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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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7. Kapitel:  Jimmie Higgins spielt mit Amor

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Als Jimmie aus dem Gefängnis kam, war der Streik vorbei; man hatte ihn durch einen doppelbödigen Trick beendet, indem man die Löhne der Arbeiter heraufsetzte, ihre Führer dagegen hinter Gitter brachte. Jimmie meldete sich wieder an seinem alten Arbeitsplatz, und der Boss sagte zu ihm, er solle sich zum Teufel scheren; darauf machte sich Jimmie auf nach Hubbardtown und reihte sich ein in die lange Schlange von Männern, die vor dem Tor der Motorenfirma warteten. Jimmie wusste, dass es schwarze Listen gab; daher antwortete er, als er dran war, auf die üblichen Fragen, er hieße Joe Aronsky und hätte zuletzt in einem Maschinenwerk in Pittsburg gearbeitet; nach Hubbardtown wäre er gekommen, weil er von dem hohen Lohn und der guten Behandlung gehört hätte. Während er die Fragen beantwortete, bemerkte er, wie ein Mann, der in der Ecke saß, genau sein Gesicht musterte und wie der Boss sich umdrehte und in jene Richtung blickte. Der Mann schüttelte den Kopf, und der Boss sagte: „Nichts zu machen." Da begriff Jimmie, dass die Hubbard Engine Company Maßnahmen getroffen hatte, um ihr Werk von Agitatoren aus Leesville frei zu halten.
Einige Tage brachte er damit zu, es in anderen Betrieben seiner Heimatstadt zu versuchen, aber vergebens - er war erkannt. In der Brauerei war man langsamer als anderswo -für zwei Stunden stellten sie ihn ein. Dann hatten sie seine Vergangenheit entdeckt und feuerten ihn, und Jimmie „verkohlte" den Boss, indem er sagte, sie kämen zu spät - er hätte schon jedem Mann in der Halle ein sozialistisches Flugblatt gegeben!
In einem abgelegenen Stadtviertel gab es in der Jefferson Street einen Fahrradladen, der einem alten Deutschen namens Kumme gehörte. Einer der Genossen erzählte Jimmie, dass dieser einen Gehilfen brauchte, und Jimmie ging hin und bekam einen Job für zwei Dollar den Tag. Bei den gegenwärtigen Preisen war das eine schlechte Bezahlung, aber Jimmie gefiel der Arbeitsplatz, weil sein Boss beinah ein Sozialist war, ein Pazifist - hinsichtlich aller Länder außer Deutschland. Diese Klippe überwand er, indem er sagte, jede Nation hätte das Recht, sich zu verteidigen, und in diesem Krieg wäre Deutschland die Nation, die angegriffen worden sei. Ein gut Teil seiner Energie verwendete der alte Mann darauf, seinen Kunden das zu beweisen, und wenn es Kunden gab, denen das nicht passte, dann konnten sie woanders hingehen.
Die Kunden, die kamen, waren größtenteils Deutsche, und so blieb Jimmie weiterhin reichlich versorgt mit Argumenten gegen die Munitionsindustrie, die sie ein „Mordgewerbe" nannten, und für das Programm „Erst macht Amerika satt". Unter denen, die häufig kamen, war Jerry Coleman, der noch immer in Aktion und besser denn je mit Zehndollarscheinen versehen war. Er hatte sich inzwischen als Organisator für eine neue Propagandagesellschaft zu erkennen gegeben, die sich „Nationaler Friedensrat der Arbeiter" nannte. Da „Arbeiter" und „Frieden" die Begriffe waren, von denen Jimmie lebte, sah er keinen Grund, warum er diese Organisation nicht unterstützen sollte. Coleman versicherte Jimmie, dass er den Kaiser hasse, dass aber das deutsche „Volk" verteidigt werden müsse. So wurde Jimmie, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, eins der Werkzeuge, mit denen der Kaiser die soziale Unzufriedenheit in Amerika schürte.
Aber Jimmie war jetzt bei seiner Agitation vorsichtiger. Er hatte durch seine Gefängnisstrafe seine Familie so sehr in Not gebracht, dass er Lizzie einige Versprechungen hatte machen müssen. Ihre Sorge um die Kinder konnte sie nicht länger für sich behalten, und das ließ gewisse Spannungen zwischen ihnen entstehen und veranlasste Jimmie, über sein Geschick zu murren. Was hatte es für einen Zweck, einer Frau etwas beibringen zu wollen, die nicht über den eigenen Herd hinaussehen konnte? Wenn man ein Welterlöser sein wollte, wenn man im Spitzentanz auf den umwölkten Berggipfeln des Heldentums wandelte, zog sie einen herunter und kettete einen an die Alltagswelt, erstickte sie einem alle Glut und alles Feuer in der Seele! Die Erinnerungen an die „Filzbienen", an den dünnen Kaffee und die übel riechende fettige Suppe waren bei Jimmie etwas in den Hintergrund gerückt, und er durchlebte wieder die erhabene Stunde, als er vor Gericht gestanden hatte und für die Grundrechte des amerikanischen Bürgers eingetreten war. Er wollte diese kühne Tat in ihrem vollen Wert anerkannt wissen. Die arme, blinde, hausbackene Lizzie, die diese tieferen Bedürfnisse der Seele ihres Mannes nicht erfüllen konnte!
Jimmie war bis dahin in seinem Eheleben so häuslich gewesen, wie man es nur von einem proletarischen Propagandisten erwarten konnte. Er hatte sich nach einem Eigenheim gesehnt und diesen unterdrückten Wunsch offenbart, indem er eine große Packkiste und einige zerbrochene Schindeln besorgte und im Hof für Jimmie zwei ein Spielzeughaus baute. Er hatte sogar Zeit gefunden an seinen übermüdeten, überlasteten Sonntagen im Hochsommer - der Jahreszeit, wo in der Ortsgruppe am wenigsten zu tun war -, einen Garten anzulegen. Nun aber füllte natürlich der Krieg seine ganzen Gedanken aus, ließ ihn um die Zukunft der Menschheit bangen und verlockte ihn zu Martyrium und häuslichen Reibereien.

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In dieser kritischen Zeit in Jimmies Leben geschah es, dass in Leesville eine temperamentvolle junge Person mit Namen Evelyn Baskerville erschien. Evelyn war keine müde Küchensklavin - mit ihrem lockeren braunen Haar, ihren kecken kleinen Grübchen, ihrer hübschen Figur, ihrem flotten Hut mit der Truthahnfeder an der Seite. Evelyn war Stenographin und nannte sich eine fortschrittliche Frauenrechtlerin; sie stellte bei ihrem ersten Besuch die ganze Ortsgruppe auf den Kopf. Es war der „gesellige Abend", an dem alle Männer rauchten, und dieses „freie" junge Ding nahm von ihrem Begleiter eine Zigarette an und paffte munter drauflos. In großen Kulturzentren wie London oder Greenwich Village hätte das natürlich kein Aufsehen erregt; aber in Leesville war es das erste Mal, dass die Gleichberechtigung der Frauen dahingehend interpretiert wurde, dass die Frauen sich die Laster der Männer zulegen sollten. Dann hatte Evelyn aus ihrer Handtasche einige Flugblätter über Geburtenkontrolle zutage gefördert und. vorgeschlagen, dass die Ortsgruppe deren Verteilung übernehmen solle. Dieses Thema war neu in Leesville, und wenn die Mitglieder auch meinten, das Ganze wäre schon richtig, so empfanden sie es doch als peinlich, die Sache allzu gründlich in einer öffentlichen Versammlung erklären zu lassen. Evelyn war für einen „Geburtenstreik" als das sicherste Mittel, den Krieg zu beenden; sie war dafür, dass der „Worker" dieses Programm übernehmen sollte, und verbarg auch nicht ihre Verachtung für die Reaktionäre in der Bewegung, die noch immer so tun wollten, als ob die Babies vom Storch gebracht würden. Das heikle Thema wurde schließlich „zurückgestellt", und als sich die Versammlung vertagte und die Mitglieder nach Hause gingen, sprach alles über
Miss Baskerville - wobei die Männer in der Hauptsache mit den Männern und die Frauen mit den Frauen sprachen. Ziemlich bald wurde offenbar, dass die temperamentvolle, fesche junge Person sich Genossen Gerrity, den Organisator, angeln wollte. Da es sich bei Gerrity um einen akzeptablen Junggesellen handelte, war dagegen nichts einzuwenden. Aber ein wenig später kam dann der Verdacht auf, dass sie es auf Genossen Claudel, den belgischen Juwelier, abgesehen habe. Zweifellos hatte sie ein Recht darauf, ihre Wahl zwischen den beiden zu treffen; doch unter den Frauen waren manche der Meinung, dass sie zu lange brauchte, um sich zu entscheiden, und schließlich sagten bereits ein, zwei boshafte Damen, dass sie gar nicht die Absicht habe, sich zu entscheiden - sie wolle beide. Und dann schlug der Blitz in Jimmies Leben ein. Es war kurz nach seiner Haft, als ihm noch der Ruhm anhaftete, da trat nach der Versammlung Genossin Baskerville an ihn heran und zog ihn ins Gespräch. Wie fühlte man sich denn so als Knastologe? Als er sagte, großartig, erwiderte sie, er solle sich nur nicht zu viel einbilden - sie habe selber dreißig Tage abgesessen wegen Postenstehens in einem „Hemdblusenstreik"! Während sie ihn ansah, blitzten ihre hübschen braunen Augen vor Mutwillen, und ihre schelmischen kleinen Grübchen zeigten sich ausgiebig. Dem armen, schlichten Jimmie fuhr es bis in die Fußspitzen, denn er hatte noch nie bei einer so reizenden Person Beachtung gefunden, außer vielleicht, wenn er ihr eine Zeitung verkaufte oder, in seinen Landstreichertagen, sie um Geld für ein Sandwich anbettelte. So etwas gehörte zu dem Wunderbaren an der sozialistischen Bewegung - sie riss die Klassenschranken nieder und eröffnete einem aufregende Einblicke in die höheren Sphären von Kultiviertheit und Charme.
Genossin Baskerville fuhr fort, ihre Grübchen und ihren Witz vor Jimmie spielen zu lassen, obwohl Genosse Gerrity und Genosse Claudel und verschiedene andere Motten die Kerzenflamme umschwirrten und alle Frauen in der Ortsgruppe sie aus den Augenwinkeln beobachteten. Zu Jimmies maßloser Bestürzung fragte die temperamentvolle junge Göttin der Unabhängigkeit schließlich: „Möchten Sie mich nicht nach Hause bringen, Genosse Higgins?" Er stammelte ein „Ja", und schon gingen sie los, wobei die junge Göttin ihn mit Fragen über die Zustände im Gefängnis überschüttete und hinsichtlich der ökonomischen Aspekte der Kriminologie eine höchst überzeugende Belesenheit an den Tag legte - gleichzeitig schien sie völlig blind zu sein für das Umherschwirren der anderen Motten und für die Entrüstung der nicht emanzipierten Damen der Ortsgruppe Leesville.

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Sie gingen zusammen die Straße hinunter, und erst schüttelte sich Genossin Baskerville vor Entsetzen über die „Filzbienen", dann äußerte sie ihr Entzücken über die Bekehrung des „Glotzaugen-Mike" zum Sozialismus, und schließlich amüsierte sie sich über das Absingen der Internationale auf der Polizeiwache. Hatte sie in diesem unscheinbar wirkenden kleinen Maschinenarbeiter eine „Persönlichkeit" entdeckt? Jedenfalls überhäufte sie ihn mit Fragen über sein bisheriges Leben und seine Ansichten. Als er ihr von seiner hungrigen, verwahrlosten Kindheit erzählte, murmelte sie mitfühlende Worte, und der bezauberte Jimmie hatte den Eindruck, hier sei eine Frau, die instinktiv all die Sehnsüchte seines Herzens verstünde. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, und ihm war, als ob ein Engel ihn berührte - seltsame kleine Schauer überliefen ihn wie elektrische Ströme.
Ja, Genossin Baskerville konnte ihm seine Leiden nachfühlen, weil sie ebenfalls gelitten hatte. Sie hatte eine Stiefmutter gehabt und war sehr früh von zu Hause weggelaufen und hatte sich allein durchgeschlagen. Das war auch der Grund, weshalb sie sich so entschlossen für die Frauenemanzipation einsetzte - sie kannte aus bitterer Erfahrung die Versklavung ihres Geschlechts. Es gab viele Männer, die mit Worten an die Gleichberechtigung der Geschlechter glaubten, doch was Taten betraf, keine wirkliche Vorstellung davon hatten; und die Frauen selbst - nun, man konnte ja schon hier in der Ortsgruppe sehen, wie die engstirnigsten, spießbürgerlichsten Gedanken ihre Gemüter beherrschten. Jimmie wusste nicht, was für Gedanken Genossin Baskerville meinte, doch er wusste, dass ihre Stimme voller Musik und voll rascher Modulationen war, die ihm durch und durch gingen.
Er sollte sie ja eigentlich nach Hause begleiten, aber er hatte keine Ahnung, wo sie wohnte, und sie offenbar auch nicht, denn sie liefen und liefen und sprachen von all den großartigen neuen Ideen, die Männer und Frauen bewegten. Glaubte Genosse Higgins an die Ehe auf Probe? Genosse Higgins hatte noch nie von dieser verrückten Idee gehört, aber er lauschte und verbarg tapfer sein Unbehagen. Aber was würde mit den Kindern? Die eifrige Frauenrechtlerin antwortete, Kinder brauchten ja nicht zu sein. Unerwünschte Kinder seien ein Verbrechen! Sie habe vor, die Frauen der Arbeiterklasse zu versammeln und sie in der Technik dieser delikaten Angelegenheit zu unterweisen, und inzwischen war sie, in Ermangelung der Frauen, auch bereit, es jedem innerlich verlegenen, zitternden Mann zu erklären, der zuhören mochte.
Plötzlich blieb sie stehen und rief: „Wo sind wir denn eigentlich?" Und sie brach in fröhliches Gelächter aus, als sie entdeckte, dass sie so weit vom Ziel abgekommen waren. Sie kehrten um und schlugen nun den richtigen Weg ein, und dabei ging die Vorlesung über Frauenrecht für Fortgeschrittene weiter. Den armen Jimmie erfüllte Bestürzung -er war hin und her gerissen. Er hatte sich für einen Radikalen gehalten, weil er an die Expropriation der Expropriateure glaubte; aber über die Pläne, mit den Konventionen zu brechen und die Familie aufzulösen - über diese Pläne war er entgeistert. Und sie wurden ihm ins Ohr gezwitschert von einem erstaunlichen, temperamentvollen jungen Ding, dessen sanfte Hand auf seinem Arm lag und das vom schwachen Duft eines berauschenden Parfüms umgeben war! Warum erzählte sie ihm dies alles? Was wollte sie? Was wohl? Was?

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Sie kämen zu dem Haus, in dem sie wohnte. Es war schon spät am Abend, und die Straße war leer. Jimmie hatte nun gute Nacht zu sagen, aber aus irgendeinem Grund wusste er nicht, wie er das anstellen sollte. Genossin Evelyn gab ihm die Hand und zog sie aus irgendeinem Grund nicht wieder zurück. Natürlich wäre es unhöflich gewesen, wenn Jimmie sie weggeschoben hätte. So hielt er sie fest, sah die schattenhafte Gestalt vor sich an und fühlte seine Knie zittern. „Genosse Higgins", sagte die unerschrockene mädchenhafte Stimme, „wir wollen Freunde sein, nicht wahr?" Und natürlich antwortete Jimmie, das wollten sie - für immer! Und die mädchenhafte Stimme erwiderte: „Ich hin froh darüber!" Und dann flüsterte sie plötzlich: „Gute Nacht!", und die schattenhafte Gestalt drehte sich um und huschte ins Haus.
Jimmie ging weiter, innerlich seltsam erregt. Dergleichen hatten die Dichter jahrhundertelang zu schildern versucht, doch Jimmie Higgins wusste nichts von den Dichtern, und so war es für ihn etwas völlig Neues, und er musste ganz allein mit der Erschütterung fertig werden und die damit verbundenen Probleme ganz allein lösen. Herumgewirbelt und in die Luft geschleudert zu werden wie ein Junge, den man beim Schulfest mit einer Zeltbahn prellt; eine Beute zu sein für Verwirrung und Angst, für Hoffnung und Sehnsucht, für Verzweiflung und Auflehnung, für köstliche Erregung, zornige Selbstverachtung und nagenden Zweifel! Wie richtig sah es jener Dichter, der sich als erster das Symbol des schalkhaften kleinen Gottes ausdachte, der den Arglosen beschleicht und ihm mit scharfem, peinigendem Pfeil durch das Herz schießt!
Am schlimmsten war, dass Jimmie es Lizzie nicht erzählen konnte. Es war das erste Mal in vier Jahren, dass er Sorgen hatte, von denen er Lizzie nichts erzählen konnte! Er schämte sich sogar, als er nach Hause kam und ins Bett kroch - als ob er Lizzie ein furchtbares Unrecht angetan hätte, und doch wäre er einigermaßen ratlos gewesen, wenn er hätte sagen sollen, worin dieses Unrecht bestand oder wie er es hätte vermeiden können. Nicht er war es ja, der die junge Frauenrechtlerin so entzückend und süß und frei und wunderbar erschaffen hatte. Nicht er war es ja, der den kleinen Gott erschaffen und das Gift für die Pfeilspitze zusammengebraut hatte. Nein, eine Macht, die stärker war als er, hatte diese Situation vorbereitet, eine Macht, die grausam und unerbittlich war, die Ränke schmiedete gegen den
häuslichen Frieden; vielleicht war sie vom Kapitalismus gedungen, der nicht zulassen wollte, dass ein Propagandist der sozialen Gerechtigkeit seine Arbeit voll inneren Friedens verrichtete.
Jimmie suchte zu verbergen, was vorging und natürlich -arme, naive Seele - hatte er nie im Leben gelernt, etwas zu verbergen, und jetzt war es zu spät, damit anzufangen. Beim nächsten Treffen der Ortsgruppe sagten die Frauen, Sie seien enttäuscht vom Genossen Higgins; sie hätten gedacht, er habe sich wirklich der guten Sache verschrieben, aber nun sähen sie, dass er wie alle anderen Männer sei -durch ein einziges Lächeln auf einem hübschen Gesicht habe er sich den Kopf verdrehen lassen. Statt sich um seine Arbeit zu kümmern, laufe er hinter dieser Person, dieser Baskerville, her, glupsche sie sehnsuchtsvoll an wie ein Mondkalb und mache sich vor der ganzen Versammlung zum Gespött. Und dabei warteten zu Hause eine Frau und drei Kinder auf ihn und glaubten, er rackre sich ab für die gute Sache. Als sich die Versammlung vertagte und „die Baskerville" das Anerbieten des Genossen Gerrity annahm, sie nach Hause zu bringen, war der Genosse Higgins so sichtbar unglücklich, dass er sich vor dem ganzen Saal lächerlich machte.

5

Im Interesse der öffentlichen Moral war es notwendig, dass die Frauen der Ortsgruppe in dieser Sache etwas unternahmen. Zumindest dachten das ein paar von ihnen, und völlig eigenmächtig und unangemeldet machten sie Lizzie am nächsten Tag einen Besuch und rieten ihr, häufiger zu den Versammlungen zu kommen und sich bezüglich der neuen Ideen des fortgeschrittenen Frauenrechts auf dem laufenden zu halten. Als Jimmie an diesem Abend nach Hause kam, fand er daher seine Frau in Tränen aufgelöst, und es kam zu einer herzzerreißenden Szene. Denn die arme Elizabeth Huszar, gesprochen Elisa Betuser, hatte nie Gelegenheit gehabt, sich mit den neuen Ideen des fortgeschrittenen Frauenrechts vertraut zu machen. Ihre Ansichten über „freie Verbindungen" stammten aus einer ganz anderen Welt, deren Ideen keineswegs neu waren, sondern im Gegenteil uralt, und „fortgeschritten" waren sie nur auf dem Wege zur Verdammnis. Sie beurteilte Jimmies Verhalten nach absolut alten Maßstäben, und sie war untröstlich, überwältigt von Kummer und Scham. Er war wie alle Männer - und sie hatte sich törichterweise eingebildet, er sei anders! Er verachtete sie und behandelte sie schändlich - eine Frau, die er im Bordell aufgelesen hatte. Der arme Jimmie war niedergeschmettert. Er war sich keiner Missachtung Lizzies bewusst; er war nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie die Sache vielleicht so auffassen würde. Aber sie hatte sie so aufgefasst, daran war kein Zweifel, und zudem mit einer Heftigkeit, die ihn schreckte. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass so viele Tränen aus den Augen einer einzigen Frau strömen könnten - und auch nicht, dass seine gute, breitgesichtige, ehrliche Frau in ihrem Schmerz so abgrundtief unglücklich sein könnte. „Oh, ich hab es ja gewusst, ich hab es die ganze Zeit gewusst - dass es so kommen würde! Ich hätt dich nun mal nich heiraten sollen - du weißt, ich hab dich gewarnt."
„Aber Lizzie!" wandte ihr Mann ein. „Du irrst dich. Das hat damit überhaupt nichts zu tun!"
Sie fuhr wild auf ihn los, die Finger gespreizt, als wollte sie ihn kratzen. „Willst du damit sagen, wenn du nicht eine von der Straße geheiratet hättst, dass du dann auch hinter so einem Lockenkopf her gewesen wärst? Wenn du eine ständige Frau gehabt hättest, wo du weißt, sie hat ihre Rechte ..."
„Lizzie!" protestierte er bestürzt. „Nun hör doch mal zu ..."
Aber sie war nicht aufzuhalten. „Alle haben gesagt, ich war schön dumm, aber ich hab's doch getan, weil du geschworen hast, du wirst es mir nie vorwerfen! Und dann hab ich die Kinder da gekriegt" - Lizzie schwenkte ihren Arm zu den Kindern hinüber, als ob sie sie von der Erde wegwischen wollte, auf die sie durch einen schweren Fehler geraten waren. Jimmie zwei, der alt genug war, um zu merken, dass etwas Ernstes vor sich ging, und dessen Instinkt entschieden dagegen gerichtet war, von der Erde weggewischt zu werden, begann wild zu heulen; das steckte die Kleinen
an - und alsbald brüllten alle drei zum Steinerweichen, „Buh-huu-huu!"
Es war wahrlich das schreckliche Ende einer Romanze. Jimmie ergriff, fast außer sich, die Hand seiner beleidigten Ehehälfte. „Das ist doch alles Unsinn!" rief er. „Was haben die dir bloß erzählt! Es ist doch gar nichts passiert, Lizzie!
Ich hab sie doch bloß einmal abends nach Hause gebracht!"
Aber Lizzie antwortete, einmal abends sei schon mehr als genug - sie wisse das aus eigener, verhasster Erfahrung. „Und diese Lockenköpfigen, die sich das Haar kräuseln, die kann ich. Was hat sie sich abends von verheirateten Männern nach Haus bringen zu lassen? Und dann, worüber sie redet ..."
„Sie meint es doch nicht böse, Lizzie - sie will nur den Arbeiterfrauen helfen. Man nennt das Geburtenkontrolle -sie will den Frauen beibringen ..."
„Wenn sie den Frauen was beibringen will, warum redet sie dann nich mit den Frauen? Warum redet sie dann die ganze Zeit mit den Männern? So was willst du mir weismachen, mir, mit dem, was ich hinter mir habe?" Und Lizzie brach von neuem in einen Tränenstrom aus, schlimmer als zuvor.

6

Jimmie fand, dass es mit der Romanze wie mit dem Martyrium war - es war eine Menge Ärger damit verbunden, von dem die Romanzendichter nichts erwähnten. Ihm war wirklich hundeelend zumute, denn er empfand tiefe Zuneigung für die Mutter seiner Kinder, und er wollte Unter gar keinen Umständen, dass sie seinetwegen Kummer hatte. Und außerdem hatte sie recht, das musste er zugeben - ihre Schüsse saßen. „Wie wär dir zumute, wenn du rauskriegtest, dass ich mich von irgend 'nem Mann nach Haus bringen lasse?" Wenn es ihm so dargestellt wurde, sah er ein, dass er sich dann allerdings recht mies gefühlt hätte. Eine Flut alter Empfindungen regte sich wieder in ihm. Er ging in der Erinnerung mit seinen krakeelenden Freunden zu dem verruchten Haus, wo er Elizabeth Huszar, gesprochen Elisa Betuser, zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte
ihn mit auf ihr Zimmer genommen und war, statt in der üblichen Weise gefügig zu sein, in Tränen ausgebrochen. Man hatte sie schlecht behandelt, und sie war verzweifelt einsam und unglücklich. Jimmie hatte gefragt, warum sie nicht aufhörte mit diesem Leben, und sie hatte geantwortet, dass sie das mehr als einmal versucht hätte, es aber nicht schaffte, genug zum Leben zu verdienen, und außerdem ließen die Bosse sie, weil sie groß und hübsch wäre, sowieso nicht in Ruhe, was wäre also der Unterschied, wenn man den Männern doch nicht entgehen könnte?
Sie hatten auf dem Bett gesessen und geredet, und Jimmie hatte ihr ein bisschen von seinem Leben erzählt, und sie hatte ihm ein bisschen von ihrem Leben erzählt - eine mitleiderregende, rührende Geschichte. Man hatte sie als Kind mit nach Amerika genommen, ihr Vater war bei einem Unfall ums Leben gekommen, und ihre Mutter hatte mit Reinemachen mehrere Kinder ernährt. Lizzie war in einem Slumviertel im äußersten Osten New Yorks aufgewachsen, und sie konnte sich an keine Zeit erinnern, wo sie nicht sexuell ausgenutzt worden war; lüsterne kleine Jungen hatten ihr Tricks beigebracht, und Männer hatten sie mit Bonbons und Essen gekauft. Und doch hatte etwas in ihr um Anständigkeit gerungen; aus eigenem Antrieb hatte sie versucht, zur Schule zu gehen, trotz ihrer Lumpen, und als sie dann dreizehn war, hatte sie sich auf eine Annonce als Kindermädchen gemeldet. Diese Geschichte hatte auf Jimmie besonders Eindruck gemacht - es war wirklich eine mitleiderregende Episode.
Sie war in einem „piekfeinen" Appartement mit einem Pförtner und einem Fahrstuhl beschäftigt gewesen - in dem wundervollsten Haus, das Lizzie jemals zu Gesicht bekommen hatte; es war gewesen, als ob man im Himmel lebte, und sie hatte sich so sehr bemüht, zu tun, was man ihr auftrug, und sich ihrer wunderschönen Herrin und des reizenden Babys würdig zu erweisen. Aber sie war erst zwei Tage dagewesen, als die Herrin Ungeziefer am Baby entdeckt hatte und zu Lizzie gekommen war und unbedingt ihren Kopf hatte untersuchen wollen. Und natürlich hatte sie etwas gefunden. „Das sind doch bloß Nissen!" hatte Lizzie gesagt; sie hatte noch nie von jemand gehört, der keine Nissen im Haar hatte. Aber die wunderschöne Dame hatte sie ein abscheuliches Geschöpf genannt und ihr befohlen, sofort ihre Sachen zu packen und das Haus zu verlassen. Und so hatte Lizzie warten müssen, bis sie Insassin eines Bordells wurde, ehe sich jemand die Mühe machte, ihr beizubringen, wie man Nissen aus dem Haar bekommt und wie man ein Bad nimmt und wie man sich die Fingernägel reinigt und sonstige körperliche Sauberkeit erreicht. Jimmie erinnerte sich wieder an das alles, und er fiel vor seiner Frau auf die Knie, hielt mit aller Kraft ihre beiden Hände und schwor ihr, dass er nichts Schlimmes getan habe. Er erzählte ihr genau, was er Schlimmes getan hatte, und das war die beste Art, sie zu überzeugen, dass er nichts Schlimmeres getan hatte. Er schwor ihr wieder und wieder, dass er nie, nie mehr mit Amor spielen würde - er würde sogleich zur Genossin Baskerville gehen und ihr sagen, dass „alles aus" sei.
Da blickte Lizzie auf durch ihre Tränen. „Nein", sagte sie, „du brauchst gar nicht zu ihr zu gehen!" „Was soll ich denn dann tun?"
„Lass sie einfach bloß in Ruhe - sag ihr gar nichts. Sie wird schon selber merken, dass es aus ist."

7

Aber wenn man schon eine tote Romanze hat, kann man sie nicht einfach im Rinnstein verrotten lassen; man wird unwiderstehlich dazu getrieben, sie ehrenvoll zu begraben. Trotz seiner feierlichen Versprechen ertappte sich Jimmie dabei, dass er die ganze Zeit an Genossin Baskerville dachte und daran, was er machen sollte, wenn er ihr das nächste Mal begegnete - was für edelmütige, würdevolle Reden er ihr halten würde. Er musste es einrichten, dass er mit ihr allein war; denn natürlich konnte er so etwas nicht sagen, wenn die eifersüchtigen alten Weibsen in der Ortsgruppe auf ihn aufpassten. Das Beste würde sein, beschloss er, ihr offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen, ihr von Lizzie zu erzählen und wie anständig und gut sie gewesen sei und wie sehr er sich seiner Pflichten ihr gegenüber bewusst sei. Dann würden in die reizenden Augen der Genossin Baskerville Tränen treten, und sie würde ihm sagen, dass sie
seinen ausgeprägten Sinn für eheliche Verantwortung ehre, Sie müssten entsagen; aber selbstverständlich würden sie liebe und treue Freunde bleiben - immer und ewig. Jimmie hielt in seiner Phantasie ihre Hände, als er diese ergreifenden Worte sagte: Immer und ewig! Er wusste, einmal würde er diese Hände wieder loslassen müssen, doch zögerte er und hatte sich noch nicht ganz bis zum Punkt der Ausführung durchgerungen, als er auf dem Heimweg von der Arbeit, während er die Jefferson Street hinunterging - siehe da! -, vor sich eine schmucke, muntere kleine Person erblickte, sorglos dahintrippelnd, mit einem feschen Hutpaar dessen einer Seite eine Truthahnfeder steckte. Jimmie erkannte die Gestalt schon von weitem, und als er sie näher kommen sah, tat sein Herz einen Hupfer und klopfte gegen seine Kehle, so dass ihm all die schönen Reden schwuppdiwupp aus dem Kopfe flogen.
Als sie ihn sah, erschien ein lebhaftes Begrüßungslächeln auf ihrem Gesicht. Sie kam auf ihn zu, und ihre Hände umschlossen sich. „Ach!" rief sie. „Welch eine angenehme Begegnung!"
Jimmie schluckte zweimal und begann dann: „Genossin Baskerville ...", und dann schluckte er wieder und begann: „Genossin Baskerville ..."
Sie unterbrach ihn. „Ich bin nicht Genossin Baskerville", erklärte sie.
Er verstand nicht, was diese unerwarteten Worte bedeuten sollten.
„Wie?" fragte er.
„Haben Sie die Neuigkeit noch nicht gehört?" sagte sie und strahlte ihn an. „Ich bin Genossin Mrs. Gerrity." Völlig verblüfft starrte er sie an.
„Ich bin es seit vierundzwanzig Stunden! Sie dürfen mit gratulieren!"
Ganz langsam begann die Bedeutung der Worte in Jimmies begriffsstutzigem Kopf zu dämmern. „Genossin Mrs. Gerrity!" wiederholte er. „Aber - aber - ich dachte, Sie halten nichts von der Ehe?"
Da lächelte sie das bezauberndste Lächeln, ein Lächeln, das verziert war mit zwei Reihen weißer Perlenzähne. „Verstehen Sie nicht, Genosse Higgins? Keine Frau hält etwas von der Ehe - bis sie den richtigen Mann trifft."
Das war allzu tiefsinnig. Jimmie staunte noch immer offenen Mundes. „Aber eigentlich dachte ich ... dachte ich ..." Er stockte wieder; denn in Wahrheit hatte er noch gar nicht genau gewusst, was er dachte, und jedenfalls schien es sinnlos, es jetzt noch formulieren zu wollen. Aber natürlich wusste sie es, ohne dass er es ihr sagte; sie wusste, was sein bestürzter Blick und seine gestammelten Worte bedeuteten. Da sie ein freundliches Menschenkind war, legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „Genosse Higgins", sagte sie, „halten Sie mich nicht für zu gemein!" „Gemein?" rief er. „Aber nein! Weshalb? Wie ..." „Versuchen Sie sich vorzustellen, Sie wären ein Mädchen, Genosse Higgins. Man kann doch einem Mann keinen Heiratsantrag machen, nicht wahr?" „Natürlich nicht... Das heißt..."
„Das heißt, nicht, wenn man will, dass er ihn annimmt! Man muss dafür sorgen, dass er ihn macht. Und vielleicht ist er schüchtern und sagt nichts, und Sie müssen ihm die Idee erst in den Kopf setzen. Oder vielleicht ist er nicht sicher, ob er Sie haben will, und Sie müssen ihm klarmachen, wie überaus begehrenswert Sie sind! Vielleicht müssen Sie ihm einen Schreck einjagen und ihn glauben machen, dass Sie mit jemand anders davonlaufen wollen! Begreifen Sie jetzt, was ein Mädchen für Probleme hat?" Jimmie war noch immer völlig durcheinander, aber er begriff genug, um stammeln zu können: „Ah, ja." Und Genossin Baskerville - das heißt Genossin Mrs. Gerrity - überließ ihm wieder ihre Hand.
„Genosse Higgins", sagte sie, „Sie sind ein lieber, sympathischer Mensch, und Sie sind nicht zu böse auf mich, nein? Wir wollen doch Freunde sein, nicht wahr, Genosse Higgins?"
Und Jimmie drückte die sanfte, warme Hand, blickte in die strahlenden braunen Augen und hielt einen Teil der wundervollen Rede, die er sich auf dem Nachhauseweg ausgedacht hatte. Er sagte: „Immer und ewig!"

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