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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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2. Kapitel: Jimmie Higgins hört eine Rede

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In der Oper waren Genossin Mabel Smith, Genosse Meissner, der Sekretär der Ypsels, Genosse Goldstein, und die drei Mitglieder des Empfangskomitees versammelt: der hoffnungsvolle junge Rechtsanwalt Genosse Norwood, Genosse Dr. Service und Genosse Schultze von der Teppichwebergewerkschaft. Auf sie stürzte Jimmie atemlos zu. „Habt ihr schon das Neueste gehört?" „Was denn?"
„Hundert Sozialistenführer in Deutschland erschossen!" „Herrgott!" rief Genosse Schultze entsetzt, und alle drehten sich instinktiv nach ihm um, denn sie wussten, wie nahe ihm das gehen musste - er hatte einen Bruder in Leipzig, der ein sozialistischer Redakteur war und dem die Einberufung drohte.
„Wo hast du das her?" rief Schultze, und Jimmie erzählte, was er wusste. Und da brach der Tumult los! Die anderen wurden aus dem hinteren Teil des Saales herbeigerufen, kamen angerannt, und es gab Fragen und Ausrufe der Bestürzung. Auch hier war es so, als ob das Verbrechen an der Ortsgruppe Leesville begangen worden wäre - so vollständig eins fühlten sie sich mit den Opfern. In einer Stadt mit einer Brauerei gab es selbstverständlich eine Menge deutsche Arbeiter; aber auch wenn es die nicht gegeben hätte, wären die Gefühle doch die gleichen gewesen, denn die Sozialisten der Welt sind eins, die Seele der Bewegung ist ihr Internationalismus. Der Kandidat hatte, als er erfuhr, dass Jimmie Sozialist war, keine weiteren Empfehlungen erbeten oder erhalten, sondern war sofort sein Freund geworden, und genauso wäre es mit einem Genossen aus Deutschland, Japan oder dem innersten Afrika gewesen -er hätte keine zwei Worte Englisch zu können brauchen, das eine Wort „Sozialist" hätte genügt. Es dauerte lange, bis sie an etwas anderes denken konnten; doch schließlich wies jemand auf das Problem hin, das sich für die Ortsgruppe ergeben hatte - der Kandidat war nicht erschienen, Da rief Jimmie: „Aber er ist doch hier!" Und sofort drehten sich alle nach ihm um. „Wo denn? Seit wann denn? Wieso denn?" „Er ist heute Morgen angekommen."
„Und warum hast du uns das nicht mitgeteilt?" Das fragte Genosse Dr. Service vom Empfangskomitee, und zwar mit entschiedener Schärfe im Ton.
„Er wollte nicht, dass es jemand erfuhr", sagte Jimmie. „Wollte er, dass wir an die Bahn gehen und glauben, er hätte uns versetzt?"
Tatsächlich, es war schon nach der Zugankunft! Jimmie hatte sowohl den Zug wie auch das Komitee völlig vergessen, und nun hatte er nicht das Geschick, seinen Fehler zu vertuschen. Ihm fiel weiter nichts ein, als seine Geschichte zu erzählen - wie er am Nachmittag mit dem Kandidaten einen Spaziergang über Land gemacht hatte, wie sie schwimmen gegangen waren und wie sie auf der Tafel die Meldung gelesen hatten und wie der Kandidat reagiert hatte und was er gesagt hatte. Der gute Jimmie zweifelte nicht daran, dass seine Begeisterung von allen anderen geteilt wurde, und als bei der nächsten regulären Versammlung der Ortsgruppe der Genosse Dr. Service einen Vorschlag verriss, den Jimmie zu machen wagte, hatte der kleine Maschinenarbeiter nicht die geringste Ahnung, womit er sich den Rüffel verdient haben könnte. Es fehlte ihm die Weltklugheit; er begriff nicht, dass ein wohlhabender Arzt, der aus purer Menschenfreundlichkeit zur Bewegung stößt und zum unzweifelhaften Nachteil seiner gesellschaftlichen und geschäftlichen Interessen sein Ansehen und sein Vermögen dafür einsetzt, immerhin eine gewisse Rücksichtnahme von Seiten der Jimmie Higginse und sogar auch von Seiten eines Kandidaten verlangen darf.

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Man hätte meinen sollen, Jimmie wäre müde gewesen; aber dies war ein Tag, an dem der Körper keine Rechte hatte. Zunächst half Jimmie Genossin Mabel, auf jeden Platz ein Flugblatt mit einem Brief des Kongresskandidaten dieses Wahlbezirks zu legen; dann rannte er los zur Straßenbahn und fuhr für seinen letzten Nickel nach Hause, um die Verabredung mit Lizzie nicht zu verpassen. Mit ihr wollte er den Fehler nicht machen, der ihm mit dem Komitee passiert war, auf keinen Fall!
Lizzie hatte, wie sich zeigte, ihren Teil der Verabredung getreulich eingehalten. Die drei Kleinen steckten in farbenprächtigen Kattunkleidchen; den ganzen Morgen hatte sie damit zugebracht, diese Sachen zu waschen und zu bügeln - wie auch ihr eigenes Kleid, das halb rot, halb grün und von üppigen, fast krinolinenhaften Ausmaßen war. Lizzie war selber in den entsprechenden Dimensionen gebaut, mit breiten Hüften und vollem Busen, großen braunen Augen und schwerem dunklem Haar. Wenn sie das schmuddlige Hauskleid abgelegt hatte, war sie eine prächtige, kraftvolle Frau, und Jimmie war stolz darauf, dass er den richtigen Blick gehabt hatte. Es war schon eine Leistung, eine gute Frau zu finden und sie dort zu entdecken, wo Jimmie Lizzie gefunden hatte. Sie war fünf Jahre älter als er, stammte aus Böhmen und war schon als Kleinkind nach Amerika gekommen. Ihr ehemaliger Name - „Mädchenname" konnte man in Anbetracht der Umstände kaum sagen - war Elizabeth Huszar, was sie so aussprach, dass Jimmie lange Zeit angenommen hatte, sie hieße Elisa Betuser.
Jimmie schlang einen Happen Brot hinunter, trank eine Tasse metallisch schmeckenden Tee, verstaute dann die Kleinen im Kinderwagen und trabte die anderthalb Meilen bis zum Stadtzentrum. Dort angekommen, nahm Lizzie das größte der Kinder und Jimmie die anderen beiden, und derart beladen, stapften sie ins Opernhaus. An diesem heißen Abend war das so, als ob sie drei Öfen im Arm hielten, und falls die Kleinen aufwachten und zu weinen anfingen, hatten die Eltern die Wahl, ob sie lieber etwas verpassen oder die ärgerlichen Blicke sämtlicher Umsitzenden auf sich nehmen wollten. In Belgien unterhielten die Sozialisten in ihrem „Volkshaus" eine Kinderkrippe, doch die amerikanische Bewegung hatte diese nützliche Einrichtung noch nicht entdeckt.
Der Saal war bereits halb voll, und immer noch mehr Menschen strömten herein. Jimmie nahm mit seiner Familie Platz und ließ dann seine wachen Augen stolz umher-
schweifen. Die Rundschreiben des künftigen Kongressabgeordneten, die er auf die Plätze gelegt hatte, wurden nun von den dort Sitzenden gelesen; die Fahnen, die aufzuhängen ihm so viel Mühe gemacht hatte, prangten an den Wänden; eine Karaffe mit Eiswasser stand auf dem Rednerpult, und ein Blumenstrauß und ein Hammer für den Vorsitzenden lagen bereit; die Stühle hinten auf der Tribüne für den Liederkranz waren ordentlich ausgerichtet und die meisten schon besetzt von stämmigen deutschen Gestalten mit rosigen deutschen Gesichtern. Bei jeder Einzelheit dieser Arrangements hatte Jimmie mit Hand angelegt. Besitzerstolz auf diese große summende Menschenmenge erfüllte ihn und auch Stolz darauf, dass sie ihm Dank schuldete. Sie hatten natürlich keine Ahnung, die Kindsköpfe, sie dachten, eine solche Versammlung machte sich von selber! Sie zahlten ihre zehn Cent - fünfundzwanzig Cent für einen reservierten Platz - und bildeten sich ein, dass damit alle Unkosten gedeckt waren, dass dabei vielleicht sogar noch einer was abstaubte! Sie murrten und fragten sich, warum die Sozialisten immer Eintrittsgeld für ihre Versammlungen haben wollten - warum sie nicht die Leute umsonst einließen, wie das die Demokraten und die Republikaner taten. Sie besuchten Demokratische und Republikanische Versammlungen und hatten Freude an der Blaskapelle und an dem Feuerwerk, sowohl dem pyrotechnischen wie dem rhetorischen - und ließen sich nicht träumen, dass sie in eine Falle tappten, die ihre Ausbeuter bezahlten! Na, das würden sie ja nun heute Abend erfahren! Jimmie dachte an den Kandidaten und wie er wohl bei diesem oder jenem ankommen würde. Denn Jimmie kannte Dutzende von denen, die Eintrittskarten genommen hatten, und suchte den einen oder anderen in der Menge mit den Augen und nickte ihm hinter seiner Babybarrikade glücklich zu. Als er sich dann den Hals ausrenkte, um einen Blick nach hinten zu werfen, fuhr er plötzlich zusammen. Den Mittelgang herunter kam Ashton Chalmers, Präsident der First National Bank von Leesville, und mit ihm - war es denn die Möglichkeit! - der alte Granitch, Inhaber der riesigen Empire Machine Shops, in denen Jimmie arbeitete! Der kleine Maschinenarbeiter fühlte, wie er vor Aufregung zitterte, als diese beiden hochgewachsenen Gestalten den
Gang herunter an ihm vorbeischritten. Er stieß Lizzie mit dem Ellbogen an und flüsterte ihr die Sensation ins Ohr, und ringsum summte es von Geflüster - denn natürlich waren diese beiden mächtigen Männer, die Häupter der „unsichtbaren Regierung" von Leesville, allgemein bekannt. Sie waren gekommen, um zu erfahren, was ihre Untertanen dachten! Nun, das konnten sie haben!

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Der große Saal war voll; in den Gängen entstand bereits Gedränge, und schon schloss die Polizei die Türen -etwas, was Jimmie als Bestandteil der allumfassenden kapitalistischen Verschwörung ansah. Das Publikum wurde ungeduldig; bis schließlich der Vorsitzende die Bühne betrat, gefolgt von mehreren wichtigen Persönlichkeiten, die vorn an der Rampe Platz nahmen. Die Sänger standen auf, der Dirigent hob den Taktstock, und schon erklang die Marseillaise: ein französisches Revolutionslied, gesungen von einem deutschen Verein in englischer Sprache - wenn das nicht Internationalismus war! Sich des Ernstes dieser Weltkrise bewusst, sangen sie, als ob sie hofften, dass man sie bis nach Europa hörte. Dann erhob sich der Vorsitzende - Genosse Dr. Service. Er war ein Bild von einem Mann, groß, stattlich, mit grauem Schnurrbart und einem auf Spitze gestutzten Kinnbart; seine stolzgeschwellte Brust bedeckten sauberes weißes Leinen und enganliegendes Tuch; er gab einen äußerst imposanten Vorsitzenden ab, der der Bewegung Ehre machte. Er räusperte sich und verkündete, sie seien an diesem Abend zusammengekommen, um einen der größten Redner Amerikas zu hören, und er, der Vorsitzende, werde daher keine Rede halten, worauf er sich ans Werk machte und eine Rede hielt. Er sprach davon, was für eine ernste Stunde dies sei und dass der Redner ihnen die Bedeutung dieser Stunde erklären würde, und nahm darauf prompt das meiste von dem vorweg, was der Redner sagen würde. Es war dies eine Schwäche des Genossen Dr. Service, doch hatte man Hemmungen, ihn darauf aufmerksam zu machen wegen seines seriösen schwarzen Anzugs und seiner imposanten Erscheinung und weil er das Geld für die Saalmiete vorgeschossen hatte.
Schließlich und endlich machte er dann aber doch wieder dem Liederkranz Platz, und es kam ein Quartett und sang ein deutsches Lied und dann noch eine Zugabe. Danach war die Reihe an Genossen Gerrity, dem rührigen jungen Versicherungsagenten, der in der Ortsgruppe der Organisator war und die Aufgabe hatte, eine „Kollekterede" zu halten. Er hatte eine humorvolle Art, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. „Hier bin ich schon wieder!" begann er, und alles lächelte, denn man kannte seine Masche. Während er seinen neuesten Witz erzählte, lud Jimmie das jüngste Baby auf Lizzies Arm ab, legte das andere Kleine auf den Sitz, mit dem Kopf gegen ihr Knie, und wand sich heraus auf den Gang, den Hut in der Hand und bereit fürs Geschäftliche; sobald der Organisator schwieg und der Liederkranz wieder weitermachte, ging Jimmie ans Münzeneinsammeln. Sein Revier war das Parkett vorn mit den reservierten Plätzen, wo die beiden mächtigen Magnaten saßen. Jimmie wurden die Knie weich, aber er tat seine Pflicht und fühlte sich geschmeichelt, als er sah, dass jeder der beiden eine Münze in den Hut warf, die doch dazu verwendet werden würde, ihre Macht in Leesville zu stürzen!

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Die Hüte wurden zur Theaterkasse gebracht und ausgeschüttet, und die Spendensammler und die Liederkranzsänger begaben sich wieder auf ihre Plätze. Eine erwartungsvolle Stille trat ein - und dann endlich kam lang ausschreitend der Kandidat auf die Bühne heraus. Ein Sturm brach los! Die Menschen jubelten und klatschten und brüllten. Er nahm bescheiden Platz; doch als das Getöse andauerte, durfte er es mit gutem Recht auf sich beziehen, und er stand auf und verbeugte sich; als es weiter andauerte, verbeugte er sich noch einmal und noch einmal. Es hatte in der Absicht des Genossen Dr. Service gelegen, vorzutreten und zu sagen, dass es natürlich unnötig sei, den Redner des Abends vorzustellen; doch als ob das Publikum geahnt hätte, was der ehrenwerte Doktor im Schilde führte, hörte
es nicht auf zu applaudieren, bis der Kandidat selbst vortrat, die Hand hob und mit seiner Rede begann. Er hielt sich nicht mit rhetorischen Präliminarien auf. Dies, sagte er - und seine Stimme zitterte vor Erregung -, sei die ernsteste Stunde, die die Menschen auf Erden je erlebt hätten. An diesem Tage habe er an der Anschlagtafel ihrer Lokalzeitung eine Meldung gelesen, die ihn mehr bewegt habe als alles zuvor im Leben, über der er fast den Mut verloren habe, sich auf ein Podium zu stellen und das Won an ein Publikum zu richten. Vielleicht hatten sie jene Nachricht noch gar nicht gehört. Er teilte sie ihnen mit, und ein Schrei der Entrüstung entrang sich den Zuhörern.
Ja, sie hätten allen Grund, sich zu empören, sagte der Redner; nirgends auf all den blutigen Seiten im Buch der Geschichte lasse sich ein Verbrechen finden, das so gemein sei wie dieses! Die Herren Europas hätten den Verstand verloren in ihrer Gier nach Macht; sie hätten die Rache da Menschheit auf ihre gekrönten und geadelten Häupter geladen. Hier an diesem Abend sage er ihnen - und die raue, heisere Stimme des Redners schwoll an zu einem Zornesschrei -, sage er ihnen, dass diese Herren mit der Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls für die heldenhaften Märtyrer ihrem eigenen System das Todesurteil gesprochen, dass sie dem Bau der kapitalistischen Gesellschaft die Grundsteine entzogen hätten! Die Stimme des Redners schien die Zuhörer von den Plätzen zu reißen, und die letzten Worte des Satzes gingen unter in einem Beifallsorkan.
Als wieder Ruhe herrschte, sprach der Mann weiter. Er zeigte ein merkwürdiges Gebaren auf der Tribüne. Seine schlaksige Gestalt stand keinen Augenblick still. Er rannte von einem Ende der Bühne zum anderen; er duckte sich und beugte sich vor, als ob er unter die Zuhörer springen wollte; ein langer, magerer Finger wurde vor ihren Gesichtern geschüttelt oder auf sie gerichtet, als ob er ihnen seine Worte in die Herzen treiben wollte. Seine Rede war ein Sturzbach von scharfen Pointen, beißender Ironie, Schmähungen. Er war bitter; wenn man nichts über den Mann und seine Sache wusste, fühlte man sich abgestoßen und angewidert. Man musste wissen, wie sein Leben verlaufen war - dass es ein unaufhörlicher Kampf gegen die Unterdrückung gewesen war; seine sozialistische Erziehung hatte er im Gefängnis erhalten, in das man ihn gesperrt hatte, weil er die Lohnsklaven eines mächtigen Unternehmens hatte organisieren wollen. Sein Zorn war der Zorn eines weichherzigen Dichters, eines Freundes der Kinder und der Natur, der angesichts böswillig zugefügter Qualen zum Äußersten getrieben wird. Und wenn er einem je als Radikaler erschienen war, zu fanatisch, als dass sich dafür eine Entschuldigung hätte finden lassen, hier an diesem Abend bekam er seine Rechtfertigung, hier an diesem Abend sah man ihn als Propheten. Denn nun hatte die Herrenklasse sich die Maske vom Gesicht gerissen und der ganzen Welt enthüllt, wo sie moralisch stand! Endlich sahen die Menschen ihre Herrscher, wie sie wirklich waren! Sie haben die Menschheit in einen Abgrund des Wahnsinns gestürzt. „Sie nennen es Krieg", rief der Redner, „aber ich nenne es Mord." Und dann schilderte er ihnen, was zu dieser Stunde in Europa geschah - führte ihnen den entsetzlichen Alptraum vor Augen, zeigte ihnen, wie Häuser in die Luft gesprengt, Städte den Flammen preisgegeben, Menschenleiber von Kugeln oder Bombensplittern zerrissen wurden. Er schilderte, wie einem Mann ein Bajonett in den Bauch gestoßen wurde, ließ sie die unmenschliche Tat miterleben und die schaurige Niedertracht mitempfinden. Männer, Frauen und Kinder saßen da wie gebannt, und diesmal konnte niemand laut sagen oder auch nur denken, dass die Bilder eines sozialistischen Agitators übertrieben seien - nein, nicht einmal Ashton Chalmers, Präsident der First National Bank von Leesville, oder der alte Abel Granitch, Inhaber der Empire Machine Shops!

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Und was war die Ursache dieser schwärzesten aller Katastrophen? Der Redner bewies, dass das entscheidende Motiv nicht Rassenhass, sondern kommerzielle Habgier war. Die Quelle des Krieges war der Weltkapitalismus, der nach Märkten schrie, da er seine Überproduktion loswerden musste, um seine Lohnsklavenhorden zu Hause bei Beschäftigung zu halten. Er untersuchte die verschiedenen Faktoren; und jetzt, da der Schatten des europäischen Unwetters über ihnen stand - jetzt endlich hörten die Männer und Frauen zu, jetzt erkannten sie, dass die Sache auch sie anging. Er warnte sie - sie sollten nicht glauben, dass sie vor den Hufen dieses Kriegsungeheuers sicher seien, nur weil sie dreitausend Meilen entfernt waren! Der Kapitalismus war ein Weltphänomen, und all die Kräfte des Schmarotzertums und der Ausbeutung, die Europa in diese Tragödie getrieben hatten, waren auch hier in Amerika am Werk. Die profitgierigen Geldleute würden sich beeilen, aus dem Zusammenbruch jenseits des Ozeans ihren Vorteil zu ziehen; Missgunst und Streit würden herrschen - die Zuhörer sollten ein für allemal begreifen: Falls es dem Weltkapitalismus nicht gelänge, diesen Krieg zu einem Weltkrieg zu machen, dann nur, weil die Arbeiter Amerikas die Warnung beherzigt und ihre Vorbereitungen getroffen hätten, um die Verschwörung zu vereiteln.
Deshalb sei er gekommen, dies sei der Kern seiner Botschaft. Viele von denen, die ihm zuhörten, seien Flüchtlinge aus der Alten Welt, die vor der Unterdrückung und Versklavung dort geflohen seien. An sie richte er als einer, dessen Herz durch mehr Leid zerrissen werde, als er ertragen könne, jetzt die Aufforderung: Sorgt dafür, dass zumindest ein Stück des schönen Erdengartens vor den Dämonen der Zerstörung verschont bleibt! Sorgt dafür, dass die Arbeiter die Warnung früh genug beherzigen; sorgt dafür, dass sie sich organisieren und ihren eigenen Apparat für Information und Propaganda aufbauen - so dass es, wenn die Krise naht, wenn die Geldleute Amerikas die Kriegstrommel rühren, nicht die Zerstörung und die Verwüstung gibt, die diese Herren haben wollen, sondern die Freude und die Freiheit eines Gemeinwesens auf genossenschaftlicher Grundlage.
„Wie viele Jahre schon haben wir Sozialisten euch gewarnt!" rief er. „Aber ihr habt uns nicht getraut, ihr habt geglaubt, was euch eure Ausbeuter erzählt haben! Und jetzt, in dieser Stunde der Krise, blickt ihr nach Europa und entdeckt, wer die wahren Freunde der Menschheit, der Kultur sind. Welche Stimme kommt übers Meer im Protest gegen den Krieg? Die Stimme des Sozialismus, und zwar einzig
die Stimme des Sozialismus. Und heute Abend hört ihr sie auch in diesem Saal! Ihr Männer und Frauen Amerikas und ihr Ausgestoßenen aus allen Teilen der Welt, legt mit mir dieses Gelöbnis ab - legt es jetzt ab, ehe es zu spät ist, und haltet euch daran, wenn die Stunde der Krise naht! Gelobt beim Blute unserer gemarterten Helden, jener ermordeten
deutschen Sozialisten - gelobt, dass, was auch immer kommen möge und wann und wie es kommen möge, keine
Macht auf Erden oder in der Hölle euch in diesen Bruderkrieg hineinziehen soll! Fasst diesen Beschluss, sendet diese Botschaft an alle Nationen der Erde - dass die Menschen aller Nationen und aller Rassen eure Brüder sind und dass ihr niemals bereit sein werdet, ihr Blut zu vergießen. Falls die Geldleute und Ausbeuter Krieg haben wollen, sollen sie ihn haben, aber sie sollen ihn unter sich austragen! Sollen sie die Bomben und Granaten, die sie fabriziert haben, nehmen und damit aufeinander losgehen! Sollen sie ihre eigene Klasse in die Luft sprengen - aber sie sollen nur ja nicht
versuchen, die Werktätigen in ihre Streitereien hineinzuziehen!"
Immer wieder brach das Publikum als Antwort auf solche Mahnrufe in Beifall aus. Männer hoben in feierlichem Schwur die Hände, und die Sozialisten unter ihnen gingen aus der Versammlung nach Hause mit einem neuen Ernst auf dem Gesicht, einer neuen Hingabe im Herzen. Sie hatten ein Gelöbnis abgelegt und würden es halten - selbst wenn sie deswegen das Schicksal ihrer heldenhaften deutschen Genossen teilen müssten!
Und dann schlugen sie am nächsten Morgen die Zeitung auf, suchten gespannt nach weiteren Einzelheiten über das Schicksal der heldenhaften deutschen Genossen und fanden keine. Tag für Tag, morgens und abends, suchten sie nach weiteren Einzelheiten und fanden keine. Im Gegenteil, zu ihrer großen Verblüffung erfuhren sie, dass die Führer der deutschen Sozialdemokratie für die Kriegskredite gestimmt hatten und dass die Mitglieder der Bewegung auf den Straßen von Belgien und Frankreich den Parademarsch klopften! Sie konnten es einfach nicht fassen; selbst jetzt ist ihnen noch nicht klar, dass die Meldung, die sie an jenem schicksalhaften Sonntagnachmittag so erregt hatte, nur ein gerissener Schwindel war, ausgestreut von den deutschen
Kriegsherren, in der Hoffnung, die Sozialisten in Belgien, Frankreich und England zur Revolte zu veranlassen, um Deutschland auf diese Weise den Sieg zu verschaffen!

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