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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Fünftes Kapitel

DIE KRIEGSDEBATTE IM AMERIKANISCHEN OFFIZIERSKLUB

Abkommandiert zum Gas-Dienst. En Kamerad von den Luftstreitkräften. Die Kriegsdebatte im amerikanischen Offiziersklub. Einige wichtige Ergänzungspunkte zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg. — Der Völkerbund organisiert den Vernichtungskampf gegen die Kommunisten im Weltmaßstab. „Vertilgt die Kommunisten wie Ratten!" — Mary Green auf dem elektrischen Hinrichtungsstuhl. — Generalstreik in USA. Eine rote Zelle in der amerikanischen Armee. GBRO: Geheim-Bund revolutionärer Offiziere. - Es kann beginnen!

1

Seit einem Vierteljahr war der amerikanische Leutnant der Infanterie Frank Morrow zum Gasdienst abkommandiert. Frank Morrow entstammte einer Arbeiterfamilie, er selbst arbeitete vor dem Krieg bei Ford. Auf den Schlachtfeldern Frankreichs avancierte er, gegen Ende des Krieges war er Führer eines Stoßtrupps. Frank Morrows Körper selbst glich einem Schlachtfeld: Arme und Beine trugen breite Narben von Bajonettstichen, der linke Lungenflügel war zweimal durchlöchert. Damals, im kleinen Kriegslazarett von Belleville, wohin er, schwer verwundet, aus der großen Angriffsschlacht der Deutschen heraus gerade noch rechtzeitig abtransportiert werden konnte, schwanden ihm die letzten Illusionen über den Krieg, mit denen er über den großen Ozean gegen die Deutschen gezogen war... Immer wieder brach das zerschossene Lungengewebe auf, das blutige
Exsudat drückte auf das Herz, die Ärzte hatten die Hoffnung aufgegeben. Frank konnte es nur noch mit dem Sauerstoffapparat aushalten, er bekam keine Luft mehr. Eine Punktion folgte der anderen. Bis eines Nachts, Frank erinnerte sich daran genau, der Arzt mit einer Schwester hereinstürzte, ihm den Augendeckel lüftete, den Kopf schüttelte... und Frank auf den Operationstisch gelegt wurde, während der Arzt zum Assistenten bemerkte: „Vorsicht beim Aufsitzen, er kann uns unter der Hand bleiben." Frank war von dem vielen Sekt, den Herzmitteln und dem Morphium ganz dösig. Trotzdem fühlte er ganz deutlich, um was es ging. Sein oder Nichtsein. Er sprach zu sich mit einer wimmernden Stimme einen militärischen Befehl. Und wieder wurde eine Punktion vorgenommen...
Nach weiteren acht Tagen war Frank bereits auf und spazierte im Garten des Kriegslazaretts umher. Ununterbrochen heulte und schluchzte er, die Augen waren an das Licht nicht mehr gewöhnt, die Nerven bis aufs äußerste angespannt, der Körper war außer Rand und Band, es schüttelte ihn hin und her, und es begann ein langes intensives Zittern...
Damals lernte Frank Morrow Thomas Butler kennen, Thomas Butler vom dritten Flugzeuggeschwader. Den Namen kannte er, Thomas Butler hatte in der Heeresgruppe die meisten Abschüsse. Er war der Sohn eines Chicagoer Holzwarenfabrikanten, zynisch und aufgeklärt, und führte sich bei Frank gleich mit den Worten ein: „Der ganze Krieg, Kamerad, ist weiter nichts als eine Riesenprofitquetsche... Wir allesamt sind die Beschissenen ... " Und die Gespräche über den Krieg wurden fortgesetzt. Thomas las dabei oft Stellen aus den Briefen einer gewissen Mary Green vor, von der Frank
zunächst nur wusste, dass sie die Freundin Butlers und eine Sozialistin war. Frank wurde zum Nachdenken gezwungen. Er wehrte sich zwar oft innerlich dagegen, Thomas ließ aber nicht ab, und das Resultat war: auch Frank Morrow betrachtete seitdem alle Vorgänge mit kritischen Augen.
Für wen eigentlich schlagen wir uns!? fragten sich die beiden. Und die Antwort hieß: für das Bankhaus Morgan und Compagnie.
Und für wen die Deutschen!? Für die Deutsche Bank vielleicht. Die Firma kann aber auch anders heißen.
Und wer hat den Krieg begonnen?
Keiner von beiden. Und alle beide.
Wenn zwei Räuber sich um die Beute streiten, da ist es schwer, zu entscheiden, wer angefangen hat. Außerdem, wer einen Verteidigungskrieg und wer einen Angriffskrieg führt, das kann nur historisch entschieden werden. Die diplomatische Frage kommt hier nicht in Betracht. Aber historisch betrachtet führt nur der einen Verteidigungskrieg, der eine höher organisierte. Gesellschaftsform gegen eine reaktionäre verteidigt. Ob er dabei angreift oder der Angegriffene ist, ist gleichgültig. 1914...!? Sie waren sich klar darüber, was alle die Phrasen von Nationalehre, Vaterlandsverteidigung, Freiheitskampf bedeuteten... Eigentlich sind wir ganz elende Hunde, sagten sie sich, dass wir uns so was gefallen lassen... einfach unter Einsatz unseres Lebens die Kastanien für die Riesenfinanzschufte aus dem Feuer zu holen?!... Man kommt sich bei einem solchen Sklavendienst selbst verächtlich vor...
Eines Tages setzten sie sich wieder einmal zusammen. Sie versuchten es jetzt mit dem Galgenhumor. Zwar der Galgen wird dabei nicht aufgehoben... „aber Geduld,
wir zerreißen vielleicht doch noch dieses ganze Riesengespinst von Lebenslüge, in das wir noch verstrickt sind.
sind schon dabei..." Sie zählten auf, was jeder kriegführende Staat eigentlich von sich behauptet. Ohne Mühe ließ sich folgendes dabei herausfinden: Dass er einen Verteidigungskrieg führt und für die gerechte Sache kämpft, dass er einen Kampf für Freiheit und Zivilisation aller Völker führt, dass er einen dauernden Frieden anstrebt, dass er alle Kräfte anspannen und kämpfen wird, bis der Gegner endgültig niedergeworfen ist, dass er ohne Zweifel Sieger bleiben wird, dass er siegreich vorgeht und nur geringe Verluste zu verzeichnen hat, dass die Bomben seiner Flieger nur militärische Institutionen der Gegner treffen und immer mit großem Erfolg, dass seine Artillerie und seine Flieger bedeutend besser sind als die Flieger und die Artillerie der Gegner, dass er gerade jetzt große Unternehmungen plant, die unbedingt Erfolg versprechen, dass der liebe Gott ihm zur Seite steht... Und jeder kriegführende Staat behauptet weiter: Dass der Gegner den Krieg gewollt hat und seit langem dazu rüstet, dass der Gegner den Krieg angefangen und „uns" überfallen hat, dass der Gegner einen Eroberungskrieg führt und die Welt beherrschen will, dass der Gegner das Völkerrecht mit Füßen tritt, dass der Gegner die Neutralität kleiner Staaten bedroht, dass der Gegner den Krieg mit barbarischen Mitteln führt, Dum-Dum-Geschosse anwendet, das Rote Kreuz missbraucht, Gefangene misshandelt, Frauen vergewaltigt, mordet und plündert, dass die Kriegsgerichte des Gegners eine Verhöhnung des Gesetzes sind, dass der Gegner Gefangene tötet, freie Städte bombardiert, Frauen und Kinder tötet, „uns" aber damit nie einen militärischen Schaden zufügt, dass der Überfall des Gegners immer im Keim erstickt oder mit großen Verlusten für den Feind zurückgeschlagen wird, dass der Gegner Gasbomben gebraucht, ein Seeräuber ist, ohne Notwendigkeit den neutralen Handel unterbindet, dass die Informationen des Gegners durchwegs Lügen und Verleumdungen sind, dass der Gegner die Neutralen mittels Lügen, Drohungen und Bestechungen zu bearbeiten sucht, dass der Gegner die neutralen Staaten, zu deren größtem Unglück, im den Krieg hetzt, dass der Gegner an Geldmangel, Teuerung, Industriekrisen leidet, dass die Kriegsanleihen des Gegners nur durch Betrug zustande kommen, dass beim Gegner Epidemien wüten, dass im Lande des Gegners Streik und innere Zerwürfnisse herrschen, dass beim Gegner Minister und Generale zurücktreten, dass der Gegner kampfesmüde ist...
Sechsunddreißig solcher Punkte hatte man leicht beisammen. Kein Zweifel: die Staatsmänner und Politiker aller Nationen verfügten über eine ganz gerissene Technik, die Völker gegenseitig in Schwung zu bringen... Und die beiden Offiziere sahen sich ratlos an: „Und nun, wir... was mit unseren Erkenntnissen anfangen?... Was tun?...!"
Und zu gleicher Zeit kam ein Brief, der mitteilte, Mary Green sei wegen antimilitaristischer Propaganda zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. In diesem Brief stand: „Es ist gut abgegangen. Eine große Anzahl von Antimilitaristen wurde gelyncht, die grauenhaftesten Bestialitäten sind dabei vorgekommen... Lieber Junge: Mary lässt Dir sagen, Du sollst gründlich über das alles nachdenken und endlich auch die Konsequenzen ziehen. Dieses Menscheitsunglück kann von uns, die wir die Einsicht in den ganzen Mechanismus haben, nicht weiter schweigend ertragen werden. Agitiere für den Frieden... Doch der einzige Kampf gegen den Krieg: das ist die soziale Revolution... "
Die beiden Offiziere wurden noch unschlüssiger.
Doch das Ende des Krieges kam.
Die Waffenstillstandsverhandlungen begannen.

 

2

Welch eine Rückfahrt!
Ein glorreicher Siegeszug übers Meer! Welch ein Triumph!
Als die Transportdampfer in Sicht der New Yorker Freiheitsstatue gekommen waren, begannen plötzlich mit einem Male alle Schiffssirenen zu heulen, Leuchtraketen schossen auf, Hunderte von Torpedobooten und Schaluppen umkreisten die Heimkehrenden. Die Militärkapelle spielte die Nationalhymne.
Die Wolkenkratzer glühten.
Hoch hinauf in die Nacht brannten die Siegesfeuer. —

Die Truppen waren ausgeschifft.
Umarmungen. Küsse. Endlose Händedrücke.
Die Tränen der Tausende von Witwen und Waisen glätteten nicht diesen Freudenstrudel.
Auch Frank Morrow und Thomas Butler waren heimgekehrt.
Mary Green war aus dem Gefängnis entlassen...

Das Nachkriegsleben begann.
Weder Frank Morrow noch Thomas Butler nahmen ihren Abschied. Sie blieben bei der Truppe... Auch Mary war dafür, überall musste angepackt werden, und
man konnte nicht wissen... Denn von Abrüstung war nicht die Rede, im Gegenteil. Die Waffen wurden vervollkommnet. Die Kriegserfahrungen eigentlich erst jetzt recht ausgewertet. Es gab großartige Manöver, Manöver, bei denen kein Mensch mehr sichtbar war: sie wurden nur mit mechanischen Kriegsmitteln, mit Tanks und mit Panzerwagen ausgeführt. Es wurden gewaltige Befestigungspläne besprochen, der Panamakanal und die Hawaiischen Inseln sollten zu Wunderwerken modernster Kriegskunst ausgebaut werden, zu den stärksten militärischen Stützpunkten der Welt. Militärischer Drill begann bereits in den Schulen, Privatarmeen wurden aufgestellt, geheime illegale Organisationen, militärisch organisierte Streikbrechergarden entstanden... Das Land wurde unruhig... Millionen enteigneter Farmer wanderten in die Städte. Die Regierung griff straff in die Zügel. Prozesse gegen Sozialisten häuften sich. Zu gleicher Zeit wurden die Propagandamittel, Kino und Presse, stark forciert. Russland: so hieß die Gefahr. Im Herzen Amerikas selbst wohnt Russland. Die werktätigen Massen Amerikas schauten nach Russland. Gefängnismauern und Barrikaden mussten gegen die rote, gegen die bolschewistische Gefahr errichtet werden... Da liefen in allen New Yorker Kinos schon die antibolschewistischen Gräuelfilme: da war zu sehen, wie es die Kommunisten trieben: Berge von Erschossenen häuften sich vor dem andächtig glotzenden Publikum... Die weißgardistischen Emigranten stützten den Feldzug: sie schrieben Lebenserinnerungen, und ihre Flucht aus dem roten Massengrab war wirklich heldenhaft abenteuerlich. Kapitalisten aller Länder vereinigt euch! Diese Parole, zwar nicht so deutlich ausgesprochen, wurde bis zu einem gewissen Grad zur Tat...
Japan wuchs sich energisch groß. Vereine von Rassenschützern erhoben warnend die Stimme.
Da geschahen einige Erdbeben, Feuersbrünste bei den Gelben: man dankte auf Wallstreet Gott auf den Knien. Doch bedeutete das nur einen zeitweiligen Aufschub.
Man hörte aus Deutschland: Die Arbeiterschaft mobilisiert sich, Rote Armeen bilden sich, das bolschewistische Feuer springt nach Europa über. In der amerikanischen Finanzwelt gab es zwei Meinungen: die einen: das kümmert uns nicht, lasst Europa Europa sein; die anderen: wir brauchen Europa, unser Kapitalexport stockt... Deren Meinung setzte sich allmählich durch. In Deutschland war Ruhe und Ordnung auch wieder eingekehrt. Frankreich klopfte man rechtzeitig noch auf die Finger. Der Franc sank... Und die Vertreter der Nationen erschienen, der amerikanischen diesmal mit einbegriffen, zur Lösung des Reparationsproblems am Verhandlungstisch. —

Die beiden Freunde bildeten sich weiter. Es war ihnen allmählich bewusst geworden, welche Funktion sie als Offiziere der bewaffneten Macht auszuüben hatten. Sie wurden radikale Sozialisten, das heißt gründliche Sozialisten.
„Jeder an seinem Platz... Und wir, wir werden hier unsere Pflicht tun."

 

3

Die beiden Freunde hatten sich wieder in New York getroffen.
„Und wie steht's in Edgewood?..."
„Nicht gleich mit der Türe ins Haus fallen, Thomas Darüber später..."
„Wir gehen gleich in den Klub!?" ...
„Ja, und morgen treffen wir uns mit Mary... Es wird allerlei Interessantes zu berichten geben... Auch Bolleff ist hier, ein bulgarischer Genosse... Aber man muss auf die Detektive Acht geben... Die Luft wird immer dicker..."
Ein gewaltiger Menschenstrom begann.
„Ah, die Weltmeisterschaft..."
Und schon schwirrten die Gesprächsfetzen:
„Ich setze auf Dempsey!"
„Dempsey?!... Ja, man weiß nicht, was wahr ist. Aber man hat sich ganz Erstaunliches von dem Argentinier erzählt ... "
„Ach, diese Stierhelden und Pampasbullen, meist ist's nicht viel gerade, was dahintersteckt... Ein schwerer mörderischer Schlag, der kein Gras mehr wachsen lässt, wo er hintrifft... Aber Technik, meist keine Ahnung;... Auch keine Luft, höchstens über drei Runden Stehvermögen... Alles Reklame, Maulaufreißertum, Profitgier... Da, sieh nur..."
Und der ununterbrochen sich dahinwälzende Menschenstrom erfasste die beiden Offiziere, schob sie mit von Straße zu Straße, Hunderttausende trieben so vorwärts, der Riesensportarena zu, in der heute die Weltmeisterschaft im Schwergewicht zwischen Dempsey und Firpo ausgetragen werden sollte. Das Geschrei der Stra­ßenhändler, das blitzende Rauschen von Lichtkegeln in der Luft, gleitende Trottoirs, fünfzigstöckige Wolkenkratzer, bengalisch illuminiert, unübersehbare Reihen von Automobilen, die im Menschenstrom stecken geblieben waren, Absperrungsketten der Polizeimannschaf-
ten, Billetthändler dazwischen, alles erdrückt, gequetscht, manchmal wieder vor dem Eingang ganze Menschengruppen um sich selbst kreisend, wie Menschenwirbel, und dort hingen wohl zehn Meter große Plakate den beiden Boxergestalten, da sprach irgend jemand vom Balkon durch einen Schalltrichter, eine zweite Stimme gegenüber aus einem Lautsprecher, dort glitten die Hochbahnen vorüber, Lichtpunkte flimmerten hinauf in die Nacht, Lichtbänder rollten wieder hoch oben vorüber, leuchtende Buchstaben, „Persil bleibt Persil", „Die Zarin ist soeben in Washington eingetroffen", Aufzüge sah man strahlend aufwärts gehoben in gläsernen Warenhäusern, die Asphaltböden, über der diese Menschenmasse wogte, waren unterhöhlt, das merkte man; ein langhingezogener Donner: das waren die Untergrundbahnen, ausgedehnte Zementröhrensysteme unterflochten die Erde... Dempsey — Firpo: ein einziger Gedanke, ein einziger Wille war diesen Hunderttausenden aufsuggeriert, dieser Gedanke trieb sie, packte sie, peitschte sie, flammte sie vorwärts, dieser tausendgliederige Massenkörper war nur von der Sucht nach diesem einen Erlebnis durchschüttert...
„Wie am Tag der Kriegserklärung..."
„Erhebend! Gewaltig!"
Den beiden Offizieren war es gelungen, die Menschenmassen zu durchkreuzen und in eine leere Seitenstraße einzubiegen. Diese Seitenstraße war wie ein vom Wellenschlag unberührtes Bassin.
„Und denkst du eigentlich noch oft an den Krieg?"
„,Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs.' So habe ich neulich im Gedicht eines Deutschen gelesen. Ob ich noch an den Krieg denke? An den, der gewesen
ist, nicht mehr. An den, der kommen wird. Ich bin doch schließlich zum Gasdienst abkommandiert."
„Ich bin gespannt auf heute Abend. Man müsste öfter solche Vorträge hören können. Immerhin, gegen früher, es wird jetzt in der Armee doch mehr für politische und kriegswissenschaftliche Bildung getan..."
„Die Deutschen waren uns darin bei weitem überlegen. Doch wir haben den Vorsprung eingeholt... Die Welt gehört USA. Ich sage das nicht unbegründet. Ich gehöre gewiss nicht zur Gattung jener Hornochsenpatrioten, die nicht weiter, als ihre eigene Nasenspitze reicht, zu blicken vermögen. Ich sage das, na... auf Grund meiner Erfahrungen in Edgewood. Verstehst du mich... Vom militärischen Standpunkt aus, meine ich das."

 

4

„Das chemische Kampfmittel ist gekommen, um zu bleiben. Mit dieser Tatsache wird sich die Welt abfinden müssen."
Mit diesen Worten begann Professor Snowden seinen Vortrag vor Offizieren der amerikanischen Marine, des Heers und der Luftflotte. Auch Vertreter der Zivilbehörden und der Industrie waren dazu erschienen.
Professor Snowden gab zunächst einen kurzen geschichtlichen Rückblick.
„Jahrtausende liegen die Anfänge des Gaskriegs zurück, künstliche Staubwolken, raucherzeugende Brennstoffe, Vernebeln der feindlichen Stellungen und Ausräuchern: das war schon im Altertum und im Mittelalter bekannt. Und schon im Jahre 1854 wurden dem englischen Kriegsministerium Gasbomben vorgelegt. Ein deutscher Apotheker war es, der während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 eine Füllung der Granaten mit Veratrin empfahl, einem lediglich stark zum Niesen reizenden Stoff. Sein Vorschlag kam damals jedoch nicht zur Durchführung.
In den fünfhundert Jahren, die vergangen waren, seit die Feuerwaffe Harnisch und Lanze überwand, hat man anfangs langsam, dann in den letzten fünfzig Jahren in außerordentlich gesteigertem Tempo gelernt, die Feuergeschwindigkeit, die Durchschlagkraft und die Rasanz der fliegenden Eisenteile zu erhöhen, mit denen man den Gegner bekämpfte. Dabei war man zu einem Punkte gelangt, der die bisherige Kriegführung praktisch umwarf. Denn alle diese fliegenden Eisenteile waren von größter Wirkung im freien Feld, aber durch Erdwälle von mäßiger Stärke verhältnismäßig bequem aufzuhalten. Das gab dem Verteidiger eine grundsätzliche technische Überlegenheit über den Angreifer. Der menschliche Körper mit seinen zwei Quadratmetern Oberfläche stellte eine Zielscheibe dar, die gegen den Eisenstrudel von Maschinengewehr und Feldkanone nicht mehr unbeschädigt an die verteidigte Stellung heranzubringen war. Der Verteidiger konnte nicht vor dem Sturme in seiner Erddeckung niedergekämpft werden, weil ihn die fliegenden Eisenteile nicht genügend erreichten. Es war eine Sache der naturwissenschaftlichen Phantasie, diesen Zustand vorauszusehen und auf die Abhilfe zu verfallen, die der Stand der Technik möglich machte. Diese Abhilfe ist der Gaskrieg."
Während Professor Snowden exakt die drei verschiedenen Etappen der Gasexperimente im Weltkrieg schilderte, das Gasblasen, das Gasschießen, das Gaswerfen — wobei er unablässig betonte, dass es sich damals lediglich um Experimente handelte und sozusagen der Gaskampf noch in den Kinderschuheil steckte —, überlegt sich Frank sprunghaft die neuesten Arbeiten des „Gasdienstes" in den Laboratorien und auf den Übungsplätzen von Edgewood.
„Ja, in der Tat, man kann sagen, das Problem der Fernlenkung ist gelöst. Eine Kommandotafel, ein Druck: automatischer Start: und das mechanische Flugzeug, durch keinerlei atmosphärische Verhältnisse behindert, schießt — fünfhundert Kilometer Stundengeschwindigkeit — seinem Ziel zu... Phantastische Gedanken, allein der Technik ist kein Ding unmöglich... Sehen wir nur unsere modernen Tanks an. Wie wendig sie sind, wie schnell. Siebzig Kilometer machen wir heute schon mit ihnen pro Stunde. Eine ideale Verbindung von Feuer und Bewegung!... Wie war es nur bei den letzten Manövern? Da sah man schon keinen Menschen mehr. Auch die Munitions- und Proviantübernahme sowie Mannschaftswechsel erfolgten vollkommen automatisch, durch Reservekampfwagen... Nun besteht das Problem noch darin, die Tanks gasdicht zu machen. Dann durchqueren wir mit ihnen wie mit Unterseebooten die Gassümpfe. Der Krieg hat nun einmal die feste ungepanzerte Feuerlinie durch die gepanzerte bewegte Feuerlinie ersetzt..."
So ist also, dachte Frank zu Ende, der kommende Krieg wieder ein Bewegungskrieg. Das Massenheer wird durch das Spezialistenheer ersetzt. Übergänge sind möglich. Genaue Prophezeiungen lassen sich natürlich nicht anstellen. Aber das Überraschungsmoment gewinnt ungeheuer an Bedeutung...
Das sprach auch soeben Professor Snowden aus.
„Die chemische Kriegführung stellt zur Zeit die letzte Entwicklungsstufe der Kriegskunst dar. Sie ist die
bisher wissenschaftlichste aller Kampfmethoden. Vom ökonomischen Standpunkt ist die chemische Waffe billiger als alle anderen. Sie ist aber auch die humanste. Meine Herren! Man hat die Verwendung von Giftgasen als Kampfmittel grausam und unnatürlich genannt, unzweifelhaft ist dies auch im Anfang so empfunden worden Aber man muss dabei doch bedenken, dass man jede neue Methode der Kriegführung, so auch die Einführung des Schießpulvers als grausam bezeichnet hat, erst allmählich hat es seine Schrecken verloren.
So stehen alle Weltmächte demnach sichtlich unter dem Eindruck, dass die Überlegenheit in einem kommenden Krieg dem gehören wird, der überraschend einen unparierbaren Hieb mit der chemischen Waffe führen kann. Erstrebenswert darum ist die Herstellung geheim gehaltener Gaskampfstoffe, die kein anderer hat. Es ist ohne weiteres also selbstverständlich, dass geheim gehaltene Fortschritte in dieser Richtung einen militärischen Vorsprung bedeuten würden, der vom Gegner im Verlauf des Krieges wohl kaum eingeholt werden könnte. Denn Schutz gegen Kampfgase ist nur möglich, wenn ihre Zusammensetzung bekannt ist. Neue Gase wirken also meistens vernichtend..."
Mit einem Aufruf zur Zusammenarbeit von Offizieren, Naturwissenschaftlern, Chemikern und Technikern schloss der Professor seinen Vortrag.

 

5

Es entspann sich sofort eine lebhafte Diskussion. Man debattierte in Gruppen.
„So und nicht anders muss es kommen, auf diese Art
und Weise macht sich der Krieg selbst unmöglich. Das Kriegsungeheuer beißt sich selbst den Kopf ab. Sehen Sie nicht ein, meine Herren, dass nach den interessanten Ausführungen des Professor Snowden das Kriegführen eine unmögliche Sache geworden ist? Ein solcher Zukunftskrieg, würdig, von einem Jules Verne beschrieben zu werden, er ist ein Angstprodukt verhetzter Gehirne, eine Wahngeburt, nicht mehr, das ist unmöglich, sage ich Ihnen, die Menschheit in ihrer Gesamtheit wird sich nicht in so frivoler Weise der Barbarei überantworten lassen. Jules Vernesche Phantasien, Mondfahrten, Abenteuer im Uferlosen... nichts mehr."
Es war ein Wilsonianer, der so sprach. Ein gealtertes, elegantes Männchen, ein Monokel im Auge. Professor der Medizin an der Universität.
„Und der Völkerbund!?" wisperte er erregt weiter. „Und das Washingtoner Abkommen! Ziehen Sie, bitte, in Betracht, meine Herren, den Artikel fünf des Vertrages... Schreiten wir weiter fort auf dem Weg der Abrüstung, die Befriedung der Welt ist sichergestellt. Ich sage Ihnen, meine Herren, der vergangene Krieg ist und bleibt der letzte... Mögen auch kleine Konflikte noch entstehen, Krisen Empörung und Streit aufwirbeln, mögen auch die Kolonialvölker, uneinsichtig wie sie sind, gegen Kultur und Gesittung randalieren... ein Krieg von dem Ausmaß und in den Formen, wie Sie ihn uns beschrieben haben, ist eine glatte Unmöglichkeit, Aberglauben einfach, nichts weiter... Die Zivilisation, meine Herren, marschiert. Ich meinerseits schwöre in dieser Beziehung absolut auf den Völkerbund... "
„Aber, lieber Arthur, welche Töne!" grinste ihm gummikauend ganz jovial ein chemischer Sachverständiger entgegen. „Sie gütiger Apostel der Aufklärungs-
zeit. Gewiss, gewiss, Ihr Pazifismus ist mir psychologisch gut erklärlich aus der Katerstimmung nach dem Weltkrieg heraus. Aber ich denke, wir haben das heute, nach fünf Jahren doch wohl schon gründlich überwunden. Überall, wohin Sie sehen in der Welt, erteilen wir doch mit Bajonetten etc. bereits wieder gründliche Lektionen im praktischen Pazifismus, wie Sie das nennen. Nun zum Thema. Dazu wäre kurz folgendes zu sagen: Solange das Gas von anderen Militärmächten in ihre Bewaffnung eingereiht ist, können und werden wir es nicht fallenlassen. Chemische Kriegsabteilungen bilden jetzt einen wesentlichen Teil der militärischen Organisationen Frankreichs, Italiens und der USA, und in jedem dieser Länder sind Experimente im Gange, wirksame Methoden für Gasangriffe auszuarbeiten. Auf die Verwendung von Gasen verzichten, hieße die Sicherung unserer Kampfeinrichtung auf das Spiel setzen, und im Hinblick auf die Erfahrungen, die wir im Krieg gemacht haben, würde es glatten Irrsinn bedeuten, solch ein Risiko zu laufen. Im übrigen ist es sehr töricht, den Gaskampf als Kampfart zu verdammen und jemandem Vorwürfe zu machen, ihn aufgebracht zu haben. In Wirklichkeit ist es keine Kampfmethode, die man nicht etwa hätte voraussehen können. Die ehemalige Entrüstung gilt nicht dem Gaskampf selbst, sondern nur dem Bruch der Vereinbarungen. Kindliche Einfalt und unberechtigte Bedenken haben Frankreich bei Kriegsbeginn abgehalten, sich einer so vorzüglichen Waffe zu bedienen. Die französischen Chemiker haben sie sofort vorgeschlagen. Ein gänzlich falsch angebrachtes Schamgefühl hat Frankreich um den Prioritätsanspruch gedacht... Kurz: wir alle betrachten den Gaskrieg als den Krieg der Zukunft und bereiten uns emsig auf die chemische Kriegführung vor. Und das sind keine Märchen, keine Legenden, liebes Professorchen, sondern Tatsachen. Es wäre klug, wenn Sie im Zusammenhang damit einmal bei sich erwägen würden, ob das hier Gehörte auch nicht für Ihr Fach bedeutende Gewinne bringen könnte..."
„Ich verstehe Sie nicht, meine Herren, Sie setzen sich über die Abrüstungskonferenz und über den Friedenswillen der Völker einfach hinweg, als wäre das alles etwas, was man im entscheidenden Moment mit dem kleinen Finger umstößt. Dem ist nun doch nicht so..."
„Der Beschluss der Abrüstungskonferenz, den Gaskampf zu verbieten, steht nur auf dem Papier, denn in Wirklichkeit kann er den Gebrauch von Giftgasen in einem neuen Krieg nicht verhindern. Deshalb war es auch ein Fehler, nicht auf die Ansichten der Sachverständigen zu hören, sondern auf die Ansicht von Nichtfachleuten, die aus allgemein menschlichen Erwägungen heraus den Gaskampf als grausame, ungehörige Anwendung der Wissenschaft verurteilen. Die Vorbereitung für die chemische Kriegführung muss weiter betrieben werden... Es dürfte wenig Zweifel darüber herrschen, dass das chemische Kampfmittel gegebenenfalls in sehr viel größeren Mengen und in anderer Weise verwandt werden dürfte als im letzten Krieg. Daraus ergibt sich trotz der Washingtoner Beschlüsse die Notwendigkeit für unser Land, die chemische Kriegführung weiter auszubauen. Die demoralisierende Wirkung von Gas auf einen in seinem Gebrauch ungeübten Gegner ist so groß, dass kein Führer es verantworten kann, wenn er daraus nicht vollen Nutzen zieht. Eine Nation mit größeren wissenschaftlichen Kenntnissen wird unzweifelhaft im nächsten Krieg von dieser Wissenschaft vollsten Gebrauch
machen, wenn sie der Ansicht ist, dass sie dadurch den Krieg gewinnt." Aber auch ein Professor der Soziologie war vorhanden.
„Und da sehen Sie, meine Herrschaften, auch auf ein anderes Problem möchte ich beiläufig aufmerksam machen. Die neue Kriegstechnik gibt uns wieder die Waffe in die Hand. Wie ein Bumerang kehrt die Waffe, die wir notgedrungen eine Zeitlang aus der Hand geben mussten, wieder an ihr ursprüngliches Ziel zurück. Lassen Sie mich das erklären. Im letzten Krieg war das Klassenbewusstsein des Proletariats noch nicht allzu entwickelt. Die Zweite Internationale spielte ihre Rolle gut: sie ist Schulter an Schulter mit uns rechtzeitig allen Versuchen, den Krieg in den Bürgerkrieg umzuleiten, entgegengetreten. In einem kommenden Krieg dürfte ihr das vermutlich nicht mehr gelingen. Russland ist da. Die kommunistischen Parteien haben in allen Kontinenten tief in der Arbeiterschaft Wurzel geschlagen. Eine Volksbewaffnung, ein Massenaufgebot: bedenken Sie, welch ein Risiko, welch eine Gefahr für uns! Da aber trennt die neue Kriegstechnik das Proletariat von der Waffe, die Waffe bleibt in unserer Hand, nur an den Produktionsstätten haben wir die Arbeiterkadres noch nötig, die nichts mehr und nichts weniger nur mehr Arbeitskadres sind. Wir, die Bourgeoisie, an der Front; das Proletariat im Hinterland, in der Etappe, das Proletariat in der Gefahrzone. Wir: in Tanks, in Flugzeugen, in durch Kollektivschutz gesicherten Laboratorien, so sieht in einer schroffen Wendung der Verhältnisse der neue Krieg aus."
Der Pazifist machte wieder Einwendungen. Streik, Generalstreik, Kriegsdienstverweigerung, Sabotage in den Munitionsfabriken usw.
Dutzendweise prasselten da Gegenargumente auf ihn nieder.
„Ja, aber lieber Professor! Munitionsarbeiterstreik Glauben Sie denn, dass unsere guten Proleten überhaupt wissen, was sie herstellen, Gas, Giftgas: muss ich Ihnen, naives Gemüt, denn erklären, dass dies alles in Arzneien Parfümerien, in Düngemitteln, in den Seifenfabrikaten enthalten ist? Wo fängt die Munitionsherstellung an und wo hört sie auf? Sehen Sie, die Raupenschlepper der Tanks, werden sie nicht auch zu Traktoren verwendet? Haben Sie nie etwas von den Normungstendenzen der Industrie gehört... Oh, das ist alles organisiert..."
Ein anderer spottete: „Streik, Dienstverweigerer. Sie rechnen nicht mit der Atmosphäre beim Ausbruch eines bewaffneten Konflikts. Sie rechnen nicht mit der Macht der Presse, mit der Erschütterung, die wir in neun Zehntel aller Menschen mit Schauergeschichten und Gräuelmärchen bewirken können, mögen sie noch so absurd und noch so schamlos dumm erlogen sein. Sie rechnen nicht mit der Spaltung der Arbeiterschaft. Die revolutionären Elemente haben bestimmt im Anfang des Krieges keinen großen Einfluss, erst unter den direkten Wirkungen... und dann: entweder — oder! Wir siegen oder -das andere ist Sache der feindlichen Besatzungstruppen. Wir werden uns auch hier zur rechten Zeit verständigen. Hundertprozentige Irrsinns-Atmosphäre, mein Herr!... Das verdient in Rechnung gestellt, einkalkuliert zu werden, mein Herr!... Nur wir, die Arrangeure, ein Prozent der Gesamtmenschheit, behält klar den Kopf. Denn wir sind darauf eingestellt, wir kennen die Vorbereitungen, für uns allein ist die Kriegserklärung kein Überraschungsmoment, wir allein wissen nur allzu genau — im Gegensatz zu gewissen Sozialisten, Sie entschuldigen schon —, dass die Produktionsmethode, die wir heute betreiben, und Krieg unbedingt zusammengehören, in ihrem Wesensgrund eins sind, und dass der so genannte Friede nur eine Atempause ist... Wie lange eine solche dauert, das kann man nicht sicher prophezeien... Wir geben für einen kommenden Krieg kein Datum an... Kurz gesagt: Träumen wir nicht den Frieden, sondern para bellum! Bereite den Krieg vor...
„Hat schon Nietzsche gesagt: nur im Schatten des Schwertes..."
„...Wir dürfen ja wohl hoffen, Herr Professor, dass Sie nur außerhalb ihres Geschäfts so pazifistisch sich gerieren... Wenn der Krieg einmal da ist, verlassen wir uns darauf: Sie schreiben alles, was noch aus dem
letzten Loch pfeift, k.v..."
„Eingeschlagen!"
„Nun, das ja... Wir sind doch schließlich allzumal Patrioten. Kern-amerikanisch." Eine Pause trat ein ...

 

6

Berühmte Herrenreiter, Tennisspieler, Tänzerinnen, ein Arzt, monokelblitzende Herren vom demokratischen Yachtklub promenierten schon auf und ab, eine Filmdiva zirpte am Arm des berühmten Relativitätstheoretikers vorüber, eine parfümierte Duftwolke durchschütterte die Luft. Die Kinoschauspielerin war raffiniert einfach gekleidet, ein goldenes Kreuz im weiten Halsausschnitt, schwarze Seide. Sie hatte merkwürdigerweise den Spitznamen „Lola, das Känguru". Eine andere hieß „Das Sardellenbrötchen", eine dritte „Der Vampir".
„Unterseeboote...", grunzte ein hoher Geistlicher sehr bedächtig, „...sind gewiss lieblos, unchristlich. Sie sind genauso ungerecht wie der Mammon. Gerade darum entsagen wir ihnen nimmer. Wir brauchen sie, wie wir ja auch nach Jesu eigenem Wort den Mammon brauchen sollen. Das ist eben das Schöne, dass wir bei dem allen das Wort Jesu für uns haben... Unsere Schuld wahrlich ist es nicht, wenn wir in der Blutarbeit des Krieges auch die des Henkers zugleich mit verrichten müssen..."
„Meine Herren! In der Tat! Der Mensch wurde über sich selbst hinausgehoben! Wenn ich mich an die Jahre des Krieges zurückerinnere: in der Tat: wir durften unsere Bilder dorther nehmen, wo die ewigen Sterne hangen... Wir sahen keine Vergangenheit mehr: wir waren das Schicksal selbst... Wie das Wehen einer neuen Zeit, so ging ein Geist des gegenseitigen Verstehens und der gegenseitigen Hilfsbereitschaft durch die Menschenherzen. Und die vaterlandslosen Gesellen haben ihre Pflicht erfüllt und sich darin in keiner Weise von den Patrioten übertreffen lassen... Ein jubelnder Aufschrei hat die Herzen des Volkes durchglüht, ein versöhnender Hauch hat sich über die Herzen des Volkes gebreitet. Darüber sind sich doch alle meine Freunde klar, ohne den Krieg wären die vielen demokratischen Freiheiten in den USA noch lange nicht erreicht worden. Ein solcher Sieges- und Friedenspreis ist der Opfer würdig... Das sage ich, trotzdem oder besser eben weil ich Sozialist bin..."
„Ja, wirklich, es war aber auch ein heißes Bad in schwarzem Blut nach so viel feuchten Lauheiten von Muttermilch und Brudertränen dringend notwendig. Es war eine ordentliche Begießung mit Blut nötig. Vor allen
Dingen: wir sind unserer zuviel geworden. Und der Krieg nimmt allemal eine Unmenge von Menschen weg, die nur lebten, weil sie eben geboren waren. Unter den Tausenden von Leichen, die im Tode vereinigt sind und sich nur noch durch die Farbe der Uniform unterscheiden, wie viele sind denn darunter, die man zu beweinen oder deren wir uns auch nur zu erinnern brauchten!? Ich wette meinen Kopf, dass sie nicht an die Zahl der Finger und der Zehen heranreichen. — Man halte uns nicht zur Gemütserschütterung die Tränen der Mütter vor! Zu was aber sind auch nach einem gewissen Alter die Mütter überhaupt noch zu gebrauchen als zum Heulen!? Der Krieg nutzt außerdem der Landwirtschaft und der Neuzeitlichkeit. Die Schlachtfelder liefern für viele Jahre einen erheblich höheren Ertrag als zuvor ohne irgendwelche Düngemittel. Was für schöne Kohlköpfe werden wir essen, wo die Leichen sich aufhäufen, und welche dicken Kartoffeln wird man einige Jahre später in den Gegenden ernten, wo die Leichenmassen der deutschen Infanteristen liegen. Wir wollen den Krieg lieben und ihn, solange er dauert, als Feinschmecker auskosten..."
So dozierte ein Ästhet. Er war bekannt durch den Besitz einer reichhaltigen Porzellansammlung. Er selbst galt als Kraftnatur und bevorzugte von allen anderen Kunstrichtungen den Futurismus.
Gegen einige Einwände, die namentlich von weiblicher Seite gemacht wurden, erhob sich sofort der Psychiater.
Sie müssen einsehen lernen, die Kriegskassandren beiderlei Geschlechts, dass es Demenz verrät, die Modefrage nach dem Frieden stoßzubeten. Krieg lernt man nicht an einem Tag. Der Krieg, bisher Reaktion auf Reiz,
Ehrensache, Mittel zum Zweck: im Moment der Kriegserklärung wird er Selbstzweck. Und von da an, hoffe ich dringend, werden auch alle jene noch unerlösten amerikanischen Seelen, möglicherweise sogar die letzten Pazifisten, ihren Sündenfall erkennen, werden erkennen, dass ihre Ideale keine Reliquien, sondern Relikte sind. Und die ganze Nation wird wie ein Mann den ewigen Krieg wiederfordern... Im übrigen: Venn es Sie interessiert: ich bin jetzt gerade bei einer Psychoanalyse der Arbeiterbewegung: die ununterbrochenen Klagen über die Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie sind nichts weiter als die Sublimierung des Verfolgungswahns, und was die Losung ,Proletarier aller Länder vereinigt euch' betrifft: so ist sie nichts anderes als der Klassenausdruck der Homosexualität..." „Nein, was Sie sagen!"

 

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Im Musiksalon wurde inzwischen über Kunst debattiert.
Ein Bücherschrank öffnete sich.
Zuerst liebkoste man mit den Fingerspitzen die Einbände.
Ein berühmter Kritiker drehte sich hin und her in der Mitte eines Kreises, wie ein Pfau, zwei sehr fett geratene Schauspielerinnen umwogten ihn, endlich schaufelte er sich durch die Fleischmassen hindurch, elastisch wippend. Den mit ihm Sprechenden ließ er nur sein Profil sehen.
„Auch Sie hier, Herr Doktor!?... Ein wenig herausgeflogen aus der Studierstube?!... Nun, was macht Ihre
Arbeit!?"
„Ja, ganz richtig, was die Kriegsschuldfrage anbetrifft: mir fehlt in meinen .Untersuchungen nur noch eine Minute im damaligen Leben des leider verewigten Zaren... Dann ist der Kreis lückenlos geschlossen... Jeden Staatsmann habe ich wissenschaftlich gewissenhaft unter die Lupe genommen... Ich kann aber heute schon Ihnen vertraulich versichern, die Unschuld der Entente wird einwandfrei bewiesen ... "
„Und korrespondieren Sie noch mit... na, ich meine den Verfasser von diesem Buch ,Untergang des Abendlandes' oder so ähnlich..."
„Gewiss. Gewiss. Eine renaissancehafte Cäsarennatur, gemästet an den von ihm selbst gezeugten Kadavern... Hat übrigens die Absicht, über das große Wasser zu kommen... Würde sich lohnen... Jemand, der es finanziell arrangieren würde, würde bestimmt, bei der großen Aussicht auf Erfolg, zu finden sein."
„Das sowieso. Ist ja ganz nach dem Geschmack unseres Publikums..."
„Man muss dem Volk die Wege zu Kraft und Schönheit weisen. Sport. Sport: das ist das in unserem Zeitalter gegebene Mittel dazu... ", unterbrach jetzt die beiden ein dritter.

„Vom Leben nach dem Tode" wurde jetzt gesprochen.
„Ein aktuelles Thema sozusagen", schnauzte jemand.
Einige lächelten zwar skeptisch, sie erklärten sich für Agnostiker und Relativisten, aber die Jenseitsgläubigen gewannen unschwer die Oberhand.
„Religiös zu sein, ist modern. Außerdem liebe ich prinzipiell nur religiöse Menschen. Haben Sie neulich nicht das Bild des Kardinals im Journal gesehen! Ein feiner Kopf! Todschick."
Die Filmdiva erinnerte sich daran genau.
„Überwundener Standpunkt!" höhnte der Kunstmaler, der fest an einen persönlichen Gott glaubte, zu einem der Ungläubigen hinüber und entwickelte eine exakte Topographie des Jenseits. Er ging zur Beschreibung der Hölle über und kicherte satanisch, als er jedem Ungläubigen dort bereitwilligst sein Plätzchen zuwies.
Der Kunstmaler bekannte gleich darauf dem interessiert aufhorchenden Zuhörerkreis nicht unbescheiden er selbst befinde sich im Zustand der Gnade, das regelmäßig gepflogene Gebet erwirke in ihm eine magische Kraft, Gottes Stimme sei auch heute noch ganz reell zu hören... Verlor sich aber gleich darauf in einem langwierig ausgesponnenen Traktat über das Wesen des Sündenreizes und über Luthers „Fortiter peccare" und schloss damit, dass dem Gläubigen alles erlaubt sei. Auf die Reue lediglich komme es an.
Ein neukatholischer Universitätsprofessor wiederholte dabei monoton: „Man muss sein Leben opfern... Für mich persönlich allerdings, das muss ich gestehen, wäre der Heldentod keine besondere Sache. Wer, wie ich, in der Entspannung lebt, wem, wie mir, das Leben leicht ist... Das Problem der Opferung umfasst bei mir nicht solche materielle Bezirke..."
Wieder war ein Wortstreit ausgebrochen.
Ein Theosoph schlug sich mit einem Mystiker, ein Protestant mit einem Neukatholiken, ein Monist griff taktlos ein, und alles hielt sich plötzlich die Ohren zu und kreischte: „Ausgerechnet Darwin!"
Und die Gesellschaft schlug unter Anleitung eines bekannten Schauspielers jetzt einige prächtig gelungene Salto mortale in Geistreichigkeiten... Die Witze hüpften...
Aber schon ließ sich ein Sekretär des Auswärtigen hören: „Soll ich Ihnen, meine sehr verehrten Herrschaften, vielleicht einmal schildern, wie das Volk in Wirklichkeit fühlt und denkt!? Ja!? Vielleicht jage ich damit auch den letzten Restspuk ihrer pazifistischen Illusiönchen zum Teufel!
Es handelt sich um die Lynchjustiz an Negern im Staate Ohio.
Stellen Sie sich bitte vor: eine Menge von zehntausend Personen. Geballte Fäuste, blutunterlaufene Augen, Fluchen und Schimpfen. Mit Stöcken, Pechfackeln, Revolvern, Besen, Stricken, Messern, Scheren, Schirmen, Vitriol bewaffnet. Inmitten dieser entfesselten und immer wachsenden Truppe ein schwarzer Klumpen, einmal nach links, einmal nach rechts gestoßen, geschlagen, niedergetreten, zerrissen, blutbedeckt, beinahe tot... Die lynchende Menge schleppt ihr Opfer, den Neger, mit sich. In einen Wald oder auf einen öffentlichen Platz. Dort wird er an einen Baum gebunden, mit Petroleum oder sonstigem Brennstoff begossen. Bevor das Feuer angezündet wird und seinen Körper erfasst, wird ihm ein Zahn nach dem andern ausgeschlagen, werden ihm die Augen ausgerissen, wird ihm das Haar in Büscheln vom Kopf gerissen, wobei ganze Hautfetzen mitgehen und ein blutiger Schädel zurückgelassen wird. Der Körper wird derart geschlagen, dass kleine Fleischstücke herumfliegen... Der Neger atmet noch; aber er schreit nicht mehr. Denn man hat ihm seine Zunge mit glühendem Eisen verbrannt. Der ganze Körper krampft sich zusammen wie eine Schlange, die halb zertreten wird, wenn man ihn von zwei oder drei Seiten zugleich mit glühendem Eisen versengt. Mit einem Messer wird ihm sein Ohr abgeschnitten... ,Oh, wie schwarz er ist! Wie hässlich
er ist!' kreischen die Damen, die ihm das Gesicht zerfleischen. ,Man soll ihn anzünden!' schreit einer. ,Nur langsam', fügt ein anderer hinzu, ,nur hübsch langsam braten lassen, damit er nicht zu rasch stirbt, sonst hat die Sache keinen Witz.' Der Schwarze wird geröstet, gebraten, bis der Körper schließlich fast verkohlt ist. Aber ein Tod ist zu wenig. Darum hängt man den Körper noch auf, genauer gesagt, man hängt das auf, was von seinem Leichnam übrig ist, und alle Zuschauer klatschen Beifall und rufen ,Hurra'! Wenn die Menge sich an dem Schauspiel genügend satt gesehen hat, lässt man den Leichnam zur Erde fallen. Man schneidet die Stricke, mit denen er angebunden und gehenkt worden ist, in kleine Stücke, von denen jedes um drei oder fünf Dollar verkauft wird. Das sind Andenken, die Glück bringen und um die sich die Frauen reißen... "
Man schwieg auf diese Erzählung hin nicht lange.
„Schauderhaft... Furchtbar... "
„Das Urböse im Menschen, die Bestie, der Satan..."
„Ob es nun wahr ist, was Sie uns erzählt haben oder nicht... es war spannend erzählt, es prägte sich einem deutlich ein..."
„Nun, wir sind keine Nervenbündel... und wenn die Frauen sich ängstigen: mulier taceat in ecclesia! Übrigens: auch Weiber werden zu Hyänen, und wie der Krieg gezeigt hat, oft zu sehr brauchbaren ... "
„Ja, du meine süße Hyäne... "
Man scherzte schon wieder.
Der Neger war rasch vergessen.

 

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Professor Snowden nahm indes das Schlusswort.
Eine Generalstabskarte war aufgespannt, auf der der Vortragende die einzelnen Positionen mit dem Stab aufzeigte.
„Ich werde jetzt versuchen, eine ökonomische Analyse des kommenden Krieges zu geben... Es handelt sich dabei vor allem um die nicht kapitalistischen Absatzmärkte in China und Indien. England ist im Jahre 1925 so gut wie aus China vertrieben, so dass jetzt der Kampf zwischen den beiden siegreichen Mächten Japan und Amerika beginnt. China mit seinen 400 Millionen Einwohnern, von denen der größte Teil Kleinbürger sind, 320 Millionen in der Landwirtschaft, die sie kleinbürgerlich betreiben, ein großer Teil von Kleinbürgern in den Städten, und Indien mit seinen 320 Millionen, darunter 217 Millionen in der Landwirtschaft: sind die beiden großen Hauptbecken, wo wir noch Mehrwert realisieren können, namentlich nachdem sich der nicht kapitalistische Markt in Amerika und Kanada immer mehr verengt hat. In Amerika sind allein in den letzten zehn Jahren etwa sieben Millionen Farmer als Proletarier in die Städte gewandert.
Schon früh haben wir die große Bedeutung Chinas erkannt.
Das Vordringen unserer Standard Oil Company in China, das Eindringen unserer amerikanischen Maschinen in China ist ein deutliches Zeichen dafür. Wir mussten unsere Zivilisationsbestrebungen aber auch militärisch fundieren. Die erste Periode war im Jahre 1899 der amerikanisch-spanische Krieg, in dem wir die Philippinen, direkt vor China, annektierten. In der zweiten
Periode wird die Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und den Philippinen hergestellt, werden im ganzen Stillen Ozean feste Kriegsstützpunkte zu seiner Beherrschung, zur Vorbereitung des weiteren Vordringens nach China, nach Ostasien gemacht. Durch den Abkauf der dänischen Inselgruppe St. Thome, durch den Ausbau von Hawaii, insbesondere durch den Ausbau von Dutch-Harbor auf Alaska, nach dem Krieg durch die Besetzung und den Ausbau von Tutuila in der ozeanischen Inselgruppe und schließlich durch die Besetzung und den Ausbau von Guam haben wir ein weites, großes Viereck geschaffen, das zur Vorbereitung von Angriffen bzw. Abwehr vorzüglich geeignet ist. Dieses große Viereck im Stillen Ozean erhält seine Rückenstützpunkte durch Kalifornien auf der einen Seite, durch den Panamakanal und damit die Verbindung zum Atlantischen Ozean auf der anderen Seite.
Nun, und auf der anderen Seite steht Japan, das gleichfalls Anspruch auf China und Indien erhebt, und das immer stärker gleichfalls vordringen will.
Die Probleme des japanischen Imperialismus lassen sich auf zwei Hauptfragen zurückführen. Das eine ist selbstverständlicherweise die Frage des Absatzes seiner Ware, das andere ist das spezifisch japanische Problem der Übervölkerung und damit die Notwendigkeit der Ansiedlung und des Ausbaues seines Imperiums. Bereits 1919 hat Graf Komura erklärt, dass Japan verloren sei, wenn es ihm nicht gelinge, in einem Menschenalter Raum für 100 Millionen Menschen zu sichern und obendrein seine Auswanderungsräume unter der Flagge zusammenzuhalten.
In Japan drängen sich auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie die Deutschlands, dabei aber vielfach unbewohnbar ist durch steile Vulkanberge, 78 Millionen zusammen, sein Geburtenüberschuss betrug in dem einen Jahre 1921 724 600 Geburten, während der Überschuss in den über 250 Jahren der japanischen Abgeschlossenheit von 1600 bis 1886 nur 900 000 betrug. Die plötzlich so starke Ausdehnung vor allem zwingt Japan, fremde Gebiete zu erobern, dorthin die Mengen von proletarisierten Bauern und Proletariern zu übertragen. So hat Japan Korea besetzt und völlig zur japanischen Kolonie ausgebildet, so dringt es in China ein, in Indien, in Südafrika, so hat es sich vor allem schon in Kalifornien, in unserer direktesten Nähe, festgesetzt. Vor dem Erlass unseres Einwanderungsverbots und auch jetzt noch steht Kalifornien vor der Gefahr, eine japanische Kolonie zu werden. Bereits 1922 gab es 110000 Japaner in Kalifornien, denen mehr als zwei Drittel des hochwertigen Weizenlandes gehören.
Nun die Frage der Rohstoffversorgungsmöglichkeiten Japans!
Während Japan selbst nicht reich an Kohle, arm an Eisen und Öl ist, ist China und Korea außerordentlich mit Kohle und Eisenerz versehen. Während man den japanischen Kohlenvorrat insgesamt auf etwa 1600 Millionen Tonnen schätzt, wird der chinesische auf 15 Milliarden Tonnen geschätzt. Ebenso belaufen sich die chinesischen Eisenerzvorräte auf zirka 45000 Millionen Tonnen, während die Japans nur etwa 4000 Millionen Tonnen betragen. Das Vordringen Japans in China, das bereits durch große Bindungen, durch große Beteiligung der Japaner an Eisen- und Stahlwerken vollzogen ist, droht für unseren Handel jetzt zur direkten Gefahr zu werden! Für England ist Japan bereits zur Gefahr geworden! Der englisch-japanische Vertrag ist auch aus diesen
Gründen nicht mehr erneuert worden. Und die Errichtung der Singapore-Basis seitens England kann nur Japan gelten. Wir können daher wirklich von einer gelben Gefahr sprechen, und die Gefahr eines kommenden Krieges ist damit ebenfalls in große Nähe gerückt."

Da platzte die Nachricht herein: „Dempsey Knockout-Sieger nach zwei heftigsten an Überraschungen reichen Runden über Firpo..."
Der Lärm der Straße schwoll.
Ein Menschenkatarakt...
Frank und Thomas trieben steuerlos dahin durch die Nacht wie durch ein Traumland...
„Mir ist es oft", sagte Frank zuerst, „als sei das Proletariat aller Länder, dieser Riesenmenschenmassenleib, mit magnetischen Strömen geladen und mitten hinein in ein Stahlgewitter gestellt, dazu ausgesucht, die Blitze, die sich aus der labyrinthischen Wirrnis dieser Gesellschaftsform entladen, auf sich abzuziehen ... Ein wandelnder Blitzableiter..."
„Nun heißt es aber für uns: mit zehnfacher Kraft heran an die Arbeit! Wir müssen gleich morgen zu einem wirklichen Resultat kommen!..."

 

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„Ich schlage vor", nahm die Genossin Green das Wort, „nachdem wir jetzt die ausführlichen Berichte der Genossen Morrow und Butler gehört haben, eine Resolution zu fassen und sie allen revolutionären Arbeiterorganisationen der Welt vorzulegen und dringend zur Annahme und zur Durchführung zu empfehlen. Auch der Genosse Bolleff von der bulgarischen Sektion hat einige Bemerkungen gemacht, die wir berücksichtigen müssen. Wir Sozialisten Amerikas, als des Landes, das am weitesten fortgeschritten ist in der imperialistischen Kriegstechnik, haben demnach die Pflicht, auch in der Bekämpfung des imperialistischen Krieges führend zu sein und unsere Beobachtungen  allen  Sektionen  mitzuteilen.  Unsere Kommission  zur  Beobachtung  der  imperialistischen Kriegsrüstungen hat gut gearbeitet, sie steht nach wie vor mit unseren illegalen Organisationen in engster Verbindung und wird sich weiter intensivst ihrer Aufgabe widmen. Die Resolution, die wir aufgesetzt haben,
lautet:

Einige wichtige Ergänzungspunkte zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg

Zu dem Kampf gegen den imperialistischen Krieg gehört unmittelbar auch die möglichst genaue Kenntnis der Waffen, die in diesem Krieg aller Voraussicht nach zur Anwendung kommen werden. Wir müssen in unserer Aufklärungsarbeit unbedingt regelmäßig über den Stand der modernen Kriegstechnik konkret berichten können und auch von dieser Richtung her die Massen damit bekannt machen, was für sie ein kommender Krieg bedeutet.
Der Weltkrieg war eine Revolution für die gesamte Kriegstechnik.
Es lässt sich nun nicht leugnen, dass unsere gesamte bisherige Antikriegspropaganda viel zu sehr auf den vorhergegangenen Krieg eingestellt war, viel zu ,konservativ' war, und dass wir es nicht richtig verstanden haben, die experimentellen Ansätze der im vorhergegangenen Krieg entwickelten Kriegstechniken scharf her-
auszuanalysieren, ihre Weiterentwicklung in der Nachkriegsperiode in aller Öffentlichkeit zu verfolgen und damit den entscheidenden Wendepunkt im Charakter der gesamten Kriegführung überhaupt überzeugend darzutun. Das, was gewesen ist, interessiert uns doch nur im Hinblick auf das, was ist, im Hinblick auf das, was sein wird.
In den wenn verhältnismäßig auch nur spärlichen Berichten der Bourgeoisie über dieses Thema aber bietet sich uns ein ungeheueres Agitationsmaterial dar, das im entscheidenden Augenblick richtig eingesetzt, eine durchschlagende Wirkung auf die weitesten Kreise unserer Meinung nach ausüben müsste.
Es gilt den Fortschritt der Militärtechnik in allen Ländern mit größter Sorgfalt zu verfolgen, um einerseits durch die Schilderung des Konkreten dem Proletariat ein Bild des kommenden Krieges in anschaulichster, lebenswirklichster Weise geben zu können und um andererseits durch die intensive Beschäftigung mit den Rüstungen in dieser Weise, durch ihr näheres Studium auf Grund der dabei gemachten Erfahrungen realere Anhaltspunkte für unseren Kampf gegen den Krieg zu gewinnen.
Wir amerikanischen Genossen ersuchen euch, Genossen, schon heute auf dieser Basis eine großzügige Aufklärungspropaganda über den chemischen Krieg zum 1. August dieses Jahres vorzubereiten. (Vorträge, Aufklärungsmeetings, Broschüren usw.) Vor allem aber auch mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die polnische Regierung am 9. März 1925 das erste Mal im Klassenkrieg gegen revolutionäre Arbeiter chemische Kampfstoffe eingesetzt hat. Dies ist unseres Wissens das erste Mal, dass im Bürgerkrieg chemische Kampfstoffe angewendet
wurden. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass es nur eine Frage der Schärfe in der Zuspitzung der Klassenverhältnisse ist, ob und wann das Gas auch im Bürgerkrieg allgemein seine Verwendung finden wird. Die Bourgeoisie spart bekanntlich nur deswegen ihr bestes Pulver auf, um ihre Geheimnisse nicht vorzeitig preiszugeben. Es wäre aber äußerst verhängnisvoll für uns, uns darüber Illusionen zu machen und uns, wenn es einmal hart auf hart geht, auf einen solchen Kampf nicht einzustellen.
Wir fordern euch, Genossen, daher auf, alle das Eure zu tun zur Konkretisierung unserer Methoden des Kampfes gegen den imperialistischen Krieg... "

„Wünscht einer der Genossen zu dieser Resolution das Wort?" Der bulgarische Genosse meldete sich. „Genosse Bolleff!"
Der bulgarische Genosse bemängelt vor allem, dass die Resolution selbst nicht genügend konkret sei, die Konkretheit fordere, ohne selbst dieser Anforderung zu entsprechen. So hätte man auf den Abrüstungsschwindel genau eingehen müssen, nachweisen müssen, dass Rüstungsindustrie identisch ist mit Farbstoffindustrie und dass die ungeheuere Entwicklung der chemischen Industrie gleichbedeutend ist mit der ungeheuren Aufrüstung, wie sie fieberhaft in allen Ländern betrieben wird. „Wir hätten am besten Amerika als Beispiel anführen können, das vor dem Krieg sieben chemische Fabriken besaß, nach dem Kriege bereits hundertachtzehn! Dann hätte man sagen müssen, dass alle schweren Giftstoffe Abkömmlinge der Farbindustrie beziehungsweise der Heilmittelindustrie sind. So weiß im Zeitalter des
Giftgaskrieges der Arbeiter in der Fabrik nicht mehr, ob er ein harmloses Heilmittel, irgendeine Farbe oder aber ein äußerst gefährliches Giftgas herstellt. Hier enthüllt sich mit voller Schärfe die konterrevolutionäre Forderung der Zweiten Internationale, dass man bei Kriegsausbruch einfach den Krieg unmöglich macht dadurch, dass man keine Munition herstellt. Hier zeigt sich klar, dass diese Forderung nur dazu dient, das Proletariat von der Erkenntnis der unerbittlichen Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bourgeoisie, des Krieges gegen den Krieg, abzuhalten. Wir müssen dabei in Rechnung stellen, dass man versuchen wird, die Belegschaften dieser Fabriken mit ,zuverlässigen' Elementen auszufüllen. Die Resolution hätte noch besonders hinweisen müssen auf die Wichtigkeit unserer Betriebszellenarbeit in diesen Fabriken, auf unsere Zellenzeitungen in diesen Betrieben... "
Als zweiter meldete sich ein amerikanischer Genosse.
In der Resolution sei die Tatsache nicht in Betracht gezogen, dass die amerikanische Polizei bereits gegen so genannte Verbrecher ausreichend von Gashandgranaten Gebrauch mache, dass man Gas in Gefängnissen gegen Meuterer verwende, ja dass man bereits Experimente angestellt habe, den elektrischen Hinrichtungsstuhl durch Gas zu ersetzen... Abgesehen aber davon, hätte man auch formulieren müssen, dass der Kampf gegen den imperialistischen Krieg eben gleichbedeutend ist mit dem Kampf um den Besitz der Produktionsmittel. Dass der Kern der Sache der Besitz der Produktionsmittel ist. Und dass das Entweder-Oder, Sozialismus oder Untergang in die Barbarei, in diesem Zusammenhang zur höchsten Aktualität gesteigert, plötzlich eine ganz neue schlagartige Beleuchtung erhält.
„Zweierlei scheint mir noch zu fehlen", fügte jetzt Genosse Morrow hinzu, „erstens, dass alle Kampfmittel und Kampfstoffe eben dadurch, dass sie uns bekannt sind, beweisen, dass sie von den einschlägigen Kreisen bereits längst aufgegeben sind, und dass wir im Ernstfall bei weitem schärfere und ausgiebigere Kampfstoffe erwarten haben... Und dann: dass man mit allen Mitteln dem Unfug entgegentreten muss, den zukünftigen Krieg utopisch durch allerlei phantastischen Schnickschnack wie Todesstrahlen und mechanische Polizeimänner zu verzerren, dadurch wird nur erreicht, dass auch das bereits wirklich Vorhandene angezweifelt wird und unsere ganze Kampagne sich leer läuft. Die Bourgeoisie allerdings hat das größte Interesse daran, diesen Dingen gegenüber die Methode der Camouflage anzuwenden, d. h. Dinge, die sie nicht mehr verschweigen kann, durch Kombination mit blödsinnigem Ulk als harmlos und als unwirklich darzustellen.  Das hätte meiner Meinung nach berücksichtigt werden müssen... "

Damit war die Debatte über die Resolution beendet.
Es wurde vorgeschlagen, als Kommentar zur Resolution zwei ausführliche Artikel anzufügen, der eine mit dem Titel: „Der zukünftige Krieg und die chemische Industrie der Welt", der andere: „Die chemische Waffe im kommenden Krieg!" Diese Arbeiten sollten möglichst knapp gehalten, mit überzeugendem Tatsachenmaterial versehen sein und so präzis wie nur möglich formuliert werden. Mit der Ausarbeitung wurden die Genossen Frank Morrow und Thomas Butler beauftragt.

 

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Die Ereignisse überstürzen sich.
Mancher der besten Kommunisten hatte das Tempo falsch eingeschätzt.
Die Kriegsgefahr springt wie eine Springflut die Völker an...
Die großen amerikanischen Flottenmanöver im Stillen Ozean begannen. Eine gewaltige militärische Demonstration gegen Japan...
Sieben Monate lang sind die verschiedenen Schiffseinheiten unterwegs.

Pearl Harbor auf Hawaii:
zwölf Schlachtkreuzer, sechs Kreuzer, sechsundfünfzig Zerstörer, sechs Unterseeboote, ein Geschwader Flugzeuge, zwei Flugzeugmutterschiffe: sind zum Angriff angesetzt.
Minengürtel, mit Unterseebooten verseuchte Zonen sperren Hawaii ab. Ein einziger Feuer und Eisen speiender Krater ist Hawaii...

Je näher die Kriegsgefahr heranrückt, desto energischer betreiben die einzelnen Regierungen die Kommunistenverfolgungen. Die Revolutionsgefahr wächst. Alle kommunistischen Sektionen sind schon in die Illegalität gedrängt. Kommunistengesetz, Geheimerlasse zur Bekämpfung unruhiger Elemente durchwirbeln die Länder. Die Parlamente heben rücksichtslos die Immunität der kommunistischen Abgeordneten auf. Die Demokraten regieren nur wackelnd noch auf den Krückstöcken rigorosester Ausnahmegesetze... Überall drängen die ausgebeuteten Volksmassen vor. Die Sozialdemokratien aller Länder spalten sich...
Der Völkerbund beschäftigt sich mit der kommunistischen Gefahr.
Ob ein „heiliger Krieg" gegen Sowjetrussland noch einmal die durch die verschiedensten Interessengegensätze zersplitterten Kapitalisten aller Länder zusammenzwingt? Man ist willens, die Austragung der Konflikte unter sich bis nach der Niederringung der „Roten Gefahr" aufzuschieben.
Der Vernichtungskampf gegen die Kommunisten wird im Weltmaßstab organisiert.
Die Regierungen haben die Kommunisten offen außerhalb des Gesetzes gestellt, sind entschlossen, ihre Organisationen wie Ratten auszurotten. Armee, Polizei, Miliz, Gruppen von Reserveoffizieren spüren alle bekannten Kommunisten auf und ermorden sie...

In New York findet der Hochverratsprozess gegen Mary Green und fünfundzwanzig Genossen statt. Den Angeklagten wird zur Last gelegt, Giftgase fabriziert zu haben, Cholerabazillen und Giftbakterien mit Hilfe bestochener Chemiker und Ärzte hergestellt zu haben in solchen Mengen, um über Nacht halb Amerika damit zu vergiften. Drei Giftmorde seien bereits auf Konto dieser Organisation zu setzen, weitere Attentate u. a. auf Morgan, Ford usw. seien geplant gewesen, umfangreiche Waffenlager mit Toluol, Dynamit, Nitroglyzerin usw. habe man entdeckt, sogar ausgedehnte Materiallager zur Herstellung von Bombenflugzeugen. Einzig und allein den mit einer Beamtenkorruptionsaffäre in Zusammenhang stehenden Ankaufsversuch von Unterseebooten zwecks In-die-Luft-Sprengung der amerikanischen Hochseeflotte bezog der Oberstaatsanwalt nicht in seine Anklagerede ein.
Der eigentliche Träger dieser riesigen und nach allen derartigen Prozessen eigentlich reichlich banal erscheinenden Komödie war ein außerordentlich gut funktionierender Spitzelapparat. Die Angeklagten wurden glatt der ihnen zur Last gelegten Verbrechen überführt. Jede Lücke der Beweisführung war restlos geschlossen.
Verteidiger waren gewaltsam aus dem Sitzungssaal entfernt. Den Angeklagten wird das Schlusswort entzogen...
Die Zeitungen heulen. Stoßen Warnungssignale aus. Der Tag der Urteilsverkündung naht...

Man traut seinen Ohren nicht, man liest die Überschriften der Extrablätter einige Male: „Mary Green und drei Genossen sind zum Tode verurteilt."
Schon eine halbe Stunde darauf kommt es zu Zusammenstößen mit der Arbeiterschaft.
Am Abend wird der Generalstreik verkündet.
Ganz Amerika ist plötzlich ein riesiges Grab. Die Menschen gehen leis wie auf den Fußspitzen.
„Jetzt nur nicht nachgeben! Durchbrechen!" feixt das Gericht. „Man wird es uns sonst als Schwäche auslegen ... "
Die Armee und die Flotte sind mobilisiert. Die Luftstreitkräfte versehen zunächst noch den Aufklärungsdienst.
Amerikas Lunge atmet nur mit Viertel Kraft. Schlaff hängen die Muskeln herunter.

Manche äußern: „Man hätte sie nicht zum Tode verurteilen sollen... Man soll keine Märtyrer schaf-
fen... So erledigen... geschickt... Das stürzt uns
in zu große Unkosten..."

An Sing Sing ist nicht heranzukommen. Schwere MGs funken in die Menschenmassen hinein...
Während draußen die Kugelspritzen knattern, wird Mary Green mitgeteilt, dass morgen früh fünf Uhr das Urteil vollstreckt wird.
Sie zuckt zurück, einen Augenblick... fern verrauschen die Salven.

Es ist fünf Uhr früh.
Mary Green wird einen langen zementgemauerten Korridor entlang in das „Todeskabinett" geführt. Sie singt mit leiser Stimme.
Sie hört fern, fern, ganz fern als Antwort: „Wacht auf..."
Eine zweite Stimme — Eine dritte —
Die fernen Stimmen werden zum fernen Chor. Der ferne Chor wird zum Massengesang. Der Massengesang zum Orkan.
Mary Greens Blick sieht starr in die Ferne: Gewaltige Zeiten dröhnen heran, in denen der Mensch das Letzte, was er zu handeln und zu erdulden fähig sein wird, aus sich auspressen wird. Groß und opferreich wie noch keine wird diese Zeit sein; grausam, niedrig und erbärmlich aber zugleich. Diese Zeit donnert, rast, knattert dahin, ein reißender Feuerstrom. Die Menschen: gestaltgewordene Leidensbrände, entzünden sich an sich selbst. Das Gewölbe des Himmels schmilzt und tropft flüssiges Feuer, die Erde schäumt, wird Lava und fließt über die Horizonte ab.
Und alle diese Menschen werden namenlos sein, tragen nur das Zeichen ihrer Klassenzugehörigkeit an sich. Es gibt kein Menschendasein außerhalb der Klasse mehr. Alles fühlt, denkt, ringt sich der Klasse zu, kämpft sich bis ins Klasseninnere hinein, kämpft auf Leben und Tod um das Wesentliche, um den Klassenkern.
Das wird die Zeit sein, wo die Galgen und Hinrichtungsmaschinen wieder öffentlich mitten auf den Plätzen der Städte errichtet werden. Von allen Seiten hupen die herrschaftlichen Automobile herbei. Die Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft sind zahlreich vertreten. So viel Blut aber auf der Erde gibt es nicht, dass je sie ihren Blutdurst stillen könnten... Sie sind mit Operngläsern und photographischen Apparaten versehen, es ist, als wohnten sie einem großen Sportereignis bei. Auf dem Platz der Hinrichtung sind Reihen von Filmapparaten aufgestellt. O die einst so friedliebende Bourgeoisie: sie schwelgt heute in Orgien von Blutrache und sadistischen Gräueln ohne Maßen.
Die Polizeichefs werden nicht mehr für die Zuchthäuser arbeiten, nicht mehr für Krüppelheime und Obdachlosenasyle, sondern für die Friedhöfe...
Das wird auch die Zeit sein der Wiederauferstehung der Folter.
Mit schweren eisernen Ketten wird man die Leiber der Gefangenen umschmieden. Das Schlagen mit Gummiknüppeln, das Aufreißen der Fingernägel, Einschlagen von Nägeln in die Füße, Brechen der Körperteile und der Rippen: das wird keine allzu große Seltenheit mehr sein. Man wird die Gefangenen aus den Städten herausfahren, sie zwingen, ihre Gräber selbst zu schaufeln, sie bei lebendigem Leib begraben... Man wird nach raffiniert ausgeklügelten wissenschaftlichen Methoden die Qualen steigern, bis zum Wahnsinn des Gefolterten sie steigern und dann die Geständnisse, deren man bedarf, Protokoll um Protokoll auspressen.
Aber die Galgen reden eine Sprache, der Galgen, die Hinrichtungsmaschine, die Folter spricht...

Und der Galgen kreist.
Kreist um Europa.
Kreist durch alle fünf Weltteile...
In jeder Himmelsrichtung wächst riesengroß aus der Erde auf Galgen an Galgen.
Der Tisch unter ihm ist umgeworfen.
Der Leichnam an dem eingeseiften Hanfstrick, eine weiße Kapuze dem Kopf übergezogen, dreht sich jetzt langsam, schwingt hin und her wie ein Pendel...
Und die Leichname unter dem Galgen, die Galgen selbst sprechen:
Hört es! Und lernt daraus!
Kein Erbarmen gibt es im Bürgerkrieg.
Kein Erbarmen.
Wer den Klassenfeind nicht hart zu schlagen versteht, der wird von ihm vernichtet...
Sie oder wir...

Mary Greens Blick sieht starr in die Ferne, während ihr im Beisein eines Dutzend braver amerikanischer Bürger noch einmal das Todesurteil verlesen wird.
Vierzig wohlangesehene Bürger der Stadt New York nehmen an der Hinrichtung teil.
Es dauert insgesamt drei Minuten.
Schon ist sie auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt...
Spricht fest und in den ledernen Bandagen noch einmal ein wenig sich aufrichtend:
„Lenin ist tot.
Der Leninismus lebt.
Lenin lebt.
Wir in ihm.
Er in uns...
Es lebe die Welt-Re..."
Sie bricht mitten im Wort ab.
Drei amerikanische Untertanen stehen hinter einem Schirm. Jeder drückt auf einen Kontaktknopf. Nur einer aber löst den tödlichen Strom aus...

Wo ein Polizist in den Arbeitervierteln sich noch sehen lässt, wird er abgeknallt. Jetzt gilt das Gesetz der Klassenrache...
Drei oder vier Zeitungen können noch arbeiten. Sie sind von Regierungstruppen besetzt. Streikbrecherkompagnien sind dorthin beordert.
Die Presse kläfft: „Ende der Giftmörderin." Bazillenmärchen und abenteuerliche Gaslegenden werden von neuem aufgetischt. Der Glaube daran aber ist im Volk Amerikas schon bedeutend erschüttert...
Und Japan horcht nach Amerika hinüber mit gespannten Ohren.
Der japanische Kriegsrat hat die Mobilisation angeordnet.
Die Bankiers Amerikas erstarren. Es sind Menschenmasken, blutleer, wie gehauen aus Granit.
„Das ist das Weltende... Das ist Amerikas Untergang..."
Die Regierung ruft auf:
Amerikaner!  Wahrt eure heiligsten  Güter!  Der äußere Feind... Lasst für die Zeit des Verteidigungskrieges gegen die gelbe Gefahr euere inneren Zerwürfnisse schweigen... Regierungswechsel... Die neue Regierung ist bereit... Das Gesamtwohl der Nation erheischt... Auf zu den Waffen..." Die Geistlichen versuchten es im Auftrag der neuebildeten Regierung von den Kanzeln herab: „Auf! Söhne Amerikas! Dem Feind das Bajonett zwischen die Rippen gerannt! Im Namen Gottes... "
Die Antwort der amerikanischen Arbeiterschaft ist ein einziges Kopfschütteln. Der Generalstreik geht weiter ...

 

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In der Arbeiterpresse der ganzen Welt erscheint jetzt folgender Artikel:

Die chemische Waffe im kommenden Krieg

1. Gaskrieg und Luftkrieg

Das Gaskampfmittel wird erst durch das Flugzeug zu der furchtbaren Kriegswaffe. Flugzeug und Gaskampfmittel bilden zusammen eine Einheit, die ausschlaggebend für die völlige Veränderung der Kriegstaktik und Strategie ist.
Das Wesentliche dabei ist die Aufhebung der Front, damit auch die Aufhebung des Hinterlandes. Das Hinterland wird zur Front.
Sehr deutlich und offen sprechen die Generäle aller
Staaten es aus, dass das Hauptziel, das Angriffsobjekt des nächsten Krieges nicht mehr so sehr die Front, d.h. die sich vorwärts und rückwärts bewegende bzw. stillstehende Linie der feindlichen Armee, ist, sondern dass vielmehr die Hauptangriffspunkte die Großstädte, die Industriewerkstätten usw. sind, also dass das Hauptgewicht auf die Vernichtung gerade jener Teile des Proletariats gelegt wird, die in den Produktionsstätten des Krieges beschäftigt sind, d. h. bei der neuen Form der Armeen, der größte Teil des Proletariats. Hier zeigt sich bereits der Grundzug der veränderten Kriegstechnik. Die Anwendung des Gaskrieges, des Flugzeugkrieges bedingen eine kleine Armee von Spezialisten, mit anderen Worten: im Zusammenhang mit der Entwicklung des Klassenbewusstseins des Proletariats tritt immer stärker die Trennung des Proletariats von der Waffe ein.
Die Luftwaffe ist außerordentlich stark vermehrt worden.
Die französische Heeresluftflotte zum Beispiel verfügt über etwa fünftausend Flugzeuge, davon sind dreitausend startbereit. Zur Zeit produziert Frankreich hundertfünfzig Flugzeuge monatlich. Man spricht vom Flugzeug nur noch als von einem fliegenden Geschütz, vom Gas als von mikroskopischen Geschossen. Die französische Industrie ist auf Grund der fortschreitenden Normungstendenzen so organisiert, dass im Ernstfall stündlich je ein Flugzeug hergestellt werden kann... Auf eine besondere Verwendung der Flugzeuge ist insbesondere aufmerksam zu machen: das ist der Bau von Spezialflugzeugen für Gasverwendung, bei denen vermittels von in einem Röhrensystem angebrachten Düsen Gas auf die Erde gestreut wird. Durch die starke Abkühlung
infolge des Ausströmens kühlen sich das Gas und die fein verteilten Flüssigkeitspartikelchen stark ab und senken sich wie ein feiner Nebel, wie Tau — daher auch der Name „Tau des Todes" — mit großer Schnelligkeit auf die Erde. Bei Versuchen im Jahre 1922 auf dem Schießplatz in Aberdeen in den Vereinigten Staaten wurde eine unschädliche aromatische Flüssigkeit durch einen derartig gebauten Flieger herabgestreut. In weniger als einer Minute war der Geruch deutlich auf einer Fläche von über fünfzigtausend Quadratmetern wahrnehmbar. Es sei noch darauf hingewiesen, dass seit langem bereits erfolgreich die Flugzeuge ohne Führer von der Erde aus gelenkt werden können. So berichtet bereits am 15. November 1923 die „Revue d'Artillerie" von erfolgreichen Versuchen mit automatischen Flugzeugen, die auf Entfernungen von zwanzig Kilometern ganz sicher, ohne Eingriffe des Passagiers, durch funkentelegraphische Lenkung geführt wurden.

2. Die Giftgasstoffe

Über die Giftgasstoffe selbst bewahren natürlich die einzelnen imperialistischen Mächte völliges Stillschweigen. Die Wirkung eines Gasstoffes, der bekannt ist, wird dadurch entweder stark herabgesetzt oder überhaupt wertlos gemacht. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass zu Beginn des nächsten Krieges oder in seinem Verlauf gänzlich neue Gasstoffe von bisher unbekannter Wirkung auftauchen. Das „Idealgas", nach dem die einzelnen imperialistischen Gruppen suchen, ist ein Gas, das durch keinen Sinn wahrgenommen wird, Gasmasken völlig durchtränkt, sofort tödlich wirkt und außerdem den Körper auch von außen her angreift. Diese „idealen"
Bedingungen hat man gespalten und beschäftigt sich vor allen Dingen nunmehr mit der Suche nach zwei Richtungen hin: dem geruch- und geschmacklosen Gas, das absolut tödlich wirkt, und dem auch tödlichen Gas, das außerdem noch den Körper angreift. Das „Idealgas" für die erste Richtung ist das Kohlenstoffmonoxyd (CO), das bei der unvollständigen Verbrennung von Kohle entsteht. Dieses Gas ist absolut tödlich. Es scheint, dass es den Amerikanern gelungen ist, dieses Gas als Kriegswaffe zu verwenden.
Das zweite Gas, das außerordentlich stark auf die Haut wirkt, ist das Yperite (Senfgas) und das Levisite. Wahrscheinlich sind beide Sorten längst überholt, aber die neuen Mittel liegen in ähnlicher Richtung.
Yperite und Levisite oder die ihnen ähnlichen Gase werden sich insbesondere in zerstörender Gewalt auswirken, wenn sie, was ohne Zweifel steht, auf die Industriezentren angewandt werden. War das Bewegen während des Krieges 1914 bis 1918 in durch Yperite vergasten Gebieten nur möglich, wenn man außer der Gasmaske noch eine besondere undurchdringliche Schutzkleidung trug, so mag man sich selbst die Wirkung dort vorstellen, wo in dicht gedrängten Haufen, in Proletariervierteln, in Fabriken, die Menschen leben, ohne dass sie mit den geringsten Schutzmitteln ausgerüstet wären. Da gleichzeitig eine Rettung aus den vergasten Gebieten unmöglich sein wird durch die ungeheure Ausdehnung des vergasten Raumes, so liegt offensichtlich die Vernichtung eines großen Teiles des Proletariats als zwangsläufige Folge vor.

3. Giftgase und chemische Industrie

Besonders wichtig bei der modernen Gastechnik ist, dass alle diese schweren Giftstoffe Abkömmlinge der Farbindustrie beziehungsweise der Heilmittelindustrie
sind Es handelt sich daher für die einzelnen Länder nicht so sehr darum, einen möglichst großen Vorrat aufzuspeichern, sondern es geht bei den einzelnen imperialistischen Gruppen um die möglichst hohe Steigerung der Produktionsmöglichkeit. Wir haben infolgedessen eine außerordentlich starke Entwicklung der chemischen Industrie, die natürlich hohe Profite einheimst, hohe Unterstützungen vom Staate erhält. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel gab es 1914 sieben chemische Fabriken. 1918: hundertachtzehn mit einem Kapital von zweihundert Millionen Dollar. Die Gesamtfarbenproduktion belief sich in den Vereinigten Staaten 1914 auf 6,6 Millionen Pfund, 1922 auf 64,6 Millionen, 1923 auf 93,7 Millionen, so dass die Farbenproduktion in den neun Jahren auf mehr als das vierzehnfache gestiegen ist. Gegen eine Einfuhr von sechsundvierzig Millionen Pfund im Jahre 1913 wurden 1923 lediglich drei Millionen eingeführt, dagegen 17,9 Millionen ausgeführt. In dem Zolltarif sind außerordentlich hohe Zollsätze für Farben festgelegt worden. Während England 1913 etwa vierzehn Prozent seines Bedarfs selbst produzierte, stellt es nach einem Bericht des Handelsamtes in Washington gegenwärtig achtzig Prozent seines Verbrauches selbst her. Die englische Regierung hat sich verpflichtet, ein Sechstel der Produktion selbst zu übernehmen. Die französische Produktion ist noch stärker gestiegen. Während Frankreich noch 1920 sechsundvierzig Prozent seines Verbrauchs einführte, ist diese Ein-
fuhr im ersten Halbjahr 1924 auf fünf Prozent zurück gegangen. Die Produktion hat sich demzufolge in diesen vier Jahren verdoppelt. Während Frankreich 1920 noch siebentausend Tonnen jährlich produzierte, produziert es im ersten Halbjahr 1924 bereits achttausend Tonnen. Die Entwicklung in anderen Ländern ist ganz ähnlich.
Diese schnelle Entwicklung der Farbenindustrie hat zur Ursache, dass die meisten Gasstoffe entweder Zwischenprodukte von Farbstoffen sind oder dass die Farbstoffe (und Heilmittel) Ausgangspunkt für die Gasmittel sind. So haben die Arsine, also die Reihe der Levisite usw., das gleiche Ausgangsprodukt wie das Salvarsan. Yperite und auch der andere Gasstoff, die Levisite, haben ein gleiches Zwischenprodukt wie das vielgebrauchte Indigo. Das Phosgen und die Tränengase haben gleiche Zwischenprodukte wie die hellroten, blauen und violetten Farben. Die Pikrinsäure, Ausgangspunkt einer Reihe von giftigen Farben, ebenso wie sie in der Sprengtechnik angewandt wird, ergibt durch einfache Chlorierung das sehr schädlich wirkende Chlorpikrin. Aus dem Anilin werden gleichzeitig Yperite, verschiedene Anilinfarben und Heilmittel hergestellt.

4. Giftgase und Proletariat

Damit zeigt sich ein weiterer wesentlicher Zug des Gaskampfes. Das Proletariat, das früher Panzerplatten, Kanonen, Sprengstoffe, Munition herstellte, kannte genau den Zweck der Fabrikation. Im Zeitalter des Giftgaskrieges weiß der Arbeiter in der Fabrik nicht mehr, ob er ein harmloses Heilmittel, irgendeine Farbe oder ein äußerst gefährliches Giftgas herstellt.
Hier enthüllt sich mit voller Schärfe die konterrevolutionäre Forderung der Zweiten Internationale, dass man bei Kriegsausbruch den Krieg einfach unmöglich mache dadurch, dass man keine Munition herstellt. Hier zeigt sich klar, dass diese Forderung nur dazu dient, das Proletariat von der Erkenntnis der unerbittlichen Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bourgeoisie, des „Krieg dem Kriege", abzuhalten.
Der nächste Krieg wird in der Hauptsache geführt werden gegen die großen Städte und gegen die Industriezentren. Das Proletariat ist in seiner Masse im nächsten Krieg an die Produktionsstätten gebunden. Der Hauptangriff richtet sich gegen die Produktionswerkstätten, die verschärfte Bedeutung haben, da es in diesem nächsten Krieg auf die dauernde Produktion der Giftstoffe und der Flugzeuge ankommt.
Der nächste Krieg wird geführt werden von einer vom Proletariat losgelösten Spezialistengruppe mit Waffen, bei deren Produktion der Arbeiter nicht weiß, dass er Waffen herstellt. So erscheint das Proletariat zunächst getrennt und losgelöst von der Waffe, aber in weit höherem Maß ist die Waffe wiederum dadurch in seine Hand gegeben, dass das Proletariat an den Stätten der Produktion von Kriegsmitteln, die eine weit höhere Bedeutung gewinnen, in starkem Maß konzentriert ist. Damit wird die einzige Möglichkeit für das Proletariat, diesem kommenden Krieg zu begegnen oder ihn zu beendigen, klar sichtbar: nur wenn es die Leitung der Produktion in den Händen hat, nur wenn es den Betrieb besitzt, kann es die Produktion der Kriegsmittel verhindern. Daher wird mit erhöhter Notwendigkeit die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaft in die proletarische vorzunehmen sein. Dies kann nur geschehen dadurch, dass die
Bourgeoisie gestürzt und das Proletariat die Leitung der Produktion, die Macht überhaupt übernimmt. So verlangt die moderne Kriegführung ihre schleunigste Beendigung durch die Umwandlung des Krieges in einen Krieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie zu ihrem Sturze. Diese Kriegführung verlangt schon vorher die Vorbereitung des Kampfes des Proletariats.

Die Proletarier wussten nun, woran sie waren. „Das also hätten wir von diesem Menschen-Kehricht zu erwarten gehabt. Pfui Teufel!..." Überallhin flatterten die Flugblätter. Die Regierungen setzten Kopfprämien aus. Hilft nichts.
Das Geheimnis des kommenden Kriegs war enthüllt. Es war eine schreckliche Bewusstwerdung.
„Wer ist nun der wirkliche Giftgasfabrikant!? Wer ist der Bazillenmassenmörder nun in Wirklichkeit?..
Millionen knirschten vor Wut...
„Wie steht's in Edgewood!? Können wir uns auf die Mannschaften der Bombenflugzeuggeschwader verlassen!? Sind die Arsenale in Ordnung!?"

Die Nachrichten lauteten unbestimmt.
Die Krise zog sich enger wie ein Strick um die Hälse der Finanzmagnaten zusammen. Man hatte Verdauungs- und Schluckbeschwerden. Viele Hebel am Regierungsapparat funktionierten schon nicht mehr. Von vielen Stellen blieb die Antwort aus. Eine rote Zelle ist in der Armee, hieß es. Die Panik fieberte empor. GBRO. Was ist GBRO? Geheimbund revolutionärer Offiziere... Den reaktionären Gewerkschaftsführern entglitt nun völlig die Bewegung...
Mechanische Armeen ließ die Regierung aufmarschieren: Bataillone schwerer Tanks, Bataillone mittlerer Tanks, Brigaden mechanischer Artillerie, schwere MG-
Kompanien... . Man verließ sich auf die niederschmetternde psychologische Wirkung. Vergebens.
Die Arbeiterschaft steht Gewehr bei Fuß. Wir sind gerüstet.
Wir sind bereit, die Feuerprobe zu bestehen... Wir warten nur auf das Angriffssignal. Die Stellungen des Gegners sind genau bekannt. Es gibt kein Verhandeln mehr.
Nun ist es klar: „Die Frage, die die geschichtliche Situation dem Proletariat stellt, ist nicht die Wahl zwischen Krieg und Frieden, sondern zwischen imperialistischem Krieg und Krieg gegen diesen Krieg..."
Wie bewegungslos ist in diesem Augenblick Amerika! Einige Muskelbänder nur spielen an ihm noch, wie im Starrkrampf.
„Nieder mit dem Menschenschlachthaus!" gellt jubelnd eine Stimme.
„Für heute und für immer!"
Millionen Augen zucken nach oben.
„Werden sie es wagen... Schicken sie uns die Flieger... Und..."
„Und..."
„Werden die Unseren in Edgewood ihre Pflicht tun..." Kein Laut.
Die Stadt ist wie vergletschert... Da...
Dort stürzen sich schon im Sturmschritt Arbeiterbataillone über den Platz.
„Sprung auf! Marsch! Marsch!" „Wir haben mehr zu verlieren als nur unsere Ketten: wir haben die Zukunft der Welt zu verlieren!" Vorwärts! Auf drum! Los! Es kann beginnen!

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