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Johannes Robert Becher - (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
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Erstes Kapitel

„DEUTSCHLAND ÜBER ALLES...!"

Episode aus den Novembertagen 1918. „Deutschland über alles... !" — „Lazarett-Poesie". Den Veranstaltern patriotischer Heldengedenkfeiern gewidmet. Heilige Familie. — Das Trio. — Menschen-Dreck. Götter stürzen. — „Geh deinen Weg!"

1

Es ist Herbst, November 1918, vier Uhr morgens.
Die letzten deutschen Truppen ziehen über den Rhein.
Gespenstische Nebelhaufen wälzen sich über den beiden Rheinufern, die Wassermassen unter der Brücke flüchten unterirdisch-rauschend und unruhig dahin, ein schwer beladener Schleppkahn treibt darauf, schweigend, als ob er, eine Sagengestalt der Vorzeit, durch einen uferlosen Traum wandele. Nur die gotisch zerzackte Spitze des Kölner Doms ragt stumpf aus einem Nebelloch, wie der Gipfel eines gewaltigen Gebirgsmassivs.
Das ferne gedämpfte Geläute des Doms fällt jetzt langsam und zögernd auf die Erde nieder, ein schwerer metallischer Tropfen...
Es war eine niedergekämpfte Kolonne Sturminfanterie, der Rest eines einst stolzen deutschen Regiments, die, ohne Schritt, dahintrottete: bärtig verwachsene Gesichter, knöcherige Gestalten, mit zerfetzten und ausgeblichenen Uniformen schlotternd behängt, in Mützen, barhaupt, der eine oder der andere noch unter dem Stahlhelm, den vermoderten und zerzausten Affen auf dem
Buckel, die Gewehre, Mündung nach unten, über die Schulter geworfen, und die zu Skeletten abgemagerten Gäule vor der einzigen Feldküche stolperten und knickten immer wieder von Zeit zu Zeit in die Knie, gleichmütig sprang der Trainsoldat vom Bock ab, die Kolonne stockte eine Weile, einige drückten sich links und rechts vorbei am Wegrand, dann ein müder Peitschenknall, die Gäule standen wieder wackelnd aufgerichtet, und das Häuflein Soldaten setzte sich wieder in Marsch.
Kein Kommando erscholl mehr.
Kein Wort wurde gesprochen...
Doch kam es vor, dass der eine oder der andere sich plötzlich mit einem jähen Ruck umwandte, mit einer blitzschnellen Handbewegung nach dem Gewehrschaft griff, den Kopf sonderbar lächelnd schüttelte und wieder den einen Fuß vor den anderen tat, als ob es nie anders gewesen wäre und als ob es auch gar nicht je anders sein könnte...
Vor zwei Tagen noch...
Einer rechnete nach: „Ja, das sind zweimal vierundzwanzig Stunden..."
Also: frisch wie aus Schlamm gebacken aus dem Granattrichter...
Und das gigantische Schlachtorchester brüllte die Symphonie der Trommelfeuer und der Stahlgewitter und der Eisenorkane; forte, fortissimo; Gaswellen fluteten unsichtbar geheimnisvoll heran; und nun gewitterte auch schon über die stacheldrahtgezäunte, granatgepflügte labyrinthische Ebene hinweg das Finale des Nahkampfes: der dumpfe Knall platzender Handgranatenballungen in Erdhöhlen und Felsunterständen, Menschenschreie, gurgelnd und wie „Huhu" dazwischen, und das Sicheln des Bajonetts...
Traum? Wirklichkeit?
Denen, die hier in die Heimat zurückmarschierten, war das Bewusstsein geschwunden, das Hirn leer, nur ein unbestimmter Trieb drängte in allen ihren Gliedern sie mit vorwärts; links, rechts, links, rechts; das Gesicht nach unten auf den Boden niedergedrückt, dort, wo immer wieder zwei Stiefelbeine hervorschnellten oder der Absatz des Vordermanns, der fest in den Straßendreck hackte.
Auch an eine Rast oder gar ans Abkochen dachte niemand.
Marschierten sie durch ein Dorf, so schien es ihnen, als wichen ihnen die Einwohner scheu aus dem Weg, kein Mensch zeigte sich, alle Türen und Fenster waren fest verschlossen, auch jetzt noch, da sie sich schon seit einem Tag bald auf deutschem Boden befanden.
Es wurde Morgen.
Nein, es war kein englischer Tank, der plötzlich schnellwendig aus den zerschleißenden Nebelschwaden hervorknatterte, auch keine Flammenwerfer, die, flüssigen Phosphor spritzend, ganze Ballen von verbranntem Menschenfleisch durch die Luft wickelten; kein leichtes Infanteriegeschütz, kein auffliegendes Munitionsdepot, auch kein Flieger, dicht über der Erde mit MGs die Stellungen abstreichend...
Nichts, nichts mehr von alledem...
Weinberge waren es, Hügel, saubere Steinhäuschen darin, Treppen und gut angelegte Pfade durch Weingelände hindurch, Kirchturmspitzen blinkten. Mit ihren Stöcken stocherten die Soldaten in den dahinkollernden Laubhaufen; es war wirklich schönes, feuchtes rotbraunes Laub...
Doch die fieberig flackernden Augen der Soldaten suchten von neuem den Boden ab, fanden sich nicht zurecht, stießen sich und tasteten; man hatte sich schon daran gewöhnt, es fehlte einem was; keine Leichname, keine abgequetschten Arme, keine Rümpfe, die in der Hitze brodelten; auch nichts von „Offensivparfüm", das aus den von Granaten wieder aufgewühlten Massengräbern dick aufstieg... Rein und würzig war die Luft, die Nebel verdampften sich nach oben... Einer pfiff schon vor sich hin, ein anderer summte leise im Takt, allmählich bildeten sich wieder Reihen, fester und immer fester hämmerte der Schritt und, ohne dass sie sich dessen bewusst waren, marschierten sie durch das nächste Dorf im Gleichschritt. Schon winkte man ihnen zu, Menschen standen freundlich nickend zwischen Türen und Fenstern, und da, als sie eben die letzten Häuser hinter sich hatten, brach voll die Sonne durch.
Zerfetzt und zersplittert hing die Nebelpest herum, die Wipfel der Bäume schüttelten sich, dass der letzte Laubrest an ihnen auseinander stieb; riesige Feuerfarren blühten im Weltraum die Sonnenstrahlen... als ein Mann, ein Landstürmer, in der Mitte des Zugs plötzlich mit tränenerstickter Stimme ruft: „Kameraden! Seht: Sonne über Deutschland!"
Ein Trompetensignal bläst.
Eine Trommel trommelt.
Hundert Köpfe rucken hoch.
Hundert Herztakte schlagen wieder.
Und aus Hunderten von vielem Blut- und Pulvergeschmack ausgedorrten Kehlen schluchzt der Gesang: „Deutschland über alles... !"

 

2

Auch Peter Friedjung, damals knapp zweiundzwanzig Jahre alt, befand sich unter den Heimkehrern.
Auch er stieß jetzt „Deutschland über alles" hervor...
Mit dem Gesang „Deutschland über alles" hatte zu Beginn des Kriegs das Freiwilligenregiment List gestürmt, mit dem Gesang „Deutschland über alles" auf den Lippen wurden die jungen Freiwilligen vom Trommelfeuer zu einem Leichenbrei zusammengestampft.
Fünfmal während des Krieges war Peter Friedjung für „Deutschland über alles" verwundet worden.
Und nun!?
Wäre ein Flieger der Rheingrenze entlanggeflogen: er hätte deutlich beobachten können, wie das acht Millionen starke deutsche Feldheer, einer riesigen Schlammflut gleich, in die Heimat zurücktrieb, wie die Massen der Armeen von den Städten aufgesogen wurden und das Gewimmel der Züge auf den geometrischen Figuren der Eisenbahnnetze gegen das Hinterland zu sich langsam auflockerte und dort schon wieder Zug auf Zug straff, in vollkommener Ordnung dahinrollte...
Am Abend kam die Kolonne, der Peter Friedjung angehörte, drei Kilometer vor der Bahnstation an, wo sie nach München verladen werden sollte.
Ein Matrose, ein baumstarker Kerl, ein Mann in Zivil mit einer knolligen Schnapsnase und einer in einer feldgrauen Uniform, alle rote Binden um den Arm, kamen ihnen am Dorfeingang entgegen und forderten sie auf, die Waffen abzulegen.
„Also ist es zur Tatsache geworden. Revolution!" stellte Kamerad Friedjung fest.
„Hier in der Dorfschule ist der Arbeiter- und Soldatenrat."
Die Heimkehrer sahen sich unschlüssig an.
Aber man ließ ihnen nicht lange Zeit zum Überlegen.
Eine schwerbewaffnete Abteilung Rotbinden erschien. Die Kolonne wurde ohne weiteres entwaffnet.
Zum ersten Mal hörte man wieder etwas über die Vorfälle in der Heimat.
„Das Heer hat teilweise gemeutert. Straßenkämpfe. Der Kaiser geflohen. Neue Regierung. Die Sozialisten... "
In die Sprache eines Deutschen übersetzt, schloss Peter, bedeutet das: Äußerlich hat die Entente gesiegt und damit also offenbar innerlich: der Unglaube, die Vaterlandslosigkeit, die Pöbelherrschaft, die Anarchie.
Auf der Straße vor der Bahnstation waren größere Truppenteile versammelt, alle ohne Offiziere, von denen es hieß, sie hätten sich schleunigst in Zivil aus de Staub gemacht.
Die Internationale wurde gesungen, Soldaten standen Arm in Arm, alle hatten sich die Kokarden und die Achselstücke abgerissen... Von Zeit zu Zeit hielt einer, auf den Schultern seiner Kameraden 9itzend, eine Rede, dann schrieen sie alle: „Hoch! Hoch! Nieder! Nieder!"
Die Kameraden, mit denen Peter zurückgekehrt war, waren nicht mehr aufzufinden.
Er stand mitten in dem Tumult allein.
Er wusste jetzt überhaupt nichts mit sich anzufangen.
Er wiederholte sich noch einmal, was er während des Kriegs alles von der revolutionären Bewegung gelesen und gehört hatte.
Da kannte er natürlich dem Namen nach Karl Liebknecht, diesen hundsföttischen Vaterlandsverräter, wie ihn immer die Offiziere bei ihren Sektgelagen im Kasino tituliert hatten, von dem man erzählte, dass er steinreich sei, eine Unmenge Häuser besitze und von der Entente bestochen sei, um dem deutschen Volk die Kriegskredite zu verweigern ... „Und die anderen, die werden auch kaum besser sein, Parasiten unserer Niederlage, individuelle Nutznießer des Volksunglücks, Kreaturen, die nur im Augenblick der vollkommenen Verwirrung, Ohnmacht und Wehrlosigkeit eines Volks zu Wort kommen und sich leider auch, bei der Dummheit, Gutgläubigkeit und politischen Ungebildetheit des Deutschen, Gehör verschaffen können."
Und scharf in jeder seiner grauenvollen Einzelheiten tauchte in Peters Gedächtnis jener Morgen auf, der Beginn einer der gewaltigsten Großkampftage, den die Westfront je gesehen.

Der Massenüberfall war beendet.
Die Sturminfanterie ging zum Angriff vor.
Von Stellung zu Stellung. Ein einziges Kraterfeld war nunmehr das feindliche Gräbensystem, schon hatten die Infanteriewellen ein großes Loch in die feindliche Front hineingefressen, und „nun mit den Engländern ins Meer" jubelten, ihres gelungenen Durchbruchs sicher, die verschiedenen Regimenter der verschiedenen deutschen Stämme sich zu, schon wurde der Befehl erteilt: „Kavallerie vor!"... da setzte unerwarteterweise eine Reservedivision Kanadier zum Gegenstoß an, und — das Sperrfeuer der eigenen Artillerie blieb aus, alle Gewehr-, Handgranaten- und Maschinengewehrmunition war verschossen, keine Hilfe weit und breit, kein einziger Schuss krachte, nur die feindliche Artillerie hieb mit den schwersten Brocken herein, Staubsäule um Staubsäule dampfte hoch, und ein zäher entsetzlicher Bajonett-, Messer-, Spaten- und Würgkampf begann, Mann gegen Mann, bis am Abend die deutschen Truppen gezwungen waren, die eroberten Positionen Schritt um Schritt und unter den ungeheuersten Verlusten aufzugeben, und die Lücke in der feindlichen Front wieder restlos geschlossen war.
Noch in derselben Nacht wurde bekannt: Die Munitionsfabriken im deutschen Vaterland streiken. Die Artilleriemunition im ganzen Frontabschnitt ist zu Ende. Das Messer zwischen die Zähne, heißt es jetzt, und mit den blanken Leibern die Front, wenn sie wo einreißen sollte, gestopft... Auf keinen Artillerieschuss sei für die nächsten Tage zu rechnen ...
Ein wilder Racheschwur schoss aus den Herzen der Frontkämpfer hoch; die Finger reichten keinem, die Zahl der ihm lieben Kameraden, die er heute verloren hatte, abzuzählen; wutentbrannt zerstampften manche die Pakete mit Liebesgaben und drohten mit schreckensverzerrten Gesichtern: „Dolchstoß von hinten! Na, wartet nur, wenn wir zurückkommen! Da werden wir gründlich mit diesem schmierigen sozialistischen Gesindel aufräumen..."
Doch das war bald vergessen. Die meisten wurden, wie es Peter wenigstens damals schien, selbst bald Handlanger dieses sozialistischen Gesindels, machten schlapp, knurrten, und die Erschießung von missliebigen Offizieren von hinten kam immer häufiger vor... Selbst tagelanges Baumanbinden gegen Insubordination und einzelne Füsilladen nützten nichts... Die moralische Auflösung der deutschen Front begann...
Eiskalt vor innerer Erregung, mit hasserfüllten Augen blickte Peter auf seine Umgebung.
„Pack schlägt sich, Pack... "
„Nein, wir hätten die Waffen nicht..."
Doch auch die Treuesten und Zuverlässigsten hatten sich bereits in die Mauselöcher verkrochen.
Wieder rauschte ein Zug vorbei mit Hurras und vielen roten Fahnen...
Ein pockennarbiger krummgewachsener Zivilist trat auf Peter zu, riss ihm die Kokarde ab: „Aas!"
Peter stand wie gelähmt, lächelte und stotterte etwas.
Der andere war schon fort.
Dann presste er zwischen den Zähnen hervor: „Hunde! Schweine! Lügner! Ihr gottsjämmerlich erbärmlichen Schufte..."

Der Herbststurm fegte. Die Dächer auf den Häusern klapperten. Zu einem Skelett kahlgefressen war rings die Welt...
„Eine feste Burg ist unser Gott!"
Dieser Choral dröhnte mächtig auf in ihm, von Tausenden von Glockenspielen umläutet, in wunderbaren Klangspiralen, und hoch die Sterne glänzten, das Firmament wölbte sich in raumlosen unbegrenzten Schleifen und Kurven, und sprühte... War das nicht der Abglanz von Gottes Angesicht, jenes myriadenäugigen Gottes, des allfühlenden, des allerkennenden, jener Abglanz von Gottes Angesicht, der den Abgrund, der die Welt hieß, mit einer schimmernden firnisartigen Schicht überzog, mit dem Glanz der Verklärung, der dieses diesseitige Jammertal überhaupt erst für den Menschen erträglich machte? Jenes Gottes, dessen Atem gleich Ebbe und Brandung war, dessen Sekunde ein Tausend Menschenjahre in sich fasste und in dessen Allmacht es stand, die allerhöchsten Bergmassive, die es auf der Menschenerde gab, leichthin wegzublasen wie ein Sandkorn!? Das Meer, alle die großen und kleinen Ozeane wären nicht mehr gewesen als nur ein einziger Schluck in der Schale der göttlichen Hand. Und war nicht die ganze Welt ein einziges Riesenorgelwerk, rühmend des Ewigen Ehre, eine jede Kreatur ein besonderes Register darin, darauf der Schöpfer des Weltalls, der Schöpfer der heiligen Ordnung aller Wesen und Dinge, spielte, er, das Urbild aller Geschaffenheit, große, kühne, erhabene Akkorde, auch schrille Dissonanzen darunter, doch nur dazu da, um am Ende in einem desto gewaltiger schwellenden Halleluja sich aufzulösen... !

 

Eingepfercht zwischen durch und durch verlausten und völlig verwahrlosten Mannschaften, die zynisch auf Gott, Kaiser und Vaterland fluchten, rollt Peter der Heimat zu.

 

3

Peter fand seine Eltern zu Hause in niedergedrückter Stimmung.
Zwar hing ein Kranz mit „Willkommen" und schwarzweiß-roter Schleife über der Tür, aber die ausgeweinten Augen der Mutter verrieten ihm, dass sie schon viele Tage und Nächte hindurch an einem Wiedersehen mit dem Sohne gezweifelt hatte.
„Da ist er ja!" umarmte ihn der Vater. „Nun also doch! Als ein tapferer deutscher Held bist du uns wiedergeschenkt. Du hast dich auch rein gehalten, das seh ich dir an. Flecken- und makellos hast du dir das Schild deiner Ehre erhalten. Und das Eiserne Kreuz! Nun kann ich mich beruhigt sterben legen... Welch eine Freude!"
„So, Peter, gut so, dass du wieder da bist!" begrüßte ihn die Mutter, die indes weißhaarig geworden war und eine gebückte Haltung hatte. „Nun ruh dich aus! Der Krieg ist ja zu Ende."
Dies sagte sie in einer merkwürdig singenden Sprache, in einem Tonfall, den Peter bisher noch nie an ihr wahrgenommen hatte.
Peter schwieg. Er stand da, mitten im Zimmer, den Stahlhelm noch immer unterm Arm. Er hatte Tränen in den Augen.
Aber das, wie es die Mutter gesagt hatte, klang so, als ob der Krieg gar nicht zu Ende sei, nie auch zu Ende sein könnte, als ob er weitergehe, und nur ein Schlachtfeld mit dem anderen sich vertauscht habe, vielleicht sogar: Volksgenosse gegen Volksgenosse. Nach den letzten Ereignissen zu schließen: ja, vielleicht sogar mitten in Deutschland: der Muskel gegen den Nerv, Sehne wider Sehne, das Mark eines Volkes gegen das Mark, das Herzinnere gegen das Herzinnere...
Klang es nicht so, was die Mutter gesagt hatte, als ob man überhaupt nie zu Ende kommen könne damit, als ob dieser Krieg nur ein Vorspiel, ein harmloses sogar, gewesen sei und als ob die Rückkunft ins Elternhaus für Peter auch nur eine kurz bemessene Rast sei, um bald darauf wieder...
Als ob der Krieg sei wie ein Strom... Nun, da Frieden ist, fließt unsichtbar er dahin, unterirdisch, überschüttet von irrnisblendendem Gestein, um auf einmal aber, denen nur unerwartet, die das Bewegungsgesetz des Stromverlaufs nicht kennen: stäubend, gurgelnd, strudelnd auf die Erde wieder hervorzubrechen.
Nein, der Krieg ist nicht zu Ende! schrie es in Peter innerlich auf, als er seiner Mutter in die Augen sah, in die angstverzerrten, kümmernisstumpfen Augen. Der Frieden, das ist ja ein ganz ungeheuerer Betrug, eine Art Betäubungsmittel, Beruhigungspulver... Der Krieg hat begonnen, um nicht mehr zu enden. Seuchenisolierbaracken, Lazarette, ja so, genauso wie ich sie gesehen und erlebt habe: weiterbauen werden die sich durch den ganzen Weltraum hindurch... Jetzt schläft er; der Krieg hat sich ein wenig nur hingelegt, um zu schlafen; der Krieg, hört ihr es, schnarcht. Der Krieg schläft seinen Blutrausch aus... Dann steht er wieder auf, frisch, kräftig, hungrig, unersättlich, wie er ist, schwingt sich in die Lüfte, fliegt! fliegt! fliegt! Ja, fliegen wird er diesmal und einen giftigen Samen niederstreuen, Giftgas, Samen: Gas, Gas, Gas... Und aufgehen wird dieser Samen, ein entsetzliches Geschwür in jeder Menschenbrust, als brandiger, blasenziehender Aussatz über der ganzen Hautfläche, als eine Wucherung, die wüsten Wahnwitz in jedem Gehirn zeugt... Welch eine Tiefen-Wirkung! Tod wird er ernten in Hülle und Fülle...
Wer aber ist der Krieg!?
Die Menschen!?
Und welcher Art Menschen sind es!? —

Nach Tisch stand der Vater auf, zog sich an und fragte Peter: „Kommst du mit zum Trio!?"
Mit einem Blick auf die Mutter sagte Peter zögernd ja...
Auf dem Hinweg begann der Vater: „Du weißt doch Peter, dass du nicht den Oberstudienrat Dr. Reuchlin nach seinem Sohn fragen kannst. Das ist ein wunder Punkt. Nicht daran rühren! Der alte Mann ist zu bedauern. Man muss sehr taktvoll und zurückhaltend sein. Schrecklich, so ein Schicksal."
Peter nickte nachdenklich.
„Das war doch ein wunderbar prächtiger Bursche, der junge Reuchlin, ich verstehe das nicht..."
„Ja, mir ist das auch ein Rätsel. Geistige Umnachtung unter Umständen, Verwirrtheit wahrscheinlich. Anders ist das nicht zu erklären... Und welche Sorgfalt in der Erziehung hat er seinem Jungen angedeihen lassen... Merkwürdig, wie ein Mensch so aus der Art schlagen kann...!"

Am Trio, das regelmäßig einmal in der Woche in der prächtig ausgestatteten Achtzimmerwohnung des unverheirateten Dekan Lampert stattfand, nahmen teil die Herren Fabrikbesitzer Joachim Hellmer, Oberstudienrat Dr. Reuchlin und Peters Vater, der Landgerichtsdirektor Dr. Friedjung.
Diesmal waren noch zugegen als Gäste Oberstleutnant Hugenberg, Emil Freywolf, Redakteur einer grö­ßeren liberalen Tageszeitung, Kriegsberichterstatter, und ein gewisser Paul Bratz, der in der Gesellschaft als eine ausgesprochene Abenteurernatur galt, früher Leutnant der Schutztruppe, während des Krieges aber dauernd aus dem Heer wegen chronischer Trunksucht beurlaubt; er lungerte in dieser Zeit in allen Sanatorien Deutschlands herum und interessierte sich für Frauenjagd.
Die Gesellschaft war schon versammelt, als Dr. Friedjung und sein Sohn eintraten.
Die meisten Herren kannte Peter schon.
„Und wie er sich verändert hat! Mein Sohn, viel männlicher, ganz zu seinem Vorteil." Breit und behäbig, wie ein Luther-Standbild, pflanzte sich der Dekan vor Peter auf. „Na ja, der Krieg ist der beste Lehrmeister! Da sehen Sie mal wieder! Gott hat seinen Anteil daran. Gott hat gewollt, dass gerade wir dieses Gericht vollziehen sollen, und die Reinheit des sittlichen Gewissens ist auf unserer Seite. Wie der Ausgang des Krieges in Übereinstimmung mit dieser Tatsache zu bringen ist: Gottes Rat ist unerforschlich. Wahrscheinlich haben sich große Volksteile Deutschlands, vor allem die unteren Schichten, an die Arbeiterbevölkerung der Industriebezirke denke ich da vor allem, noch nicht als genügend geläutert für diese göttliche Aufgabe erwiesen. Wir gehen schweren Zeiten entgegen. Doch die Jugend gehört uns und damit die Zukunft, und wenn die ganze Jugend Deutschlands aus lauter Friedjungs bestünde: dann, dann kann Deutschland nicht untergehen... Nun, mein Sohn, nimm Platz... " Noch einen Augenblick verharrte der Dekan bei seinem Augenaufschlag. „Nun, habe ich es nicht immer gesagt, den preußischen Leutnant macht uns so leicht niemand nach..."
Herr Bratz holte das verborgene Monokel hervor und klemmte es fest.
Landgerichtsdirektor Friedjung bedankte sich nach allen Seiten hin für die Gratulationen.
Nur dem Oberstudienrat Dr. Reuchlin drückte er stumm die Hand. „Wird schon wieder werden... Nur Kopf hoch! Mut..."
„Ein Junge mit solcher Begabung wie der Ihre, Herr Landgerichtsdirektor... ich schlage vor: Bankfach. Das ist heute noch am aussichtsreichsten..." Der Fabrikbesitzer fand allseitige Zustimmung. „Ich wäre natürlich auch bereit, ihn bei mir unterzubringen... Ich brauche absolut zuverlässige, gegen jedes Streikgelüste immune Leute, heutzutage mehr denn je... "
Inzwischen hatten der Redakteur, der Oberstleutnant, Herr Bratz eine Gruppe gebildet.
„Richtig so, ganz so ist es, wie Sie sagen: Der Krieg ist nicht nur ein notwendiges Element im Völkerleben, sondern auch ein unentbehrlicher Faktor der Kultur, ja die höchste Kraft und Lebensäußerung wahrer Kulturvölker."
Der Oberstleutnant ergänzte begeistert den Redakteur: „Nicht nur eine biologische Notwendigkeit, sondern auch eine sittliche Forderung und als solche ein unentbehrlicher Faktor der Kultur..."
„Meine Herren! Lassen Sie sich schildern, wie die Zivilisation in den Kolonien vor sich geht. Wir brauchen Kolonien, das ist eine Lebensnotwendigkeit für das deutsche Volk. Kolonialarbeit ist aber notwendigerweise Blutarbeit und durchaus durch die Verdrängung des Heidentums durch das Christentum gerechtfertigt. Wir sind immer mal wieder gezwungen, da unten einen großen Kehraus mit den Schwarzen zu machen. Selbst Ausrottung ganzer Stämme mitsamt ihren Stammsiedelungen sind dabei leider Gottes nicht zu vermeiden... Kultur! Kultur!... Und überdies zum vorigen Thema: Sie haben ja die Ermordung des österreichischen Thronfolgers gestreift: ich sage: wenn je ein Blutopfer eine befreiende, eine erlösende Wirkung gehabt hat, so war es dieses... "
Die Gruppe löste sich wieder auf und schloss sich der allgemeinen Diskussion an.
„Im übrigen, meine Ansicht ist die: Die Sozialdemokraten, mag man gegen sie haben, was man will, die müssen jetzt die Sache schmeißen. Wir müssen uns auf eine Politik auf lange Sicht einrichten... Unsere Zeit kommt! Abwarten..."
Bratz widersprach energisch dem Fabrikanten. „Nein, nun ganz und gar nicht."
Er sprach von illegalen Organisationen, Attentaten,
Verschwörerklubs, Kampftrupps, die sofort aus den aktivsten, zuverlässigsten vaterländischen Elementen gebildet werden müssen, um den Novemberverbrechern energisch auf den Leib zu rücken. „Wie Sie sehen: die Arbeiterschaft ist in zwei feindliche Lager geteilt. Die Sozialisten werden nicht umhin können, im Kampf gegen die Spartakisten sich unserer Hilfe zu bedienen, wir werden und müssen uns diese Dienste so teuer wie nur möglich bezahlen lassen... Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen... So wird man uns nicht abfinden. Nie und nimmermehr..."
„Meine Herren, streiten wir nicht! Ich bin für zwei Eisen im Feuer!" vermittelte der Dekan. „Auf legale Art, und auch die Vorschläge des Herrn Bratz dürfen wir nicht ganz und gar außer acht lassen... Dem Volk muss die Religion auf jeden Fall erhalten bleiben. Denn nicht auf Gescheitheit oder Dummheit des einzelnen kommt es an, sondern auf die Erlösung der Seele. Was für den einzelnen gilt, gilt auch für das Ganze. Einkehr, innere Wandlung, das ist's, was vor allem Not tut."
Nun sprach auch Peters Vater. „Die Hauptsache ist, dass die Staatsautorität erhalten bleibt. Ich meinerseits habe bei den Sozialdemokraten seit Kriegsbeginn nichts gelesen, was der Lehre von der Unantastbarkeit des Staates zuwiderliefe. Im Gegenteil, ihre Partei hat sich während des Krieges ihre nationale Vergangenheit geschaffen!... Und meine Herren, die Staatsform kann uns doch schon wirklich ganz egal sein, auf den Inhalt kommt es an."
Der Oberstleutnant fiel ihm ins Wort: „Allerdings, jetzt heißt es Schritt für Schritt, so zäh wie nur möglich, unsere Positionen verteidigen, die Sozialdemokraten regieren lassen, heimlich ihre Regierung infamieren und
sie so in den weitesten Volkskreisen unmöglich machen, und zwar ein für allemal, um dann, wenn so der Staatsapparat relativ intakt in unserer Hand bleibt, eines Tages wohlbemerkt, ich rechne mit Jahren, zum Generalangriff überzugehen... Meine Herren! Man kann die Erfahrungen des Krieges auch auf den Frieden anwenden... Jedenfalls, eine Voreiligkeit, eine zu frühe öffentliche Preisgabe unserer Entschlüsse könnte uns teuer zu stehen kommen. In diesen Tagen der roten Hochflut wird auch der geringste taktische Fehler, meine Herren, mit Blut bezahlt...!"
„Es ist schon so!" bestätigte auch der Oberstudienrat Dr. Reuchlin. „Man muss mit den Wölfen heulen. In unserem Herzen sind und bleiben wir Monarchisten, jawohl. Aber in der Praxis könnte es sogar unter Umständen möglich sein, dass wir uns mit der Republik abfinden. Wer will prophezeien, es könnte gar der Tag kommen, wo wir die treuesten Stützen der Republik sind... Spotten Sie nicht, schütteln Sie nicht ungläubig die Köpfe..."
„Oh!" rief pathetisch Bratz dagegen. „Wenn der Schicksalstag naht, und wäre über uns Ragnarök, die Götterdämmerung verhängt, dann lieber in tobender Schlacht als in schleichendem Siechtum... "
„Auch ich finde, Dr. Reuchlin, das klingt bedenklich nach Kant", philosophierte jetzt der Dekan. „Also Monarchie wäre demnach die einzige rationelle Staatsform, aber sozusagen nur als ein Postulat der praktischen Vernunft, deren Verwirklichung zwar nie erreicht wird, deren Erreichung aber stets als Ziel angestrebt wird und in der Gesinnung festgehalten werden muss... Auch christlich terminologisch ließe sich das ausdrücken..."
„Meine Herren", knurrte jetzt der Oberstleutnant dazwischen, „ich finde, das Gespräch führt uns jetzt zu weit ab... Besser ist: Wenig davon sprechen. Immer daran denken..."
„Jawohl, auf die Tat kommt es an", schloss Bratz.

Der Landgerichtsdirektor saß am Flügel. Der Fabrikant stimmte die Violine. Oberstudienrat Dr. Reuchlin bediente das Cello. „Wir haben das letzte Mal Beethoven geübt. Wir wollen sehen, was davon hängen geblieben ist." Das Trio begann.
Der Landgerichtsdirektor zählte den Takt mit...
Verstreut saßen der Redakteur, der Oberstleutnant, der Dekan, Bratz und Peter im Zimmer herum.
Der Dekan dachte an die Sonntagspredigt. Man musste vorsichtig sein und alles in Gleichnissen ausdrücken; auch machte ihm die Möglichkeit einer Abtrennung von Kirche und Staat einige Sorgen. Für die Predigt am kommenden Sonntag suchte er noch immer den passenden Text. Er war bekannt dafür, dass er so ergreifend sprach, dass die Leute weinten... Da fiel ihm jenes berühmte Pauluswort ein: „Und hättet der Liebe nicht...!" In der Tat vortrefflich. Er zog ein Notizbuch und skizzierte die Disposition. Natürlich Liebe, Liebe und nochmals Liebe: Christentum und Sozialismus, Sozialismus und Christentum: nur zwei verschiedene Ausdrücke für im Grunde ein und dasselbe. Versöhnend wirken! Und zu was Besserem könnte man auch in solchen Zeiten ermahnen, als zur Liebe, innerer Einkehr, Arbeit an sich selbst; die Staatsform und die äußeren sozialen Fortschritte erst in zweiter Linie. Der Mensch ist die Hauptsache, der innere Mensch, auf das Seelenheil des
Menschen kommt es an... Und die Klänge des Trios beschwangen ihn: er notierte fieberhaft, und als die Herren mit einem wunderbaren piano pianissimo geschlossen hatten, wobei besonders die Violine ergreifend zur Wirkung kam, sprang er freudigst erregt auf.
„Danke, meine Herrn! Hier meine Sonntagspredigt! Vortrefflich gelungen..."

Peter hatte während des Konzerts allerlei groteske Einfälle.
„Das Frontschwein badet im Konzert!" Oder: „Ohrenschmarrenschmaus" und „Sonntagspredigtbraten", „Ragout aus sanftlebigem Oberkonsistorialrat-Fleisch" usw. Auch betrachtete er geradezu mit einem wollüstigen Ingrimm den Herrn Bratz neben sich, diese beständig nervös grimmassierende Monokel-Fratze...
Aber auch der Journalist war nicht müßig geblieben.
In seinem Gehirn stand schon der Leitartikel „Vom neuen Zeitgeist" fix und fertig. Hier waren die Sünden und vielen Fehlerhaftigkeiten des alten vergangenen Regimes scharf und präzis kritisiert, dann aber auch das Gute, Edle und Wahre vergangener Zeiten sorgfältig und liebevoll dargestellt, das es nun weiter zu pflegen und zu hegen gelte, und am Schluss war als Bilanz die beschwörende Formel gegen den Bolschewismus und gegen die alle geistigen und sittlichen Kulturwerke bedrohende Anarchie angebracht. Einige Berichte Reisender aus Russland, Gräuelszenen voll phantastischer Anschaulichkeit waren nicht ungeschickt eingeflochten, und vor allem volltönend und warnend zugleich war die Stimme, die er für die Unantastbarkeit des Privateigentums erhob.
Bratz dagegen döste zwischen „Farbenklavier-Klavilux", „Sonnenmaschine" und der „Wirkung des Grammophons auf Neger" dahin und dachte dann konzentriert an Lucie, ein Rasseweib, Kellnerin in einer Bar, und wie man Geld auftreiben könne, die Weiber kosten Geld, das ist eine alte Sache. Vielleicht geht's mit einem Spielklub, der vaterländische Verschwörerklub, dem er auch nebenbei angehörte, war noch nicht recht in Schwung, die Geldgeber zogen noch nicht, doch was nicht ist, kann immerhin allemal noch werden...
Der Oberstleutnant gab sich willig der Musik hin.
Zwar Marschmusik ist es nicht, überlegte er, auch reizen Blasinstrumente nicht so sehr zum Träumen. Aber Kunst ist es, erhaben und großartig. Nur die Künstler, das ist eine andere Sache... Gegenüber dem undisziplinierten Beethoven da war doch Goethe ein ganzer Kerl... Und dann bemerkte er unwillig, dass er Zivil trug. Die schöne alte Uniform. Vielleicht werde ich es noch einmal erleben: Sonnenglanz, die Brust voll Orden, die Straßen zur Parade abgesperrt... schon dröhnt der Stechschritt...
Da eben schloss das Trio mit pianissimo. —

Noch einige Stücke. Ein Violinsolo. Ein Marsch, auf besonderen Wunsch des Oberstleutnants, und der Trio-Abend war beendet.
Man blieb nun noch bis über Mitternacht gemütlich zusammen.
„Die Einwohner müssten sich zum Schutze ihres Eigentums zusammentun, für Ruhe und Ordnung, gegen Bürgerkrieg und Anarchie."
„Ist schon erwogen beziehungsweise beschlossen."
„Im übrigen: was unsere Revolutionäre anbetrifft, vom Schlage solcher Bürschchen wie Toller, die jetzt
den Mund so voll nehmen, so dürften die uns nicht besonders gefährlich werden. Sie sind eitel bis zum Überlaufen, man muss sie hätscheln, ausgemachte Windbeutel, mit denen nicht fertig zu werden, das wäre zum Lachen... Man muss sie nur ein wenig mit einer Verbeugung vor ihrer Genialität, wovon sie natürlich keine Spur besitzen, kitzeln, man muss ihnen geschickt durch die Presse einreden, sie hätten eine weltgeschichtliche Mission, dann strecken sie, von sich selbst fasziniert, eitel bis zum Brechreiz, wie sie sind, gleich alle Viere von sich, und man kann alles, was man nur will, mit ihnen anstellen. Da sind die Bolschewisten schon andere Kerle, aus einem Guss, die wenigstens wissen, was sie wollen. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen, Russische Glut, amerikanische Gründlichkeit: das sind ihre Hauptqualitäten, das muss ihnen auch ihr ärgster Feind lassen..."
„Gewiss auch in der Schule weisen wir jetzt in jeder Unterrichtsstunde darauf hin, welche Gefahren dem deutschen Vaterlande drohen. Na, unsere Jungens sind alle Gott Lob und Dank vernünftig und würden sich sofort wieder zur Verfügung stellen, wenn es losgeht..."
„Sicher auch Ihr Herr Sohn", zwinkerte der Dekan zu Peter hinüber, der wie versteinert dasaß.
„Aber das ist ja selbstverständlich!" antwortete für ihn der Vater. „Er ist gegen jede Art bolschewistischen Giftes gefeit. Im Trommelfeuer zu einer undurchdringlichen Panzerhaut geschmiedet. Ein Friedjung und Bolschewist: das scheidet sich wie Feuer und Wasser."
„Das meine ich auch!" lächelte der Dekan befriedigt.
Man tat noch einen langen Zug aus der Zigarre, leerte den Rest aus dem Bierglas und stand auf.
„Also sagen wir Dienstag, nächste Woche!"
Man stand schon an der Tür.
„Aber wollen wir so auseinandergehn, nach solch einem Abend, es ist ja immerhin in gewisser Weise das Willkommfest des jungen Herrn Friedjung gewesen. So unverbindlich auseinandergehn, ohne ... "
Alle stimmten begeistert dem Vorschlag des Redakteurs zu.
Der Landgerichtsdirektor saß wieder am Flügel.
„Aber pst! Leise bitte!" mahnte der Dekan. „Sonst habe ich Unannehmlichkeiten."
Und sie sangen mit gedämpften Stimmen: „Deutschland über alles."
Peter sang nicht.
Er sprach leise für sich ganz nüchtern und trocken den Text nach. Wie ein mechanischer Kontrollapparat. Dabei beobachtete er scharf die Sänger. Und beim letzten Vers sprach er halblaut mit: „I-h-r... e-l-e-n-d-e-n... S-c-h-u-r-k-e-n." —

Unten verabschiedeten sich sogleich die Herren. Bratz schlug vor dem Oberstleutnant die Hacken zusammen, stand stramm. Peter verbeugte sich kaum.
Bratz ging noch ein Stück mit den beiden Friedjungs. Er hatte das Monokel wieder eingesteckt.
„Vorsicht ist am Platz. Meine Devise ist: das Leben so teuer wie nur möglich zu verkaufen..."
Und zu Peter gewandt fragte er: „Wahrscheinlich werden Sie nun doch studieren!? In Berlin vielleicht. Ich kann Ihnen für einige Korps Empfehlungen geben..."
„Ich danke", erwiderte Peter kalt.
Bratz schnitt mit dem Stock durch die Luft, dass es pfiff.
„Hören Sie, das ist der preußische Pfiff... Bald kommt der große, der heilige, der entscheidende Tag..."
Dazu summte er schmalzig eine Melodie. „Wissen Sie, woraus das ist. Nein?! Aber... Wagner ,Tannhäuser', dritter Akt..."
„Ich denke an den armen bemitleidenswerten Oberstudienrat. Wie Söhne zu Fallstricken für ihre Väter werden! Armer alter, gebrochener Mann... ", sinnierte der Landgerichtsdirektor. —
Es war ein öffentliches Geheimnis: Dr. Reuchlins Sohn war wegen Meuterei und Hochverrat im Felde vor ein Kriegsgericht gestellt, zum Tode verurteilt und erschossen worden.

 

4

Peters Mutter war noch wach, als Vater und Sohn vom Trio nach Hause kamen.
Peter saß nun mit seiner Mutter allein.
„Mein Kind, du hast Schweres durchgemacht. Ich will dir nun sagen: wenn du wieder von zu Hause fortgehst, dann ist auch meine Zeit gekommen. Du weißt vielleicht, ich lebe mit dem Vater sehr schlecht. Nur deinetwegen bin ich geblieben. Aber du bist ja jetzt erwachsen, und du hast mich nicht mehr nötig..."
Doch, doch! wollte Peter stammeln, aber er konnte kein Wort hervorbringen.
„Es ist am besten, Peter, ich nehme gleich heute von dir Abschied: du bist ein Musterbeispiel für einen idealistisch gesinnten jungen Deutschen. Wie du dich durch diese Zeit hindurchschlagen wirst!? Auf welche Art und Weise du mit ihr fertig werden wirst!? Was aus dir noch werden wird... Fast ist's mir, als ob ich es wüsste. Ich ahne schon so etwas. Aber ich will darüber schweigen. Kurz und gut: Lass die Leute reden, Peter, und geh deinen Weg... Das soll unser Abschied gewesen sein. Leb wohl! Gute Nacht!" Wieder schwieg Peter.
Aber was ist die Wahrheit!? Was soll ich tun...
Und Peter schlief einen unruhigen Schlaf.
Er schlief in demselben Zimmer wieder, in dem er schon als Kind geschlafen hatte, dort an der Wand hingen noch die Eichenkränze, die ersten Preise aus Wettschwimmen und Fußballspielen, und dort obenauf im ersten Schubfach des Schrankes lagen noch durcheinander Schulbücher und Hefte.
Direkt aus dem Gymnasium war er ins Regiment eingetreten, in der Zeit seiner militärischen Ausbildung kam er nur selten nach Haus. Und jetzt, jetzt, was soll aus mir werden.
Peters Vater war Landgerichtsdirektor, ein Richter in höherer Staatsstellung, dessen schönster Tag in seinem Leben war, wie er nie müde wurde zu betonen: damals, als Peter auszog mit dem Freiwilligenregiment, Blumensträuße am Helm und einen vorne im Gewehrlauf: das war ein großartiger erschütternder Marsch lauter prächtiger junger Menschen unter dem Gesang „Die Vöglein im Walde... " auf den Bahnhof. Ihm zur Seite auf dem Trottoir schritten damals Vater und Mutter, beide schluchzten, Peter schluchzte und lachte freudig auf dazwischen, die ganze Stadt war mit Fahnen, Girlanden und Blumen geschmückt: der Auszug dieses Freiwilligenregiments war ein großes Freudenweinen...

Vor vielen Jahren belauschte einmal in diesem Zimmer Peter eines Nachts ein Gespräch zwischen Vater und Mutter.
Peters Vater war damals Staatsanwalt und Anklagevertreter in dem bekannten Prozess gegen den berüchtigten vielfachen Raubmörder Alois Kneisel. Kneisel wurde zuerst in der chirurgischen Klinik zurechtgeflickt, da er bei seiner Verhaftung von den Gendarmen verwundet worden war, und danach dem Scharfrichter überantwortet.
Es muss die Nacht vor der Hinrichtung gewesen sein, denn der Vater hatte dem Dienstmädchen aufgetragen, ihn pünktlich um fünf Uhr früh zu wecken. Der Wecker wurde sorgfältig gestellt.
Auch waren Gehrock, Zylinder, weiße Glacehandschuhe herausgerichtet worden, die guten Schuhe, ein frisches steifes Hemd und die Manschetten mit den rubinroten Knöpfen.
Peter legte das Ohr dicht an die Wand, als er die ersten aufgeregten Worte der Mutter vernahm.
„Nein, Heinrich, ich kann mit dir beim besten Willen nicht mehr zusammenleben", weinte die Mutter, „du bist ein Mörder, mitschuldig an einem ganz gemeinen barbarischen, infamen Mord... Ich flehe dich an, lass mich fort von dir... "
Der Vater sprach ruhig und mit sehr tiefer Stimme vom Staat, von der Notwendigkeit der Erhaltung der Autorität, von der modernen Straftheorie, wonach Strafe erstens: Sühne im religiösen Sinne sei, dann auch ein prophylaktisch wirkendes Abschreckungsmittel und drittens: Befreiung der Gesellschaft von der Gemeingefährlichkeit gewisser menschlich minderwertiger Subjekte.
Jedoch: des Vaters Gegenargumente fruchteten bei der Mutter nichts.
Immerfort schluchzte die Mutter noch: „Das ist Heuchelei, abgrundtiefe Verlogenheit... Ich kann es nicht so in Worten ausdrücken, aber mein Gefühl, mein Instinkt sagt es mir... Ach Gott, o Gott, o Gott, dass du das nicht einsiehst. So verstockt, wer hätte das gedacht. .."
Und die Mutter weinte die ganze Nacht still vor sich hin.
Einmal schrie sie: „Siehst du ihn nicht vor dir: das Gesicht seiner letzten Nacht: groß, ungeheuer und der Hals ist da, warm der Rumpf darunter... dieser in die Länge gezogene Blick... Pfui, wie du mich anekelst... Ich kann es wirklich nicht mehr länger mit dir aushalten..."
Wieder kam ein Weinanfall.
„Du hasst mich also?" fragte der Vater.
„Lässt du mir das Kind!?"
„Auf keinen Fall..."
„Damit du ihn auch zu einem Verbrecher deiner Art, zur gemeinsten und tierischsten Art Verbrecher, die es auf der Welt gibt, erziehen kannst!?"
Ein schwerer Schlag.
Ein Schrei, der hoch und schrill war...
Trotzdem Peter damals erst acht Jahre alt war, wusste er sofort: Der Vater hat die Mutter niedergeschlagen.
Und Peter taumelte, als ob er selbst den Schlag erhalten hätte, fiel ins Bett zurück und versank tief in einen ohnmachtähnlichen Schlaf.
Wie ein Goldregenschwarm sangen Scharen von Engeln darin, wie Bienen sahen sie aus, und die Erde darunter war wie eine klotzige, schattenhafte, geschwollene Blutkugel. Und die Mutter war da, eine überlebensgroße Gestalt, streichelte ihm zärtlich die blutende Kopfwunde, und Peter strengte sich sogar an, ordentlich viel zu bluten, das blutende Blut tat ihm wohl, es rann und blühte
in unendlich vielen Knospen und Beeren im Himmelsgarten...
Die Mutter war in der Nacht noch auf und davon gelaufen.
Der Vater stand pünktlich früh um fünf auf.
Als er mittags nach Hause kam, schaute ihn Peter groß und fragend an. Hat er ihn jetzt wirklich umgebracht?! Aber die Kleidung des Vaters, der jetzt ein bequemes Hausjöppchen trug, war tadelfrei, schwarz; wie anlackiert sah er aus. Nirgends ein Blutspritzer, nicht einmal an den Manschetten. Ob er eine Schürze sich umgebunden hat, so wie im Schlachthaus? Peter wollte erfahren, ob er das eigenhändig gemacht hat, mit dem Beil oder mit einem scharfen Rasiermesser. Immer noch schaute Peter groß und fragend. Der Vater aber schwieg, erkundigte sich nach Peters Schulaufgaben und ließ sich dabei den Gansbraten schmecken.

Nach acht Tagen kam die Mutter zurück. Des Kindes wegen.
„Die Kindheit eines Menschen ist entscheidend. Wie es auch gewesen sein mag, Heinrich, das, was zwischen uns beiden ist, ist Nebensache. Mein Entschluss ist: ich bleibe... Ich kann nicht anders... Und dabei bleibe ich auch: die Todesstrafe anzuwenden innerlich berechtigt ist man meiner Meinung nach nur solchen gegen­über, die ein System, dem dieses Gräuel zugehört, mit Gewalt aufrechterhalten wollen..."
Seit jener Nacht aber war die Mutter eine andere geworden.
Etwas seltsam, absonderlich, sagten die Leute, es muss
ihr etwas auf die Nerven gegangen sein... Vielleicht auch eine Gemütskrankheit... Sie achtete nicht mehr auf die Kleidung, tagelang aß und trank sie nichts, sie entließ das Mädchen, machte jede Arbeit selbst.
Als der Vater ihr einmal darüber Vorhaltungen machte, das entspreche doch ihrem Stand nicht, bekam sie einen Anfall. Die Befürchtung entstand, sie werde über kurz oder lang irrsinnig.
Sie gönnte sich keine Freude mehr. Das dritte Wort hieß: sparen.
Stundenlang saß sie auf dem Balkon, ihre Lippen bewegten sich, sie nickte mit dem Kopfe, seufzte...
Vater und Mutter: jeder von beiden ging von da ab seinen Weg allein.
Nur wenn die Sprache auf Peter kam, auf Peters Begabung, Beruf, Zukunft, dann kreuzten sich für einen Augenblick die beiden Wege, um sich gleich darauf wieder in entgegengesetzter Richtung zu entfernen. —

 

5

Und wieder überzog Peter die Erinnerung an den Krieg wie ein dumpfes, dunstig-tropisches Gewitter:
Da stand der Mensch inmitten platzender Brisanzgeschosse, von Giftgasnebeln eingeschwadet, unter einem Phosphorfeuerregen, wie unter einer kreidig-weißen Branddusche. In eine der Taucherkleidung ähnliche Uniform gekleidet, die alle seine Bewegungen schwerfällig und ungelenk machte, einen Gasmaskenhelm aufgestülpt, der oben eine oval abgeflachte Stahlkuppel bildete, der Filteransatz in der Mundgegend: ein kurzer dicker Rüssel. Schrauben, Griffe, Hebel, Manometer
rings an den Hüften; ein Schläuche-Durcheinander und Drahtgeflechte umspannten den Leib... Und nun, wie ein dem ganzen Körper dicht aufgelegtes Pflaster umschloss ihn diese Uniform, sog, mit dem Giftgas durchtränkt, juckende Blasen auf der Haut; schon beginnen jauchige gangränartige Wucherungen in Luftröhre und Kehlkopf; blutiges Erbrechen; es ist ein langwieriges Ertrinken unter Todesangstschweiß austreibenden Erstickungsanfällen in der eigenen Körperflüssigkeit; die Lunge schwemmt sich auf, wie ein mit Wasser voll gesogener Schwamm, um das Vielfache ihres ursprünglichen Volumens; Haut und Uniform werden dabei eins, eine gallertartige nässende, mit Geschwüren durchklebte Masse, und die Uniform-Haut, die Haut-Uniform schält sich ab... und da stand nackt und bloß der Mensch, ein unförmiges Stück rohen blutigen Fleisches, ausgenommen wie ein geschlachtetes Vieh bei lebendigem Leib, geschunden nach allen Regeln der modernen Wissenschaft und Kriegskunst. Die Sonne drückt nieder vom Himmel als ein glühender Stempel: der ganze Leib wird wie mit flüssigem Feuer eingebrannt. Und nun quellen ihm noch die geronnenen Augen aus den schon kohlig vermorschten Stirnhöhlen, zwei weißliche Kugeln, wie bei einem Fisch, den man siedet...
Und dieses Stück rohen blutigen Fleisches, das sich Mensch nennt, bewegt sich, lebt: es ist ein Mensch, es sind ihrer viele, es ist ein ganzes Menschenvolk, ein ganzes Volk roher blutiger Fleischstücke, mit und ohne Arm, mit und ohne Bein, kopflos und welche mit bläulich gedunsenen Köpfen: sind es schon oder sind dazu bestimmt, es in Bälde zu werden; und die so einem entsetzlichen Schicksal Ausgelieferten beginnen zu leben, lebendig zu werden, gewinnen das Bewusstsein über sich selbst, schließen sich zusammen, Blutendes an Blutendes, und marschieren eines Tages aus Mietskasernen, Fabriken, Massengräbern hervor, hinauf auf die breite Straße, wo die große, schöne, die heitere, die weite, die sorglose, die glückliche Welt blüht, wo es thront und promeniert: ein Trompetenstoß: Achtung, ihr feinen Damen und Herren: stinkendes, rohes, blutiges Menschenfleisch kommt; ja es kommt, wälzt sich daher wie ein fauliger Strom, brüllt vor Schmerz, flucht im Chor und knurrt... Die Damen raffen ihre Röcke hoch: Vorsicht, dass wir nicht schmutzig werden; die Herren blicken betrübt auf ihre blutbesudelten Lackspitzen und Gamaschen... Nein, die hitzigste Sonne brennt so heiß nicht wie diese Wundenflecken, so rot wie diese Wundenfarbe ist nie eine Sonne... und aus den von Kolbenschlägen zerschmetterten Gebissen, an denen noch wie an einem Faden an einem Sehnenstrang halbe, dreiviertel Unterkiefer herumhängen, pfeift, trillert und zirpt ein Gesang: „In der Heimat da gibt's ein Wiedersehen..."
„Bitte zurücktreten!" schnauzt der Offizier das blutende Stück Menschenfleisch an, als es den Absperrungskordon durchbrechen will, der um den großen Platz, auf dem soeben die Heldengedenkfeier stattfindet, gezogen ist.
„Ich hatt einen Kameraden!" spielt eben die Militärkapelle.
Blutige Fackeln leuchten.
„Ich bin der unbekannte tote Soldat!" spricht das blutende Stück Menschenfleisch. „Ich wünsche das Wort zu diesem Thema. Auch ich habe einiges dazu zu sagen. Ich möchte sprechen."
„Treten Sie bitte nicht näher..." — „So eine Gemütsroheit! So eine Taktlosigkeit!" zetern schon einige Kleinbürgerseelen drauflos und ballen wutentbrannt die Fäuste. „Was fällt Ihnen denn eigentlich ein! Schämen Sie sich denn gar nicht!? In so einem Aufzug, und dazu noch am helllichten Tag! Splitternackt!... Sie erregen öffentliches Ärgernis! Das ist ja ein Skandal sondergleichen! Unsere Ruhe wollen wir haben! Leichenpack! Das ist einfach schofel..." — „Zurück! Sonst muss ich von meiner Waffe Gebrauch machen. Ich habe strengste Instruktionen, rücksichtslos vorzugehen... Verhalten Sie sich ruhig und stören Sie den Ernst und die Weihe der Feier nicht! Der Herr Generalfeldmarschall spricht..."
„Wer...!?"
„Bitte sehr, ein letztes Mal, oder ich schieße. Sie haben hier nichts zu suchen... "
Aber schon flitzen die Gummiknüppel, die Bajonette stellen sich waagrecht, die berittene Hundertschaft zur besonderen Verwendung galoppiert heran, ein Panzerwagen knattert...
„Sie haben, scheint's, an einem Tod nicht genug... Gebt euch endlich zufrieden... Hinunter ins Massengrab oder hinauf wieder ans Kreuz mit euch! Als aufbauende Glieder der Volksgemeinschaft kommt ihr, so wie ihr seid, heute nicht mehr in Betracht..."
In diesem Augenblick stößt ein anderer Zug gegen die Polizeikette, eine rote Fahne an der Spitze, kräftig tönt der Gesang:

Einst kommt der Tag, da wir uns rächen,
Dann werden wir die Richter sein...

„Das sind die Sachverwalter, die wirklichen Wahrer unseres ungeheueren kostbaren Schmerzensguts...", sprachen die zusammengehauenen blutenden Fleischstücke... , „in deren Hände hat die Zukunft die Vergangenheit als Erbmasse gelegt. Darin ist auch unser Schicksal mit inbegriffen." —

Mit einem Ruck fuhr Peter aus dem Traum auf, schrie „Jonny", und beinahe in greifbarer Nähe stand vor ihm jener arme Teufel vom amerikanischen Gasregiment, den er bei einem Sturmangriff auf einen der gefährlichsten feindlichen Minenstollen zum Gefangenen gemacht hatte.
Jonny hatte weder um Pardon gefleht, noch hatte er sich zur Wehr gesetzt. Mit einem unglaublich traurigen Ausdruck in den Augen sah er den Deutschen an und drückte ihm einfach herzlich die Hand, als der die bereitgehaltene Handgranate nicht abzog.
Jonny war der einzige Sohn eines kleinen amerikanischen Farmers, arbeitete bei Kriegsbeginn in einer Seifenfabrik und war dann zum Gasregiment eingezogen und gleich darauf nach Edgewood, dem großen amerikanischen Kriegsarsenal, abkommandiert worden.
Drei Monate lag er in Edgewood, dann kam er an die Front.
Auf dem Rücktransport verständigte sich Peter durch einen Dolmetsch mit ihm und erfuhr, wie dort an lebenden Menschen die Gasschutzmasken und die bei einer Gaserkrankung anzuwendenden Gegengriffe ausprobiert werden. Zuerst das Tierexperiment, dann der Mensch...
„Das ist ja Vivisektion!" entfuhr es Peter und der Amerikaner nickte.
Auch hatte jeder Soldat eine so genannte zweite eiserne
Ration bei sich, ein Mittel, das im Fall einer Gasvergiftung bei bestimmten Symptomen gebraucht werden sollte. Dieses Mittel war ein sofort tödlich wirkendes Gift, das dem über alle Maßen schrecklichen Gastod zuvorkam. Auch bestand die Absicht, im Fall der Verwendung des Giftgases von Flugzeugen herab dieses Mittel an die Zivilbevölkerung aller bedrohten Städte verteilen zu lassen...
„Ihr an eurem Frontabschnitt scheint ja im Mond zu leben", bemerkte der Dolmetsch, als er sah, wie sich Peter darüber wunderte. „Ist bei uns genauso... Keine Neuigkeit. Gegen das Giftgas ist bisher auf der Menschenerde leider noch kein Kraut gewachsen. Da mühen sich selbst die größten Autoritäten vergebens. Schutz gegen Gas lässt sich nur durch Maßnahmen schaffen, die praktisch undurchführbar sind... Wie viele von uns verunglückten täglich beim Ausprobieren der Gasschutzmaske im Gasraum! Aber auch das minderwertigste Zeug wird von den Fabriken geliefert. Das Schlechteste auf diesem Gebiet ist eben gerade noch für das Frontschwein gut genug. Der nackte und bloße Mensch ist das billigste Material. Das ganze Drum und Dran verteuert zu sehr die Sache. Aber der Spaß muss sich rentieren... Und nicht genug damit: ist einer einmal gaserkrankt, dann beginnt im Lazarett das Herumdoktern. Doch Schwamm darüber... Wer es nicht miterlebt hat, glaubt es ja doch nicht..."

Die Unterhaltung zwischen dem Deutschen und dem Amerikaner aber sollte nicht lange andauern, ein dicker, untersetzter, schwammbackiger Feldwebelleutnant kam dazwischen, und kaum dass er des Amerikaners ansichtig geworden war, holte er seine Repetierpistole hervor, fuchtelte ein paar Mal wild damit in der Luft herum und knallte Jonny mit den Worten: „So ein Luder!" nieder.
„Du Vieh!" schrie damals Peter auf und löste die Handgranate von der Koppel.
Herbeistürzende Kameraden machten dem Zwischenfall, der ohne weitere Folgen für die Beteiligten blieb, rasch ein Ende...
Eine Woche darauf wurde Peter, durch einen Bajonettstich in den Oberschenkel verwundet, ins Lazarett abtransportiert.

 

6

Dieses Kriegslazarett war eine ausgesprochene Morphium- und Kokainhölle.
Nicht nur der Chefarzt spritzte und schnupfte, sämtliche Assistenzärzte und das ganze Pflegepersonal waren verseucht.
Dazu lag das Lazarett ständig in stärkstem Feuerbereich, kaum eine Woche verging, dass nicht ein schwerer Brocken auf eine der Baracken herunterhagelte und unter dem wahnwitzigen Geheul aller Kranken krepierte.
In der Zeit, als Peter dort lag — es waren insgesamt drei Monate —, kamen noch täglich nervenzerrüttende Fliegerüberfälle hinzu.

Das Lazarett hieß im Soldatenmund „Giftschaukel" und war hauptsächlich mit Gaskranken belegt.
Daneben bestand noch eine eigene Irrenabteilung, doch unterschieden sich die Kranken nicht wesentlich voneinander.
Hier lagen vor allem die Paralytiker, die Silbenschmierer und die Silbenstotterer. Bei all diesen hatte erst die
Erschütterung ihres Nervensystems durch den Krieg den paralytischen Anfall ausgelöst. Remissionen kamen auf Grund der Ungunst der Verhältnisse und der sehr mäßigen Behandlung nur selten vor. Wie ein Katarakt galoppierten sie dem Grabe zu. —
Aber Kokain wurde nicht nur geschnupft, es wurde bei denen, die sich daran gewöhnt hatten, auch in ungeheuren Quanten verspritzt.
Zuerst behandelte man die Gaserkrankten mit Salben und Sauerstoff, dann, wenn, was wenig häufig genug vorkam, die akute Gefahr vorüber war, griff der Unglückliche zum Morphium, später zum Kokain. Offene nekrotisierende und bis tief auf die Knochen sich einfressende Wunden hatte bei den meisten das blasenziehende Agens, d. h. das chemische Kampfmittel zurückgelassen, mit Verbänden und Schmierkuren war nur wenig dagegen auszurichten. Der Zustand der Lunge war mehr als trostlos, überhaupt hatte das Gas bei den meisten tief greifende Veränderungen des Blutbildes hervorgebracht. Die weißen Blutkörperchen nahmen rapid ab, kernhaltige Blutkörperchen treten auf, die roten Blutkörperchen ändern ihre Form, nehmen Stechapfelform an und gehen massenhaft zugrunde. Umfangreiche Pigmentierungen der Haut erscheinen, die durch den freiwerdenden Blutfarbstoff ein gelb- und graubräunliches bis bronzefarbenes Aussehen erhalten. Auch Eisenablagerungen in verschiedenen Organen, namentlich in Leber und Milz, wurden beobachtet.
Und zu alledem blieb einem Entlassenen noch die angenehme Hoffnung auf einen so genannten „Spättod", der oft genug überraschenderweise erst nach Jahren eintrat...
Der Saal, in dem Peter lag, war der „septische", der
Saal, in dem die „Eiterigen" untergebracht waren, vor allem die Lungenemphyseme.
Vierzehn Mann kauerten in halb aufrechter Stellung in den Feldbetten, mit dicken Papierverbänden um den Leib, einen Gummidrain zwischen den geöffneten Rippen, durch den der jauchige Eiter aus der entzündeten Lunge herauseiterte. Das Fieberthermometer kreiste beständig im Saal, die Temperaturen der einzelnen waren das Hauptgesprächsthema. Ununterbrochen wurde gegen den beizenden Fäulnisgestank „Tannenduft" gestäubt, und die Ärzte kamen nur mit der Zigarre im Munde.
Jeder war misstrauisch, hinterhältig gegen den andern, belauerte eifersüchtig jeden Temperaturunterschied, eine ungeheuere Schadenfreude entstand, wenn bei einem das Thermometer wieder einmal um einige Grad höherschnellte. Ein jeder rettungslos seiner eigenen Fieberkurve versklavt: nach ihr schwang der Weltrhythmus. Ja, es kamen auch einige Prügeleien bei der Essenverteilung vor: die, die sich benachteiligt glaubten, stürzten sich mit ihren Krückstöcken aus dem Bett, schlugen auf die ihrer Meinung nach von der Schwester mehr Begünstigten ein, bis einem der Verband sich auflöste und der jauchige Eiter sich dick auf dem Fußboden herumschmierte... War wieder einer „an der Reihe", wurde er auf den Gang hinausgefahren, nicht ohne dass ihm einige höhnisch „Gute Besserung!" nachriefen...
Dann die Folterqualen des Dekubitus! Nach kurzer Zeit hatten sich beinahe alle aufgelegen, hauptsächlich am Steißbein, wo sich trotz sorgfältiger und häufiger Waschungen mit Spiritus, trotz Salben und Puders bald faustgroße Löcher bildeten; den Ärmsten wurde dann ein Luft- oder Wasserkissen untergeschoben, aber die Wundlöcher eiterten, der Kranke faulte jetzt nicht
nur von innen und oben, sondern auch von unten an. Dem also Gefolterten war es, als ob er an den mit dem Dekubitus behafteten Stellen bei lebendigem Leib auf einer glühenden Eisenplatte briete.
Dazu tat noch ein übriges die Wirkung der verschiedensten Narkotika.
Es war unmöglich, ohne diese bei den Erstickungsanfällen und Schmerzkrämpfen auszukommen.
Beim ersten Gebrauch: eine übermütige, durch nichts begründete Heiterkeit, die Patienten plapperten unermüdlich Tag und Nacht Sinnvolles und völlig Sinnloses wirr durcheinander, Pläne wurden geschmiedet, das Modell eines gegen jede Gasart undurchdringlichen Asbestanzuges mit viel Liebe und Hingabe entworfen, Ideen, phantastische Vorstellungen jagten und hetzten sich, ein jeder war eigentlich plötzlich mit seinem Zustande ganz zufrieden, nur, wenn die Schwester einmal länger als gewöhnlich mit der Spritze ausblieb, dann gab es förmlich eine Revolte, man heulte und läutete: der ganze Saal krampfte sich zusammen wie unter einem Tobsuchtsanfall...
Diesem Übel wurde bald abgeholfen dadurch, dass man jedem eine ausreichend große Giftportion zuwies und er sich die Spritzen selbst machte.
Nun gab es jeden Tag einen neuen Abszess, es wurde geschnitten, man saß halbe Tage lang im Warmbad, bis sich der eine oder der andere zuerst eine weit ausgedehnte Furunkulose, dann eine Phlegmone holte, die sich über den ganzen Körper ausbreitete, so dass, wo man auch mit der Injektionsnadel einstach, eitrig-wässerige Flüssigkeit einem entgegenspritzte.
Einige gingen dabei an Thrombosen zugrunde.
Dann kam zur Abwechslung Kokain in Mode.
Die Kranken hatten das Mittel schon mehrere Wochen gebraucht, als sie plötzlich Stimmen zu hören vorgaben, Gestalten sahen, die sie bei ihrem Namen nannten und sie bedrohten, zu wüsten sexuellen Ausschweifungen zu verleiten suchten, elektrische Nadeln durch die Wände hindurch mitten auf ihren Körper hin zuspitzten und wiederum Stimmen, oben und unten und nebenan, die entsetzlich fluchten, Zoten rissen... und plötzlich in den Vorstellungen der Kokainverseuchten der ganze Saal sich in einen Granattrichter verwandelte, Trommelfeuer rauschte und einer sein Bett in Brand steckte, was zwar von den Wärtern noch rechtzeitig bemerkt wurde... Dazwischen sang einer immer monoton vor sich hin: „O herrliche Phosgen-Luft! Du bist mein Augenstern..." Man bewarf ihn, als er nicht aufhören wollte, einfach mit den nächstbesten Gegenständen.
Bald darauf wurde allerdings, besonders da auch eine Inspektion angekündigt war, mit der Dosierung der narkotischen Mittel gebremst.
Die einen ätherisierten zum Ersatz, chloroformierten, fraßen Veronal röhrchenweise, andere versuchten eine Entwöhnungskur mit Alkohol und Pantopon, wieder andere dösten in schweren Schlafmitteln tagelang dahin, vollkommen von einem undurchdringlichen Paraldehyddunst eingedeckt, und wieder anderen, die nicht zu toben aufhören wollten, wurde vom Arzt Skopolamin verordnet, ein stark lähmendes Mittel, das jede Orientierungsfähigkeit ausschaltet, Gesichtsfeldverengungen zur Folge hat, die Sprache des Patienten wurde tief und sandig-rau... und er lag weich gebettet auf seinem harten Feldbett wie in einem unermessbar abgründigen Abgrund...
Die Zwangsjacke wurde nicht mehr angewendet. —
Auch Peter hatte man die Mittel gleich nach seiner Einlieferung aufgedrängt.
„Herrlich! Sie dürfen sich die Sensation nicht entgehen lassen. Einfach: Nirwana..." So hatte ihm die Krankenschwester, süßlich lächelnd, die Drogen angepriesen.
Eine unheilbare Krankheit ist der ganze Mensch, eine Seuche, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss, dachte damals Peter zuerst. Weiter dachte er noch nicht...
Er schlug die Mittel nicht aus: eine lange, angenehm lauwarme Flüssigkeit war es, die sich durch seinen Körper erstreckte, alle Blutbahnen hindurch sich verrieselnd und verzweigend...
Und eines Tages bemerkte er: er konnte das Mittel nicht mehr lassen.
Ließ er nur eine Spritze aus: sofort fiel er schlapp in sich zusammen wie ein leerer Sack, ganz ausgelaugt und geleert war er, zitterig, bis in die feinsten Nervenspitzen flimmernd, und nur immer mit dem einen Gedanken, der zur Zwangsvorstellung wurde: Die Spritze...
Die Schwester kam wieder.
„Na, ich hab es Ihnen doch gleich gesagt. Machen Sie sich kein Gewissen. Ist ja gar nicht so schlimm..."
Da half ihm gar mächtig die Erinnerung an Tage seiner Kindheit, die sich ihm plötzlich als die festeste Ankerkette seines Lebens erwies.
Dort gab es Berge und Märsche durch Gebirgstäler, Wiesenflächen, flaumig und flockig; Wälder am Horizont, wie zu fleischigem Ölgrün geronnene Wellen; enzianübersäte, mit Zwergholz bewachsene Alpwiesen; Wildbäche, die so munter die Schluchten herabstolperten; auch ein uralter Bergführer, ein origineller Kauz, war da, ein ganzes Bündel von Hirschzähnen und Silbertalern an seiner Riesenuhrkette; Sonnenaufgang war: Gletscherebenen und Gipfelzacken: flüssig feueriges Eis; dann unten wieder im Tal die Volkstänze und derben Volksbelustigungen, ja das war noch von einem gesunden Menschenschlag, die sträubten sich mit Händen und Füßen gegen die monokel-, lorgnettglotzenden Fremden... Und Gewitter zogen auf und platzten mitten am Himmel auseinander über dem Bergdorf: alle Kapellen des Tals wimmerten Wetterläuten,  und die Flammenwolke trieb den Berghang entlang. Blitz auf Blitz, Donnerschlag auf Donnerschlag: jeden Augenblick flammte vom Blitz entzündet eine andere Tanne auf, und das vielfache Echo der Donnerschläge prallte und knallte von den Felswänden. Nun knatterte der Regen, der Sturm surrte: da reckte sich der Mensch auf, die Muskeln strafften sich: ja das Ereignis solch eines elementaren Gewittersturzes hatte noch etwas von der  Sprache   des   Welten-Anfangs,   der  Vorzeit... Auch im Vorfrühling war Peter einmal im Gebirge: da aber donnerten die Lawinen, überall lag noch Schnee und der Schnee begann zu fließen...  Da stellte sich Peter breitbeinig gegen den Wind, wie ein Torwächter gegen den Ball beim Fußballspiel: und der Sturm drückte ihn mit einem heftigen Faustschlag von der Stelle, so gewaltig, herrlich, übermenschlich war der Sturm...
An die Erinnerung an diese Landschaft klammerte sich Peter in seiner tiefsten Not in Gedanken an, eine kristallharte eisklare Kraft sog er aus ihr, und er lachte eines Tages überlegen. „Was, ich soll mit diesem Dreck da nicht fertig werden... "
Und er wurde eines Tages fertig damit, ein marternder Heißhunger überfiel ihn, er stahl den Sterbenden das Essen, trotzdem es schon mit Speichel versabbert war, aus den Näpfen weg, es war zwar ein entsetzlicher Fraß, aber er wurde gerade doch noch kräftig und gesund damit. —
Die Operationswagen rollten in den Gängen, eine Rippenresektion folgte wieder auf die andere, draußen stand Sanitätsautomobil an Sanitätsautomobil: die ersten Blutzeugen der soeben begonnenen Riesenmassenschlacht.
„Meine Kindheit hat mich diesmal gerettet, ein Erbgut, an dem die Kinder gut gestellter Leute unendlich lang zu zehren haben... Und die anderen?!... Was der Mensch in solchen vier Jahren durchmachen muss, das geht schon auf keine Kuhhaut... Und was der Mensch aushalten kann... Und wofür und warum dies alles?!"
Peters Antwort war: „Deutschland."

Bereits drei Tage nach seiner Entlassung wurde Peter mit seiner Kompanie zu einem Sturmangriff eingesetzt. —

 

7

Peter hielt es zu Hause nicht mehr länger aus.
Das Gehalt seines Vaters reichte gerade, ihn auswärts studieren zu lassen. Er suchte sich Berlin aus. Auch einige Kameraden waren dort, für die erste Zeit war es gut, nicht ganz allein zu sein. —
Einige Tage vor seiner Abreise besuchte er den Abiturientenstammtisch. Alle Monate einmal fanden sich immer noch einige frühere Schulkameraden in einer Bräustube zusammen. Diesmal waren fünf da. Dreiviertel der Klasse war gefallen.
Rainer Feck, ein dummdreister und oberflächlicher Bursche, der prinzipiell nur die modernsten Schlipse trug, erzählte Kriegserlebnisse, schnitt ungeheuer dabei auf und schwelgte voll Entzücken, dass ihm der Mund troff, in der Schilderung, wie er eines Nachts ganz allein von der Flanke aus einen feindlichen Graben aufgerollt habe.
„Stücker fünfzig haben daran glauben müssen."
Aber auch Fritz Kunz, der frühere Primus, ein schmächtiges Kerlchen mit einem großen Kneifer auf der kleinen käsig glänzenden Stupsnase, riss Witze und Zoten, mitten daraus hervor wurde angestoßen, ein vaterländisches Lied gesummt und mit betrunkenen heiseren Stimmen gegrölt: „Deutschland über alles!"
„Peter! Los! Gib dein deutsches Ehrenwort, verpfände uns deine Männerehre, dass du, wenn du nach Berlin kommst, es den Sausozialisten ordentlich einbrocken wirst... Hast du gehört von der widerlichen Hure, der Rosa Luxemburg... Feste druff, allemal, sage ich... Hoch! Lasst uns gleich im voraus die kommenden Heldentaten des großen Sozialistentöters Peter Friedjung begießen! Heil! Prost!"
„Bravo, Peter! so ist's recht", schnarrte Kunz, als Feck die Hand Peters packte und sie kräftig schüttelte.
„Noch können wir uns nicht rühren! Aber der Tag kommt! Blutige Rache!... Der scheißige Volksstaat Bayern! Na wartet nur ... Ruhe im Puff, wenn Ebert..."
„Bravo! Dufte Nummer! Viechskerl!" applaudierte Kunz wieder.
Augenblicklich war Stille, als eine Patrouille dreier roter Matrosen ins Lokal trat.
Alle hatten angstgeschwollene Köpfe.
Auch Peter, der sich von ganzem Herzen seiner Kumpane schämte.
Hasserfüllte Blicke von allen Tischen geisterten an den drei Matrosen empor, die ruhig und sachlich die Ausweise der Anwesenden kontrollierten, ironisch lächelten, als ein dicker Spießer vor Angst zusammenzuckte.
Zwei waren schon hinausgegangen, der dritte stopfte sich noch eine Pfeife, dann ging auch er, höflich und gemütlich guten Abend wünschend.
Das ganze Lokal brodelte auf.
„So ein Saupack! So eine Gemeinheit! Was nicht die sich alles herausnehmen. Polizeibefugnisse, Strafvollzug. Die ganze Welt ist ja auf den Kopf gestellt! Bevor die nicht an der Laterne ... "
„Ja, wisst ihr was", kreischte Feck, „Agenten müsste man denen auf den Hals schicken, Aufstände inszenieren lassen, die Massen, wenn sie hungern, zu Plünderungen provozieren, Bomben und Waffen in Versammlungslokale einschmuggeln, einen Führer, wenn er sich allzu aufsässig erweist, unauffällig um die Ecke bringen... kurzum die Leute aus ihrer Passivität heraus vor die Gewehre locken... Viele von uns haben jetzt solche Stellungen. Das ist auch eine Wissenschaft, eine Kunst, das will gelernt sein. Das erfordert täglich Übung, Geistesgegenwart, einen ganzen Mann, so jemand darf keine Gefahr kennen. So einer bekommt bestimmte Aufträge. Führt sie aus. Steht selbst unter Kontrolle... Spitzel, auf Horchposten Tag und Nacht, Gift einspritzen und immer wieder Gift einspritzen, das macht sich bezahlt. Seine Wohnung hat man, sein Essen hat man, auch
Weiber in Hülle und Fülle: und da fällt auch hie und da so was wie ein Anzug ab, Kopfprämien, Extraprovisionen in erregteren Zeiten, und dass die nie ausgehen, dafür sorgt man schon: damit lässt sich also schon trefflich auskommen... Was meint ihr zu meinem Vorschlag! Wollen wir nicht gescheiter statt irgendein windiges Kolleg dieses Fach belegen!?"
„Selbstverständlich", meinte Kunz, „eine ehrliche Kugel ist für dieses Gesindel zu gut... Ja, einem solchen Kanaillenpack gegenüber kann man schon frei seine bestialischen Instinkte schießen lassen. Der Zweck heiligt die Mittel."
„Na, Peter!?"
„Ihr entschuldigt schon, aber ich versteh euch einfach nicht mehr. Ich kenn diese Sprache nicht..." Alle lachten.
„Lange Leitung... oder ein wenig plemplem im Felde geworden, nanu, du Affenschwanz! Hämorrhoiden im Hirn?!"
Man brach auf.
„Und jetzt feste druff! Jetzt gehen wir noch ins Puff... Müssen doch Peters Wiederkehr feiern... !?"
An einer Straßenecke drückte sich Peter wortlos davon.
„Fotzendreck und Hurenschleim!" johlte ihm Feck nach. —

Und Peters Gott zertrümmerte.
Wie ein tausendjähriger Eichstamm, von der Axt der Holzknechte gefällt, im Waldgrund niederrauscht, so lag, durch Ereignisse und Erlebnisse zerspalten, eines Tages im Zeitabgrund „Stamm" und „Wipfel" Gott da, der Wipfel, der hoch im Äther wie ein Baldachin die
Erde überschattete, der Stamm, der in der Sehnsucht des Menschenherzens Wurzel schlug und erschütternd inbrünstige Gebete wie Säfte aufwärtsleitete... Welk waren die goldenen Blätter geworden, ein Geruch von Morast und Fäulnis schlug Peter aus dem gefallenen Wipfelwerk entgegen, er staunte noch und wunderte sich: das war doch Gott... Und zu gleicher Zeit drang, von einem Haufen wesenloser Schemen gesungen, das Lied „Deutschland über alles" zu ihm, die Gesichter der Singenden verzerrten sich zu blutrünstigen Grimassen, es war wie ein feister laut grölender Grabgesang, vollkommen gedankenlos von denen, die ihn sangen, hergeleiert, und immer kräftiger dagegen tönte aus den Schluchten und Dickicht-Labyrinthen einer kommenden Zeit herauf, begleitet von dem sausenden Takt der Maschinenhämmer und der mit elektrischen Motoren und Turbinen betriebenen flitzenden Treibriemen: „Wacht auf..."
Peter erinnerte sich des Rückmarsches, des Rheinübergangs, des Deutschlandliedes, als die Sonne voll durch die Nebelpest durchbrach...
„Deutschland über alles... "
Das Deutschland, das ihr meint, das ist das meine nicht...
Zwei Männer in Arbeiterkleidung standen da unter einer Toreinfahrt und Peter hörte gerade noch: „Jedes deutsche Arbeiterherz wird unter der Wucht solcher Ereignisse zur Zündmasse... Großes geht in der Welt vor... Blick nur nach dem Osten... Revolutionsjahrzehnte... Bis alles Alte und Faule und Morsche gestürzt ist...!"
Als Peter am andern Morgen in die weite Welt fuhr, sagte ihm der Vater zum Abschied: „Und nun, Peter, werde der, der du bist! Halte dich weiter rein! Nichts ist von Blutschande oder Rassenunreinheit an dir. Werde ein kerndeutscher Männercharakter! Gedenke, dass du ein Deutscher bist..."
Auf dem Nachhauseweg herrschte der Vater die Mutter an: „Aber das eine bitte ich mir aus, wenn du ihm schreibst: ich wünsche mir keinen zweiten Fall Reuchlin junior."
„Sei ohne Sorge", erwiderte ihm die Mutter sanft und siegesgewiss, „Peter wird schon ganz allein den rechten Weg machen!" —

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