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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Siebentes Kapitel

VOM EINZIG GERECHTEN KRIEG

Das „neue Leben". — Wie es im Himmel aussieht! Und auf Erden?! Gespensterlandschaft. — Vom einzig gerechten Krieg. Im Anfang war die Arbeit. — Fleisch. Blut. Knochen. Denen, die in Ketten träumen. — Roter Marsch. Gesang der Welteroberer.
Wir lassen hier die Aufzeichnungen folgen, die Genosse Peter Friedjung uns hinterlassen hat.

1

Im Anfang war die Arbeit.

Es sind nun schon einige Jahre her, dass ich das bürgerliche Leben verließ, in dem ich bisher, wenn vielleicht auch absonderlich und phantastisch, lebte. Dass eine Brücke nach der anderen ich hinter mir abbrach, bis endlich auch die Konturen dieses alten Lebens immer mehr schwanden, ich auf der neuen Erde Tag für Tag fester Fuß fasste, neue Menschen fand, neue Kameraden gewann, und ich mit meinem Vorleben, das ja auch nur ein bescheidenes Plätzchen innerhalb der allgemeinen bürgerlichen Verworfenheit darstellte, mich nunmehr dergestalt beschäftigte: den eisklaren revolutionären Vernichtungsplan im Gehirn; konkreten Willens, exakt und zweckmäßig gearbeitet wie ein modernes Brechwerkzeug; ein unerschütterliches Bollwerk von Hass gegen jede Form von Menschenausbeutung im Herzen; die Waffe in der Hand.
Die Realität dieses vergangenen Lebens ist notwendigerweise eine gespenstische.
Dieses Abschiednehmen, dieses Zurückweichen der Uferlinie mag, wie mir bekannt ist, am besten, wenn
auch auf typisch kleinbürgerliche und idyllische Art und Weise, seinen Ausdruck gefunden haben in jenen Worten ans Strindbergs „Entzweit", wo es am Schluss heißt:
So fuhr er wieder hinaus in die Welt. Als der Dampfer an dem schönen Herbstabend sich den Strom hinaufarbeitete, sah er noch einmal das Häuschen, dessen Fenster jetzt leuchteten. Alles Böse und Hässliche, das er dort gesehen hatte, war jetzt verschwunden; er empfand kaum eine flüchtige Freude, diesem Gefängnis, in dem er so unerhört gelitten hatte, entronnen zu sein. Nur Gefühle der Dankbarkeit und Wehmut ergriffen ihn. Einen Augenblick zog das Band, das ihn an Weib und Kind fesselte, so stark an, dass er sich ins Wasser stürzen wollte. Dann aber drehten die Schaufelräder den Dampfer einige Male kräftig vorwärts, das Band dehnte sich, streckte sich —und riss."
Und riss! -

Nun zeichne ich hier die Kurve dieses Wegs der Ablösung auf, einer Kurve, die oft einer Fieberkurve gleicht.

Zuchthausmauern, Hinrichtungen, Verfolgungen, Leichenhaufen, lohnend bezahlter Meuchelmord: das ist die Landschaft, durch die dich der Weg auf seiner neuen Richtung, die er genommen, hindurchführt. Dein Schritt ist nicht mehr eines einzelnen Schritt, du schreitest im Gleichtakt, du schreitest ihn als Kampfkolonne.
Hinter dir, weit hinter dir der andere Teil der Menschheit auf seinem verlorenen Posten, überwuchert von seinem eigenen Pesthauch wie von Giftschwaden; rachefletschend, geifernd, verleumdend, zu jeder Untat und Gemeinheit allzeit bereit: die Profitrate sinkt — ein panisches Gezeter: und nun lassen sie hervorstürzen aus den Zwingkäfigen ihrer Kasernen, sie, die schöngeistige Ruhmredner auf Kultur und Zivilisation, schlimmer als Hunnenhorden, die von ihnen im Namen des Vaterlandes gedungenen Söldnertruppen und die Garden der Streikbrecher, von Arbeiterverrätern und bornierten Gewerkschaftsvertretern kommandiert; Studenten- und Freiwilligenbataillone, durch deklassierte Offiziere, abenteuerlüsterne Professoren und Pfaffen auf Arbeitermassacres abgerichtet.
Polizeirock, Windjacke, Uniformfetzen stürzt sich auf Arbeitskittel: „Jib ihm Saures!" Oder: „Komm mit! Kusch dich! Oder sonst beißt sich was... "
Und das letzte Stadium des Martyriums des blutdurchtränkten Arbeitskittels beginnt: endend mit jahrelangen Zuchthausstrafen oder „An die Wand" und angefangen mit ausgeschlagenen Zähnen, ausgerissenen Augen und Rippenbrüchen schon bei der Verhaftung, auf dem Transport oder auf der Wachtstube. —

Auseinanderfallen der Weltwirtschaft. Unfähigkeit des Kapitalismus, irgendeines der großen internationalen Probleme zu lösen. Valuta-Chaos. Unlösbarkeit der Reparationsfrage. Verschärfte Krisenperiode. Einengung des Weltmarkts. Uneinheitlichkeit der Konjunktur. Unerträgliche Spannung zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. —
Aber nur neue Terrorakte gegenüber der werktätigen Bevölkerung produzieren diese Tatsachen, und, maskiert durch die Kulisse einer pazifistischen Ära, häuften sich allenthalb die Explosivstoffe. Unter unsäglichen Leiden und Opfern der von den Produktionsmitteln künstlich Abgetrennten, der die Fundamente der Gesellschaft mittels des lebendigen Kitts ihres Herzbluts, ihres Schwei­ßes, ihrer Tränen gerade noch notdürftig Zusammenhaltenden: arbeitete in allen Fugen krachend weiter der altmodische und an den wichtigsten Stellen schon völlig unbrauchbar gewordene Welt-Mechanismus.
per ganze Apparat taugt eben nichts mehr, funktioniert nicht mehr, kommt nicht in Schwung...
Auch die Kolonialvölker hatten zugelernt, rebellierten.
Jeder, auch im entlegensten Weltwinkel, hatte allmählich eine genügend hinreichende Dosis Erfahrung geschluckt...
Unentwirrbar das Riesenknäuel der machtpolitischen Probleme —
Und die internationale Bourgeoisie bereitete trotz Völkerbund und gegenteiliger scheinheiliger Versicherungen bereits in ihren Flugzeugwerkstätten und chemischen Giftgasversuchslaboratorien einen großartigen Start vor zu neuen imperialistischen Weltkriegen.
Immer wieder von neuem dazwischen heftige elementare Ausbrüche ihrer inneren unüberwindbaren Interessengegensätze ...
Auch kamen die aufgewecktesten Teile des Proletariats endlich dahinter, wie höllisch-friedlich in Wahrheit so ein imperialistischer Frieden war.
Recht energisch knurrten schon ihre Reihen: „Misstrauen! Misstrauen der menschenfressenden Kanaille gegenüber bis zum Äußersten!"
Und: „Ein Narr, wer Tigern predigt Pflanzenkost!"
„Euer herrlicher Frieden: eine Fortsetzung eures glorreichen Kriegs wohl, mit anderen Mitteln, was!?" — „Und wenn es schon einen ,trockenen Putsch' gibt, warum soll es nicht auch einen ,trockenen Krieg' geben?"

Wahre Volksschlächter- und Massenhenkernaturen entstanden auf diesem, von Fäulniskeimen durch und durch unterminierten Boden.
Professionelle Sadisten im Dienst der politischen Polizei, Gewohnheitsverbrecher, Verräter, Denunzianten, Attentäter, lebendige Marterinstrumente, menschliche Folterbestien, Lockspitzel, geriebene Erpresser: das marschierte wie ein Heer auf, verschlang, ein parasitäres Geschwür, mörderisch durchseuchend den ganzen Volkskörper, Unsummen vom Staatshaushalt; denn diese, teils aus Unzurechnungsfähigen, teils aus Menschendreck rekrutierte Geheimarmee wollte eben auch gut bürgerlich leben und zählte nach Hunderttausenden.
„Mit Stumpf und Stiel ausrotten..."
Dieser Plan gegenüber dem klassenbewussten revolutionären Proletariat aller Länder kristallisierte sich also im Lager der zu einem eisern-gelenkigen Abwehrblock zusammengeschweißten, mit den raffiniertesten Großkampfmitteln ausgerüsteten internationalen Welt-Bourgeoisie immer deutlicher. Ob mit Hilfe des Faschismus oder mit Hilfe der Sozialdemokratie, d. h. mittels einer so genannten „Arbeiterregierung", ob offen, brutal oder ob pazifistisch, demokratisch, illusionistisch: das war eine reine Taktikfrage, und man war sich einig darüber drüben: das wird den verschiedenen Zeitumständen und Kräfteverhältnissen entsprechend abwechselnd, je nachdem, einmal so und einmal so, gehandhabt.
Welt-Mobilisation. Front gegen Front. Es riss durch -
Und es riss durch bis auf die Sprachverbindung hinab, bis hinab auf die gleiche Erlebnismöglichkeit.
Front gegen Front heißt: Sprache gegen Sprache, Gefühlsausdruck gegen Gefühlsausdruck, heißt Denkart gegen Denkart, heißt Anschauungsform gegen Anschauungsform, heißt Weltbild gegen Weltbild.
Denn eingetreten schon waren wir in das Zeitalter der alle Erdteile umspannenden, der die Welt-Zukunft entscheidenden Riesenklassenschlacht. Die Klassenkräfte gruppierten sich, die Klassenkräfte manövrierten gegeneinander —
Druck und Gegendruck —
Und gewaltig drückte herein das rote Russland, ein Einhundertundfünfzig-Millionen-Volk; einhundertundfünfzig Millionen, Arbeiter- und Bauernmassen, warfen sich jetzt, ein drückendes Gewicht, in die Waagschale; rote Erde, ein Sechstel des Erdteils... Und dahinter die aus dem Bann jahrtausendelanger Knechtschaft erwachenden, zu Meeren aus Schmelzglut verwandelten Völker des Ostens...
Der Zeiger rückt vor in das letzte Viertel auf dem Zifferblatt des Menschheitsmanometers. Die Alarmpfeifen an den Sicherheitsventilen trillern. Die Stahlhäute schwitzen. Der Augenblick der Sprengung ist nah! Die Stahlhäute werden rissig, beulen sich aus, dehnen, zerren, biegen sich---
Mit ewigkeitstriefenden Lippen beschwören zwar noch ihre imaginären, verschiedenartig uniformierten Götter die Fetischgläubigen, das gerechte, ja nur allzu gerechte Verdammnisurteil der lebendigen Geschichte von den
Häuptern der heute Herrschenden gnädiglichst abzuwenden: immer eindringlicher aber, selbst bis in die letzte unscheinbarste geringste Alltäglichkeit hinein, kündigt sich an die gewitterschwangere Atmosphäre einer Endphase. —

Wie je nur einer, so habe auch ich vormals begeisterungsinnig genug verehrt sie alle, die Meisterwerke euerer Dichtung, euerer Malerei, euerer Musik, euerer Plastik; ich selbst war einer jener „Verklärer", jener Ekstatiker der Apotheose des „Abgrunds"; durchgeforscht habe ich mich durch alle Gefühlswildnisse und weisheitssüchtig mich durchgedacht durch die Labyrinthe eueres an Komplizierungen und Kombinationen so berauschend reichen, ja überreichen Denkens, durch alle scheinbar so lückenlos gefügten philosophischen Systeme hindurch, grausam-offen sprechende Zeugnisse des von euch zwangshaft nie und nimmer zu lösenden Widerspruchs. Kindlich staunend aufgeblickt habe ich zu den siebenmalsiebentausend Wundern euerer Maschinentechnik, euerer genialen Organisationskunst, zu der, wie ihr gern wahrhaben möchtet, metaphysisch-einheitlichen Geordnetheit eueres Weltbilds... aber ich habe den Blutsumpf auch mit eigenen Augen gesehen, auf dem euere Kultur erbaut ist, und ich habe den selbstverständlichen Mut geschöpft daraus, sie, und dadurch vor allem auch das, was in meinem eigenen Dasein damit zusammenhängt, rücksichtslos durch die Tat zu verneinen.

 

2

Man kann einem Menschen nicht zum Vorwurf machen, dass er in der bürgerlichen Gesellschaft gelebt hat. —
Der eine: zerfetzt, den Körper mit Wunden bedeckt — kämpft sich durch. Ob er den Übergang gewinnt!? Und dann, ob er nach diesem gewaltsamen, oft mit Gehirnzerrüttung und Gesundheitsschädigung erkauften Durchbruch noch soviel an lebendiger Kraft erübrigt hat, um auf der Kampffront der werktätigen Millionenmassen seinen Mann zu stellen: vorn, in der offenen Feuerlinie, im Nahgefecht, bei der täglichen Kleinarbeit!? Denn das „neue Leben", die Revolution, sie erfordert dich ganz. Sie verlangt unerbittlich eine unendliche Fülle von exaktem Wissensmaterial von dir; sprunghafte Kühnheit zugleich und zweckhafte Fähigkeit...Heroisch zu sein in den heroischen Momenten der Geschichte ist leicht. Aber von nun an heißt es: Spanne dich! — und wenn auch nur ein erbärmlicher sozialdemokratischer Gewerkschaftsbürokrat die Scheibe ist — auch dahinter leuchtet das große erhabene Ziel: auch da musst du dich hindurchschießen!
Ob man die Möglichkeit der Gedankenvereinfachung noch hat!? Die Möglichkeit des Sich-in-Beziehung-Setzens mit dem Ausdrucksorgan des Ausgebeuteten, der eine andere Sprache spricht als die deine ist, die aber auch von nun an die deine werden wird. Ob du dich damit bescheiden kannst, zu lernen, weiter nichts als zu lernen, dich durch die asketisch-strenge Schule der Partei hindurchzukneten, ein Lernender zu sein, nichts weniger und nichts mehr als nur ein Lernender... Rücksichtslos alle deine bürgerlichen individualistischen Exzesse aus dir auszuschneiden... Um eines Tages durch deine Arbeit dein neues Heimatrecht dir zu erobern: vom Proletariat als seinesgleichen adoptiert zu werden...

Das Gehirn in jenem „alten Leben" wird abstrakt, wie
eine Windblase, und entfernt sich, irrsinnig phosphoreszierend, ins Zeit- und Raumlose. Du schwelgst zwar in einem gewaltigen Pathos, aber es ist jenes berüchtigte romantische Pathos der Distanz, das Pathos vom Wissen des Nie-je-verwirklichen-Könnens, das Pathos der hoffnungslosen Unüberbrückbarkeit zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll.
Andere geifern sich darüber hinweg mit Zynismen. Es ist ein und dasselbe. —

Ob man sich selbst herunterholen kann!?
Herunter bis auf diese naheste aller Erdnähen, bis zu diesem festen granitenen fundamentalen Grund: Klassenkampf, Klassensolidarität, Parteidisziplin, Parteiehre!? Darnach, nachdem das ganze Dasein ausgelaugt von der bürgerlichen Gifthölle ist oder millionenscherbig zersplittert! Und man sich mühselig von neuem wieder zusammenklauben muss!... Dreivierteln seines Menschendaseins den Todesstoß versetzen muss, um mit dem übrig gebliebenen, ach so spärlichen Restviertel von vorne, ganz von vorne zu beginnen!?...

Nun, ich habe viele kennen gelernt, die auf diesem Wege gefallen sind, zu etwas Besserem geboren als zu farblosem Verzicht und ruhmlosem Opfertum: freiheitsfanatische, prächtige, an allem Wahren und Schönen entzündbare und alle Menschen rings um sich mitentzündende, gemeinschaftssüchtige Menschen; Menschen, in ihrer Jugend wie Kraterberge, mit explosiver Lava an-
gefüllt, rissig rings von einem ununterbrochenen ekstatischen Bersten; Jahr für Jahr aber mehr und immer mehr abglühend bis zu einem wandelnden Aschenhaufen, durchdunkelt von unheilbarer Schwermut. Manche von ihnen schüttelten sich in dem ihnen von der Gesellschaft angeborenen brennenden Kettengewand oft rasend wie Berserker. Sie waren allesamt wissend, zum mindesten aber ahnend, und in Gesprächen gelegentlich oder in einem hingezuckten Blick verrieten sie ihr Geheimnis.
Wie lautete ihr Geheimnis?
Einfach:
„Die Lebenskraft reicht uns eben nicht mehr hin, her­über, herauf über den Rand zu kommen. Man bleibt hilflos, einsam hängen wie in einem ungeheuren Rauchfang im Weltabgrund... Man lässt los. Ein Traum, ein violetter vielleicht, wenn Sie wollen, von einem seligen, vergessenheitstrunkenen Absturz. Fratzenhaft das alles, grimmassierend... Ein elektrischer Einstich jeder Sternblick. Alles Leben ist gläsernes Schweben... Über metallisch fließende Traumsteppen hin uferloses Tonwehen... Die Atmosphäre, die Atmosphäre, die ist es... Sie ist zwangshaft... Ein unheimlich unsichtbarer, mörderischer Fetisch... Unentrinnbar umklammert von einer mystischen Gefühls- und Denkzange: ein mystischer Terror: man — kann nicht mehr."
Solchen kann man wirklich nicht zurufen: „Nur Mut!"
Das ist das völlige Abgekämpftsein, ein Bruchton aus der Symphonie des bürgerlichen Klassensterbens, das in seltsamen Klangkombinationen hinschmelzende Finale der physiologischen Gebrochenheit.
Ihr Welträtsel!? Ihres Welträtsels Unergründbarkeit!?
Sie fanden nicht mehr den Anschluss an die allein rettende, an die alleinig heilende Realität dieser Erde, an die einzig die Menschheitserlösung erkämpfende Macht dieser Erde, an das Proletariat, an die Kampftruppe der Zukunft — und so würgten sie sich selbst ab unter metaphysisch-grotesken, oft harlekinhaften Todesgesten Luftleeren.
Mit welchem Aufwand an Sentimentalität, Zärtlichkeit, Andacht bauten sie sich aus in dem auf dem Boden des Nichts errichteten Elfenbeinturm ihrer Individualität für jede Laune, für jede Absonderlichkeit ein eigenes Wohngemach; ganze Appartements darin für treibhausdünstiges „Höhenleben" —: bis eines Tages dieses künstlich aufgeführte Gebäude schwankte und zu dem zusammenstürzte, was es war: zu einem Häufchen von Daseinsmoder, Lebensekel und verworrener, ihrer blendenden Umschalung entkleideten Weltlüge.
Sie endeten alle mit Selbstmord, ob sie nun Hand an sich legten oder nicht.
Auch ihr Wahnsinn war Selbstmord.
Man kann sie nicht verurteilen, man kann sich nicht zum Richter aufwerfen über sie.
Hier gibt es nur das eine: „Es ist schade, jammerschade."
Über alle diese „Zu-kurz-Gesprungenen" schreibe ich als Epilog:
Ich weiß, welches unausmeßbare Maß an Schmerzen ihr erlitten habt. Ich bin fähig und ich bin auch willens, sie mitzuleiden. Mancher von euch hat tapfer sich gewehrt; jahrelang, jahrzehntelang sich tapfer gewehrt, bevor er die Arme verschränkte oder die Hände faltete... Wie viel, o wie unaussprechbar viel an unausgelebter Kameradschaftlichkeit, Herzensgüte, Menschenwärme, Lebensschwung ist mit euch dahingegangen! Legionen von Begabungen unbarmherzig erdrosselt! Ausgehungert irrtet herum ihr oft monate-, ja jahrelang; ausgehungert bis auf den nackten Knochen... In diesem menschenschlächterischen, menschenunwürdigen Menschheitszustand: was wird nicht zum Spekulationsobjekt!? Euere Trauer, euere Not, euere Tränen, euere Verzweiflung, euer Angstschweiß, euer Verfolgungswahn, jede Pille der Bitternis, die ihr geschluckt habt, jede Art euerer Marter bis zum letzten Todesröcheln... Das alles... Und mehr noch... Geduldet, gedacht, gefühlt, von Leidensstation zu Leidensstation gehetzt — für wen?! Warum?! Wozu?!... Für nichts und wieder nichts!... Hoch über der Sinnlosigkeit jeder Einzel-Existenz thront, weiter behäbig sich mästend, der Welt-Unsinn... Nicht eine Sekunde lang währte sein ach so oft euch flammend versichertes Beileid!... Dem Fresser dientet ihr nur dazu, sich mehr noch anzufressen; dem Geilen nur, sich von neuem aufzugeilen. Kein einziges seiner Massenopfer habt ihr je den Massenmördern abgerungen. Euere Waffen waren stumpf geworden mit der Zeit, ihr merktet es vielleicht selbst nicht, aber sie ritzten nurmehr ganz an der Oberfläche die wie zu einem Panzer geronnene Menschenhaut... Da liegt ihr nun mit eueren gerupften Traumflügeln auf dem Abfallhaufen der Geschichte... Wir haben es nicht nötig zu schwören: denn wir selbst sind gestaltgewordene Schwüre der Rache... Aber die Geschlechter aller heute Herrschenden zusammengenommen: was ist's mehr denn ein elendes Häuflein Menschendreck...
Wir aber haben keine Zeit, euere Gräber auszugraben, keine Zeit, euch zu mumifizieren, keine Zeit weder zu einer Verklärung noch zu einer elegischen Gloriole... Wir haben nur Zeit, uns zu rüsten, damit wir bereit sind, wenn es wieder soweit ist, diese barbarische Menschengesellschaft mit dem Bajonett zu sondieren. —

 

3

Der imperialistische Frieden war ein Krieg gegen das Proletariat. Und nicht nur gegen das Proletariat, sondern auch gegen die Mittelschichten und jeden einzelnen Kleinbürger.
(Nach einem der Fundamentalsätze der Lebenseinsicht: lerne scharf zu unterscheiden zwischen der Phraseologie einer Sache und dem Inhalt einer Sache; oder: nicht auf das, was einer sagt, kommt es an, sondern darauf, was einer tut. Auf die Fäuste sehen! Worte sind Lügenbeine!)
Da lebt man nun so ein Leben lang herum: Feierabend — und man kriecht sich wieder herein in seine zwei blümchentapetenüberzogenen Wohnlöcher, an Körper und Geist gleichermaßen erfrischt durch einen kräftigen, herzhaften Vierzehnstundentag...
Für wen das eigentlich?! —
Und da gibt es so eine gottverfluchte ketzerische Lehre vom Mehrwert!...
Und das Kätzchen schnurrt so idyllisch-warm am Sims, neben dem Nähkorb, und vielleicht auch so ein Kanarienvogelgeripp in einem Goldstabkäfig, der Fliegenfänger hängt herab von der Decke in der Mitte des Zimmers, dicht besät mit den noch zappelnden Pünktchen der Schmeißfliegen. Unten im Hof wimmert die Drehorgel, auf den Dächern die Armeleutewäsche im Abendrot...
Man knurrt, wird bissig wie ein Köter. Mit den Kollegen hält's auch schwer, sich zu vertragen... Man müsste sich eigentlich wieder mal tüchtig satt essen und ordentlich ausschlafen... Das ganze hundsverreckte Dasein taugt ja so zu nichts... Man ist angesäuert wie gestockte Milch... Aber vielleicht: 's langt doch noch
einmal zu einer Laube und darnach auch zu einem Einfamilienhaus... Deutschland: 's geht vorwärts, es bessert sich von Woche zu Woche, wenn die Arbeitszeit auch steigt und der Reallohn auch sinkt... Die Rentenmark bleibt stabil... Überall steht's ja zu lesen...
Man spielt Fußball, hört Radio... Siehst du wohl! Recht muss Recht bleiben. Auch das Volk hat sein Vergnügen. Auch verheiratet man sich frühzeitig: man hungert, friert, man klönt zu zweien, und ein regelmäßiger Beischlaf ist gesichert... Ach, außerdem gibt es noch tausend, abertausend schöne Dinge, die einen von der Beantwortung der Grundfrage seines eigenen Daseins abziehen. Ja, die Fragestellung selbst: sie ist gründlich in Frage gestellt--
Und des Sonntags wackelt man sich hinaus ins Freie, die Familie lüftet sich, das ist doch immerhin schon ein ganz reeller Vorgeschmack vom Paradies.
Nun, und auch der „große Unbekannte" erscheint in mannigfaltiger Gestalt. Er streckt ausgerechnet immer gerade dort seinen anbetungswürdigen klotzigen Schädel hervor, wo das eigene Elend-Dasein das mit bestem Willen nicht mehr zu verkleisternde Loch hat. An jeder Bruchstelle erscheint er, der liebe Wundermann. Er hängt am Kreuz, steigt widerspruchslos herunter, sofort, wenn zum Beispiel der Kaiser sein Volk zu den Waffen ruft, und bedient ein Maschinengewehr, nimmt die Parade ab als S. M. oder hurt hurtig in Berlin herum, bis auf Widerruf in der deutschnationalen Presse, als Kaisersohn; drückt freundlich herablassend, umstrahlt vom auserwählten Offizierskorps, einem Veteranen die Hand, richtet rührend-anerkennende Worte vom Dank des Vaterlandes an den Kriegskrüppel; überschüttet wieder vom amerikanischen Himmel herab das von seinen
eigenen Finanzmagnaten bis auf das Weißbluten ausgepowerte Deutschland mit einem im herrlichsten Unschuldsweiß sprühenden Dollarregen; er ist weder ein Wucherstaat noch spekuliert er auf Extraprofite aus dem Kapitalexport; er ist Fabrikbesitzer, bieder, Treu und Redlichkeit. Reserveleutnant, patenter Kerl, versteht was vom Geschäft, und wenn er nicht wäre, wo gäbe es dann überhaupt sonst noch Arbeit!? —
„Nur Tagediebe und Müßiggänger bringen es bekanntlich in dieser Welt zu nichts. Sei darum auch als Sklave ein ganzer, vollkommener, treuer Sklave... Jegliche Seele sei den vorgesetzten Gewalten untergeben, denn es gibt keine Gewalt außer von Gott; die es aber sind, die sind von Gott eingesetzt..."
Und weiter geht's in der allbekannten Melodie: Die Knochen knacken entzwei, die Muskelstränge lockern sich, das Gesicht verzerrt sich in unausglättbare Falten, die Dichter singen zwar: „Wie ein Fächer tut sich auf dem Müden die Nacht" — aber es ist anders, schade eigentlich, aber was tut's auch...
Ausgequetscht der Leib wie eine Frucht, und die Haut dann fortgeworfen.
Vaterländische Lieder grölend, waten Millionen im Blutsumpf, ein Schlückchen „Heldenschnaps" — und wenn du grad nicht das übliche Pech hattest, das E.K.I war dir sicher... Der Füsilier-Feldwebel wettert heute wieder im Unterstand herum: die Kaiserbilder sind wieder von den Ratten verschlissen... Und das gewittert zudem bleischwer über einem am Himmel; rabiat... Zum Teufel mit diesen himmlischen Heerscharen... Aber man schmort sich ja, so heißt es wenigstens, frischfröhlichgesund in diesem Feuerkessel... Arbeitetest du in einer Phosphorfabrik: fünf Jahre — und schon stahlst
du dich davon als eine Leiche... Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehn! ?... Pah, Quatsch... Was soll ich mich als einzelner dagegen auflehnen — —
Mitgefangen, mitgehangen.
Alles Jacke wie Hose.
Schnurzegal. -

Leib an Leib krümmt sich übereinander.
Das ganze werktätige Volk ist nichts mehr weiter als ein einziger zuckender Schmerzenskadaver, ein fleischerner Berg, von abgerissenen Gliedern dicht überwachsen wie von Gestrüppen... Der stößt keine lebendigen Schreie mehr aus, Millionen erloschener Augen glühen daran schwarz; schwärzer, durchdringender als selbst die Finsternis. Unterirdisch nur ein unverständliches Murmeln. Hie und da Wortfetzen. Hie und da ein fiebriges, feuriges Flackern; fernes Alarmheulen... Und hie und da ängstliches Zusammenrücken an den Tischen der Götter, Halbgötter, Rentner, Parasiten und anderer Heiligen: „Der Berg... der Berg... wehe... Kommt er nicht doch eines Tages über uns... "
Aber die ganze Welt ist mit Fatalismen voll gepfropft. Alles, was da ist, ist im molkig getrübten Bewusstsein der Mehrzahl der Menschen heute noch vernünftig und muss eben so sein, der Pfaffe, der Gerichtsherr, der Mehrwerts-Vampir, der Journalist: das alles hängt zusammen an unsichtbaren Fäden und zappelt sich herum im Weltraum im Auftrag jenes großen grandiosen Überirdischen...
Hah! Und die papierene Sintflut schwemmt befehlsgemäß heran!
Tausende von Laboratorien fabrizieren das so beliebte Volks-Opium: Aberglauben, Kulturdünkel, Verstocktheit... Immer wieder und immer von neuem wieder wird erfolgreich das Preisrätsel gelöst: wie erhalte ich am besten die Massen der Ausgebeuteten in Abhängigkeit und Dummheit?... Die Bücherfabriken rascheln, die Zeitungen flattern fröhlich wie winzige Papierdrachen von Hand zu Hand im Wind... In wunderbaren Einbänden,  mit herrlichen  verlockenden  Titeln geschmückt, auch sonst fein säuberlich aufgemacht, präsentieren die Menschenfänger ihre im Interesse der Massenverbreitung recht preiswert gehaltenen Köder Ästheten, Schriftsteller, Gelehrte hocken herum, gierig lauernd auf jeden Auftrag, gesellschaftstüchtige Heimarbeiter. Sie sind ordentlich elastisch geworden mit der Zeit, ihre geistigen Glieder zu Gummi gebogen, sie lernten es, sich rasch umzustellen... Tempo! Das Geschäft verlangt es... An solch originellen Charakteren hat es ja bekanntlich nie gefehlt. Und die Kultur muss dem Volk erhalten bleiben, koste es, was es wolle. Und der Heldentod ist schließlich nur auf dem Papier was wert, in Wirklichkeit keinen Pfifferling.

Die Kinomaschinen rattern.
Hoppla, mein Freund, damit auch deine Augen nicht verhungern. Und ein strammer Militärmarsch „Ruckzuck" sorgt für den Ohrenschmaus.
Und die Männer der Regierung marschieren auf, Hebe freundliche Herren, kein Zweifel. Wie schön und blendend neu gestärkt ist dem Herrn Präsidenten sein Frackhemd, wie ein Harnisch; und einen Blick tut er, einen Blick, sage ich Ihnen, aus der Tiefe seiner Seele in die Tiefe deiner Seele: akkurat wie durchschaun tut er einen... Da gibt es sogar einen Wohltätigkeitstee, und die ausgemergelten dünnen Fingerchen einiger extra ausgesuchter Musterproletarierkinder zupfen an der Frau Minister herum: da ist alles Samt und Seide, Perlenkettlein und Brillantring... Gott wohlgefällig rauscht dahin über das prima gebohnerte Parkett der Hermelinmantel... Wessen Herz blüht da nicht über in Ehrfurcht und Bewunderung... Und da nippt so eine Exzellenz an einer anderen mit einem Handkuss... Und stehen da nicht, in holder Umarmung mit Unternehmern, Generälen und Bankpiraten aufgenommen, hoffähige Gewerkschaftsbeamte, wie aus dem Ei gepellte, tadelfrei geschnitzte und ebenholzschwarz mit neuen Paradefräcken anlackierte Männlein: sie, die letzten Endes glorreich immer wieder sich selbst begaunernden Schlaumeier!... Ihre Rede: ein bedingungsloses zu allem ja und amen... An Gründen hinterher, sogar überzeugenden, fehlt es bekanntlich ja nie, und sie kommen sogar, einem Eingeweihten zwar nicht gerade überraschend, ihren Unterdrückern zu Hilfe, wenn diese ausnahmsweise einmal in Verlegenheit geraten sind, und offerieren sich ihnen, lakaienhaft lächelnd, auf dem Präsentierteller. Kanaillen —
Deutschland über alles — Hurra!...
Kein Zweifel: diese Herren wollen — das Wohl der Volksgemeinschaft scharf im treudeutschen Auge — alle nur das Beste.
Und da verschwindet eben so ein großer Schieber der Weltgeschichte, die Aktentasche mit genialen Spekulationsprojekten unter dem Arm, im Auto; vierzehn Stunden jeden Tag ist er zu Konferenzen unterwegs, und jetzt, spät schon über Mitternacht, noch mit einem ausländischen Vertreter eine Verhandlung.
Und hier der Reichstag: eine stürmische Sitzung zwar: aber wirklich nur ein ganz Bösartiger kann da bei der Betrachtung dieser Ehrwürdigen, von Volkes Gnaden Gesalbten, auf den Gedanken kommen: Schafstall... Das Schicksal des Volkes wird hier entschieden: darum, bist du katholisch: bekreuzige dich!...
Blechmusik, Trommeln, Pauken, ein gellendes Trara — Bajonett aufgepflanzt! Andacht! Bravo, die Reichswehr! Prächtige Jungens, hieb- und stichfest... Verwendbar zwar vorerst, aber das ist ja grad kein Nationalunglück, nur im Bürgerkrieg. Da kann man sich denn auch nicht wundern, dass die Sympathie breitester Volkskreise auf ihrer Seite ist, besonders, na besonders, wenn man den Kommunisten dort als Gegenstück betrachtet: unordentlich, die Hose in Fetzen, kein Hemd, nur ein blutbefleckter Wollsweater, tief in seiner Kellerwohnung, wie er dort bei Kerzenlicht an seinem Schraubstock Handgranaten aus alten Konservenbüchsen fabriziert, und man außerdem noch gerade zufällig mitanzusehen freundlicherweise Gelegenheit nimmt, wie eben ein anderer Genosse mit gewichtiger Miene, durch eine Geheimfalltüre natürlich, eintritt und ihm dann glückstrahlend eine Handvoll Cholerabazillen überreicht... Nach dieser gewitterschwangeren Stimmung strahlt selbst der im Kreis seiner Opfer extra für das verehrte Publikum photographierte berühmte Massenmörder heiter wie ein Sommertag... Und nun noch zum Schluss:
Badeszene   am   Lido:   bewimpelte   Strandflächen,
neueste Badetoiletten, blitzende Meerwellen--
Alles blökt, grunzt, summt —
Auch die Begleitmusik schwellend-weich, ein gemütvolles Tonsofa —
Gott sei Dank!
Großes Welt-Wettschnarchen. Es wird wieder behaglich...

 

4

Das „Jenseits"-Panorama

So beschaffen ist nun eben einmal die Welt.
Da sitzen sie also nach wie vor hoch oben auf dem Palmengarten des himmlischen Wolkenkratzers, von ihren eigenen parfümierten Ausdünstungen umfächelt: die Kaiser und die Könige, die Propheten und die Erzväter mit goldenen und mit elfenbeinernen Szeptern und mit anderen demagogischen Zauberstäben bewaffnet, und um sie herum, vielfach in sich gestapelt, die Geschlechter der Menschheitshyänen, der gottwohlgefälligen Menschheitsgeißeln und Zuchtruten: Finanzoligarchen, je nach den Extraprofiten der Rang, Admirale, Minister, Generale, in blendenden, ordensüberklirrten Uniformen, Federbusch, Zylinder, Stahlhelm, und die violett vom Ewigkeitsatem angehauchten Pfäfflein klappern, teils inbrünstig schielend, teils mürrisch geifernd ihre Gebete, und er, der Herr dieser aller, blinzelt und schmunzelt, und saugt, wohl ein wenig zu wollüstig schlürfend, die narkotischen Düfte des Weihrauchs ein und räkelt sich, dass der ewigkeitsschwangere Leib beinahe aus dem Leim kracht, auf seinem himmlischen Plüschsofa... Die berühmtesten Medizinmänner Europas aber betreuen ihn. Naht mit einer Zeitenwende eine Ohnmacht dem Schöpfer der Welt: da läuten gellend und wimmernd die unsichtbaren Sturmglocken des Himmels, mit Strömen von wunderwirkendem Digitalis durchpumpt man das göttliche Herz... So hatte er sich schon einige Male wieder erholt. Nach erfolgter Genesung huldigten ihm die Heerscharen bei der Himmelsparade. Die Antennen auf dem Himmelssanatorium wisperten. Radio-Glückwünsche rieselten herein ins Operationsprunkgemach aus allen Ecken der diesseitigen und jenseitigen Welt. Nie sangen so innig wie damals die Chöre der Heiligen das Halleluja, versammelt mitten im Raum auf einer schwebenden Plattform. Auch die purpurn glühende Abendwolke weinte vor Rührung. Es lächelten selig verzückt die Friedenspalmwedel und die in ihrer Einfalt kindisch naiv psalmenstammelnden Weihwasserpinsel. Delegierte erschienen zur Audienz aus allen Himmelsbetrieben —
Diplomaten rutschen heran auf herrlich gepolsterten Klubsesseln, die Oberengel spielen jetzt Skat, einer der im diesseitigen Jammertal erfolgreichsten Henker bereitet die allabendliche Fußwaschung.
Wieder ein Zug: Epauletten-Helden, die Dirigenten des Riesenflugzeugbombenwerfer-Orchesters, die Generalfeldmarschalle der Trusts, und, preisgekrönt mit den Ordensauszeichnungen aller Erdteile, das größte Schmarotzergenie dieser Zeit. Konzern-Päpste. Kartell-Kardinäle. Syndikat-Kommandeure...
Etwas abseits, die auserwählten Vertretungen der Arbeiteraristokraten und kleinbürgerlicher Emporkömmlinge, in leichtgeschürzten Batikgewändern, die Riesenplattfüße in blumenbestickten Wollpantoffeln, sie schmauchen blaudunstig die Ewigkeit an aus spiralig gewundenen Tabakspfeifen.
Hier ist der Boden schlüpfrig von lakaienhaftem Gesabber.
Sie krampfen sich noch jetzt hysterisch jauchzend zusammen bei der Erinnerung an die mancherlei unseligen Taten jener Abtrünnigen, Kommunisten geheißen, und sie versichern sich immer wieder gegenseitig, voll pathetischen Ernstes, Sprechchor gegen Sprechchor: „Wir sind doch allzumal zahme Haustiere... "
Ein donnerähnliches Geblöke erfüllt in dieser Gegend des Paradieses die siebenmal siebentausendfach echoenden sphärischen Himmel.
Richter, mit den aus den Fetzen der Todesurteile bunt zusammengestückten Talaren; Korpsstudenten, die prominentesten Angehörigen der Studentengarden, jedem die Anzahl seiner Morde an der Arbeiterbevölkerung am Steiß aufnummeriert; berühmte Faschistenhäuptlinge, Polizeispitzel und Meuchelmörder. Hier auch Naturapostel und jene sonderbaren Heiligen, die die Ankunft des jüngsten Tages auf Erden predigten, die prophezeien und weissagen konnten aus ihren Exkrementen.
Da-
Wie Heuschreckenschwärme... Ein schwarzes Flügelschlagen: so stürzt es sich heraus aus dem goldenen Lichtloch der Ewigkeit...
Und die Mätressen der Reichen und Übersatten schweben vorüber, in der neuesten Mode, pedikürt, manikürt, ein jedes Zeitalter, ein jedes Land strömt seinen besonderen, gottlobpreisenden Wohlgeruch... Tipptopp, todschick. Geschminkt, gesalbt, gepudert. Die Haare frisiert wie Stuckatur. Fressen in die modrig duftenden Fratzen linienscharf hineinziseliert...
Maler aller Zeiten haben ihnen leuchtende Glorienkringel aufgemalt, auf die Hinterbacken Sprüche tätowiert. Schenkel aus Brokat, fließende Gebeine; Dicke wie  zentnerschwere  Fleischsäcke,  Spindeldürre  wie
Drahtfigürchen, bunte Kreuzchen statt der Brustwarzen...
Da verstummen augenblicks die heiligen Reden und die Gespräche und die Gesänge — alles strömt herab von den Tribünen und eilt nach den Marmordampfbädern und Massagezellen, Knutsch-Dielen und Lustgemächern -und der gesamte überirdische Chor ist ein einziges wollüstiges Zungenschnalzen. Aller Nasenflügel schnuppern...
Halleluja!
Andere Choräle tönen schon an, von Jazzband und Niggertrommeln begleitet, mit absonderlichen Zynismen und Zoten vermischt...

Der Blick von unten

Und tief unten die Völker der Bauern und die Völker der Arbeiter, im Schweiß ihres Angesichts vollbringen sie ihr Tagwerk: zur Ehre Gottes, zur Ehre der Menschheit, zur Ehre ihres Vaterlandes ... Brot, Fleisch, alle Nahrung, alle Kleidung: das alles hebt aufwärts sich wie auf automatischen Fahrstühlen, dort breitet sich's aus in den Kammern der Vornehmen, in den Küchen der Reichen — und ach, was vom Tische des Herrn abfällt: es ist ein dürftiger, ein nur allzu dürftiger Brosamen... Ach, und sieh doch: gibt's nicht unter den Christen so viele Wohltäter der Menschheit, sie gründen Kinderbewahranstalten und Sparkassen-Bibelvereine und veranstalten so seelenstärkende Gefallenenfeiern und Heldengedenkfeste, Stierkämpfe und Boxkämpfe, Fußballmeetings und Baseballwettspiele, Tennisturniere, Autowettfahrten, internationale Pferderennen, und lassen Messen lesen zum. Besten der noch
kümmerlich Lebenden und zum Heil der Seelen der glücklicherweise schon Verstorbenen, und auch die Kirche, die allein seligmachende, sie hat ihr Teil daran, Sündenablass gibt's, Generalabsolution, richtig deine kümmernisbeladene Seele auskotzen kannst du bei der Beichte, und wenn du nur schön brav wedelst, hie und da auch mal Almosen; Museen werden gebaut, mit den farbenprächtigsten Gemälden darin, Eintritt frei, Bibliotheken eingerichtet, Bücher in Schweinslederbänden, in Safran, Bibeln auf Zanderbütten und solche billig wie ein Ei zum Hausgebrauch ... Und Gefängnisse sind da für die Atheisten und Übeltäter und ganz natürlicherweise für alle die, die der himmlischen Weltordnung sich einfach nicht fügen wollen, und eine moderne elektrische Hinrichtungsmaschine; unterirdisch, schön unsichtbar sind dran die Kabel, und bequem mit Leder gepolstert Arm- und Rückenlehne, beinahe wie ein gotischer Großväterstuhl: das aber nur für die Ewig-Rückfälligen oder völlig Unbekehrbaren; denn Strafe, Buße und Abschreckung bei humanem Strafvollzug zwar muss sein; Ruhe und Ordnung: so will es der Allerhöchste Gerechtsame, wie es geschrieben steht im Buch, Seite X, Seite Z bis Y, und auch der Soldat tut in diesem wunderlichen Weltwerk seine Pflicht: ihm ist das kalte Eisen in die Hand gegeben, er soll es führen ohne Scheu, er soll dem Feind das Bajonett zwischen die Rippen rennen, er soll sein Gewehr auf ihre Schädel schmettern, das ist sein heiliger Beruf, das ist sein Gottesdienst.
Und so ist demnach es unausbleiblich: Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, die Massengräber der Tiefe stinken sein Lob, überall, allüberall ist eitel Glück und Friede und Freude und Segen, und auch die Erde trieft vor Wonne, ist voll davon.
Das ist das Werk der Schöpfung. Und siehe da:
Wie wir gesehen haben und wie wir es an uns erlebt haben, Tag für Tag: Es war gut, nur allzu gut so. -

 

5

Der Ausweg aus diesem Menschheits-Irrgarten!? Breit und wunderbar eben angelegt, asphalt-glatt, mit Phrasen von Menschheitstum gepolstert, mit allen Bürgertugenden gepflastert, auf Viadukten über die abgründigsten aller Abgründe scheinbar schwebend gespannt, oft mit bengalischen Fackeln phantastisch, märchenhaft erleuchtet: das ist der Weg, der immer tiefer, gleichsam zwangshaft hineinführt ins Labyrinth, ins völlig Aus-weglose.
Offizielle Wegweiser sind angebracht, wie: „Hier Rettung aus der Not!"
„Der richtige Weg!" „Pfad der Hoffnung!"
„Hier: Weg des Fingerzeigs Gottes aus dem Tal der Verdammnis!"
Auch antike, togaumhüllte Göttergestalten sind links und rechts diesem heiteren Lebenskorso entlang aufgestellt, bronzene Reiterdenkmäler, Siegessäulen, marmorne Kriegergedächtnishallen, und feierlich bewegen sich daher, auf hohen Kothurnen stelzend, die Heldengestalten der vergangenen Geschichte, berühmte Sprüche orakelnd, manche mit Dreispitz oder in Ritterrüstung, Friedrich der Große, der Große Kurfürst.
„Gedenke, dass du ein Deutscher bist!" Oder: „Wenn auf  unseren  verödeten  Exerzierplätzen  wieder  die Schritte preußischer Grenadiere hallen, dann geht's mit uns aufwärts!"
Auch für Musik ist auf dieser Wanderung hinreichend gesorgt, für Tanz, für Poesie, für Bildung. In den kargen Ruhestunden wirst du ausgiebig mit den erhabensten Gedanken gratis gefüttert, Denk-Automaten schnurren, es wird für dich gedacht, auf diese Weise wird ein schreckliches Unglück verhütet, nämlich: dass du selbst zu denken etwa gezwungen wirst. Und würde solch ein Unglück unvorhergesehenerweise gar massenhaft auftreten, keine Epidemie käme dem an Gemeingefährlichkeit gleich, es wäre das Chaos, so ein Zustand wäre für die moderne Gesellschaft unertragbar. So schmilzt auch die Stimme des berühmten Professors der Gesellschaftskunde herab vom staatlichen Universitätskatheder: „Klassenversöhnung! Volksgemeinschaft! Rückkehr zum Gottesglauben!"... Oder ein anderer, seine Brust wölbt sich unter einem Taifun von so genannter Vaterlandsbegeisterung: „Der heiligste Beruf der deutschen Arbeiterklasse ist, die deutsche Wirtschaft für alle Verluste, die sie im Weltkrieg erlitten hat, schadlos zu halten... " Und flugs werden Menschenleben und verlorene Landstriche in Arbeitsstunden umgerechnet, die der deutsche Kuli nun als Überstunden hereinzuschaffen hat... Und die ganze Luft ist erfüllt wie bei einer mittelalterlichen Hexenorgie mit Idealen, Idolen, Phantomen.

Das also ist ein eiliges Gekrabbel mit zugehaltenen Ohren, verkleisterten Augen, verkniffenen Mündern; kopfüber drängt und zwängt sich alles, einer schiebt den andern, rücksichtslos gebraucht man den mit einem Eisenstachel noch besonders wirksam bewaffneten Ellenbogen, und alles mischt sich freudig erregt hinein in die
Verwesung; alles maskiert, es ist wie bei einem Karneval; alles wird breiig, verschwommen, die Umrisse enträndern sich, nun fliegen die Menschen dahin als Schemen, nebelhaft, mit Fangarmen, künstlichen Rüsseln, unnatürlich sich überwuchernden Gebissen, vergespenstert: mit Scheuklappen vor den links und rechts sich ruckhaft-mechanisch aufgipfelnden Schädelpyramiden: ein Staatsmann zeigt einen neuen Bluff, alle klatschen hypnotisiert ekstatischen Beifall, „spontan", „frenetisch" wie es im Zeitungsbericht heißt, durch einen Gaunertrick zeugt man unter geheimnisvollen Beschwörungsformeln ein neues polypenartiges Gebilde, den Völkerbund; da heben plötzlich alle die Sektgläser, kreischen „Prost Neujahr!", fallen sich gegenseitig in die Arme vor Entzücken, würgen sich und beißen sich aber gleich darauf die Gurgeln durch, und die Glocken läuten dazu noch ganz ernsthaft „Friede auf Erden!" Sektierer aller Arten nun schwärmen heran, spleenige Käuze, Prediger, von denen ein jeder eigensinnigst darauf erpicht ist, auf seine nur ihm allein eigene und geschäftstüchtig natürlich patentierte, höchst originelle Weise in den Untergang zu stolpern; Pazifisten, mit Palmenschweifen wedelnd, auf allen Vieren hopsend vor dem von ihnen mitgetragenen imaginären Standbild des von ihnen nie zu verwirklichenden Weltfriedens; geschäftig verhandeln sie unter sich die gegen jedes Blutbad garantiert imprägnierten Schutzmäntel... O Prozession des Todes!... Und Strenggläubige noch, den Bedürfnissen eines modernen Zeitalters nicht unbegabt angepasst: auf fahrenden, in einem eindrucksvollen Hundertkilometertempo angleitenden, elektrisch betriebenen Betstühlen... Lachsalven:  ein irrsinniges Grinsen... Und das alles mit „Hoppsassa! Heisassa!" immer tiefer hinein in einen riesigen Pfuhl, mit blut- und kottriefenden Masken.

Mit Gebälken, Barrikaden und Schranken aller Art aber verrammelt ist der Weg, der aus dieser Marterhöhle herausführt.
Mit Stacheldrahtverhauen von den Herrn dieser Erde abgesperrt, unterminiert, durchtupft mit Wolfsgruben, von Schützengräben durchquert, von Schlingen und Fallen umstellt, und mit einer Riesenwarnungstafel gütigst versehen: „Wer weitergeht, wird erschossen!"
Polizeitruppen, schweißtriefend, rasen in Lastwagen auf und nieder, angaloppieren schneidig die berittenen Hundertschaften „zur besonderen Verwendung", die Gummiknüppel flitzen, Säbelschneiden ziehen durch, die Gewehrkolbenschläge dröhnen dumpf, Bajonettspitzen zucken, Schüsse knacken... und Panzerwagen, aus allen Luken beinahe lautlos Feuer speiend, kriechen wie stahlhäutige Riesenkäfer hervor aus den zu Forts ausgebauten Regierungsvierteln. Gasgranaten, Bomben; Maschinengewehre knattern oben aus Flugzeugen.
Haufen Erschossener.
Haufen lebenslänglich in Zuchthäusern an die Mauern Geketteter.
Millionen: das Lebensmark ausgesogen von übermenschlichen Entsagungen.
Ein Haufen zum Tode Verurteilter: wie groß und unendlich ruhig stehen sie an der Wand —
Millionen namenloser Märtyrer: Und sie halten sich unverrückbar im Herzen eines jeden Lebenden fest, im Kampf den Kämpfern ein gerades Richtzeichen.
Und aufrecht schreitet diesen Weg trotzdem und trotz alledem ein Zug: rußgeschwärzte Gestalten, beinahe nackt, singend, unter einer großen roten Wolke als Fahne...
Ihre Schritte klirren, klirren wie Hämmer im Takt
Kein Schönredner ist da, der die Gehirne dieser Männer auslaugt mit Schwatz und mit Flausen...
Rhythmisch, hart schwingend, als ob die Straße selbst marschiert, ist es. Die Lebendigkeit, das Leben, die Erde, die Welt selbst ist hier in Bewegung; die Erdkugel rollt, das Sonnenfeuer dreht sich, das Firmament zieht glanzstark auf und nieder, die ganze Natur, alle Kreatur: alles marschiert, alles singt hier, triumphierend und kühn, das: „Vorwärts!"

Ein Kommando ertönt.
Ist es der Sturm selbst, der menschliche Sprache gewonnen hat; das Meer, das aufgewühlte Meer, das schreit, schreit und tief hinten am Horizont hochpeitscht, der in Millionen Flammensplitter zerspringt!?
Ein Kommando —
Stürzen die Gräber herauf, stülpt sich der Weltraum wie eine sphärische Glasglocke um... und die Pflastersteine würfelt's dahin wie kantige Granitschädel---
Wie Lehm ist die Haut des Menschen, alles Blut zieht sich bis ins Innerste des Herz-Kerns zurück---
Und die Arme renkt es weit aus dem Körper hervor, die Fäuste hängen schon wie rotierende Eisenkugeln dran an den muskelschwellenden Gelenken...
Ein Kommando —
Und widerhallen die Stimmen der Wurzeln in der Tiefe...
Und dies Kommandowort, das die Geschichte den werktätigen Massen aller Länder zuruft, heißt: Klassenkrieg! —

 

6

Keiner ist so blind, dass er letzten Endes nicht doch noch sehend werden könnte. Auch die Verblendetsten sind nicht verloren.
Die gepanzerte Faust der Geschichte meißelt auch die verstocktesten Schädel noch auf.
Auch hier rinnen, über und über verschüttet, Quellen unheimlicher Rache, Quellen lebensspendender Kraft.
Ein magnetischer Streif donnert dahin der rote Strom.
Wenn er durch die Städte treibt: die Städte brechen auf, die Fabriken ziehen mit, die Werften hämmern sich herein, die Schiffssirenen aufruhrtrillern, die Krane neigen sich, die Ufer bröckeln: der Strom, der Strom: uferlos, immer uferloser wird er...
Was ist dieser Strom anderes als befreiungsschmetternd aus den alten Welträumen sich ergießendes, alle Dämme niederreißendes, jahrtausendelang gemartertes Herzblut!?
Schlag um Schlag in ihr Angesicht: Auch die Kleinbürger werden eines Tages noch gezwungen werden, ihrem Feind ins Auge zu sehen.
Herunter mit den Scheuklappen, aus ist's mit dem Sichherumdrücken, Schluss mit jedem Dem-Kampf-Ausweichen, Farbe bekennen, heißt es, Brust an Brust, Brust an Brust gekettet: so beginnt auch hier das Ringen um die Entscheidung...
Langsam, zögernd, misstrauisch rücken die Kleinbürger in die proletarische Front ein: mancher auch im letzten Augenblick noch bereit, seine Kameraden, seine Mitkämpfer, sich selbst zu verraten.
Aber die Erde kracht, die Risse reißen immer tiefer sich ein, und sie, die Erde, sie ist mit keiner noch so ausgeklügelten Phrase auf die Dauer mehr ganz zu leimen.
Der Kleinbürger kann sich vorerst sein Vaterland bis in alle Ewigkeit hinein nur schwarz-weiß-rot vorstellen. Es wird nicht schwarz-weiß-rot sein. Es wird nicht schwarz-rot-gold sein. Es wird rot sein.
Die Kleinbürger täten klug daran, sich beizeiten damit abzufinden.
Die Welt wird unser sein. —

 

7

Klassenkrieg. —
Ich habe nicht ein Jahr, nicht zwei, nicht drei Jahre -ich habe zehn Jahre lang gebraucht, um dieses Wort aus zusprechen.
Von Angesicht zu Angesicht habe ich dieses Wort geschaut: ich war allein mit ihm, so allein, wie nur ein Mensch mit sich selbst sein kann...
Stirnfetzen, Gerippe, Gerippsplitter; abgerissene bluttriefende Fleischstücke von Menschenwangen; niedergestampfte Säuglinge, Gehirnmasse, die aus einer von Gewehrkolben aufgehauenen Schädelnuss quillt; Mütter, flach an die Mauern gequetscht von dem Luftdruck einer Fliegerbombe; milchiges verflocktes Augenweiß; eingeknetet das alles zu einem grobknochigen zementfarbenen Brei oder wie seifige Lauge oder Mörtel, schon flüssiger geworden; Hautknäuel, Fleischknollen, Menschenkadaver, stinkender wie Exkremente; Torsos des Grauens, widerlichste Skelettfragmente... Transport Transport der zur Hinrichtung Abgeführten... Oh, ich habe auch die Stellungen studiert, und nicht nur studiert!, dieses Zucken in den Mundwinkeln, die unendliche klumpige Gliederschwere, der ganze Mensch bis in die letzte Nervenfaser hinein elektrisch knisternd gespannt und qualgeprägt: all derer, die, zum Tod verurteilt, vor der Gewehrlinie knien... Ich weiß, was es heißt, die Schlinge im Genick und zehn Sekunden noch sind es, o diese ganz unfassbaren, zeitlosen, weltweiten Sekunden!, zehn Sekunden noch bis zum Weggezogenwerden des Schemels unter deinen Füßen, und dann, dann der erste Augenblick des Freischwebens am Strang--
Ich kenne wirklich auswendig das ABC des Kriegs, den menschlichen Elementarunterricht des Kriegs sozusagen, denn das Vergessenkönnen war nicht meine Tugend. Heilig ist mir auch heute noch jeder Tropfen Herzblut — und eben darum, und eben darum, weil ich nicht müde werden kann zu klagen: o Mensch, du kümmerlicher, du elend dich im rohesten Daseinskampf krümmender, du armseliger Wurm.
Klassenkrieg. —
Ich habe dieses Wort niedergehalten, trotzdem und trotz alledem, in mir: lange genug war ich bereit, die verruchte Grimasse dieser Welt mit schönen Illusionen zu umkränzen. Ich brachte es einfach nicht über mich, das auszusprechen, was ist. Das zu tun, was Not tut...
Klassenkrieg...
Ich werde heute die Zähne zusammenbeißen und, wenn der Ekel mich würgt, mit einem kräftigen Fluch dreinspucken —
Klassenkrieg. —
Es geht nicht anders.
Darüber kommt man nur mit Schwindel hinweg...
Ich habe nun alle Möglichkeiten, nicht nur in meinem Gehirn, sondern auch in meinem Blut durchprüft Erlebnis an Erlebnis durchkontrolliert, Erfahrung durch Erfahrung. Es sickerte hindurch durch die vielen Jahre wie durch einen Filter.
Bitter zwar und herb, aber die lauterste, durch kein Surrogat künstlich verputzte Wahrheit: das ist das Grundresultat, der Extrakt.
„Bitte schön", nun werden wir sagen, „bitte schön, meine Herrschaften, Essenz gefälligst?" Denn wir sind weder ein Kuriositätenkabinett noch ein Album, darin man abstrakte Lebensweisheit sammelt...
Ich habe die Welt gründlich ausgeschmeckt. Nie und nirgends begnügte ich mich nur mit einer Kostprobe. Ich habe alle Menschenarten dieser Welt geschmeckt...
Und ich komme heim von meiner Irrfahrt, still, sehr still geworden, ohne große Worte. Mein eigenes innerstes Wesen empfängt mich, mich umarmend, wie eine Mutter, bei meiner Heimkehr. Weiter: entdecke! erobere! Und ich reihe mich vorbehaltlos der proletarischen Front ein. Alles, was ist, alles, was je gewesen war, alle Erwägungen, die ich anstelle darüber, was je einst noch sein wird: alles Vergangene, Zukünftige, Gegenwärtige drängt mich schlicht, völlig naturgemäß zu dieser Entscheidung.
Sie hat mich organisch zersetzt, dann war es plötzlich abrupt, sprunghaft — und die Entscheidung war, lange bevor ich es eigentlich selbst bemerkte, gefallen...
Klassenkrieg... Rache juckt mich nicht.
Auch sachlich, kühl wie ein Stein kann ich sein. Nüchtern, wie nur der Nüchternsten einer, den Weltgang betrachten. Ich bin heute von keinem Fasching der Illusionen mehr gefoppt.
So sehe ich das unausweichbare Gegeneinandervorrücken, das Gegeneinander-mit-den-Spitzen-Zusammenstoßen, das explosionsartig Gegeneinander-Aufprallen zweier Welten, zweier Weltgruppen, zweier Weltgewalten, und, in der Weltmulde offen lagernd, das gewaltigste Dynamit unseres Zeitalters:
Der Klassen-Widerstreit. —

Und ihr?
Ihr versucht den Klassenkampf hinwegzudekretieren. „Volksgemeinschaft" phrasendrischt's heraus aus dem Programm der Volksverbrecher: ihr versucht dadurch die Einheitlichkeit eueres Weltbilds zu retten, o du hochgepriesene Einheit, die du doch nur, immer offenkundiger, eine Einheit unauflösbarer Widersprüche bist! O jämmerlich-hilfloseste Versuche ihr engstirniger, kurzsichtiger Kretins!
O ihr oft gar so honigsüß den Weltfrieden anlispelnden Verbrecher-Hochstapler und Narren!
Jede Unterdrückungsmaßnahme von euerer Seite her muss, vielleicht zähneknirschend erkennt ihr's, muss, muss nur unsere Waffen schärfen. Wir wetzen uns blank an euch wie an einem Schleifstein. Und der Griff, mit dem nach unserer Gurgel ihr euch streckt: damit reißt automatisch den Todesstoß ihr euch selbst in euere Herzmitte.
Ja, und die schlimmsten Fehler, die zu begehen wir überhaupt nur fähig sind, o wie viel unendlich mal richtiger sind sie, von der Perspektive der Geschichte der Menschheitsentwicklung aus gesehen, als euere lauterste Wahrheit! —
So singe ich hin im Kampf zweier Welten ein stählerngefittichtes Schlachtlied, in Riesenschleifen kreisend über der Revolutions-Ära.
Zetert „Hilfe!", Bürger! Kläfft „Jesus, Maria!" und „Mordio!"
Jammert! Heuchelt! Heult!
Plärrt euch unsertwegen, wenn es sein muss, die Hosen voll!
Fabelt von Bürgerkriegsgräueln, Vergewaltigung, Terror, Geißelfüsilladen, bestialischen Grausamkeiten — aufrichtig sicherlich meint ihr's, ihr zivilisierten Kannibalen-Geschlechter!
Phantasiert nur des Nachts im Traum vom Geschröpftwerden, von Barrikaden, von euch umschwirrenden Feuergarben und Bajonettstichen.
O welche Leichenbittermienen! O welch eine Krätze rumort in euerem Gehirn!... Kikeriki... Ja, ja, der Hahn kräht... O ihr gütigen Visionen, Halluzinationen aller Bornierten!
Schmarotzer-Kulturphilister!
Bei heruntergelassenen Jalousien, bei abgeblendetem traumweichen Licht: so hockt ihr in eueren Luxusprachtappartements, nichtsdestoweniger aber sind es die Abfallgruben, die Parasitennester der lebendigen Geschichte. Ästhetisch vermodernd, trotz euerer Schönheits- und Gesundheitskuren in warmen Milch- und künstlichen Höhensonnenbädern!
O ihr Treibhausgewächse, von Generation zu Generation übernommen, wie mit Watte mit ausgesuchtesten Daseinsbedingungen sorgfältig umwickelt und mühsam am Leben erhätschelt!...
Packt den Ranzen euch auf mit Traktaten und Katechismen, stopft den Wanst euch voll, bis zum tödlichen Erbrechen voll, mit Bibelsprüchen! Du göttliches Gesindel, ihr Augenaufschlagkünstler, ihr zynischen, ihr virtuosen Schufte der Kirchen! Mästet fortab euch mit Reliquienresten und langweilt unsertwegen zu Tod euch im stillen Kämmerlein mit eueren albernen Sophistereien: Hände aber weg, ein für allemal, von all dem, was lebt, und von all dem, was nach Leben, Leben, lebendigem Leben stöhnt, was sich Leben erobern will!!!
Unter dem sausenden Gleiten der Transmissionsriemen beim Funkenspritzen der Schleifräder, beim Krach der Explosionen tief unten in den Schächten der Bergwerke —
Wenn der Hobel flitzt, beim Knirschen der Stahlsäge, beim Staub der Eisenspäne — Gezeugt
Inmitten des Pulverdampfs —
In den unhygienischen gesundheitsmordenden Räumen der Granat- und der Phosphorfabriken —
Beim Granatendrehen der Proletarierfrauen, der Proletarierkinder —
Beim Kartoffelstehlen und auf den Heringspolonaisen —
Beim tage- und nächtelangen Anstehn der Arbeiterfrauen vor den Lebensmittelgeschäften —
Im verzweiflungsvollen Schluchzen von Millionen der ihrer Männer im imperialistischen Weltkrieg beraubten Arbeiterwitwen —
Dort
In der armseligen Proletenwohnung —
Dort
In Granattrichtern, in Schützengräben — Dort
Im Geklapper der Prothesenglieder der demonstrierenden Kriegskrüppel auf den mit Luxusläden garnierten Hauptstraßen —
Im Zug der Erwerbslosen,
Im Beschluss „Generalstreik",
Im ersten Schuss des bewaffneten Aufstands —
In der Salve des Exekutionskommandos, die die ersten roten Soldaten niederkracht —
Großgezogen
Mit Graupen und Grütze —
Mit Hungertränen,
Mit Tuberkeln,
Mit Skrofulose,
Mit Lebensangstschweiß —
So
Steht die neue Welt auf — So
Steht die neue Geschichte,
Die Zukunft
Auf-
Unfertig,
Formlos,
So wie es sein muss: Unter konvulsivischen Zuckungen, Schaum ohnmächtiger Rache noch um den Mund wie ein Epileptiker — Aber
Es wird schon,
Es formt sich schon,
Hart, stahlhart gerinnen die Umrisse —
Das Herz beginnt zu schlagen,
Zu hämmern:
Ein eiserner Takt —
O welch ein wunderbares, der Sonne gleich Menschenwärme ausstrahlendes Herz — Hebel — Muskelstränge — Gelenke — Und
Millionenfüßig ansteigend, kriechend, geduckt auf den Sprung lauernd, nun: wie eine Sturzwelle, nun — schreitend:
Und die Revolution steht da
Vor euch
Unerbittlich,
Ruhig — aus Millionen elektrisch blitzender Augen euch erspähend —
Mit Millionen zangenartiger Arme euch umklammernd —
Aufrecht,
Mann gegen Mann---
„Wie eine Lawine —" „Wie ein Orkan —"
„Wie Lavamasse, die herein sich in eueren Weltraum
wälzt--"
Leibhafte Gestalt!!!
Biedert euch an, ihr Hampelmänner der Geschichte mit Göttern, Heroen, Titanen, mit dem ganzen wertlosen Plunder und Seelen-Krimskrams der Vorzeit!...
Glotzt hinab in euch selbst, in den Abgrund des Nichts...
Purzelbaumschlagt, ihr metaphysischen Clowns!
Auf! Ein Salto mortale ins Jenseits!
Los!
Auf zur Seelenwanderung!
Produziert euch im Himmelszirkus mit Wesensschau!
Heil euch, ihr Emigranten!
Flugs, desertiert aus den Reihen des Diesseits!
Die jenseitigen Geister verspüren Appetit nach euch. -

 

7

Ihr lebendig wandelnden Marter-Maschinerien der Menschheit in menschenähnlicher Gestalt! Ihr großen allgewaltigen Saugpumpen! Ihr demokratischen Würg-Götter, ihr Knochenmühlen Gottes! Ihr allmächtig euch dünkenden Akteure der Weltgeschichte--
(— bis auf weiteres)
Die Erde, die ganze Erde haltet umkrallt ihr mit eueren Gliedern, geheimnisvolle Riesenspinnen: euere Organe wachsen sich aus, euere Organe verlängern sich: euere Hände, euere Arme, euere Beine, euere Muskelbündel setzen sich fort: Eisengelenke, Riesendampfer, Dampf-Hämmer, Hebel, Krane, Räder, Maschinen, Werkzeuge! Euer Gehirn: ein allgewaltiges Verrechnungsinstitut. Fest steht ihr mit beiden Füßen, nein mit Millionen Füßen auf der Erde, verknüpft untereinander mit blitzenden Stahlschienenbändern die fernsten Weltteile, stopft voll, und das nennt ihr Kulturmission, mit euerem wertlosen Gerümpel jeden Weltwinkel. „Der Anfang sind wir", so prahlt ihr großmäulig, „die Mitte und das Ende der Welt."
„Cäsarennaturen —"
„Führen zurück wir nicht unseren geistigen Stammbaum auf die Schöpfer der Pyramiden —!?"
Da marschieren sie heran, lakaienhaft grinsend, euere
Angestelltenheere, es speichelt im Chor: „Respekt vor dem Kapitalismus! Respekt vor dem Ungeheuer! Respekt!" —: Millionen Beamte, Techniker, Chemiker, Pfaffen, Ärzte, Lehrer, Professoren, Künstler; so fein säuberlich wie auf Emaille gemalt: Generäle als Trabanten. Eine Handbewegung von euch, Druck auf einen Signalknopf: und automatisch die Fabriken öffnen sich, und Hunderttausende von Erwerbslosen speit es hinaus aus dem zementenen Rachen auf die Straße; Menschenrudel überstürzen sich; das humpelt, kriecht, rast, schon irrsinnig geworden, auf den Arbeitsnachweis, von euch, ihr Auserwählten, die Gnade des Arbeitendürfens in Empfang zu nehmen. Mürrisch gewährt ihr's, wenn es euch in eueren räuberischen Produktionsplan passt, wenn nicht — wieder ein Signal, und rasch verständigt ihr euch, das Militär sperrt ab — Handgranaten, Fliegerbomben, Maschinengewehrsalven als Begleitung — und Millionen lasst abschwenken ihr von der Straße des Lebens zum Marsch in die Hunger-Dschungel...
„Gewürm, Abfall, Dung der Geschichte ... "
Konstatiert ihr. Der Geschichte, die euere Geschichte ist. Denn dort, wo die höchsten Schlote enden, dort ziehen sich hin euere Höhen, mit Prachtgärten und Villen bebaut, die modernen Götterwohnungen, die Königsschlösser unserer Zeit, unsichtbar gegen jeden Ansturm der Rebellen verbarrikadiert, und alles vom werktätigen Volk Geschaffene findet dort in euch seinen endgültigen sinnvollen Ausklang.
„O ihr gütigen Spender des heiligen Lebens, wie danken wir euch! Den Lohn, den ihr uns auszahlt, welch ein kostbares Geschenk!... Und kleiden wir uns auch in Lumpen, bewohnen wir auch Höhlen, und haben weder Speise noch Trank... und wir Frauen und Kinder: man kann sich schon nirgends mehr anlehnen, so
schmerzt es vor lauter Gerippe---o ihr, euer gütiges Lächeln ist unseren Wunden ein Balsam, und unser Vierzehnstundentag nichts weniger und nichts mehr als ein Gottesdienst..."

Anders aber spricht die Wirklichkeit.
Die Russknäuel, die die Schächte ausatmen, ballen sich am Himmel zu einer schweren Wolke. Stöße brennenden Windes furchen das Land.
Waggonweise nun lasst ausschütten ihr unter den Murrenden, unter den Todgeweihten die jedes Klassenbewusstsein mordende Korruption. Von euch gedungene Arbeiterführer spalten auftragsgemäß jede proletarische Kampforganisation. Verrat, Bestechung, Niedertracht ohnegleichen. Die Arbeiter selbst bekriegen sich. Unter dem Aushängeschild des Arbeiterwohls und der „Volkserneuerung" gründen sich neue arbeiterversklavende Verbände. Misstrauen gegen die bewährten revolutionären Führer: in jeder Herzfalte sprießt schon euere giftige Saat. Da wieder lasst ihr einen, freudig gewährend, einherstelzen im Prunkgewand anarchistischer Phrasen; andere wieder orakeln von Rednertribünen — und schmunzelnd kostet ihr's aus —: „Langsam voran, im Zickzack vorwärts!" Und das instinktiv schon klar entschiedene Arbeitergehirn verwirrt sich, die Kampfkraft laugt sich aus, planlos verläuft die Aktion und uneinheitlich — und das Ende: ein blutiges Menschenknäuel.
Denn rücksichtslos gebraucht ihr, wo das System der Korruption nicht mehr ausreicht, gegen die sich Empörenden euere schärfste Waffe: die Machtorganisation des Staates.
Es marschiert aber, es marschiert, es marschiert.
Die Straße selbst zu eueren Höhen hinan, ihr Unerreichbaren, bewegt sich.
per Hungertod marschiert, die Arbeitslosigkeit marschiert, es marschieren die Tuberkulose, die Syphilis, das Alkoholdelirium, die unhygienischen Wohnungsstätten der Arbeiterbevölkerung: schwer, schwerfällig, tappend, denn schwer nur kommt es noch in Bewegung. Und das Massengrab des imperialistischen Krieges marschiert, und Selbstmord und Lebensverzweiflung, und dahinterher wieder Skrofulose und fahrlässige Verstümmelung, und nebenan die Kolonialschmach und die amerikanische Lynchjustiz, die Todesstrafe marschiert, Gerichtsurteil an Gerichtsurteil, Millionen Jahre Zuchthaus und Gefängnisstrafen, die Kinderarbeit, die Herzensträgheit, die Gedankenzerrüttung... eine riesige schmutzig-gelbe gallertartige Masse von Millionen von Menschen zerstörten Lebensglücks.
Die Menschenunterdrückung, die Ausmergelung, die Unnatur, der brutale Daseinskampf marschiert.
Es ist eine Sintflut der Daseinssinnlosigkeit, eine Sintflut des Nichts.
Ist es Walhall, ist es der Olymp selbst, den ihr stürmen wollt!?
Hoffärtig glotzend psalmensingen die Priester zum christlichen Himmel: aber schon schüttelt es wie Hagelkörner über die ganze Welt hin zu Stahlgeschossen geronnene Menschentränen...
Und-
Ein Gesang marschiert.
Die Internationale marschiert...

Wie ruhig, wie unendlich ruhig stehen die sieben „der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes" angeklagten Revolutionäre vor ihren Richtern.
Vier, fünf, zehn, zwölf, fünfzehn Jahre Zuchthaus.
So lautet der Antrag des Staatsanwalts.
Die Angeklagten haben das Schlusswort.
„Wir haben jederzeit unser Ziel unumwunden zugegeben. Die Strafe, die Sie gegen mich beantragt haben wenn das eine Strafe für meine kommunistische Gesinnung sein soll, nun gut. Für den Kommunismus setze ich alles ein."
„Für mich ist es einerlei, was der Gerichtshof beschließt. Ich habe bis jetzt mit meinen Genossen gelitten: ich bin bereit, wenn es sein muss, für meine Überzeugung weiter ins Gefängnis zu gehn."
„Ich habe für meine Überzeugung bisher im Gefängnis gesessen. Ich habe dafür meinen Beruf aufgeben müssen. Ich werde, wenn Sie es wollen, weiter zu leiden verstehn."
„Eine Gesellschaftsordnung, die Millionen ins tiefste Unglück hineingestoßen hat, ist nicht wert, weiter zu existieren. Ich habe im Gefängnis in die tiefsten Tiefen hineingeschaut. Wir werden es zu ändern verstehen. Sie werden mir mit dem Strafantrag einen Lorbeerkranz um mein Haupt legen, den ich gar nicht verdiene, denn ich bin ja nur ein einfacher Funktionär. Ich werde trotz alledem den Kopf hoch tragen."
„Ich bin mir völlig klar darüber: der Leidensweg des Proletariats erfordert große Opfer. Ich bin es gewohnt, für den Kommunismus zu kämpfen und zu leiden. Ich werde auch weiter Opfer zu bringen verstehn. Aber das Bewusstsein habe ich, und das macht uns alle stark: Zuletzt werden wir die Sieger sein und triumphieren über den Schmutz der heutigen bankrotten Gesellschaftsordnung."
Und auch die Jugend des revolutionären Proletariats meldet heroisch an ihre Stimme: „Ich bin stolz darauf, für meine Überzeugung vor Ihnen, hoher Gerichtshof, zu stehen. Ein großer Arbeiterführer hat uns einmal gesagt: wenn euere Altersgenossen ins Gasthaus und ins Tingeltangel gehen, so werdet ihr mit einem Lächeln ins Zuchthaus wandern. Nun, wenn Sie mich ins Gefängnis schicken wollen, ich bin bereit, für den Kampf der Jugend meine ganze Person einzusetzen und werde stolz die Gefängniszelle auf mich nehmen."
„Wenn Sie mich verurteilen, nun gut, so werde ich dieses Lehrgeld zahlen. Ich glaube, es wird sich lohnen."

Was ist das für eine Ruhe!?
Das ist die Ruhe des Schon-gesiegt-Habens, nur einen Schritt, nur einen kleinen Schritt noch ist die Geschichte zurück. Morgen, übermorgen: es kommt, es wird kommen, es muss kommen... Der Kampf ist schon entschieden — und wenn du zur Bekräftigung des Sieges noch das Siegel deines Lebens draufdrücken musst: so geschieht es ohne Zögern und voller Heiterkeit.
Was ist das für eine Sprache!?
Das ist eine Sprache, die gesprochen wird, bald laut, bald weniger laut, doch deutlich vernehmbar, bekennerisch, in allen Erdteilen. Das ist der Grundton einer neuen Weltsprache, der Sprache der Zukunft. Und jeder echte Dichter müsste sie sprechen.
Ja, die Höhe der Strafe: das ist einer der Gradmesser der revolutionären Tüchtigkeit, einer der Gradmesser deiner Menschheitsverantwortlichkeit. Das „An die Wand": das ist für den Revolutionär, wenn es schon sein muss, das aus seinem Herzblut mit Freuden gespritzte Blutsiegel unter die Botschaft: Einst kommen wird der Tag... Denn —
„Wer Kampf gegen den Bolschewismus beginnt, der sinkt immer tiefer und tiefer. Er wird Verbündeter von Monarchisten, Werkzeug von Imperialisten, dann Spi0n und Bandit. Auf diesem Weg gibt es kein Zurück
mehr."
Mit diesem offenen Geständnis beschloss vor dem roten Revolutionstribunal einer der unerbittlichsten Gegner des Sowjetsystems seinen verruchten Kampf gegen die Arbeiter- und Bauernrepublik: Sawinkow.
Und so ist es. —

 

9

Aus diesen Fangarmen sich zu befreien, aus Fangarmen, die unsichtbar sind, die fließend sind, die wie ein millionenästiges Gezweig dein Denken und Fühlen durchzweigen, um so mehr, je mehr du vermeinst, ihrem eisernen Zugriff bereits dich entzogen zu haben; heraus aus allen Verkettungen und Verwindungen, denn wie ein Sperrfeuergürtel ist die Not der Zeit um die begrenzte Zone deines Daseins gelegt: heraus dich zu arbeiten, das Messer zwischen den Zähnen, aus all den tausendfachen Verstrickungen, Durchgarnungen, Hinterhältigkeiten und Unbewusstheiten: dazu ist die Kraft eines einzelnen Lebens nicht genug, und wäre sie noch so eine übermenschliche und gigantische. Aber du lebst dein Leben weiter. Lebst dein Leben weiter im Leben von Kämpfern, die um dich sind, die mit dir sind, im Leben von Kämpfer-Generationen, die nach dir kommen wer-
den. Die besser kämpfen werden wie du, zielsicherer, konzentrierter, gerüsteter. Die eines Tages auch den Kampf zu Ende gekämpft haben werden, von dem es heißen wird:
Er war der größte, er war der herrlichste, er war der an Niederlagen reichste: keiner war ihm gleich.
Gekämpft habt ihr in Träumen; gekämpft habt ihr mit entzündenden Worten, mit Melodien; mit Wandzeichnungen, mit Debatten; mit euerer Atemzüge monotonen Rhythmen; mit jedem euerer Herztakte, hart, gehackt klopfend hindurch durch die stickicht qualmenden Fabrikräume: ihr lebendigen Arbeitsmaschinen!
Lawinen von Menschenmassen schüttelt aus sich heraus die Erde. Lava von Menschenblut stampfte dampfend daher.
Türme von Menschenleichen stiegen an aus der Tiefe. Massengräber schluckten, ein schlammiger Rachen, die Lichtfrucht der Sonne.
Strang, Füsillade, elektrischer Hinrichtungsstuhl: Bis zur Neige geleert den Kelch der Bitternis!
Nicht einen Tropfen nicht geschmeckten Leids schenkt euch die nach Menschenopfern lechzende Menschenerde!
Schritt auf Schritt auf dem wie eine getretene Schlange sich windenden Weg siehst du, hereingebaut bis ins blaue Erz des Himmels, Schädelpyramiden.
Blutquellen perlten. Blutbäche schössen, Blutströme rollten. Die Riesenorkane, mit den Flügeln des Hagels sie schlagend, furchten das Blutmeer.
Wer seid ihr!?
Kolonnen rußgeschwärzter Männer — Kolonnen der Arbeitskittel —
Kolonnen der Genossen, der Leninisten-Kommunisten —
Kolonnen der Genossinnen — Kolonnen der Jungkommunisten — Kolonnen der Parteilosen-Sympathisierenden — Proletariat. Menschheitsgranit.
Zu Wellenbergen der Geschichte verwandelte Menschenmassen. Welt-Eroberer. —

Es hingen nieder die Wälder von den Bergen wie schwarzes Geläute. Die Felsen donnerten hoch oben im Luftleeren.
Keine Tafel fasst je die Namen der Helden, gefallen in der Riesenklassenschlacht.
Die kommenden Geschlechter werden ein Instrument erfinden, die Namen der Helden und Kämpfer der ganzen Erde, die Schlachtäcker und Kampftaten alle gleichzeitig zu nennen: das dröhnt wie Gebläse einer millionenstimmigen Riesenorgel; alle Kreatur singt mit im Chor.
Jeder Blick deiner Augen kämpft, jede Faser deines Herzens, jede Bewegung deiner Hand kämpft.
Einer voraus!
Einer in der Mitte.
Einer ist der Anfang.
Das Gewölbe hallt wider vom Refrain des ersten Tausends. Das zweite Tausend — Das dritte — Das vierte...
Das erste Hunderttausend — Schritt gefasst! Schwenkt! Ausgeschwärmt —
Massenprotest — Generalstreik — Massenaktion — Bewaffneter Aufstand---
Und wie ein Fächer sich entfaltet —
Sturmwellen wirft der hohe Triumphgang der Geschichte.
Alles ist Kampf, ist Bewegung.
Die Natur selbst trommelt den Kampftakt.
„Wer ist das!?" „Was ist das!?" „Einfach ein Irrsinniger!?" „Oder -?!"
„Ein Projektil der Geschichte — von nie dagewesener Sprengkraft!?"
Lenin
„Aus diesem Teig sind geknetet die Robespierres, die Marats — und sogar noch viel, viel Größere... "
Ihr stahlgepanzerten Großkampfmaschinen, rot bewimpelt, seid gegrüßt! Hinüber!
Ruckend zuckt es hinweg schon über Gräben, angefüllt mit Stößen regenbogenfarbig schillernder Gasleichen.
Stahl, Erz, Kohle, Kupfer, Metall, Wasser, Zement, das Gift, die Wurzeln der Tiefe, das zarteste Blümlein der Erde: nenn mir ein Ding, nenn mir ein Fleckchen im Weltraum, nenn ein Element mir, das heute nicht kämpft.
Auch die Vögel, die Sonne, Stern, Wald, Meer, von Schwarz bis Purpur; Bergpfade und Gefälle:
Alles jauchzt Kampfwillen. —

Tausend Jahre oder darüber — ich zähl sie nicht -: aber ich höre deutlich das Siegeslied, gesungen von dem befreiten Welt-Volk, hereinschmettern in den Strudel der Klassenkampfzeit aus der alle Menschenzeitalter triumph-kühn überhöhenden Zukunft:

„Genossen! Kampfscharen!
Seht, das ist das Leben, das ihr uns erkämpftet! Auf sonnenstarken Bergen: geflügelt überspringen wir Gipfel an Gipfel; wie auf einer Fläche gleiten wir hin auf dem Wind...
Greift unsere Körper! Nicht nach der Zahl von Jahren mehr leben wir: wandelnde Fackeln des Lebens sind wir, genährt an dem ewigen unauslöschbaren allebendigen Lebensbrand...
Herrschaftslos herrschen wir!
Begeisterungsglühend, ein Menschen-Stern, zieht jeder einzelne dahin über die Erdenbahn.
Was ist's für Wärme, die in einer leuchtenden Woge, länderauf, länderab, meerauf, meerab bis hinüber über den Süd- und über den Nordpol wallt!? Nicht Golfstrom ist's und nicht Samum: es ist unser neuer Sommer, es ist Wärme des Menschenherzens.
Was ist's für ein schweigendes Gewittern im Raum, Takt an Takt; es wölbt sich, ein kristallisches Kuppelgefüge, strömt an, strömt an in Klangwellen, und wieder strahlt es sich auseinander in vielfarbigen Schwingungen!? Es ist die unermüdbare Schlagkraft des Menschenherzens.
Wie Wein schäumt über den Rand: so überquillt vor Fruchtbarkeit die Erde an den Horizonten. Das ist Menschen-Unsterblichkeit. Das ist Menschen-Kraft. —
Genossen! Kampfscharen!
Im fernsten Dunkel ruhen unausgesprochen euere Sprachen. O ihr Brücken, geflochten aus Menschenleibern, hineingebaut in die Reiche des unerschöpfbaren Lebenslichts!... Kameraden! Der Helden der Vorzeit gedenkt! Der von Menschen einst der Menschheit geschlagenen Wunden gedenkt!
Jauchzend gedenkt!"

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