7. Kapitel:  Jimmie Higgins spielt mit Amor
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  Als Jimmie aus dem Gefängnis kam, war der Streik vorbei; man hatte  ihn durch einen doppelbödigen Trick beendet, indem man die Löhne der  Arbeiter heraufsetzte, ihre Führer dagegen hinter Gitter brachte.  Jimmie meldete sich wieder an seinem alten Arbeitsplatz, und der Boss  sagte zu ihm, er solle sich zum Teufel scheren; darauf machte sich  Jimmie auf nach Hubbardtown und reihte sich ein in die lange Schlange  von Männern, die vor dem Tor der Motorenfirma warteten. Jimmie wusste,  dass es schwarze Listen gab; daher antwortete er, als er dran war, auf  die üblichen Fragen, er hieße Joe Aronsky und hätte zuletzt in einem  Maschinenwerk in Pittsburg gearbeitet; nach Hubbardtown wäre er  gekommen, weil er von dem hohen Lohn und der guten Behandlung gehört  hätte. Während er die Fragen beantwortete, bemerkte er, wie ein Mann,  der in der Ecke saß, genau sein Gesicht musterte und wie der Boss sich  umdrehte und in jene Richtung blickte. Der Mann schüttelte den Kopf,  und der Boss sagte: „Nichts zu machen." Da begriff Jimmie, dass die  Hubbard Engine Company Maßnahmen getroffen hatte, um ihr Werk von  Agitatoren aus Leesville frei zu halten. 
    Einige Tage brachte er  damit zu, es in anderen Betrieben seiner Heimatstadt zu versuchen, aber  vergebens - er war erkannt. In der Brauerei war man langsamer als  anderswo -für zwei Stunden stellten sie ihn ein. Dann hatten sie seine  Vergangenheit entdeckt und feuerten ihn, und Jimmie „verkohlte" den  Boss, indem er sagte, sie kämen zu spät - er hätte schon jedem Mann in  der Halle ein sozialistisches Flugblatt gegeben! 
    In einem abgelegenen Stadtviertel gab es in der Jefferson Street einen  Fahrradladen, der einem alten Deutschen namens Kumme gehörte. Einer der  Genossen erzählte Jimmie, dass dieser einen Gehilfen brauchte, und  Jimmie ging hin und bekam einen Job für zwei Dollar den Tag. Bei den  gegenwärtigen Preisen war das eine schlechte Bezahlung, aber Jimmie  gefiel der Arbeitsplatz, weil sein Boss beinah ein Sozialist war, ein  Pazifist - hinsichtlich aller Länder außer Deutschland. Diese Klippe  überwand er, indem er sagte, jede Nation hätte das Recht, sich zu  verteidigen, und in diesem Krieg wäre Deutschland die Nation, die  angegriffen worden sei. Ein gut Teil seiner Energie verwendete der alte  Mann darauf, seinen Kunden das zu beweisen, und wenn es Kunden gab,  denen das nicht passte, dann konnten sie woanders hingehen. 
    Die Kunden, die kamen, waren größtenteils Deutsche, und so blieb Jimmie  weiterhin reichlich versorgt mit Argumenten gegen die  Munitionsindustrie, die sie ein „Mordgewerbe" nannten, und für das  Programm „Erst macht Amerika satt". Unter denen, die häufig kamen, war  Jerry Coleman, der noch immer in Aktion und besser denn je mit  Zehndollarscheinen versehen war. Er hatte sich inzwischen als  Organisator für eine neue Propagandagesellschaft zu erkennen gegeben,  die sich „Nationaler Friedensrat der Arbeiter" nannte. Da „Arbeiter"  und „Frieden" die Begriffe waren, von denen Jimmie lebte, sah er keinen  Grund, warum er diese Organisation nicht unterstützen sollte. Coleman  versicherte Jimmie, dass er den Kaiser hasse, dass aber das deutsche  „Volk" verteidigt werden müsse. So wurde Jimmie, ohne die geringste  Ahnung davon zu haben, eins der Werkzeuge, mit denen der Kaiser die  soziale Unzufriedenheit in Amerika schürte. 
    Aber Jimmie war jetzt bei seiner Agitation vorsichtiger. Er hatte durch  seine Gefängnisstrafe seine Familie so sehr in Not gebracht, dass er  Lizzie einige Versprechungen hatte machen müssen. Ihre Sorge um die  Kinder konnte sie nicht länger für sich behalten, und das ließ gewisse  Spannungen zwischen ihnen entstehen und veranlasste Jimmie, über sein  Geschick zu murren. Was hatte es für einen Zweck, einer Frau etwas  beibringen zu wollen, die nicht über den eigenen Herd hinaussehen  konnte? Wenn man ein Welterlöser sein wollte, wenn man im Spitzentanz  auf den umwölkten Berggipfeln des Heldentums wandelte, zog sie einen  herunter und kettete einen an die Alltagswelt, erstickte sie einem alle  Glut und alles Feuer in der Seele! Die Erinnerungen an die  „Filzbienen", an den dünnen Kaffee und die übel riechende fettige Suppe  waren bei Jimmie etwas in den Hintergrund gerückt, und er durchlebte  wieder die erhabene Stunde, als er vor Gericht gestanden hatte und für  die Grundrechte des amerikanischen Bürgers eingetreten war. Er wollte  diese kühne Tat in ihrem vollen Wert anerkannt wissen. Die arme,  blinde, hausbackene Lizzie, die diese tieferen Bedürfnisse der Seele  ihres Mannes nicht erfüllen konnte! 
    Jimmie war bis dahin in seinem Eheleben so häuslich gewesen, wie man es  nur von einem proletarischen Propagandisten erwarten konnte. Er hatte  sich nach einem Eigenheim gesehnt und diesen unterdrückten Wunsch  offenbart, indem er eine große Packkiste und einige zerbrochene  Schindeln besorgte und im Hof für Jimmie zwei ein Spielzeughaus baute.  Er hatte sogar Zeit gefunden an seinen übermüdeten, überlasteten  Sonntagen im Hochsommer - der Jahreszeit, wo in der Ortsgruppe am  wenigsten zu tun war -, einen Garten anzulegen. Nun aber füllte  natürlich der Krieg seine ganzen Gedanken aus, ließ ihn um die Zukunft  der Menschheit bangen und verlockte ihn zu Martyrium und häuslichen  Reibereien. 
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  In dieser kritischen Zeit in Jimmies Leben geschah es, dass in  Leesville eine temperamentvolle junge Person mit Namen Evelyn  Baskerville erschien. Evelyn war keine müde Küchensklavin - mit ihrem  lockeren braunen Haar, ihren kecken kleinen Grübchen, ihrer hübschen  Figur, ihrem flotten Hut mit der Truthahnfeder an der Seite. Evelyn war  Stenographin und nannte sich eine fortschrittliche Frauenrechtlerin;  sie stellte bei ihrem ersten Besuch die ganze Ortsgruppe auf den Kopf.  Es war der „gesellige Abend", an dem alle Männer rauchten, und dieses  „freie" junge Ding nahm von ihrem Begleiter eine Zigarette an und  paffte munter drauflos. In großen Kulturzentren wie London oder  Greenwich Village hätte das natürlich kein Aufsehen erregt; aber in  Leesville war es das erste Mal, dass die Gleichberechtigung der Frauen  dahingehend interpretiert wurde, dass die Frauen sich die Laster der  Männer zulegen sollten. Dann hatte Evelyn aus ihrer Handtasche einige  Flugblätter über Geburtenkontrolle zutage gefördert und. vorgeschlagen,  dass die Ortsgruppe deren Verteilung übernehmen solle. Dieses Thema war  neu in Leesville, und wenn die Mitglieder auch meinten, das Ganze wäre  schon richtig, so empfanden sie es doch als peinlich, die Sache allzu  gründlich in einer öffentlichen Versammlung erklären zu lassen. Evelyn  war für einen „Geburtenstreik" als das sicherste Mittel, den Krieg zu  beenden; sie war dafür, dass der „Worker" dieses Programm übernehmen  sollte, und verbarg auch nicht ihre Verachtung für die Reaktionäre in  der Bewegung, die noch immer so tun wollten, als ob die Babies vom  Storch gebracht würden. Das heikle Thema wurde schließlich  „zurückgestellt", und als sich die Versammlung vertagte und die  Mitglieder nach Hause gingen, sprach alles über 
    Miss Baskerville -  wobei die Männer in der Hauptsache mit den Männern und die Frauen mit  den Frauen sprachen. Ziemlich bald wurde offenbar, dass die  temperamentvolle, fesche junge Person sich Genossen Gerrity, den  Organisator, angeln wollte. Da es sich bei Gerrity um einen akzeptablen  Junggesellen handelte, war dagegen nichts einzuwenden. Aber ein wenig  später kam dann der Verdacht auf, dass sie es auf Genossen Claudel, den  belgischen Juwelier, abgesehen habe. Zweifellos hatte sie ein Recht  darauf, ihre Wahl zwischen den beiden zu treffen; doch unter den Frauen  waren manche der Meinung, dass sie zu lange brauchte, um sich zu  entscheiden, und schließlich sagten bereits ein, zwei boshafte Damen,  dass sie gar nicht die Absicht habe, sich zu entscheiden - sie wolle  beide. Und dann schlug der Blitz in Jimmies Leben ein. Es war kurz nach  seiner Haft, als ihm noch der Ruhm anhaftete, da trat nach der  Versammlung Genossin Baskerville an ihn heran und zog ihn ins Gespräch.  Wie fühlte man sich denn so als Knastologe? Als er sagte, großartig,  erwiderte sie, er solle sich nur nicht zu viel einbilden - sie habe  selber dreißig Tage abgesessen wegen Postenstehens in einem  „Hemdblusenstreik"! Während sie ihn ansah, blitzten ihre hübschen  braunen Augen vor Mutwillen, und ihre schelmischen kleinen Grübchen  zeigten sich ausgiebig. Dem armen, schlichten Jimmie fuhr es bis in die  Fußspitzen, denn er hatte noch nie bei einer so reizenden Person  Beachtung gefunden, außer vielleicht, wenn er ihr eine Zeitung  verkaufte oder, in seinen Landstreichertagen, sie um Geld für ein  Sandwich anbettelte. So etwas gehörte zu dem Wunderbaren an der  sozialistischen Bewegung - sie riss die Klassenschranken nieder und  eröffnete einem aufregende Einblicke in die höheren Sphären von  Kultiviertheit und Charme. 
    Genossin Baskerville fuhr fort, ihre Grübchen und ihren Witz vor Jimmie  spielen zu lassen, obwohl Genosse Gerrity und Genosse Claudel und  verschiedene andere Motten die Kerzenflamme umschwirrten und alle  Frauen in der Ortsgruppe sie aus den Augenwinkeln beobachteten. Zu  Jimmies maßloser Bestürzung fragte die temperamentvolle junge Göttin  der Unabhängigkeit schließlich: „Möchten Sie mich nicht nach Hause  bringen, Genosse Higgins?" Er stammelte ein „Ja", und schon gingen sie  los, wobei die junge Göttin ihn mit Fragen über die Zustände im  Gefängnis überschüttete und hinsichtlich der ökonomischen Aspekte der  Kriminologie eine höchst überzeugende Belesenheit an den Tag legte -  gleichzeitig schien sie völlig blind zu sein für das Umherschwirren der  anderen Motten und für die Entrüstung der nicht emanzipierten Damen der  Ortsgruppe Leesville. 
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  Sie gingen zusammen die Straße hinunter, und erst schüttelte sich  Genossin Baskerville vor Entsetzen über die „Filzbienen", dann äußerte  sie ihr Entzücken über die Bekehrung des „Glotzaugen-Mike" zum  Sozialismus, und schließlich amüsierte sie sich über das Absingen der  Internationale auf der Polizeiwache. Hatte sie in diesem unscheinbar  wirkenden kleinen Maschinenarbeiter eine „Persönlichkeit" entdeckt?  Jedenfalls überhäufte sie ihn mit Fragen über sein bisheriges Leben und  seine Ansichten. Als er ihr von seiner hungrigen, verwahrlosten  Kindheit erzählte, murmelte sie mitfühlende Worte, und der bezauberte  Jimmie hatte den Eindruck, hier sei eine Frau, die instinktiv all die  Sehnsüchte seines Herzens verstünde. Sie legte ihre Hand auf seinen  Arm, und ihm war, als ob ein Engel ihn berührte - seltsame kleine  Schauer überliefen ihn wie elektrische Ströme. 
    Ja, Genossin  Baskerville konnte ihm seine Leiden nachfühlen, weil sie ebenfalls  gelitten hatte. Sie hatte eine Stiefmutter gehabt und war sehr früh von  zu Hause weggelaufen und hatte sich allein durchgeschlagen. Das war  auch der Grund, weshalb sie sich so entschlossen für die  Frauenemanzipation einsetzte - sie kannte aus bitterer Erfahrung die  Versklavung ihres Geschlechts. Es gab viele Männer, die mit Worten an  die Gleichberechtigung der Geschlechter glaubten, doch was Taten  betraf, keine wirkliche Vorstellung davon hatten; und die Frauen selbst  - nun, man konnte ja schon hier in der Ortsgruppe sehen, wie die  engstirnigsten, spießbürgerlichsten Gedanken ihre Gemüter beherrschten.  Jimmie wusste nicht, was für Gedanken Genossin Baskerville meinte, doch  er wusste, dass ihre Stimme voller Musik und voll rascher Modulationen  war, die ihm durch und durch gingen. 
    Er sollte sie ja eigentlich nach Hause begleiten, aber er hatte keine  Ahnung, wo sie wohnte, und sie offenbar auch nicht, denn sie liefen und  liefen und sprachen von all den großartigen neuen Ideen, die Männer und  Frauen bewegten. Glaubte Genosse Higgins an die Ehe auf Probe? Genosse  Higgins hatte noch nie von dieser verrückten Idee gehört, aber er  lauschte und verbarg tapfer sein Unbehagen. Aber was würde mit den  Kindern? Die eifrige Frauenrechtlerin antwortete, Kinder brauchten ja  nicht zu sein. Unerwünschte Kinder seien ein Verbrechen! Sie habe vor,  die Frauen der Arbeiterklasse zu versammeln und sie in der Technik  dieser delikaten Angelegenheit zu unterweisen, und inzwischen war sie,  in Ermangelung der Frauen, auch bereit, es jedem innerlich verlegenen,  zitternden Mann zu erklären, der zuhören mochte. 
    Plötzlich blieb sie stehen und rief: „Wo sind wir denn eigentlich?" Und  sie brach in fröhliches Gelächter aus, als sie entdeckte, dass sie so  weit vom Ziel abgekommen waren. Sie kehrten um und schlugen nun den  richtigen Weg ein, und dabei ging die Vorlesung über Frauenrecht für  Fortgeschrittene weiter. Den armen Jimmie erfüllte Bestürzung -er war  hin und her gerissen. Er hatte sich für einen Radikalen gehalten, weil  er an die Expropriation der Expropriateure glaubte; aber über die  Pläne, mit den Konventionen zu brechen und die Familie aufzulösen -  über diese Pläne war er entgeistert. Und sie wurden ihm ins Ohr  gezwitschert von einem erstaunlichen, temperamentvollen jungen Ding,  dessen sanfte Hand auf seinem Arm lag und das vom schwachen Duft eines  berauschenden Parfüms umgeben war! Warum erzählte sie ihm dies alles?  Was wollte sie? Was wohl? Was? 
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  Sie kämen zu dem Haus, in dem sie wohnte. Es war schon spät am  Abend, und die Straße war leer. Jimmie hatte nun gute Nacht zu sagen,  aber aus irgendeinem Grund wusste er nicht, wie er das anstellen  sollte. Genossin Evelyn gab ihm die Hand und zog sie aus irgendeinem  Grund nicht wieder zurück. Natürlich wäre es unhöflich gewesen, wenn  Jimmie sie weggeschoben hätte. So hielt er sie fest, sah die  schattenhafte Gestalt vor sich an und fühlte seine Knie zittern.  „Genosse Higgins", sagte die unerschrockene mädchenhafte Stimme, „wir  wollen Freunde sein, nicht wahr?" Und natürlich antwortete Jimmie, das  wollten sie - für immer! Und die mädchenhafte Stimme erwiderte: „Ich  hin froh darüber!" Und dann flüsterte sie plötzlich: „Gute Nacht!", und  die schattenhafte Gestalt drehte sich um und huschte ins Haus. 
    Jimmie ging weiter, innerlich seltsam erregt. Dergleichen hatten die  Dichter jahrhundertelang zu schildern versucht, doch Jimmie Higgins  wusste nichts von den Dichtern, und so war es für ihn etwas völlig  Neues, und er musste ganz allein mit der Erschütterung fertig werden  und die damit verbundenen Probleme ganz allein lösen. Herumgewirbelt  und in die Luft geschleudert zu werden wie ein Junge, den man beim  Schulfest mit einer Zeltbahn prellt; eine Beute zu sein für Verwirrung  und Angst, für Hoffnung und Sehnsucht, für Verzweiflung und Auflehnung,  für köstliche Erregung, zornige Selbstverachtung und nagenden Zweifel!  Wie richtig sah es jener Dichter, der sich als erster das Symbol des  schalkhaften kleinen Gottes ausdachte, der den Arglosen beschleicht und  ihm mit scharfem, peinigendem Pfeil durch das Herz schießt! 
    Am schlimmsten war, dass Jimmie es Lizzie nicht erzählen konnte. Es war  das erste Mal in vier Jahren, dass er Sorgen hatte, von denen er Lizzie  nichts erzählen konnte! Er schämte sich sogar, als er nach Hause kam  und ins Bett kroch - als ob er Lizzie ein furchtbares Unrecht angetan  hätte, und doch wäre er einigermaßen ratlos gewesen, wenn er hätte  sagen sollen, worin dieses Unrecht bestand oder wie er es hätte  vermeiden können. Nicht er war es ja, der die junge Frauenrechtlerin so  entzückend und süß und frei und wunderbar erschaffen hatte. Nicht er  war es ja, der den kleinen Gott erschaffen und das Gift für die  Pfeilspitze zusammengebraut hatte. Nein, eine Macht, die stärker war  als er, hatte diese Situation vorbereitet, eine Macht, die grausam und  unerbittlich war, die Ränke schmiedete gegen den 
    häuslichen Frieden; vielleicht war sie vom Kapitalismus gedungen, der  nicht zulassen wollte, dass ein Propagandist der sozialen Gerechtigkeit  seine Arbeit voll inneren Friedens verrichtete. 
    Jimmie suchte zu verbergen, was vorging und natürlich -arme, naive  Seele - hatte er nie im Leben gelernt, etwas zu verbergen, und jetzt  war es zu spät, damit anzufangen. Beim nächsten Treffen der Ortsgruppe  sagten die Frauen, Sie seien enttäuscht vom Genossen Higgins; sie  hätten gedacht, er habe sich wirklich der guten Sache verschrieben,  aber nun sähen sie, dass er wie alle anderen Männer sei -durch ein  einziges Lächeln auf einem hübschen Gesicht habe er sich den Kopf  verdrehen lassen. Statt sich um seine Arbeit zu kümmern, laufe er  hinter dieser Person, dieser Baskerville, her, glupsche sie  sehnsuchtsvoll an wie ein Mondkalb und mache sich vor der ganzen  Versammlung zum Gespött. Und dabei warteten zu Hause eine Frau und drei  Kinder auf ihn und glaubten, er rackre sich ab für die gute Sache. Als  sich die Versammlung vertagte und „die Baskerville" das Anerbieten des  Genossen Gerrity annahm, sie nach Hause zu bringen, war der Genosse  Higgins so sichtbar unglücklich, dass er sich vor dem ganzen Saal  lächerlich machte. 
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  Im Interesse der öffentlichen Moral war es notwendig, dass die  Frauen der Ortsgruppe in dieser Sache etwas unternahmen. Zumindest  dachten das ein paar von ihnen, und völlig eigenmächtig und  unangemeldet machten sie Lizzie am nächsten Tag einen Besuch und rieten  ihr, häufiger zu den Versammlungen zu kommen und sich bezüglich der  neuen Ideen des fortgeschrittenen Frauenrechts auf dem laufenden zu  halten. Als Jimmie an diesem Abend nach Hause kam, fand er daher seine  Frau in Tränen aufgelöst, und es kam zu einer herzzerreißenden Szene.  Denn die arme Elizabeth Huszar, gesprochen Elisa Betuser, hatte nie  Gelegenheit gehabt, sich mit den neuen Ideen des fortgeschrittenen  Frauenrechts vertraut zu machen. Ihre Ansichten über „freie  Verbindungen" stammten aus einer ganz anderen Welt, deren Ideen  keineswegs neu waren, sondern im Gegenteil uralt, und „fortgeschritten"  waren sie nur auf dem Wege zur Verdammnis. Sie beurteilte Jimmies  Verhalten nach absolut alten Maßstäben, und sie war untröstlich,  überwältigt von Kummer und Scham. Er war wie alle Männer - und sie  hatte sich törichterweise eingebildet, er sei anders! Er verachtete sie  und behandelte sie schändlich - eine Frau, die er im Bordell aufgelesen  hatte. Der arme Jimmie war niedergeschmettert. Er war sich keiner  Missachtung Lizzies bewusst; er war nicht auf den Gedanken gekommen,  dass sie die Sache vielleicht so auffassen würde. Aber sie hatte sie so  aufgefasst, daran war kein Zweifel, und zudem mit einer Heftigkeit, die  ihn schreckte. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass so viele  Tränen aus den Augen einer einzigen Frau strömen könnten - und auch  nicht, dass seine gute, breitgesichtige, ehrliche Frau in ihrem Schmerz  so abgrundtief unglücklich sein könnte. „Oh, ich hab es ja gewusst, ich  hab es die ganze Zeit gewusst - dass es so kommen würde! Ich hätt dich  nun mal nich heiraten sollen - du weißt, ich hab dich gewarnt." 
    „Aber Lizzie!" wandte ihr Mann ein. „Du irrst  dich. Das hat damit überhaupt nichts zu tun!" 
    Sie fuhr wild auf ihn los, die Finger gespreizt, als wollte sie ihn  kratzen. „Willst du damit sagen, wenn du nicht eine von der Straße  geheiratet hättst, dass du dann auch hinter so einem Lockenkopf her  gewesen wärst? Wenn du eine ständige Frau gehabt hättest, wo du weißt,  sie hat ihre Rechte ..." 
    „Lizzie!" protestierte er bestürzt. „Nun hör doch  mal zu ..." 
    Aber sie war nicht aufzuhalten. „Alle haben gesagt, ich war schön dumm,  aber ich hab's doch getan, weil du geschworen hast, du wirst es mir nie  vorwerfen! Und dann hab ich die Kinder da gekriegt" - Lizzie schwenkte  ihren Arm zu den Kindern hinüber, als ob sie sie von der Erde  wegwischen wollte, auf die sie durch einen schweren Fehler geraten  waren. Jimmie zwei, der alt genug war, um zu merken, dass etwas Ernstes  vor sich ging, und dessen Instinkt entschieden dagegen gerichtet war,  von der Erde weggewischt zu werden, begann wild zu heulen; das steckte  die Kleinen 
    an - und alsbald brüllten alle drei zum Steinerweichen,  „Buh-huu-huu!" 
    Es war wahrlich das schreckliche Ende einer Romanze. Jimmie ergriff,  fast außer sich, die Hand seiner beleidigten Ehehälfte. „Das ist doch  alles Unsinn!" rief er. „Was haben die dir bloß erzählt! Es ist doch  gar nichts passiert, Lizzie! 
    Ich hab sie doch bloß einmal abends nach Hause gebracht!" 
    Aber Lizzie antwortete, einmal abends sei schon mehr als genug - sie  wisse das aus eigener, verhasster Erfahrung. „Und diese Lockenköpfigen,  die sich das Haar kräuseln, die kann ich. Was hat sie sich abends von  verheirateten Männern nach Haus bringen zu lassen? Und dann, worüber  sie redet ..." 
    „Sie meint es doch nicht böse, Lizzie - sie will nur den Arbeiterfrauen  helfen. Man nennt das Geburtenkontrolle -sie will den Frauen beibringen  ..." 
    „Wenn sie den Frauen was beibringen will, warum redet sie dann nich mit  den Frauen? Warum redet sie dann die ganze Zeit mit den Männern? So was  willst du mir weismachen, mir, mit dem, was ich hinter mir habe?" Und  Lizzie brach von neuem in einen Tränenstrom aus, schlimmer als zuvor. 
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  Jimmie fand, dass es mit der Romanze wie mit dem Martyrium war - es  war eine Menge Ärger damit verbunden, von dem die Romanzendichter  nichts erwähnten. Ihm war wirklich hundeelend zumute, denn er empfand  tiefe Zuneigung für die Mutter seiner Kinder, und er wollte Unter gar  keinen Umständen, dass sie seinetwegen Kummer hatte. Und außerdem hatte  sie recht, das musste er zugeben - ihre Schüsse saßen. „Wie wär dir  zumute, wenn du rauskriegtest, dass ich mich von irgend 'nem Mann nach  Haus bringen lasse?" Wenn es ihm so dargestellt wurde, sah er ein, dass  er sich dann allerdings recht mies gefühlt hätte. Eine Flut alter  Empfindungen regte sich wieder in ihm. Er ging in der Erinnerung mit  seinen krakeelenden Freunden zu dem verruchten Haus, wo er Elizabeth  Huszar, gesprochen Elisa Betuser, zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte 
    ihn mit auf ihr Zimmer genommen und war, statt in der üblichen Weise  gefügig zu sein, in Tränen ausgebrochen. Man hatte sie schlecht  behandelt, und sie war verzweifelt einsam und unglücklich. Jimmie hatte  gefragt, warum sie nicht aufhörte mit diesem Leben, und sie hatte  geantwortet, dass sie das mehr als einmal versucht hätte, es aber nicht  schaffte, genug zum Leben zu verdienen, und außerdem ließen die Bosse  sie, weil sie groß und hübsch wäre, sowieso nicht in Ruhe, was wäre  also der Unterschied, wenn man den Männern doch nicht entgehen könnte? 
    Sie hatten auf dem Bett gesessen und geredet, und Jimmie hatte ihr ein  bisschen von seinem Leben erzählt, und sie hatte ihm ein bisschen von  ihrem Leben erzählt - eine mitleiderregende, rührende Geschichte. Man  hatte sie als Kind mit nach Amerika genommen, ihr Vater war bei einem  Unfall ums Leben gekommen, und ihre Mutter hatte mit Reinemachen  mehrere Kinder ernährt. Lizzie war in einem Slumviertel im äußersten  Osten New Yorks aufgewachsen, und sie konnte sich an keine Zeit  erinnern, wo sie nicht sexuell ausgenutzt worden war; lüsterne kleine  Jungen hatten ihr Tricks beigebracht, und Männer hatten sie mit Bonbons  und Essen gekauft. Und doch hatte etwas in ihr um Anständigkeit  gerungen; aus eigenem Antrieb hatte sie versucht, zur Schule zu gehen,  trotz ihrer Lumpen, und als sie dann dreizehn war, hatte sie sich auf  eine Annonce als Kindermädchen gemeldet. Diese Geschichte hatte auf  Jimmie besonders Eindruck gemacht - es war wirklich eine  mitleiderregende Episode. 
    Sie war in einem „piekfeinen" Appartement mit einem Pförtner und einem  Fahrstuhl beschäftigt gewesen - in dem wundervollsten Haus, das Lizzie  jemals zu Gesicht bekommen hatte; es war gewesen, als ob man im Himmel  lebte, und sie hatte sich so sehr bemüht, zu tun, was man ihr auftrug,  und sich ihrer wunderschönen Herrin und des reizenden Babys würdig zu  erweisen. Aber sie war erst zwei Tage dagewesen, als die Herrin  Ungeziefer am Baby entdeckt hatte und zu Lizzie gekommen war und  unbedingt ihren Kopf hatte untersuchen wollen. Und natürlich hatte sie  etwas gefunden. „Das sind doch bloß Nissen!" hatte Lizzie gesagt; sie  hatte noch nie von jemand gehört, der keine Nissen im Haar hatte. Aber  die wunderschöne Dame hatte sie ein abscheuliches Geschöpf genannt und  ihr befohlen, sofort ihre Sachen zu packen und das Haus zu verlassen.  Und so hatte Lizzie warten müssen, bis sie Insassin eines Bordells  wurde, ehe sich jemand die Mühe machte, ihr beizubringen, wie man  Nissen aus dem Haar bekommt und wie man ein Bad nimmt und wie man sich  die Fingernägel reinigt und sonstige körperliche Sauberkeit erreicht.  Jimmie erinnerte sich wieder an das alles, und er fiel vor seiner Frau  auf die Knie, hielt mit aller Kraft ihre beiden Hände und schwor ihr,  dass er nichts Schlimmes getan habe. Er erzählte ihr genau, was er  Schlimmes getan hatte, und das war die beste Art, sie zu überzeugen,  dass er nichts Schlimmeres getan hatte. Er schwor ihr wieder und  wieder, dass er nie, nie mehr mit Amor spielen würde - er würde  sogleich zur Genossin Baskerville gehen und ihr sagen, dass „alles aus"  sei. 
    Da blickte Lizzie auf durch ihre Tränen. „Nein", sagte sie, „du  brauchst gar nicht zu ihr zu gehen!" „Was soll ich denn dann tun?" 
    „Lass sie einfach bloß in Ruhe - sag ihr gar nichts.  Sie wird schon selber merken, dass es aus ist." 
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  Aber wenn man schon eine tote Romanze hat, kann man sie nicht  einfach im Rinnstein verrotten lassen; man wird unwiderstehlich dazu  getrieben, sie ehrenvoll zu begraben. Trotz seiner feierlichen  Versprechen ertappte sich Jimmie dabei, dass er die ganze Zeit an  Genossin Baskerville dachte und daran, was er machen sollte, wenn er  ihr das nächste Mal begegnete - was für edelmütige, würdevolle Reden er  ihr halten würde. Er musste es einrichten, dass er mit ihr allein war;  denn natürlich konnte er so etwas nicht sagen, wenn die eifersüchtigen  alten Weibsen in der Ortsgruppe auf ihn aufpassten. Das Beste würde  sein, beschloss er, ihr offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen, ihr  von Lizzie zu erzählen und wie anständig und gut sie gewesen sei und  wie sehr er sich seiner Pflichten ihr gegenüber bewusst sei. Dann  würden in die reizenden Augen der Genossin Baskerville Tränen treten,  und sie würde ihm sagen, dass sie 
    seinen ausgeprägten Sinn für  eheliche Verantwortung ehre, Sie müssten entsagen; aber  selbstverständlich würden sie liebe und treue Freunde bleiben - immer  und ewig. Jimmie hielt in seiner Phantasie ihre Hände, als er diese  ergreifenden Worte sagte: Immer und ewig! Er wusste, einmal würde er  diese Hände wieder loslassen müssen, doch zögerte er und hatte sich  noch nicht ganz bis zum Punkt der Ausführung durchgerungen, als er auf  dem Heimweg von der Arbeit, während er die Jefferson Street  hinunterging - siehe da! -, vor sich eine schmucke, muntere kleine  Person erblickte, sorglos dahintrippelnd, mit einem feschen Hutpaar  dessen einer Seite eine Truthahnfeder steckte. Jimmie erkannte die  Gestalt schon von weitem, und als er sie näher kommen sah, tat sein  Herz einen Hupfer und klopfte gegen seine Kehle, so dass ihm all die  schönen Reden schwuppdiwupp aus dem Kopfe flogen. 
    Als sie ihn sah, erschien ein lebhaftes Begrüßungslächeln auf ihrem  Gesicht. Sie kam auf ihn zu, und ihre Hände umschlossen sich. „Ach!"  rief sie. „Welch eine angenehme Begegnung!" 
    Jimmie schluckte zweimal und begann dann: „Genossin Baskerville ...",  und dann schluckte er wieder und begann: „Genossin Baskerville ..." 
    Sie unterbrach ihn. „Ich bin nicht Genossin  Baskerville", erklärte sie. 
    Er verstand nicht, was diese unerwarteten Worte  bedeuten sollten. 
    „Wie?" fragte er. 
    „Haben Sie die Neuigkeit noch nicht gehört?" sagte sie und strahlte ihn  an. „Ich bin Genossin Mrs. Gerrity." Völlig verblüfft starrte er sie an. 
    „Ich bin es seit vierundzwanzig Stunden! Sie dürfen mit  gratulieren!" 
    Ganz langsam begann die Bedeutung der Worte in Jimmies  begriffsstutzigem Kopf zu dämmern. „Genossin Mrs. Gerrity!" wiederholte  er. „Aber - aber - ich dachte, Sie halten nichts von der Ehe?" 
    Da lächelte sie das bezauberndste Lächeln, ein Lächeln, das verziert  war mit zwei Reihen weißer Perlenzähne. „Verstehen Sie nicht, Genosse  Higgins? Keine Frau hält etwas von der Ehe - bis sie den richtigen Mann  trifft." 
    Das war allzu tiefsinnig. Jimmie staunte noch immer offenen Mundes.  „Aber eigentlich dachte ich ... dachte ich ..." Er stockte wieder; denn  in Wahrheit hatte er noch gar nicht genau gewusst, was er dachte, und  jedenfalls schien es sinnlos, es jetzt noch formulieren zu wollen. Aber  natürlich wusste sie es, ohne dass er es ihr sagte; sie wusste, was  sein bestürzter Blick und seine gestammelten Worte bedeuteten. Da sie  ein freundliches Menschenkind war, legte sie ihre Hand auf seinen Arm.  „Genosse Higgins", sagte sie, „halten Sie mich nicht für zu gemein!"  „Gemein?" rief er. „Aber nein! Weshalb? Wie ..." „Versuchen Sie sich  vorzustellen, Sie wären ein Mädchen, Genosse Higgins. Man kann doch  einem Mann keinen Heiratsantrag machen, nicht wahr?" „Natürlich  nicht... Das heißt..." 
    „Das heißt, nicht, wenn man will, dass er ihn annimmt! Man muss dafür  sorgen, dass er ihn macht. Und vielleicht ist er schüchtern und sagt  nichts, und Sie müssen ihm die Idee erst in den Kopf setzen. Oder  vielleicht ist er nicht sicher, ob er Sie haben will, und Sie müssen  ihm klarmachen, wie überaus begehrenswert Sie sind! Vielleicht müssen  Sie ihm einen Schreck einjagen und ihn glauben machen, dass Sie mit  jemand anders davonlaufen wollen! Begreifen Sie jetzt, was ein Mädchen  für Probleme hat?" Jimmie war noch immer völlig durcheinander, aber er  begriff genug, um stammeln zu können: „Ah, ja." Und Genossin  Baskerville - das heißt Genossin Mrs. Gerrity - überließ ihm wieder  ihre Hand. 
    „Genosse Higgins", sagte sie, „Sie sind ein lieber, sympathischer  Mensch, und Sie sind nicht zu böse auf mich, nein? Wir wollen doch  Freunde sein, nicht wahr, Genosse Higgins?" 
    Und Jimmie drückte die sanfte, warme Hand, blickte in die strahlenden  braunen Augen und hielt einen Teil der wundervollen Rede, die er sich  auf dem Nachhauseweg ausgedacht hatte. Er sagte: „Immer und ewig!"  | 
  
    
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