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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Viertes Kapitel

NUR EIN TRAUM...

Nur ein Traum... — „Die neue Sintflut kommt von oben und als Gift." — Liebe Erinnerungen. Der 22. April 1915: ein Wendepunkt in der Kriegsgeschichte. Die Deutschen blasen in Flandern, Frontabschnitt Bixschote—Langemarck, gegen englische Stellungen Gas ab. — Gasschießen, Gaswerfen. Eine Gastaktik entwickelt sich. — Doch alles in allem: es bleibt beim Experiment. (Diesmal noch.) — Und was gewesen ist, ist gewesen. Keiner denkt mehr daran.

1

Der Traum, den Max Herse in dieser Nacht träumte, war merkwürdig genug. Er zerfiel in drei Teile.
Im ersten Teil lag die Erde da, ein blühendes Chaos.
Ströme rissen dahin, Meere wölbten sich vor den Horizont; Sümpfe, Urwälder, Schlingpflanzen; Feuersäulen stiegen aus den Bergen, Felsen kollerten tosend herab, Tiere aller Art krochen, hüpften, schlichen in diesem Labyrinth, der Mensch, mit riesigen Kiefern und krallenbesetzten Würgfäusten bewehrt, kämpfte um das nackte Leben. Langsam wuchs um ihn der Menschenraum. Er drängte Schritt für Schritt die Wildnis zurück. Immer wieder aber überfielen ihn die Naturgewalten, er duckte sich, wie ein ungeheueres Gewicht lastete über ihm das Unheimliche, das Unerklärliche. Brust an Brust rang er mit den Ungeheuern, da schwang er schon das Steinbeil, die Schädel der Bestien sprangen entzwei, aus tausend
Biss- und Kratzwunden troff aber der menschliche Körper und blutete. Blitze spritzten aus dem Gewölk herab, endlich fand er das Feuer. Mit Sturmfluten überschüttete das Meer das Land, Felsblöcke und Waldberge trieb ein Riesenorkan vor sich her, Lawinen brüllten, der Erdboden spaltete sich, Dämpfe und Gase zischten empor aus Kraterlöchern und Schlitzen. Hart, stahlhart war der Körper des Menschen, mit langen Haaren bedeckt, aber schon hatte er sich Waffen und Werkzeuge geschaffen, er zog aus den Höhlen, deren Wände mit Tierfratzen bedeckt waren, aus; auf riesige Strecken verteilt sah man den Rauch der ersten menschlichen Siedlungen. Gemeinsam zog man zur Jagd, gemeinsam wurde der Boden bestellt, gemeinsam gearbeitet, gemeinsam wurden Früchte und Jagdbeute verteilt: alles gehörte allen gemeinsam. Eine Sekunde:
Das Traumbild sprang in ein anderes um. Tausende von Jahren wohl müssen inzwischen vergangen sein.
Beinahe in geometrische Figuren eingeteilt war die Erde. Berge waren noch da, auch Wälder, auch Meere, auf denen schwimmende Kolosse kreuzten, Geleise, mit sausenden Strichen, die Züge darstellten, durchschnitten kreuz und quer das Land. Stadt an Stadt, alles war abgegrenzt, eingeteilt. Der Mensch war gewachsen: er streckte seine Organe aus, eiserne Gelenke; seine Stimme, durch elektrische Wellen getragen, war vernehmbar zugleich in allen fünf Erdteilen. Er konnte sich abheben von der Erde, er flog durch die Lüfte... Riesige Maschinen stampften unermessliche Schätze aus der Erde; ein Griff an einem Hebel: ein wunderbarer Mechanismus setzte sich leise surrend in Bewegung: millionenfache Muskelarbeit wurde spielend geleistet: aus Wasserkraft wurde Licht, aus Winden, aus Gasen zog man Triebkraft, die Meerbrandung wurde auf geniale Weise in Krafterzeugnis umgesetzt, ja die Umdrehung der Erde selbst wurde bereits von phantasiebegabten Technikern als Arbeitsertrag in Rechnung gestellt.
Der Mensch hatte die Erde erobert.
Die Naturgewalten waren bezwungen, Götter und Götzen waren gestürzt, das Unheimliche, das Schicksal, Gott selbst, ward seines Thrones enthoben, das Zeitalter der Maschine, so hieß es, welch ein Zeugnis von Menschenkühnheit und Menschengeist!
Und wie nun sahen diese Menschen aus!?
Da marschierte es auch schon heran, Kolonne hinter Kolonne, durch Straßen, wie mit dem Lineal ausgerichtet, hinweg über Brücken, unter denen Schnellzüge beinahe lautlos glitten, marschierte schon heran, frühmorgens fünf Uhr, riesigen Fabrikgevierten zu; es waren Millionen, Männer und Frauen, Scharen von Kindern: mit Ruß bedeckt, Schwielen an den Händen, ach so dürftig gekleidet, mit ausgeglänzten Augen, schwerfällig, wie unter einer ungeheuren Riesenlast jeder Schritt. Einarmige und Einbeinige waren darunter, stumm, lautlos marschierten sie... Ja, was war das?
Aber in Pelze und Seide gekleidet wandelten andere auf breiten Straßen, diese Straßen mündeten wie in Marmorbecken in große runde Plätze, Palast stand dort an Palast, große goldene Wappen blinkten von den Baikonen, und hinter seidenen, von kristallischen Lüstern durchhellten Gardinen, war eine Menschengesellschaft sichtbar, manche in Klubsesseln und Schaukelstühlen nach dem Takt der Musik sich wiegend, manche auf- und abpromenierend, alle in Fräcken oder in Uni-
formen, neben Menschen, die richtig wie fleischige Schwämme aussahen, aber auch hartgeschnittene Gesichter darunter, kalt die Augen, völlig mitleidlos... Ja, was war das... ?
Und die Armen drängten gegen die Reichen, und die Reichen drückten die Armen, die Armen aber wurden immer mehr, die Reichen dafür immer grausamer und unerbittlicher, Land, Maschinen, das alles gehörte den Reichen, und der Staat dazu, der selbst eine Maschinerie darstellte, aus Polizeibeamten, Aufsehern, Henkern, Soldaten, Pfaffen, Richtern bestehend; fabriksmäßig, serienweise wurde Recht gesprochen, rein mechanisch hingerichtet und verurteilt; empörte sich einer wider diese Ordnung, wurde ganz sachlich abtaxiert: wie hochprozentig die revolutionäre Energie zu bemessen sei, und demgemäß wurde mit so und soviel Jahren Zuchthausstrafe gegen ihn verfahren...
Dabei riss aber dies Traumbild mitten entzwei, es gab sozusagen einen gewaltigen Zwischenfall.
Tafeln erschienen mit der Aufschrift: „Burgfrieden", man sah von Rednertribünen auf Plätzen von gewaltigem Umfang Menschen auf die Massen einreden, die nickten alle mit den Köpfen, gewaltig ertönten in allen fünf Weltteilen die hundert verschiedenen Nationalhymnen.
„Euer Gott ist nicht unser Gott."
„Der unsere ist der richtige."
„Wir allein sind das auserwählte Volk."
„Nein wir", schrie es sofort von entgegengesetzter Seite.
„Ihr habt uns überfallen."
„Nein ihr, ihr habt zuerst die Grenzen überschritten."
Und siebzig Millionen Menschen zogen aus und kämpften gegeneinander.
Die Erde war wie eine Mondlandschaft. Von den Millionen und Abermillionen Granattrichtern war sie ganz pockennarbig.
„Absatzmärkte! Absatzmärkte!" schrie es wie toll in allen fünf Weltteilen durcheinander. „Wir wissen schon nicht mehr, wie wir profitabel noch weiter produzieren sollen."
Dort wurde Getreide in Lokomotiven verheizt, hier verhungerten Millionen. Hier starben Menschen vor Unterernährung, dort starben welche an Unmäßigkeit. Der eine fraß, der andere wurde gefressen. Manche, die auf diese Ungleichheit hinwiesen, kamen sofort, mit Ketten behängt, ins Gefängnis.
Aber es kam noch schlimmer.
Ganze Hundertschaften von Aeroplanen erhoben sich plötzlich, kein Mensch war darin, sie wurden ferngelenkt und steuerten mechanisch über das Meer. Drei schwere Flügelbomben hingen, leicht hin und her pendelnd, unter jedem. Sicher summten sie ihrem Ziel zu.
Eine Riesenstadt.
Die Fabriksirenen wimmerten.
Die Riesenstadt: ein seltsames Knistern von ineinander vermischten Menschenstimmen, Eisenbahnpfiffen, Räderrollen und Schrillen an Kurven sich bildender Tonschleifen: ein gespenstisches Orchestrion.
Das Licht in den Straßen erlöschte. Ganz plötzlich: man rannte gegen die Finsternis fest, wie gegen eine Mauer.
In den Verkehrszentren der Stadt fuhren Scheinwerferkolonnen auf, Menschengruppen, die sich bildeten, wurden auf Anordnung der Regierung sofort zerstreut.
Menschen schrieen laut vor sich her, die Autos fuhren energisch hupend ganz langsam.
Kein Mensch wusste eigentlich, was los war. Man munkelte zwar allerlei...
Es mochte gegen drei Uhr morgens gewesen sein. Menschen saßen auf den Dächern, Menschen saßen in Kellern. Andere tasten sich noch immer unter Lebensgefahr in den Straßen herum... Ein leichter Regen setzte ein, dann wurde es wieder still. Warm und schön war die Nacht. Einer behauptete, er hätte das feine Knattern eines Motors in den Lüften gehört. Alles lauschte angespannt. Schon wurde es ein wenig heller.
Ein leichter elektrischer Ferndruck: und die Flügelbomben stachen senkrecht hernieder.
Ein feiner Knall.
Nur ein wenig Staub, sonst war nichts sichtbar. Ein dumpfer Krach.
Wie wenn ein Fels auf eine weiche Polsterung fällt.
Ein zweiter, dritter, vierter... Noch mehrmals. Jetzt hörten aber alle ganz deutlich das feine Knattern. Zur gleichen Zeit fielen Schüsse. Leuchtraketen spritzten hoch. Die Scheinwerfer gruben sich wie ein Lichtspaten in die Wolkenberge...
„In die Keller", schrieen die einen.
„Oben auf den Dächern ist man geschützter", diskutierten die andern.
Manche blieben auch wie festgenagelt dort, wo sie
gerade standen.
Groß und rotstrahlend ging bald darauf die Sonne
auf.
Schwere   Tanks   holperten   wie   Stahlschildkröten durch die Straßen. Kein Mensch war zu sehen.
Einer der Tanks schien einen Motordefekt zu haben,
die Mannschaft stieg aus: sie war wie Taucher gekleidet, das Gesicht von einer massiven Gasschutzmaske bedeckt, schwerfällig humpelten sie um den Wagen herum.
Die Tankkolonne machte einen Augenblick halt. Ein Pfiff -
Die Stahlungeheuer setzten sich wieder in Bewegung.

Es wurde durch diese Kolonnen festgestellt: drei Viertel der Stadt waren vergast. Kollektivschutzräume, wie mancher Schwärmer erhofft hatte, bestanden nicht, die Gasmasken, nur für die Kampfstoffe des vorhergegangenen Krieges beschaffen, mussten versagen. Trank und Speise waren vergiftet. Die ersten Anzeichen von Seuchen machten sich bemerkbar.

Drei Stunden später — und trotzdem die Bewohner mit Masken und Anzügen geschützt waren — lagen sie da, wimmernd und vor Hilfeschreien gellend, die meisten in den Kellern, andere aber irrten wie wahnsinnig auf den Dächern umher, spreizten Beine und Arme ab und stürzten sich unter einem grausigen Fluch auf die Trottoire hinab. Überall sah man Blutlachen.
„Vom Himmel hoch, da komm ich her", tönte noch in diesem Augenblick ein heller Kinderchoral aus dem Dom, die Glocken schwangen, ja es war Weihnacht. Und trotzdem —
Die Flügelbomben verrichteten als mechanische unpersönliche Henker getreulich ihre unumgängliche Blutarbeit.
„Das ist das neue Gas", sagte jemand. „Und wie sich herausstellt, unsere Versuche haben sich demnach gelohnt."
„Friede auf Erden." „Amen! Amen...", scholl es im Chor wieder dazwischen.
Die Farbstofffabriken waren jetzt plötzlich riesige Arsenale. Unterirdische Gänge. Auch tief in den Schächten der Bergwerke wurde Gas fabriziert. Ununterbrochen experimentierten die Chemiker an neuen Kampfstoffen herum.
Es dauerte nicht lange.
Ein Monat — und alles Lebendige war auf der Erde vernichtet.
Und es wurde auf dieser Erde still, mäuschenstill.
Uhren hörte man noch ticken.
Auch sie blieben allmählich stehn.
Nur das Rauschen noch von Wassern, der Wind, und da es Sommer und übermäßig heiß war, das Brodeln und Zischen der menschlichen Leichname, die geräuschvoll in Verwesung übergingen.
Nichts sonst.

 

2

Es hätte aber auch leicht anders werden können, sagte jemand, und der Traum, den Max Herse träumte, kehrte jetzt wieder ein ganzes Stück zurück: über die Vernichtung hinweg, er fing wieder beim Erscheinen der Flieger an.
Kaum hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Flug-flotte mobil gemacht würde, als auch schon riesige unübersehbare Menschenmassen auf die Straßen trieben, Arbeiter, Angestellte, Reden wurden gehalten, Flugblätter verteilt, wie ein aufgestöberter Ameisenschwarm war es. Polizeisoldaten, Soldaten sah man unter der
Menge, ja auch Angehörige der Luftflotte selbst sah man unter ihnen. Der Zug der Demonstranten brandete als eine gefährliche Woge gegen die Regierungsviertel. Hier hatte man die zuverlässigsten Regimenter bereitgestellt, auch zivile Wehren, meist aus Studenten zusammengesetzt, man sah es ihnen an, sie waren vor einigen Stunden erst eingekleidet. In Berlin, in Jokohama, in Paris, in Chicago, in London: überall fanden diese Demonstrationen, beinahe zu gleicher Zeit, statt... Schon waren Truppen von Bewaffneten zu bemerken, ein Schuss fiel, irgendwo ging ein Maschinengewehr von selbst los... das war das Zeichen zum allgemeinen Angriff, das Regierungsviertel wurde gestürmt, Telefonzentrale, Bahnhöfe waren im Nu besetzt, um andere Stellungen tobte der Kampf noch stundenlang. —
Durch Verhandlungen wurde der Vorstoß der Revolutionäre aufgehalten, die Regierung konzentrierte in den Vororten gewaltige Truppenmassen.
Im Norden der Stadt wurde ein Aufstand von Arbeitern rasch niedergeschlagen. Trotzdem kamen aus der Provinz, wo geflüchtete Revolutionäre Landarbeiter und Kleinbauern mobilisiert hatten, stündlich neue Nachrichten. Das ganze Land war wie ein Mann losgebrochen, hatte Gutshöfe gestürmt, alle wichtigen Eisenbahnknotenpunkte waren besetzt, eine Rote Armee war im Anmarsch. Die Arbeiter in den verschiedenen Stadtvierteln waren glänzend benachrichtigt. Trotzdem war beinahe niemand auf den Straßen zu sehen. Unterirdisch aber, das spürte man förmlich durch die Wände hindurch, vollzog sich beinahe automatisch eine ungeheure Bewegung.
„Bewaffneter Aufstand!" surrten hinaus ins Land die Telegrafendrähte.
„Der Aufstand ist geglückt", surrte es schon drei Tage darauf. Das Proletariat hat die Macht erobert. Den Krieg verhindert. Es hat Opfer gekostet, aber Opfer, gering im Vergleich zu dem, was gekommen wäre...

Traumbild an Traumbild zuckte vorwärts.
Das alles erstreckte sich über Jahrzehnte, nur im Traumreich war alles so verdichtet und zusammengedrängt. In der Traumlandschaft verkürzte sich und überschnitt sich jede Perspektive.
Durch Rauch und Blut, an Stationen neuen Elends vorbei durch neue Wüsten hindurch, an Stätten neuer Demütigungen und Kreuzigungen vorüber. Und trotz alledem, es ging vorwärts.
Und am Ende dieses Weges blühte die Erde, blühte, wie sie noch nie geblüht hatte. Jubelte, wie sie noch nie gejubelt hatte. Die Menschen waren einfach und schön, voneinander beinahe nicht unterscheidbar. Tiefblau war alles, alles so selbstverständlich.
Die Arbeitsmethoden waren unendlich vervollkommnet. Trotzdem hörte man jeden Tag von neuen Erfindungen; denn alles ließ sich immer noch viel besser machen, als es schon war. Als Grundsatz galt: mehr Kraft auf irgendeine Arbeit zu verwenden, als absolut notwendig ist, ist Verschwendung und damit gesellschaftsschädigend... Immer mehr verteilten und differenzierten sich die einzelnen Handgriffe; Wunderwerke von Maschinen verrichteten, mühelos einem elektrischen Hebeldruck gehorchend, das Allernotwendigste, die menschliche Schwerarbeit war erfolgreich auf ein Mindestmaß reduziert. Die Arbeitsplätze waren so beschaffen, dass sie ohne besondere Vorkenntnisse von einem jeden eingenommen werden konnten. Nur ein Prozent der
menschlichen Arbeitsleistung verlangte noch längere Schulung und besondere Vorkenntnisse. Wobei allerdings zu bemerken ist: das allgemeine Bildungsniveau überragte um ein Vieltausendfaches den heutigen Durchschnitt... Für alle war Arbeit da. Für alle waren in überreichem Maße Mittel zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft da. Ungeheure menschliche Energien wurden dadurch der elenden Sorge um das tägliche Brot entbunden und für neue gewaltige Unternehmungen freigelegt. Der menschliche Geist stürzte sich in den Weltraum. Die Menschen wurden stolz auf die Welt, sie schufen sie immer mehr nach ihrem Bild: die Welt wurde zur Menschen-Schöpfung...
Weit, weit... man konnte tief Atem holen, man hatte Luft zum Leben...
Mit einem solch tiefen Atemzug wachte Max Herse auf.
Sechs Uhr.
Der Fabrikgang begann.
Was war das nur?
Ein Traum. Nur ein Traum?
Was wohl dieser Traum bedeutete?
Der Traum ließ nicht von ihm, er ging neben ihm her, er begleitete ihn, oft sah Max Herse sich nach ihm um oder zur Seite.
Er versuchte ihn jetzt von sich abzuschütteln. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er sagte zu ihm, wie zu jemandem, der sich aufdrängen will, unwirsch und mit dem Fuß stampfend: „Ach, lass mich!"

 

3

Bevor der Straßenbahnschaffner in den Dienst gegangen war, hatte er Max noch eine Zeitung zugesteckt... „Da lies!"
„Ein groß angelegter Betrug. Was geschieht mit den Spenden für die Hinterbliebenen der hundertsechsunddrei­ßig ermordeten Kumpels der Zeche ,Königin Luise'...? Kaum hatten sich die Erdhügel über den hundertsechsunddreißig Opfern geschlossen, da hatte man vergessen, was man gestern noch zum Ausdruck gebracht hatte. Alle die schönen Worte erwiesen sich als leerer Schall..." Max wusch sich eben. „Und was war gestern Abend los... ?" Max wich aus. „Ach, wie immer dasselbe. Man kennt sich überhaupt nicht mehr aus." —
Max war in den letzten Tagen bedeutend vorsichtiger mit seinen Äußerungen geworden. Eine tiefe innere Unruhe trieb ihn. Er versuchte neben dem „Vorwärts" auch die „Rote Fahne" zu bekommen. Auch die Betriebszeitungen las er gründlich durch. Er begann von neuem seine Kollegen im Betrieb zu studieren, war selbst sehr zurückhaltend, er lauerte auf jede Antwort, e selbst fragte nur, um zu lernen. Bei allen Debatten, di sich immer aus Anlass einer scheinbar ganz nebensächlichen Betriebsahngelegenheit zuerst entspannen und sich sofort zu Zusammenstößen zwischen SPD und Kommunisten entwickelten, bei allen derartigen Auseinandersetzungen ergriff Max nicht mehr Partei.
Kinos, Vergnügungslokale, Kneipen mied er, er holte sich bei Kollegen einige Bücher, fraß sich mit Müh und Not durch. Er wollte unbedingt dahinter kommen. —
Was gewesen ist, ist gewesen. Oder: keiner denkt mehr daran. Aber plötzlich eines Tages überfällt dich ein Teil deiner Vergangenheit, stürzt sich auf dich, wälzt sich auf dir herum, man biegt und krümmt sich unter der Last: bis das drückende Gewicht solch einer Erscheinung zu schweben beginnt, kampflos von einem ablässt, und man plötzlich wieder, so wie man ist, mit sich selbst dasteht, ohne noch über das Wesen dieser Bedrückung und den Zusammenhang, in dem sie erschienen ist, sich klar geworden zu sein.
So geschah es auch Max, als ihn die folgenden Erinnerungen aus dem Weltkrieg heimsuchten. —

 

4

Max Herse war damals knapp neunzehn Jahre alt. Aber er hatte alles darangesetzt, als Kriegsfreiwilliger mitzukommen. Sein Schulkamerad Franke war sogar von jenseits des Ozeans zu den Waffen geeilt.
Das waren Tage! Das Leben flaumleicht. Der Körper ging wunderbar, wie mit Elektrizität geladen.

Es war am 22. April 1915 in Flandern. Frontabschnitt Bixschote-Langemarck. Gegen englische Stellungen.
Windstärke drei bis vier Sekundenmeter. Witterung kalt und trocken.
Zerfetzte Bäume am Horizont wie Drahtgespinste. Vereinzelte Vogelrufe durchschwirrten die Weltöde.
Geheimnisvolles munkelte man. Von einem Überläufer war die Rede, der alles an die Engländer verraten hatte. Gerüchte. Gegengerüchte. Jedenfalls etwas Neues. Man ahnte nicht, was, wusste nicht, wie ...
Es war fünf Uhr nachmittags.
Auf der Brustwehr des vordersten englischen Grabens erschienen jetzt Tafeln mit der Aufschrift: „Ihr könnt lange warten, bis der richtige Wind weht!"
Hie und da knackte ein Schuss. Ein MG ratterte sich heiß am linken Flügel. Knäuel deutscher Stoßtrupps lagen weit hinten im Trichterfeld.
Endlich: „Gas".
Das Gas kommt. Irgendwer hatte es aufgeschnappt.
Also: Nachts waren an die dreihundert Gasbatterien vortransportiert und eingebaut worden. Eine Batterie bestand aus zwanzig Gaszylindern. Sechstausend Gaszylinder standen demnach zur Verfügung. Auf einen Kilometer Frontbreite rechnete man damals fünfzig Batterien. Tausend Flaschen. Zwanzigtausend Kilo Gas.
Das alles wusste man plötzlich.
Auch das: Um das Klirren des Metalls zu vermeiden, waren sämtliche Gaszylinder mit Decken und Stroh umwickelt.

Erhöhte Gefechtsbereitschaft war angeordnet. Die Infanterie in die zweite Stellung zurückgenommen.
Nur technische Truppen und MGs blieben vorne... Fliegergeschwader summten wieder den ganzen Tag über.
Pst! Ein Pfiff...
Alles wurde plötzlich so mäuschenstill...
Das Abblasen einer eigens dazu markierten Stammbatterie galt als Signal.
Die Ventile von sechstausend Flaschen öffneten sich gleichzeitig.
Es war ein brodelndes und zischendes Geräusch, es prickelte, fauchte, als man das Gas aus den Mannesmann-Stahlröhren abblies.
Jeder hielt die Nase hin, jeder schnupperte. Man merkte aber eigentlich noch so gar nichts.
Ein graugrüner Schwaden zog jetzt schon auf die englischen Stellungen zu. Mannshoch. Einen Kilometer tief.
Die deutschen Batterien hämmerten wieder.
An einigen Stellen biegen die den Zylindern aufgeschraubten meterlangen Bleirohre unter dem Druck des ausströmenden Gases um. Knicken, krümmen sich hin und her...
Das Gas fließt in die eigenen Gräben.
Einen Trupp von acht Mann trifft das Gas mit voller Kraft. Man sieht, sie halten krampfhaft den Atem an. Können nicht mehr. Legen sich einfach um... Andere schlagen mit den Händen dagegen, klemmen sich die Nase zu, beißen sich die Lippen dicht: auch das hilft nichts ... Sanitätsmannschaften eilen heran mit Sauerstoffapparaten.
In drei Wellen auf einer Strecke von insgesamt sechs Kilometern trieb eine riesige Chlorwolke.
Dicke weißliche Nebelballen schieden sich ab.
Teile flüssigen Chlors verdampften...
Max kniet sich auf den Rand eines Trichters herauf.
Der Leutnant neben ihm beobachtet, die Stoppuhr in der Hand, den Verlauf des Angriffs. Noch zwanzig Sekunden: dann aber hieß es nachstoßen.
Die englischen Gräben standen jetzt mitten im Gasnebel.
Und plötzlich wurde es dort lebendig. Wie aufgefegt wurden sie. Ein unsichtbarer Besen kehrte das Unterste zuoberst. Leute rannten mit erhobenen Armen querfeldein. Hilferufe gellten. Einzeln, in Rudeln flüchtete es da-
hin. Einer dreht sich immerfort um sich selbst. Er sprang federnd hinweg wie ein Kreisel. Röcke schottischer Hochländer flogen. Ein monotones heiseres Bellen: das Gebrüll der Turkos...
Ein leichter erstickender Geruch wurde nun bemerkbar.
Augen tränten. Einige husteten. Nieskrämpfe. Spuckten aus.

Die deutsche Artillerie hämmerte, hämmerte.
Der Leutnant zählte jetzt laut:
fünfzehn — achtzehn — neunzehn ---
Eine Leuchtrakete zerstäubte hoch.
Graue Knäuel bewegten sich, lockerten sich heraus aus den metertiefen Poren der Erdlöcher, lösten sich auf. Kettenglieder. Ausschreitend, hüpfend, dahinstolpernd. Sehwarmlinie.
Die deutsche Sturminfanterie stieß nach.
Äxte. Scheren. Leitern.
Verhaue wurden umgelegt.
Über die ersten feindlichen Gräben hinweg...
Offiziere mit Karten: das feindliche Gräbensystem wurde gleich korrigiert. Neu eingezeichnet.
Kolbenschläge. Bajonettstöße.
In einem Unterstand poltert eine Handgranate.
„Vorwärts."

Die zweite feindliche Stellung kam in Bewegung. Auch die dritte Linie flog auf.
Die Sturmabteilung zerschnitt sich das Schuhwerk an Flaschenresten und Haufen von Konservenbüchsen.
Gelblich-grün trieb die Gaswolke weiter.
Es war wie eine Gespensterlandschaft, durch die man jetzt schritt. Merkwürdig verfärbte Menschengesichter glotzten einem entgegen. Bis zum Hals in Schlamm getunkt. Die Augen doppelt so groß wie bei Lebenden. Die Stahlhelme weit ins Genick zurückgeschoben oder tief im Gesicht. Schaum um die Münder. Einer rutschte aus einem nach rückwärts ein wenig abgeflachten Granattrichter auf den Knien herauf, er machte mit den Armen Schwimmbewegungen. Ein ihm von einem stämmigen pommerschen Landwehrmann in die Brust gestoßenes Bajonett brach ab...
Die feindliche Front war aufgerissen.
Ein tiefes zackichtes Loch klaffte.

Es wurde Nacht. Scheinwerfer. Leuchtraketen.
Erdfontänen schossen in die Luft. Die feindlichen Batterien kamen wieder in Schwung. Es trommelte, hackte, wirbelte. Manchmal wie Platzregen. Man verschanzte sich rasch hinter Fleischfetzen, Körperstümpfen, Schlammhaufen.
Pioniere wickelten wieder Stacheldraht ab. MG-Gruppen schoben sich vor. Munitionstransporte im Laufschritt. Lebensmittellager waren genug erbeutet. Man konnte sich also zwischendurch satt essen. Alles hatte aber einen widerlich beizenden Geschmack.
Und schon knackte es wieder im Vorfeld.
Geduckt kroch es an. Ein rasender Schnitt durch die Luft: Pfiffe: hinter einem, vor einem krümmte es sich... Der Nebenmann links stürzte vornüber; der rechte ächzte noch einen halben Fluch.
Etwas sprang vor. Etwas sprang zurück.
Es knisterte. Ein Messer zuckte. Körper schnellten gegen Körper. Wie gespannte Federn.
Man kam mit dem Gegner bis in Tuchfühlung.
„Das ist Ursprache des Volkes. Aus dem Blut heraus wird bejaht: Dieser Krieg muss sein...", fieberphantasierte irgendwo ein Leutnant herum. Max juckte der Zeigefinger: „Brenn ihm eins!"
„Der ganze Krieg soll mich...", fluchte ein Soldat-Prolet und riss einem „Pardon" wimmernden Hochländer mit einem Ruck das Messer durch die Gurgel.
Pfui Teufel.
Viele kotzten.
Wieder andere hatten die Hosen voll.
In den Kehlen steckte wie ein würgender Pfropf ein unwiderstehlicher Brechreiz.
Man watete schon wieder bis über die Knie in einem richtigen Leichenmorast. Menschenmüll. Überall Pfützen voll Blutwasser. Hie und da entlud sich wieder einmal eine Sprengmine zur Abwechslung. Es roch süßlich, ranzig. Wie angebranntes Fett.
Dort schüttete die explodierende Erde ein Massengrab hoch.
„Offensivparfüm", meckerte einer. Eine MG-Mannschaft füllte den Kühlkasten ihrer Kugelspritze mit Urin auf.

Max Herse bekam kaum noch Luft. Er lechzte nach einem Schluck Wasser. Die Glieder, die Arme und die Beine, schlenkerten an ihm herum wie etwas Fremdes. Er fühlte, dass sein ganzer Körper nur noch aus Knochen bestand. Die Haut wurde ganz straff, spannte. Die Gelenke gingen ihm beinahe aus dem Leim... Das war die Todesangst...
Menschenleiche, Stein, Baum: das ist ein und dasselbe. Gleich wahr, gleich unwirklich. Nur nicht lange Federlesens machen. Das lohnt sich nicht. Irgendwo spaziert ein irrsinnig Gewordener im Tanzschritt über das Schlachtfeld.
Gefangene wurden abgeknallt.
Man sah kaum mehr aus den Augen vor Blutrausch.
Zu einem wüsten Grinsen war das Gesicht einer Ordonnanz verzerrt, die immer wieder von neuem ihre zweiunddreißigschüssige Repetierpistole lud und damit einen Gefangenentransport nach dem andern umlegte.
Der Zeigefinger der Ordonnanz war schwarz gefärbt von Pulverrauch.
Die Menschen funktionierten wie Automaten.
Wie auf dem Exerzierplatz.
Stoß: Gegenstoß.
Schlag: Hieb.
Hart gegen hart.
Ruck-zuck...
„Alte preußische Garde... hahaha... Prost Mahlzeit, altes Frontschwein... Einen Kuss, Max Bruderherz. Hier einen Schluck Sturmschnaps... " Max kroch auf allen Vieren.
Ein sinnlos Betrunkener torkelte ohne jede Deckung an, umarmte ihn, tapste vorüber, rief noch: „Fünfe hab ich heute schon hinter mir. Knorke. Nun aber für heute Feierabend und Schluss damit..."
Ein Feldwebelleutnant knurrte herüber: „Stopf ihm die Schnauze..."
Schwuppdich. Ein leichter Klaps vor die Stirn. Und der Feldwebelleutnant schnappte mit einem Purzelbaum hintüber. Er kauerte sich noch zurecht. Er wimmerte:
„Mami, Mami", bis eine genügende Menge Blutes aus ihm ausgequetscht war.
Es gab fast keine Nuancen mehr in den Bewegungen. Mit dem ganzen Lebenstrieb dahinter wurde so ein Bajonettstoß geführt. Manchmal glitten die Messer mit einem spitzen Geräusch elastisch aneinander ab. Eines stieß senkrecht auf die Verschlussschnalle der Koppel auf, bog sich zu einem Halbkreis. Zuckte ab, sprang links vorbei mitten hindurch durch die Niere.
Man fraß sich mit aufgesperrten Augen, mit vibrierenden Nasenflügeln, man fraß sich förmlich mit seiner ganzen Existenz in den Gegner hinein.
Waren es noch Menschen oder mechanische Puppen? Mit dicken Mänteln waren sie behängt. Mit einem wattigen Stoff, der bei einem Stich Ströme Blutes sickern lassen konnte, waren sie ausgestopft. So haute es sich, anscheinend ziel- und planlos, jetzt im Niemandsland herum.
Reserven stürzten sich auf Reserven.
Qualmend dunstete die Erde aus.
Darüber Vollmond...

Die feindlichen Bataillone hatten noch in der Nacht zum Gegenstoß ausgeholt. —

 

5

Weiter zogen die Jahre. Tag für Tag erschienen die Zeitungen mit spaltenlangen Verlustlisten gefüllt. Alle viere von sich gestreckt, lagen sie auf der Erde da: Männer, die Schädel zerfetzt, die Brust aufgetrieben, die Gedärme brachen aus den geborstenen Uniformen heraus, Millionen Männer lagen so, über der Erde, unter der Erde...
Noch immer kein Ende...
Tag und Nacht experimentierten Tausende von Chemikern. Wunderbare Gasgemische entstanden in den Laboratorien. Zentner-Mengen Kampfstoff schickten die deutschen Farbstoffindustrien in die Welt. Die in diesen Fabriken beschäftigten Arbeiter wussten nicht, was sie produzierten. Die organische Verbindung zwischen den Kriegsmaterialien und der friedlichen Industrie ist im Kriegsgaswesen besonders eng. Fast alle Kampfgase finden auch im friedlichen Leben Anwendung. Sie dienen entweder unmittelbar für verschiedene friedliche Zwecke, zum Beispiel zur Desinfektion des Getreides, von Wohnräumen und dergleichen, oder aber sie bilden Zwischenprodukte für andere im friedlichen Leben unentbehrliche Produkte. Vor allem stehen die Kampfgase mit der Farbindustrie in Verbindung, zugleich aber sind sie auch für die Herstellung von Medikamenten und photographischen Artikeln zu benutzen.
Es marschierte auf das Chlor.
Chlorphosgengemische. Chlorpikrinsulfuryl. Zwanzigtausend Zentner Gaskampfstoffe wälzten sich daher als Giftflut.
Es marschierte auf Phosgen.
Diente es einstmals nicht zur Herstellung einer ganzen Reihe hellroter, blauer und violetter Farben?!
Es marschierten auf die Arsine, aus dem gleichen Rohstoff hergestellt wie die Arsen-Präparate.
Acht deutsche Fabriken befassten sich mit der Herstellung dieser Kampfgase... —

Und gegen vier Uhr morgens begann wieder die Artillerieschlacht mit einem gewaltigen Feuerschlage auf siebzig Kilometer Breite.
Siebentausend Geschütze waren es, riesenkalibrige und
großkalibrige, die die Bekämpfung des feindlichen Grabensystems aufnahmen, gegen das auch eine Unmasse an Minenwerfern und Gaswerfern eingesetzt wurde.
Die feindliche Artillerie war durch das reichliche Infektionsschießen am vorhergehenden Tage schon zum Schweigen gebracht.
Das feindliche Gelände war in dichte Gassümpfe verwandelt worden.
Eine Doppelwalze lief vor der stürmenden Infanterie einher: eine Walze mit Splittermunition dicht vor, die? andere mit Gasmunition weit vorauswandernd.
Alle Truppen waren mit Gasmasken versehen.
Pferde trugen Gasschuhe.
Es gab schon Entseuchungskommandos in richtigen taucherähnlichen Gasschutzanzügen. Riesige Mengen Chlorkalk, das entgiftend wirkte, wurden auf Feldbahnen herangefahren.
Man legte Gassperren, blaue Räume, gelbe Räume bunte Räume, man unterschied bereits zwischen Gasüberfall, Schwadenschießen, Gasbrisanzschießen, Verseuchungsschießen.
Eine richtige Gastaktik hatte sich entwickelt. -

Mit einem leichten dumpfen Knall explodierten ununterbrochen in der Stadt die Gasgeschosse.
Es roch nur ein wenig in den Straßen wie nach bitteren Mandeln. Man sah kaum Menschen, einige nur, einen Bausch vor Nase und Mund, der mit einer besonderen Flüssigkeit getränkt war.
Verwundete zwar, die hier von der Front durchkamen erzählten kaum Glaubliches: „Die Deutschen verfeuern Geschosse, die geheimnisvolle Flüssigkeiten enthalten, die verdampfen und in gasförmigem Zustand die Fähigkeit haben, Leder, Haut, Gemäuer zu durchdringen, und die, selbst in den minimalsten Dosen eingeatmet, absolut tödlich sind. Und welch ein Tod! Ja, erzählte man de wirkten auch durch die Haut selbst hindurch sofort tödlich, starke Erregungen der Atmung, eine eigentümliche psychische Unruhe machte sich sofort bemerkbar, Erbrechen, Magenstörungen, Verlangsamung des Herzschlags, Bewusstlosigkeit. Geschmack und Geruch gehen oft völlig verloren. Das aber sind nur die Nebenwirkungen. Kennzeichnend ist der schleichende Verlauf. Zuerst etwa das Bild eines Gletscherbrandes: erst nach mehreren Stunden eine Rötung, hierauf oft beträchtliche Schwellungen der Haut. Blasen bilden sich, nicht selten von unförmiger Größe, sie sind mit einer klaren, leicht gerinnenden Flüssigkeit gefüllt, leicht eiternd. Das Sehvermögen wird durch eine schmerzhafte Bindehautentzündung beeinträchtigt. Ja, das Auge kann völlig zuschwellen und eiterigen Ausfluss absondern. Dann kommt das Lungenödem: in den Lungen bilden sich überall kleine Herde von angesammelter Flüssigkeit, die rasch wachsen und sich vereinigen können, um schließlich den größten Teil des Lungenraumes auszufüllen und durch zunehmende Beschränkung der Luftzufuhr tödliche Erstickung herbeizuführen... Nun, Luftgeschwader seien bereitgestellt, diese Flüssigkeiten, die in die Fliegerbomben gefüllt sind, weit hinter der Front über die Städte auszugießen... Auch hätten die Deutschen jetzt zudem Apparate, aus denen sie Flammen spritzten, und das alles verwendeten sie zusammen, das eine nicht ohne das andere... es sei unmöglich, den Krieg noch länger zu führen, es sei einfach menschenunmöglich, so was auszuhalten..."
Weiter fielen unterdes die Bomben auf die Stadt. Ein dunkler schwerfälliger Regen, mit großen eisernen Tropfen...
Bald nah, bald fern: aber die Geschosse hatten nur eine geringe Sprengwirkung. Die Einwohner fühlten sich mehr als bei früheren Beschießungen geborgen. Auch Brandwirkung war keine zu beobachten. Es war volle Frühlingssonne; die Straßen waren aufgeweicht, hoch oben surrten die Fliegergeschwader in der blauen Märzluft.
Aber trotzdem: nach Verlauf von einigen Stunden begann es.
Die Einwohner hockten wie immer in den Kellern.
Es war unheimlich. Es war noch nie dagewesen. Es war, um völlig den Verstand zu verlieren.
Irgendwer stürzte die Treppen herunter. Die Nase dieses „Irgendwer" war ein einziger blutiger Knollen. Er hatte sie sich vollkommen aufgejuckt. Aus seinen Augen troff das Tränenwasser, und dabei schrie er immer mit heiserer Stimme: „Das ist das Wahnsinnsgas... das Wahnsinnsgas..." Er taumelte unten noch einige Schritte vor, dann stürzte er wo nieder, fetzte sich die Kleider vom Leib, knirschte mit den Zähnen, kratzte und knetete sich, ganz leise wimmerte er jetzt nur noch: „Die Boches. Die ver..."
Wie auf Kommando begann jetzt auch schon der ganze Raum zu husten.
Einige zündeten sich die Pfeifen an, pafften wie toll, behaupteten, das wäre ein Mittel dagegen.
Acht Menschen saßen da im Keller, fünf Frauen, drei Männer. Die Frauen in mittlerem Alter, die Männer alle über fünfzig alt. Man hatte auch Matratzen nach unten geschafft, man lag und stand da jeden Tag seine fünf
Stunden herum, das war einem schon so zur Gewohnheit
worden. Die Kinder nahmen Spielzeug mit, einen Teddybär, der gar keine Angst hatte und aus seinen Glaskugelaugen nach wie vor fröhlich in die Welt blickte.
Jeder sah jetzt auf den andern.
Einige nur stierten teilnahmslos vor sich hin.
Die Beschießung hatte aufgehört.
Oben klimperten Schritte.
Der „Irgendwer" jammerte in seinem Winkel ganz erbärmlich.
André, kriegsinvalid, Feldzugsteilnehmer von 70/71, stieß ihn: „Na Junge, schwere Brocken was ... "

Eine gespenstische Verwandlung bereitete sich vor.
Die Gesichter der im Keller eingepferchten Menschen wurden plötzlich schwammig, klößig, auch die Hände dunsen auf.
Die Weiber fingen zu plärren an.
Ein Hustenkrampf erstickte ihre Stimme.
Seltsame Bewegungen machten sie mit Armen und Fingern, wie in einem Traumzustand, ganz schwer, langsam, schleichend.
Die Gesichter hatten nun eine Farbe wie Lehm.
Der Körper fleckte sich.
Die Schleimhäute bissen.
Schüttelfieber jagte daher, Augen schwollen, unter den Fingernägeln war es, als krabbelten dort lebendig gewordene widerhakichte Eisenspäne. Der Kellerraum drückte wie ein unendliches Gewicht auf die Lunge herein. Wie flüssiges Blei kochte es in der Brust... Da wurde alles auch schon schleierig, fadenscheinig, der ganze Raum wogte, alles floss auseinander in Millionen unsichtbaren Wellen, merkwürdig summend...
Der Todeskampf der Gasvergifteten dauerte so einig Stunden lang...

Es entspricht aber keineswegs den Tatsachen, was man sich späterhin oft erzählt hat. Es ist nicht richtig, dass die von der Gasvergiftung betroffenen Menschen sich im letzten Stadium der Vergiftung gegenseitig noch angefallen haben, sich mit dem Messer bearbeitet oder gegenseitig sich gebissen und gewürgt haben. Solche Ausbrüche wahnsinniger Verzweiflung wurden nicht bekannt. Ganz das Gegenteil. Ohne dass sie etwas dagegen unternommen hätten, trockneten diese Unglücklichen einfach inwendig aus. Ein allgemeiner lähmender Zustand ging dem Endstadium voraus.
Keiner bewegte sich vom Platz. Sie blieben wie festgenagelt, wo sie gerade saßen oder standen. —

Eine unsichtbare Gasdecke lagerte über der Stadt.
Langsam drang das Gas überall ein.
Es wehte daher durch Wasserleitungsrohre, durch Türritzen und Fensterspalten, durch Mauern, durch Glas, durch Stein, durch Eisen.
Es war völlige Windstille. Das Gas verflüchtigte sich nicht.
Hunde, Hühner, Pferde lagen auf den Trottoiren, Klumpen, Fetzen von Haut, auch das Leben der Bäume und Gräser schien restlos getilgt.
Absolut tödliche Gase waren mit so genannten Reizgasen gemischt: man musste vor Augen-, Nasen- und Mundschmerzen die Masken abreißen, das absolut tödliche Gas fand durch die Luftröhre in die Lunge Eingang, und man war rettungslos geliefert.
Dann wieder setzte eine Gasbombenbeschießung ein, kombiniert mit Brisanzgeschossen: so erreichte man außerdem noch eine hübsche Sprengwirkung: durch die aufgerissenen Löcher flutete nun das Giftgas in vollkommener Dichtigkeit.
Vorne an der Front wurden die Bewegungen der nachstoßenden Infanterie langsamer und unsicherer. Gewisse Gassumpfgebiete waren für die überhaupt nicht mehr passierbar. In Masken standen sich von nun an die Bajonettfechter, die Handgranatenwerfer gegenüber.
In die gasverseuchten Grabensysteme stürzten sich die Stoßtrupps hinein, wie die Frettchen in einen Kaninchenbau. Mit Bajonetten und Handgranaten kitzelten sie die letzten noch Überlebenden heraus. Zweifüßige gespenstische Larven jagten in den Grabengängen hintereinander her, die Büchse mit dem Filtereinsatz hing vom Mund herab wie ein kurzer Rüssel.
„So ein Krieg..."
„Kotzbrocken..."
„Klamottenkrieg..."
Und Max Herse fand eben in einem Unterstand, der zur Nachbardivision gehörte, folgendes Flugblatt an einem Balken angeheftet:
„Helft mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung habt, zur schnellsten Beendigung des Menschenmordens. Verlangt das sofortige Ende des Krieges. Erhebt euch zum Kampfe, getretene und hingemordete Völker! Es naht die Stunde des Völkerfriedens. Nieder mit dem Krieg..."
Quatsch.
Was war das!?
Wie ein Herzschlag pochte es in der Erde. Jeden Moment konnte man auffliegen.

 

6

Deutsche Sturminfanterie stürmte auf dem Balkan. Im Wüstensand, hoch im Gebirge. Der deutsche Soldat kämpfte auf einer Front, die so groß war, dass die Sonne über ihr nie unterging. —

Herbst war. Weiche, braunrot getupfte Waldgefälle. Wie Riesenpolster wölbten sich hoch die italienischen Berge. Himmel und Seen wurden eins. Glutblau, wie Lapislazuli.
Das italienische Bataillon war nicht zu fassen.
Es hatte sich, gegen jede Feuerart gedeckt, in Schluchten und Kavernen eingenistet.
Man unterscheidet zwischen Zielen, die mechanisch zerstörbar sind, und solchen, die nur chemisch zu erledigen sind.
Zu den letzteren gehörte in diesem Fall die italienische Stellung. —

Vier volle Nächte dauerte der Abtransport des Kampfgeräts. Da die Anmarschstraßen von Truppen- und Sanitätskolonnen überfüllt waren, mussten Seitenpfade begangen werden. Im Zickzack arbeiteten sich die Trägerkolonnen empor, ausgetrocknete Waldbachschluchten mussten mühsam überquert werden, immer wieder sanken die Träger von Müdigkeit übermannt um, dann hieß es, ein Plateau überqueren, das von der feindlichen Artillerie voll eingesehen werden konnte, Felssplitter mischten sich mit Granatsplittern, ein wahrer Splitterorkan ging nieder, es stäubte und prasselte von oben her, von unten auf, von allen Seiten, in den Wipfeln der Tannen pfiff es und knackte es, die Granataufschläge auf dem Felsboden waren schrill und gellend.
Ein Riss: ein Granatstoß fegte mitten durch eine Trägerkolonne hindurch.
Sich um sich drehende plumpe Säcke, rollten sie einen Abhang hinunter. Ein Latschengestrüpp fing einige von ihnen auf, die anderen kollerten schreiend weiter.
Viele Träger warfen jetzt die Rohre weg.
Endlich waren die tausend Gasminen an der deutschen Front eingebaut. Tausend Rohre waren genau nach der italienischen Front hin ausgerichtet. Es war ein Uhr nachts. Das deutsche Gaswerferbataillon stand in Bereitschaft.

Es war eine Nacht wie alle Nächte.
Rötlich-blau. Ein dunkel-tönender Strich war fern das Rauschen der Bergwässer. Die tausend und abertausend Blinkfeuer der Sterne leuchteten ungetrübt, hie und da riss sich ein Schuss aus dem Dunkel heraus, Leuchtraketen stoben knatternd aus dem Erddickicht auf, eine kurze Salve folgte, ein Durcheinander-Rattern, und wieder lag alles wie verkrochen in einer Höhle da, die Hände der Mannschaften glitten von dem Gewehrschaft ab, die Geschützbedienungen schnarchten, nur die Horchposten wachten noch, jedes geringste Geräusch zeichnete sich ihnen vielfach vergrößert ein in der Ohrmuschel, sie standen dicht vor dem Stacheldrahtkranz unbewegt. —

„Zum Abschuss fertig..."
Punkt zwei Uhr wurde eine Gassalve von über neunhundert Minen gleichzeitig abgefeuert. Die Zündung erfolgte elektrisch von einer Stelle aus.
Ein gewaltiger Feuerfächer durchsprang grell die Nacht. Tausend Mündungsfeuer blitzten gleichzeitig auf. Hunderttausende von Menschen hielten jetzt gleich-
zeitig den Atem an. Einige schreckten aus dem Schlaf hervor: „Was ist... Was ist los...?" Schneidend, eiskalt war dieser Feuerschein, wie eiserne Zacken standen die fernsten Bergspitzen darin. Und schon rauschte ein ebenso gewaltiger unterirdischer Donner auf, von allen Bergwänden rings als hundertfaches Echo widerschallend, man bekam einen Augenblick lang keine Luft mehr. Wie ein unsichtbares Gewicht presste auf alle Lungen die Luft herein. Die Magennerven rebellierten bei einigen. Einige kauerten sich am Boden nieder, andere hatten Arme und Beine von sich gestreckt. Wieder andere bedeckten mit den Händen das Gesicht und heulten einfach drauflos. Jeder aber hielt sich irgendwo fest. Und es war dies alles doch nur der Bruchteil einer Sekunde.
Rudel von Leuchtkugeln flatterten sogleich empor. Ein riesiger schwarzer Rauchschleim zog unten dahin.
Man hätte meinen können, man befinde sich hoch über den Wolken.
Ein Rauschen, Summen, Sirren, Plätschern war in
der Luft.
Die Luft war wellengleich bewegt, wie unter der Einwirkung riesiger Schraubenumdrehungen, Blasebälge oder gigantischer Propellerschläge.
Endlich:
Trum-trum...
Trum-trum-trumtrum... vielhundertmal dieses trum-trum... und so fort.
Es war das dumpfe Niederklatschen der Minen, in kurzer Reihenfolge aufeinander krepierten.
Wieder Feuerschein...
Wieder diese Erderschütterung...
Wieder jene geheimnisvollen, sprengenden Flügelschläge...
Hinten und vorne, überall: Stichflammen — Eine zweite Salve krachte... Eine dritte...
Wieder gurgelte es, ächzte es, der Erdgrund stieß ein paar Mal gewaltig auf. Wie im Galopp ruckte der Boden einige Male von selbst nach vorwärts, eine Erdschicht schob sich über eine andere, Schutt kam wie eine Lawine ins Rollen und rutschte davon, steil prasselten breite Erdfontänen hoch, mit riesigen Felsklumpen darunter, wie Hagel schlugen sie wieder nieder.

Die Gasanhäufung im italienischen Graben war so dicht, dass die Gasmasken völlig versagten.
Die Minen aber waren zudem noch mit Einlagen aus Petroleum versehen, das bei der Explosion zerstäubte und brennend den Stoff der Gasschutzmaske durchlöcherte. Artilleriebrisanzfeuer setzte zu gleicher Zeit von der deutschen Front ein.
Sechshundert Mann lagen da, Pferde und Hunde darunter, krümmten sich, platzten, stießen, einer irrsinniger als der andere, lallende Laute aus, man konnte schon von Kopfwunden, Fleischwunden, Knochenschüssen nicht mehr reden: das ganze italienische Bataillon war einfach zu einer breiigen Masse zusammengestampft, die Gasschwaden zogen in den Unterständen ein, räucherten sie aus, beim nächsten Windzug schlugen sie wieder zurück, erhoben sich, senkten sich, je nachdem, und marschierten nun, als unheimliche Kolonne, weiter in das Hinterland.
Jeder Instinkt, jedes Denkvermögen hörte auf. Das Gesetz der Schwerkraft selbst schien aufgehoben.
Strudel bildeten sich, Luftgefälle, Luftwirbel, bewegliche Gasmauern, Flammen zuckten hervor, ganze Flammenschleier wieder breiteten sich aus, schrumpften, gerannen, und brachen plötzlich wieder hervor, ein dicker, spiralig geschwollener Flammenstoß.
Und mitten in den nun schon sich verflüchtigenden Gasnebel hinein stießen einige Stunden später — es war jetzt gegen sechs Uhr morgens — die Infanteriereihen, die Gasschutzmaske aufgesetzt, führten einen verzweifelten Bajonettkampf durch, Maske gegen Maske.
Geschlechter von zweifüßigen Larven stießen da mit blankem Messer auf einem gespenstischen Schlachtfeld auf sich ein, mancher riss sich plötzlich selbst die Maske von dem Gesicht herunter, eine angstverzerrte Grimasse wurde einen Augenblick lang sichtbar, ein Schluck... und schon ertrank er rettungslos im Gassumpf.
Die Sonne ging auf. Der Himmel drückte bald wie glühendes Eisen. Die Erde selbst aber wurde darunter aufgeweicht, schäumte und brodelte, der über und über durchtrichterte Boden schien wie ein mit flüssiger Lava getränkter Feuerschwamm. Die Poren, die die Tausende von Granatlöchern darstellten, waren mit Bündeln von Menschenleichen voll gestopft. Die Luft zwischen Himmel und Erde stand still. Jeden Moment, dachte man, fängt auch sie zu brennen an... Kein Baum, kein Strauch. Schattenlos strotzten auch die gewaltigsten Felsklumpen empor aus diesem Flammensumpf...
Tausende von Gasvergifteten schmorten jetzt langsam sich zu Tod in der Hitze.
Manche Leichname fingen zu brodeln an.
Fliegen summten, Käfer und Eidechsen krabbelten darüber.
Da liegt so ein fleischiger Haufen: die Gedärme aus dem Bauch neben sich hingeschüttet: ein seltsames Leben beginnt sich in dem Kadaver zu regen.
Es riecht nach Oliven, nach Staub... geronnenes Blut und faules Fleisch riecht, Jauche und Eiter... überall sieht man es qualmen...
Ein solches Unmaß an Hitze, wie es einem Gasvergifteten auferlegt ist zu ertragen, kann man sich kaum vorstellen.
Die ganzen Eingeweide verbrennen von innen, die Lungenwände sind wie mit einer beißenden Säure ausgelegt, mit jedem Herzschlag pumpt es sich wie siedendes Blei durch die Adern. Von oben presst sich einem die Sonne, ein scharlachener Klotz, schwer auf den Schädel, zentnerschwer; die Kehle steckt wie zwischen einem langsam sich zudrehenden Schraubstock... Ekelhaft kleberig ist der Schlund, hart, porös wie Bimsstein fühlt sich die Zunge an.
Hunderte lagen noch auf den Knien vor den Sanitätern und flehten um den Fangschuss. Morphiuminjektionen wurden verabreicht. Wieder einige hatten das Glück, noch ihr Bajonett zu besitzen. Sie machten Harakiri.
Gewaltige Strahlenmassen prallten jetzt in diesem Talkessel zusammen.
Es war gegen Mittag...
Die Bergspitzen glänzten wie Messing.
Junge Regimenter, flaumlose Kindergesichter, stolperten über diese Leichenwelt hinweg im Sturmschritt. Italienische Tanks krochen die Dolomitenstraßen herauf.
Überall Menschenblutspritzer, Knochensplitter, Fleischfetzen: alles mit Menschenblut voll gesogen. Bis über die Knie blieb man oft stecken im Menschendreck.

 

7

Max Herse stand mit seiner Vision plötzlich mitten auf einem Platz der inneren Stadt.
Es lärmte Alarm. Es brandete und brauste...
Eine Musik: Räderknurren, Stahlhämmer, Treibriemen, Bohrer und Schaufeln...
Max rieb sich die Augen...
Und das Schwergewicht der Welt hatte sich ihm unmerklich verschoben; es war, als rückte sich ihm jetzt erst, das erste Mal, sein Inneres zurecht...
Muskelbänder, Adern, Sehnen, Armhebel: darauf ruhte die Welt, und als Max ein vornehm aufgemachtes Spielwarengeschäft erblickte, da dachte er schon wieder ganz proletarisch folgerichtig:
An diesen Puppenköpfen, Kinderuhren, Haarnadeln, dem ganzen Schnickschnack der modernen Kleinindustrie klebt Blut und Schweiß lebendiger Menschen, die unter den elendsten Verhältnissen ihr Leben fristen. Der elegante Herr, der seine Autobrille dort aufsetzt, denkt nicht daran, dass diese Brille zusammengesetzt ist in einer dunklen Küche, die als Arbeitsraum dient, oder in einem Kellerloch, von unterernährten darbenden Menschen...
So scharf, so anschaulich, so gründlich hatte Max bisher noch nicht gedacht.
So muss gedacht werden, so muss die Welt angesehen, so muss sie erlebt werden! Das ist der einzig berechtigte und historisch notwendige Denk- und Anschauungsakt. So muss die Welt betrachtet werden und im Kampf von uns Proleten verändert werden. Alles andere ist ein menschenmörderischer Luxus... Es gibt nur einen Standpunkt, von dem aus diese vermorschte
Welt aus den Angeln gehoben werden kann, und dieser Standpunkt ist der unsere.

In diesem Augenblick marschierte ein Zug der kommunistischen Jugend vorüber. Rote Fahnen wehten. Die Internationale sang.
Dieser Gesang hatte Rhythmus, Takt, Tonfall einer unerbittlichen Kampfansage.
Noch einmal verbanden sich Maxens Gedanken mit jenen Erinnerungen, die ihn vor einer halben Stunde noch heimgesucht hatten:
Ja, die ganze Stadt war ein Trümmerhaufen, als wir damals einmarschierten. Kein lebendes Wesen weit und breit. Nur in einem verschütteten Haus aus einem Kellerloch die Stimme eines halb verhungerten Kindes, das... das die Internationale sang... Ja, ich erinnere mich noch deutlich, das war für viele unserer Soldaten damals ein grausamer, grauenhafter Weckruf. Viele wurden mit einem Mal nüchtern. Das proletarische Gewissen gellte in ihnen wie eine Sturmglocke. Tränen liefen ihnen über die Backen. Knirschten mit den Zähnen... Ja, der erste Zug unserer Kompanie stand mitten im Marsch auf einen Augenblick starr, wie versteinert zu einer Säule. Wir haben das Kind dann ausgegraben. Es war ein belgisches Proletariermädchen. Die ganze Kompanie hegte es als ihr Kleinod. Es war unser Herzenshalt. Es war das Beste, was wir damals hatten. —
Da schwenkten die Jungkommunisten in eine Seitenstraße ab, und Max bemerkte, wie er ihnen freundlich zunickte, er hatte auch, ohne dass er sich dessen bewusst war, den Hut zum Gruß abgezogen. Er murmelte noch leise vor sich hin: „Bravo, Burschen! Nur so weiter! Ist nicht am Ende doch alles, was man über euch herschimpft, eitel Lug und Trug!? Muss es denn nicht so sein!?... Können euch denn eure
Feinde loben!?... Recht so! Vorwärts in die Zukunft...
Auf eueren Schultern ruht — die Welt..." Ein Spießer bleckte die Zähne.
Was der für ein widerliches Gebiss hat. Man möchte ihm das Gebiss aus dem Maul reißen. Pfui Teufel... So eine feiste Fresse...
Es war inzwischen Abend geworden.
Die ganze Stadt war wie eine sich immer wieder von selbst aufziehende Mechanik, eine auf geheimnisvolle Weise immer wieder sich selbst regulierende Wildnis voll intensivsten Leuchtens. —

 

7

Max schob sich automatisch einige Straßen durch.
„Nun muss ich aber doch endlich einmal auch bei Lene vorbeischauen."
Lene war Arbeiterin in einer Trikotagenfabrik.
Max hatte sie neulich nur kurz in der Versammlung gesprochen. Hie und da sah man sich sonntags, dann machte man einen Sprung in die Umgebung Berlins hinaus, zu mehr langte es ja ohnedies nicht. Sie kannten sich von der sozialdemokratischen Arbeiterjugend her. In der letzten Zeit allerdings waren sie ganz außer Kontakt gekommen. Das kam, weil Max sich seit einigen Monaten wenig mehr um Politik kümmerte, Lene aber ganz in die Arbeiterbewegung hineinwuchs und eigentlich schon vollends darin aufging.
Lene empfing ihn gleich unter der Tür mit den Worten:
„Du, Max, denk dir nur, gestern bin ich aus der Partei ausgetreten. Ich kann es nicht mehr länger so mitmachen. Die letzten Wochen haben mir den Rest geben... Ich habe mich heute noch nicht entschieden... Zu den Kommunisten kann ich noch nicht... Auch, weißt du, hab ich so eine Intellektuellenschrulle, das ist das mit der Gewaltfrage..." Max blieb gleich mitten im Zimmer stehen. Die Gewaltfrage also ist's. Das kann ich dir nur sagen: ich für mein Teil könnte das nicht als Hinderungsgrund betrachten. Die ganze Gesellschaft ist ja doch nichts weiter als Gewalt. Gewalt ist Geld, Gewalt ist: dass du und ich in die Fabrik gehen, Gewalt ist, wie du wohnst, das ganze Recht, alle Sitten und Gebräuche beruhen auf Gewalt. Auf nacktester brutalster Gewalt... Nur haben natürlich die, die herrschen, ein Interesse daran, diesen bitteren Gewaltkern wohlschmeckend zu machen. Sie schwätzen also Vieles und Schönes von der Gewaltlosigkeit ihrer Gewalt. Sie legalisieren die Gewalt... Ist nicht die Arbeitsstätte heute für die weitaus meisten Menschen
eine Schlachtbank?! Der ganze Produktionsprozess ist Gewalt, die Art und Weise, wie produziert, wie verteilt und wie verdient wird... Ja, gehe nur einen Schritt so, wie es der herrschenden Klasse nicht passt, gleich packt dich in der oder jener Form die Gewalt... Der ganze Gesellschaftsapparat, samt Staat, Beamtenmaschine, Militär, Polizei dazu: Gewalt, Gewalt, nichts als Gewalt. Und sieh: dieser friedliche Gewaltkörper bricht eines Tags plötzlich aus, und dieses Geschwür, bisher nur unter der Oberfläche eiternd, das ist der Krieg... Es bleibt uns schon nichts anderes übrig, als diesen ganzen Gewaltkörper mit Gewalt zu zerschlagen... Und überhaupt: geschichtlich betrachtet:
die Gewalt war und ist noch immer seit jeher, seit Menschengedenken, die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft gewesen, die mit einer neuen schwanger ging... Lene, du musst wieder einmal das ,Kommunistische Manifest' lesen. Wir müssen gewaltig viel aufholen, wir sind durch die bürgerlichen Schulen und durch unsere verbürgerlichten Führer ungeheuer verdorben und verbildet worden. Wir müssen uns wieder zu uns selbst zurückfinden, zu uns, zu unserem unverfälschten instinktsicheren Klassenstandpunkt..."
Max streckte Lene die Hand hin.
Die schüttelte nur ungläubig lachend den Kopf —
Dann schlug sie ein.
„Recht hast du, Max, sehr recht: wir sind an uns selbst irre geworden... Ja, aber, Max, seit wann... Das ist ja gut gekommen mit dir!... Ich staune nur so... Neulich in der Versammlung nämlich, da hast du mir schon gar nicht gefallen... Ich hab dich immer bei jedem Satz, den der Redner sagte, beobachtet... Ja, Max das, was die Gewalt anbetrifft, das weiß ich natürlich auch, so tief bin ich ja doch noch nicht gesunken: auch die Ideen, die heute herrschend sind und die man uns so schön eingewickelt durch die Presse als tägliche Herzens- und Gehirnkost verabreicht, bedeuten Gewalt und dienen ihrerseits treu dem Gewaltsystem, mittels dessen das Bürgertum über uns herrscht... Aber, schau: den Eintritt in die Kommunistische Partei: das muss ich mir gründlich überlegen. Die Kommunistische Partei ist eben nicht so eine Partei wie die anderen Parteien, das jedenfalls habe ich längst begriffen. Da heißt es, voll und ganz in der Arbeit aufgehen, sich opfern, restlos sich opfern. Disziplin halten, sich unterordnen. Sonst hat das Ganze gar keinen Sinn... Und darum, um diesen letzten Entschluss kämpfe ich noch. Das muss doch ein jeder ernsthaft vorher mit sich selbst abmachen. Kann ich das, was von mir verlangt werden wird, auch leisten? Daraufhin prüfe ich mich... Aber ich werde schon wohl nicht anders können... "

 

9

Es war spät Nacht, als Max sich auf den Heimweg machte.
Er fühlte sich gewaltig gestärkt und über sich selbst emporgehoben.
Ich werde schon fertig damit. Nur keine Bange... Ich bin in den letzten Tagen der Lösung des Problems schon ziemlich nahe gekommen... Lene ist ein Prachtkerl... Auch sie hat mir noch geholfen... Wird der Wilhelm Augen machen, wenn ich ihm erzähle... Nun gut so... Jetzt nur noch ein kleiner Stoß... Doch genug für heute... Die Straßen waren menschenleer. An einer Straßenbahnkreuzung wurden die Schienen ausgebessert. Ein Haufen von Arbeitsmännern hantierte mit Schweißapparaten. Schienenhobel flitzten. Eine Weiche wurde schwer herausgehoben.
Das blaue Licht der Sauerstoffgebläse gespensterte magisch auf und ab in der Nacht. Huschte die Häusermauern entlang. Wie Gerippe, mit fahlen Knochenhäuten bespannt, geisterten sie...
„Arbeitskollegen. Genossen. Proleten. Wir. Du und ich. Wir gehören zusammen... Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Ein wunderbarer Satz!
Max sprach ihn immer wieder vor sich hin.
Welcher Menschengehirnkraft, Menschenerfahrung, welchen Menschenleids bedurfte es, um diesen proletarischen Block zusammenzuschweißen! Trieb nicht vorher die ganze Menschheit in einem riesigen Leidensmeer, Traumtrümmer an Traumtrümmer!? Was an Heroismus, Aufopferung, Disziplin wird weiterhin nötig sein, um diesen Block in Bewegung zu setzen, welche gewaltigen Hebelkräfte, ihn über die dem Untergang geweihten Geschlechter der Vergangenheit hinweg in die Zukunft zu wälzen!... Gebt uns eine Partei! so schrie es aus Millionen Mündern in allen Menschensprachen. Gebt uns eine Partei! Einen aus Millionen Proletarierarmen geschmiedeten Hebelarm, eine eisern in sich gefügte Organisation, ein Willens-Kollektiv, ein Erfahrungs-Kollektiv... und verlasst euch drauf: wir werden es schaffen!
„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Eine Parole. Eine Fanfare. Der alarmschmetternde Grundton des proletarischen Siegesmarsches. — Max marschierte im Infanterieschritt. Pfiff dazu...
Marschierte mit Hunderten, mit Tausenden...
Im Gleichschritt. Im Arbeiter-Marsch.
Kolonnen marschierten auf Kolonnen...
Manchmal gewitterte ein elektrischer Schein über den Horizont herauf.
Auch schimmerte es schon rötlich an der Himmelsferne. Nun färbte sich ein langverzogener Wolkenstreifen lebendig rot.
Die ersten Fabriksirenen heulten...
Ein riesiger steinerner Pfuhl, ein ungeheurer aus Granit und Zement gehauener Leidenstümpel ist diese
Stadt. Morgen, übermorgen, wie schön und frei werden dann die Menschen wohnen!

So glücklich und kräftig zugleich war Max in seinem Leben noch nie. —

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