinterhältigkeiten unter einem meist überschwänglich radikal sich gebärdenden verlogenen Phrasentum. Einige wildgewordene Anarchisten großmaulten und bramarbasierten besonders auffällig dazwischen herum: die wollten am liebsten gleich, wie sie möglichst aufdringlich betonten, die ganze „Bude", worunter sie die Welt verstanden, in die Luft sprengen: Vorbereitung und Ausführung dieses nihilistischen pseudoheroisch-famosen Vernichtungsplans überließen sie großmütig, wie sie nun einmal waren, allerdings mit besonderer Vorliebe den andern. Sie selbst klinkten sich ein geheimes Hintertürchen auf, um im Fall einer Explosionskatastrophe sich schleunigst aus dem Staube zu machen... Trotzdem:
Eine große, eine schöne, eine schwerwiegende Hoffnung sank.
Die gehisste rote Fahne, ein Intermezzo! Woraus es nun zu lernen galt...

Auch der Vormarsch der russischen roten Armee stockte.
Deutschland selbst war inzwischen zum Kriegsgebiet geworden.
Englische Flugzeuggeschwader landeten bereits auf deutschem Boden. Ungeheure Proviantmagazine, ganze Arsenale und Werkstätten für Flugzeugersatzteile waren schon vordem in den letzten Jahren errichtet worden...
Der Hunger begann.
Seuchen und Krankheiten schossen üppig ins Kraut. Das kämpfende Proletariat hatte noch keine Entscheidung herbeiführen können.
Zwar die deutschen Farbstoffwerke hatten inzwischen
erfolgreich rebelliert, aber es gestaltete sich außerordentlich schwierig, dort nur einigermaßen wieder die Produktion in Gang zu bringen, um die Arbeitermassen auch nur mit den allernötigsten Kampfmitteln zu versehen. Die Arbeiten litten unter den beständigen Überfällen der Regierungsflieger, die genau orientiert waren, jede verwundbare Stelle solch eines Riesenbetriebes genau kannten und an Hand von im Frieden wissenschaftlich ausgeführten Berechnungen und Standortbestimmungen aus den phantastischsten Höhen herab exakt ihre Bomben abwarfen.
Dieses Störungsfeuer von oben hielt Tag und Nacht ununterbrochen an: und die Arbeitsleistung wurde dadurch auf ein Minimum reduziert...

„Die Gaswalze kommt!" so hieß es jeden Augenblick in den noch von den Arbeitern gehaltenen Stadtteilen Berlins.
„Jetzt! Diesmal ganz sicher! Ich spür's schon... "
Zwar verfügte man über einige Messapparate, die jedes Gasgemisch in der Luft sofort anzeigten, die Zusammensetzung analysieren ließen, und so konnte man wenigstens, grad leidlich genug, Vorkehrmaßnahmen treffen. Wie jede Gasschutzabwehr war auch die proletarische höchst mangelhaft. Ein Versuch, Kollektivschutzräume anzulegen, scheiterte kläglich. Diese Dinge waren eben nicht so ohne weiteres aus dem Boden zu stampfen. Überall fehlte es an geeigneten Kräften, überall an Genossen, die auch nur über die allerprimitivsten Kenntnisse in der Technik des Gaskampfes verfügt hätten. Die Erfahrungen aus den Gasexperimenten 1915 bis 1918 waren bei der völlig veränderten Lage nicht auszuwerten. Es mehrten sich die Stimmen, die sagten: „Wir haben darin unendlich viel versäumt. Das rächt sich jetzt bitter... Wenn es uns schon nicht den Sieg kosten wird, so doch gewaltige Menschenopfer."
Eine leichte Panikstimmung verbreitete sich.
Wieder hieß es: „Die Gaswalze kommt!"
Die unglaublichsten Vorstellungen über einen Gasangriff grassierten, ununterbrochen waren einige dazu besonders befähigte Genossen bei der Aufklärungsarbeit...
Und die Gaswalze kam wieder nicht. Noch immer nicht...
Und dennoch: beinahe jeder lauerte auf die ersten Symptome einer Vergiftung.
Bald aber rissen sich die Proleten wieder zusammen, packten ihre Nervenbündel fest, und es ging wieder einigermaßen vorwärts...
„Na immer noch nicht", scherzte Max, „hoher Besuch von oben? Schade, dass Pfingsten schon vorüber ist, sonst könnte man sagen: Fest der Ausgießung des heiligen Geistes..." Auch wurde man sich bald klar darüber: Die rote Welle überflutet auch diesmal aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die ganze Welt, nur einige Nationen werden von ihr ergriffen werden, und man wird am Ende dieser Kriegsperiode vor der Tatsache eines großen gewaltig zusammengeschmiedeten Blocks von Sowjetrepubliken stehen, denen gegenüber sich aber noch eine beträchtliche Anzahl kapitalistischer Staaten behaupten wird.

Wie hatte sich hier alles verändert, seitdem Max von Berlin fort war!
Einen halben Tag erst war er wieder zurück, doch
lange genug, um sofort zu erkennen: das ganze Kampftempo war gründlich verändert, der Rhythmus des Aufstandes selbst war ein wesentlich anderer geworden.
Für Elan, für Schwung war nur wenig Platz mehr da, auf andere Kämpfereigenschaften kam es jetzt vor allem an.
Verbissen, zäh, zwei Schritte vor, eineinhalb wieder zurück, und jeder Schritt verbunden mit Blut, wahnwitziger Anstrengung, Verkrüppelungen, unheilbaren Wunden: so wurde jetzt gekämpft, und jeder Mann hatte außerdem das kristallhelle Bewusstsein dabei: das ist von allem noch längst nicht das Letzte, der Feind hat seine Reserven noch nicht angebrochen, seine letzten und gefährlichsten Kampfmittel noch längst nicht eingesetzt...

Es war wieder ein warmer Sommerabend.
Nichts war von den Weißen zu sehen.
Ruhe und Frieden weit und breit.
Die Weißen hatten sich tief in ihre Hauptstellungen zurückgezogen.
Das erste Mal seit langem bemerkte Max wieder: die Vögel sangen.
Sangen sie wirklich!?
Ja, sie sangen...
Max musste sich fest über die Augen streichen, um nicht drauflos zu heulen.
Schön war es, wirklich: wunderbar.
Und Max dachte einen Augenblick an die Welt, wie sie nach all diesen Gräueln und Gemetzeln kommen werde...
Inbrünstig sehnte er sich darnach.
Wieder sangen die Vögel, aber wo in aller Welt sangen sie!?
Die Bäume an den Straßen und in den Anlagen waren längst alle umgelegt, nur Fetzen von Bäumen und verkohlte Baumstümpfe standen noch.
Oder in den Häusern!?
Singen sie heraus vielleicht aus eueren leergebrannten Augen, ihr rätselhaften Mauer-Wesen!?
Mitten hindurchgeschnitten waren manche Gebäude, wie glatt mit der Axt durchgespalten: ein Zimmer mit Bett und Stuhl war sichtbar, ein Kübel im Winkel; die Matratze des dritten Stockes hing hinab in den zweiten, wie eine ausgerissene Zunge; und der Plafond des ersten Stockes lag wieder auf dem geborstenen Billardtisch einer Wirtschaft parterre. Das sah aus wie auf der Bühne, unwirklich, mit nichts Lebendigem mehr verbunden: dass Menschen je in diesen Ziegellöchern gehaust haben: eine unvorstellbare Vorstellung...
Die Nachrichten, die noch im Laufe der Nacht eintrafen, lauteten durchwegs wieder günstig.
Der Druck der russischen Armee mache sich bereits deutlich bemerkbar. Die feindliche Front im Osten sei bereits gründlich aufmassiert, heute oder morgen spätestens erfolge der Durchstoß. Das rote Loch im Osten also werde zur Tatsache. Endlich! Inzwischen sei auch eine Luftschlacht geschlagen worden, ebenfalls siegreich für die Roten, ebenfalls, spätestens morgen gegen Abend, erwarte man die ersten roten russischen Flieger über Berlin...
Mit einigen Genossen saß Max in einem Kellerunterstand bis zum Anbruch des Morgens zusammen.
Also: auch mit Lene stand alles gut. Sie war noch immer in Ostpreußen, wo es vorwärtsging. Überhaupt: das Land machte sich...
Die Genossen sprachen Einzelheiten aus den Kämpfen
durch, den und jenen nannte man, aber die Zeit reicht nicht hin, alle aufzuzählen, die etwas Besonderes vollbracht hatten, sie hatten sich alle ausnahmslos ausgezeichnet gehalten.
Jeder von ihnen oder auch wiederum keiner von ihnen war ein Held. Der „Held" war ein Kollektivbegriff geworden. Der Held war das Proletariat.
Einige, na, das wusste man schon früher... Dass sie abfallen und abtrünnig werden würden, damit rechnete man, und das gab also keine besondere Enttäuschung.
„Die machen noch lange keine Niederlage..."
„Und wenn wir allesamt, sage ich, so wie wir hier beieinander sitzen jetzt, in diesem Augenblick, futschgehn, die Bewegung geht weiter, die Bewegung steht und fällt nicht mit dem Schicksal von Einzelpersonen, jeden von uns kann es treffen, heute den, morgen den, nur die Bewegung: die bleibt. Die kommunistische Bewegung ist: die materielle und die ideologische Auswirkung und die kollektive Auswertung des Klassen-Widerstreits. Die Bewegung, die ist: so lange noch einer auf Kosten eines anderen lebt, so lange noch einer satt und zufrieden die Hände sich reibt, während sein Mitmensch leidet und hungert..."
Dann kam die Sprache auf die Gefangenen.
Die Genossen sprachen halblaut.
Die Zunge sträubte sich, alle die Grausamkeiten und bestialischen Gemeinheiten, die die Weißen an völlig Wehrlosen und an schon Sterbenden verübt hatten, auszusprechen. Was Wunder: darüber regte sich ja längst keiner mehr auf: dass man Gefangene mit dicken Ketten um den Leib an Bäume und Laternenpfähle gebunden hatte... und sich ihrer als Zielscheibe für ein frischfröhliches Pistolenpreisschießen bediente... Das Anbinden, das kannte man ja aus dem Feld her... Aber dass man Leichen den Kopf abschlägt und ihn auf die Bajonette spießt, das wollte man überhaupt nicht gelten lassen. Man hielt es absolut für eine ganz unmögliche Ungeheuerlichkeit und beschuldigte lieber den Erzähler hysterischer Übertreibung...

„An die Gewehre!"
Die Genossen erhoben sich.
„Heute oder morgen fällt die Entscheidung! Heute der, Max, morgen der! Mach's gut! Leb wohl..."
Wilhelm und Max trennten sich.
Schweigend bezog jeder seine Stellung.
Max kniete, fünf Stielhandgranaten im Gürtel, das Gewehr schussfertig im Anschlag, hinter dem Schornstein auf dem Dach einer Mietskaserne und beobachtete gespannt die Straßenmündung.
Es war halb vier Uhr morgens.
Es war völlig windstill.
Hie und da hörte man in der Ferne einen Schuss knacken.
Wie Spinnenarme geisterten jetzt die ersten Strahlen der Sonne am Horizont herauf. Wolken-Kolosse färbten sich blühend, überquellend rot, wie frisch blutende Fleischstücke.

 

7

Das Bombardement hatte nicht länger als höchstens drei Minuten gedauert.
Fünf Gasbomben waren insgesamt abgeworfen worden.
Das gasverseuchte Gebiet erstreckte sich auf den zwei-
ten Bezirk; einige daran angrenzende Parks und die Elektrizitätsanlage in der Hauptstraße waren davon noch betroffen worden.
Es bildete sich ein Gassumpf.
Trotzdem sich Max bei Erscheinen des Bombenflugzeuggeschwaders sofort schleunigst in Galopp gesetzt hatte, hatte er doch noch einen tüchtigen Gasschluck mit abbekommen.
Auch jetzt, wo er, was das Zeug hält, die Straße hinunterrennt, kann er das Gefühl nicht loswerden, als treibe er noch mitten in einem dichten Gasschwaden.
Kein Mensch ist zu erblicken.
So kann er sich nicht recht klar darüber werden, ob er sich eigentlich noch innerhalb oder schon außerhalb der verseuchten Zone befindet.
„Schlimme Sache das", überdenkt er rasch, „Entseuchungskommandos haben wir nicht, Chlorkalk zum Entseuchen ist nur in ganz geringen Mengen da... "
Mit einem Fetzen von Taschentuch hält er sich Mund und Nase zu. Die Augen beißen wie zwei ausgebrannte Wundlöcher. Automatisch fängt er zu heulen an. In den Ohren tackt und tickt es. Er schwankt, taumelt. Auch der Gleichgewichtssinn funktioniert nicht mehr...
Er reißt sich immer wieder an sich selbst hoch, mit einer letzten Willensanspannung, wie an einem unsichtbaren Nervenzügel.
„Energie! Energie! Max!" ruft er sich zu. Stolpert und schwankt sich wieder einige Schritte vorwärts.
„Man muss rücksichtslos Geiseln nehmen, sofort androhen lassen: lebenslängliche Anstellung ander Wand... als Repressalie gegenüber solch einer unmenschlich-barbarischen Kriegführung. Aber gut so: sie haben sich da
mit selbst ihr Grab gegraben... Wenn das auch die ungeheuersten Menschenverluste noch kosten wird... " Da bricht er.
Ein langer blutiger Erguss.
Die Gedärme kommen ihm hoch dabei.
„Kotzerbärmlich ist mir zumut. Max, was ist nur mit dir!? Soll es diesmal wirklich ernst werden!? Mach keinen Quatsch! Das kann, das darf doch nicht sein... Heute oder morgen wird die Entscheidung fallen... Nur jetzt nicht."
Die ganze Oberfläche der Haut ist ihm brandig angelaufen, es juckt und kratzt in ihm herum, eine unheimliche innere Krätze, der Gaumen fühlt sich pelzig an, bei jedem Atemzug hat er den Geschmack, als ziehe er flüssiges Feuer ein.
„Ob ich angesteckt bin... ?! Und ob ich nicht mehr zu meinen Kameraden zurück kann, ohne auch sie anzustecken, wie das beim Sturm auf die ,Menschenfalle' vorgekommen ist...?! Ist doch nichts zum Desinfizieren da..."
„Nein! Ausgeschlossen, ich sterbe nicht!" versichert er sich gleich darauf wieder krampfhaft. „Mir ist nur ein klein wenig übel!" ermuntert er sich. „Unkraut verdirbt nicht. Mir kann nichts geschehen. Wird schon wieder werden."
Und schiebt sich mühsam mit den Knien um eine Ecke.
Auch der Tastsinn, das Orientierungsvermögen funktionieren nicht: die Gegenstände in nächster Nähe rücken auf einmal in eine traumhafte Entfernung.
Das Gesichtsfeld verengt sich, verschiebt sich.
Eine ruckhaft von ihm sich abstoßende Häuserfront erscheint, jäh in den Hintergrund abfallend, spitzwinkelig nach innen zu verzogen...
Schwerfällig wie ein Sack sinkt er, mit den Händen sich gerade noch aufstützend, nach vorne um.
Ihm ist's, als stürze er viele tausend Meter tief.
Ein ganzes Leben dauert dieser Fall...
Dreht sich auf die Seite. Wälzt sich.
Das Schwergewicht ist aufgehoben...
Als glitte er schwebend über den Boden hinweg.
Bleibt liegen...
Wie lange —?
Erwacht wieder...
Eine Turmuhr schlägt eben fünf.
Er weiß nicht: ist es fünf Uhr morgens oder fünf Uhr abends.
Wiederholt noch wie aus einem früheren Leben: „Nur jetzt nicht... Heute oder morgen muss die Entscheidung fallen... Ah, schön so, wie wunderbar, wie gut... Rote Flieger über Berlin."
Eine Maske, Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, springt auf vor ihm. „Hände hoch!"
Max macht eine mechanische Armbewegung nach aufwärts...
Die Bajonettspitze steht ihm senkrecht auf der Brust.
Ein zweiter, ein dritter, noch einer tappt herzu: sie alle sind in taucherähnliche, schwarzglänzende Gummiuniformen gekleidet. Das einzige Abzeichen, das sie tragen: je zwei kleine weißblecherne Totenkopfknöpfe oberhalb der beiden Kragenspitzen.
„Nur, nicht lange gefackelt... Marsch! Kehrt um! Ab damit! Marsch! An die Wand..."
Die Stimmen kommen, durch die Maske gedämpft, von tief unten herauf.
Max wird einfach in eine Wand hineingeschoben.
Er steht schon mit dem Gesicht gegen die Wand.
Es war eine kurze dicke Verbindungsmauer zwischen zwei Häuserblocks, zwischen der Delikatesswarenhandlung Andreas Gräulich und einer Sargfabrik, gegründet 1860, Grieneisen.
Max bemerkt: Die Ziegelsteinmauer war nur notdürftig verputzt, überall Sprünge, Risse, faustgroße Löcher.
„Armes Kind, ganz pockennarbig ... "
„Aha", ergänzt und kommentiert er sich selbst, „der Irrsinn."

Das Gas hängt bleischwer in ihm.
Der Boden an dieser Stelle scheint ihm wieder abgrundtief und sehr schlüpfrig. Viel Geplätscher ist unten, Wellengeplätscher, wie Ozean... Er befürchtet im letzten Moment noch auszurutschen.
Da spürt er plötzlich ganz deutlich in der Kehle, dass er schreien müsse. Es war ein lang gezogener strangulierender, messerscharf schneidender Halsschmerz.
Schreien, nichts als schreien —
Schreit: „Sowjet-Deutschland entgegen!"
Dabei schwitzt er, dass es nur so an ihm herunterläuft.
Neigt sich noch ein wenig vornüber.
Berührt leicht mit der Stirn die Wand.
Er verliert sein Gesicht. Das Gesicht schmilzt.
Der Boden unter ihm rollt wie Wellen ...
Und -
Mit einem jähen Ruck schnellt er sich plötzlich um sich herum...
Die Salve knallte. —
Den roten Entseuchungskommandos gelang es erst im Verlauf einiger Monate, den Gassumpf, in den die Regierungsflieger die Hauptstadt verwandelt hatten, trockenzulegen.

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