12. Kapitel: Jimmie Higgins begegnet einem Patrioten
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  Das Land war anscheinend versessen auf den Krieg, und Jimmie Higgins  war versessen auf ein Märtyrerschicksal. Wenn der große Irrsinn  wirklich von Amerika Besitz ergreifen sollte, dann jedenfalls nicht,  ohne dass er sein Möglichstes getan hatte, um es zu verhindern. Er  würde sich dem Streitwagen in den Weg stellen, er würde sich unter die  Hufe der Kavallerie werfen und noch mit seiner Leiche die Straße  versperren. Für welches tatkräftige Programm es nur ein Hindernis gab -  oder genauer gesagt vier Hindernisse, ein großes und drei kleine, wobei  das große Elisa Betuser war.  
    Die arme Lizzie hatte natürlich  keine reale Vorstellung von den Weltmächten, gegen die ihr Mann stritt;  für Lizzie bestand das Leben aus drei Babies, die zu füttern und zu  beschützen ihre Pflicht war, und einem Ehemann, der ihr Werkzeug war,  diese Pflicht zu erfüllen. Die Welt außer- 
    halb dieser Familie war für sie ein nebelhafter, schattenhafter Ort  voll nebelhafter, schattenhafter Schrecken. Irgendwo im Himmel droben  gab es eine Heilige Jungfrau, die helfen würde, wenn man sie in  gehöriger Weise anrief, aber Lizzie wurde die Möglichkeit, diese  Jungfrau anzurufen, durch den Umstand erschwert, dass ihr Ehemann die  Heilige verachtete und imstande war, beleidigende Zweifel an ihrer  Tugend zu äußern. 
    Jetzt waren die schattenhaften Schrecken der großen Welt draußen nach  eigenen Gesetzen in Bewegung geraten, und da hatte es sich ihr armer  Wicht von einem Ehemann in den Kopf gesetzt, ihnen in den Weg zu  treten. Er war seine Arbeit losgeworden, schon das vierte oder fünfte  Mal, seit Lizzie ihn kannte, und er war in unmittelbarer Gefahr, ins  Gefängnis zu wandern oder geteert und gefedert zu werden. Je mehr der  Streit sich erhitzte und die Gefahr wuchs, desto mehr geriet Lizzie in  einen Zustand, der die Diagnose „chronische Bereitschaft zur Hysterie"  verdient hätte. Ihre Augen waren rot von heimlichem Weinen, und beim  geringsten Anlass brach sie in Ströme von Tränen aus und warf sich  ihrem Ehemann in die Arme. Dies setzte Jimmie zwei in Gang und die  Babies, die sich stets nach ihm richteten. Und Jimmie eins stand  verwirrt und hilflos da. Hier zeigte sich eine neue Seite des  Heldenlebens, von der nichts in den Büchern stand. Er grübelte - ob es  wohl in der Geschichte schon mal einen verheirateten Märtyrer gegeben  hatte? Wenn ja, was hatte der Märtyrer dann mit seiner Familie  angefangen? 
    Jimmie bemühte sich, dies seiner unglücklichen Ehefrau zu erklären. Es  gehe hier darum, hundert Millionen Menschen vor den Gräueln des Krieges  zu bewahren; was zähle im Vergleich dazu ein einzelner Mann? Aber  leider zog dieses Argument überhaupt nicht, denn die schlichte Wahrheit  war, dass für Lizzie dieser eine Mann mehr zählte als die anderen  neunundneunzig Millionen  neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig zusammen. Und  überhaupt, was konnte dieser eine Mann schon ausrichten! Ein einzelner,  armer, unbedeutender, hilfloser Arbeiter ohne Job ... 
    „Aber es ist doch die Organisation!" rief er. „Es sind wir alle  zusammen - es ist die Partei! Wir haben versprochen zusammenzuhalten,  und darum müssen wir das auch tun! 
    Wenn ich aussteige, bin ich ein Feigling, ein Verräter!  Wir 
    Wissen die Arbeiter aufklären ...!" 
    „Aber das könnt ihr nicht!" rief Lizzie. 
    „Aber wir tun es ja schon! Komm mit und überzeuge 
    dich!" 
    „Und was können die Arbeiter tun?" Was natürlich Jimmie zu einer  Propagandarede anregte. Was die Arbeiter tun konnten? Man fragte  besser, was sie nicht tun konnten! Wie konnte irgendein Krieg  ausgetragen werden ohne die Arbeiter? Wenn sie nur zusammenstehen  würden, wenn sie sich erheben würden gegen ihre kapitalistischen  Unterdrücker... 
    „Aber das tun sie ja doch nicht!" schluchzte die Frau. „Sie sind dir zu  überhaupt nichts nütze! Du gehst hin und wirst auf die Straße gesetzt -  oder man schlägt dir das Gesicht kaputt wie dem armen Bill Murray ..."  „Und ist das vielleicht schlimmer als in den Krieg ziehen?" 
    „Du musst ja nicht in den Krieg!" 
    „Wer sagt das? Ich muss mit, wenn das Land in den Krieg zieht. Die  holen mich ab und zwingen mich! Wenn ich nicht will, dann erschießen  sie mich! Machen sie das etwa nicht schon so in England und in  Frankreich und in Russland und in all diesen Ländern?" 
    „Aber werden sie das hier denn auch so machen?"  rief Lizzie fassungslos. 
    „Aber sicher! Genau das haben sie vor - das ist es ja, was wir nicht  zulassen wollen und wogegen wir kämpfen! Du weißt nicht, was hier im  Lande vor sich geht - hör mal zu!" 
    Und Jimmie holte die letzte Nummer des „Worker" hervor, in der  Kongressreden mit der Forderung nach allgemeiner Wehrpflicht zitiert  waren und erklärt wurde, eine derartige Maßnahme sei ein wesentlicher  Schritt zum Kriege. „Siehst du nicht, auf was sie aus sind? Und wenn  wir das verhindern wollen, müssen wir jetzt handeln, ehe es zu spät  ist. Kann ich nicht ebenso gut hier in Leesville in den Knast gehen wie  mich per Schiff nach Europa schaffen lassen, damit ich erschossen werde  - oder vielleicht schon unterwegs von einem U-Boot versenkt?" 
    Und so trat ein neuer Schrecken in Lizzies Leben - der ihr künftig  manche Nacht den Schlaf raubte, der zum ersten Mal in ihr Mutterherz  den Gedanken eingrub, dass der Weltkrieg sie doch etwas angehen könnte.  „Was würde dann aber aus den Kindern werden?" jammerte sie, und Jimmie  antwortete: Wer kümmerte sich schon darum, was aus den Kindern der  Arbeiterklasse wurde, unter diesem teuflischen kapitalistischen System? 
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  So hatte Jimmie für eine Weile seinen Willen - er ging nach  Leesville und half Literatur verteilen und hielt die Lampe bei den  Straßenversammlungen, wo manche Leute sie auspfiffen und andere sie in  Schutz nahmen und die Polizei einschreiten musste, um einen Aufruhr zu  verhindern. Eben zu dieser Zeit versuchte eine militante Mehrheit im  Senat eine Kriegserklärung gegen Deutschland durchzupeitschen, und eine  Handvoll Pazifisten blockierte in den letzten Stunden der  Sitzungsperiode den Weg, was eine mehrwöchige Verzögerung zur Folge  hatte. Wie man diese Aktion ansah, hing ganz vom eigenen Standpunkt ab.  Der Präsident brandmarkte die Pazifisten als „unbotmäßige Männer", und  die Zeitungen der Wall Street hätten sie am liebsten lynchen lassen;  wogegen Jimmie und seine Genossen in der Ortsgruppe sie als Helden und  Freunde der Menschheit feierten. Die Sozialisten machten geltend, der  Präsident sei vor nur vier Monaten mit den Stimmen der Pazifisten und  einem pazifistischen Programm wiedergewählt worden und jetzt stürze er  das Land in den Krieg und beschimpfe diejenigen, die zu seinen früheren  Überzeugungen ständen! 
    Dazu kam noch ein anderes Ereignis, das  Jimmie vor Aufregung fast außer sich geraten ließ. Drei Tage lang waren  alle Nachrichten aus Petrograd wie abgeschnitten, und dann kam eine  Meldung durch, die die Welt elektrisierte - der Zar war gestürzt, das  russische Volk war frei! Jimmie traute kaum seinen Augen; er fuhr drei  Tage darauf in die Stadt zur Ortsgruppenversammlung und traf die  Genossen beim Feiern an, als ob sie die Welt erobert hätten. Hier war  das eingetreten, was sie in all diesen mühseligen Jahren tagein, tagaus  gepredigt hatten, gepredigt unter Spott, Hass und Verfolgung; hier war  die soziale Revolution und klopfte an die Tore der Welt! Sie würde  übergreifen auf Österreich und Deutschland, auf Italien, Frankreich,  England - und auch auf Leesville! Überall würde das Volk zu seinem  Recht kommen, und Krieg und Tyrannei würden verschwinden wie ein  verhasster Alptraum! Redner um Redner stand auf, diese glorreiche  Zukunft zu verkünden; sie sangen die Marseillaise und die  Internationale, und die anwesenden Russen fielen sich um den Hals, und  die Tränen liefen ihnen die Wangen hinunter. Es wurde der Beschluss  gefasst, dass sie sofort eine Massenkundgebung durchführen müssten, um  dieses epochemachende Ereignis der Bevölkerung der Stadt zu erläutern;  außerdem mussten sie fester denn je zu ihrem Programm des Widerstands  gegen den Krieg stehen. Was sollte es denn jetzt, da die soziale  Revolution an die Tore der Welt klopfte, noch für einen Sinn haben,  wenn Amerika sich dem Militarismus zuwandte? 
    So ging Jimmie mit doppeltem Eifer an die Arbeit und widmete seine  ganze Zeit der Agitation. Er hatte offensichtlich keine Chance, einen  Job zu bekommen, und gab für den Augenblick die Suche danach auf. Der  Besitzer des Ladens an der Kreuzung, der ihn wegen seiner Ansichten  nicht leiden konnte, wollte ihm nichts mehr anschreiben, und so war die  arme Lizzie zu etwas gezwungen, was sie geschworen hatte, nie zu tun -  sie musste den Strumpf von ihrem rechten Bein ziehen, die Bandage von  ihrem Knöchel abtrennen und einen der zehn kostbaren  Zwanzigdollarscheine herausziehen. Deren leuchtendes Gelb war  inzwischen ziemlich verblasst, und sie waren auch alles andere als  glatt und neu; doch der Ladenbesitzer nahm daran keinen Anstoß - er gab  das Wechselgeld heraus und benutzte die Gelegenheit, um ihr eine  freundliche Warnung bezüglich der unvorsichtigen Reden ihres Mannes  zukommen zu lassen. Er würde Ärger kriegen, und seine Frau täte gut  daran, ihm den Mund zu stopfen, bevor es zu spät sei. So hörte die arme  Lizzie. auf, eine Pazifistin zu sein, und ging nach Hause, um an der  Brust ihres Mannes wieder einmal hysterisch zu werden. 
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  Da sie es nicht schaffte, ihn zurückzuhalten, gab sie durch den  Briefträger dem alten Peter Drew Nachricht, er möge doch kommen und  helfen. Der alte Farmer spannte seine knochige Mähre an und fuhr sie  besuchen. Er redete ein paar Stunden lang über Amerika, während Jimmie  über Russland redete. Sollte Amerika vor dem Kaiser kuschen? Jimmie  antwortete, dass sie den Kaiser auf die gleiche Weise stürzen würden,  wie sie den Zaren gestürzt hätten. Nachdem einmal die Arbeiter  Russlands den Weg gewiesen hätten, würden nie mehr die Arbeiter  irgendeiner Nation sich unter das Joch der Sklaverei beugen. Ja, selbst  in den sogenannten Republiken, wie zum Beispiel Frankreich, das von  Bankiers regiert wurde, und Amerika, das von der Wall Street regiert  wurde - selbst hier würden die Arbeiter aus dem Aufstand ihre Lehren  ziehen! 
    „Aber in Amerika können die Leute doch alles kriegen, was  sie haben wollen!" rief der bestürzte alte Mann. „Sie brauchen doch nur  entsprechend zu wählen ..." „Wählen?" knurrte Jimmie wütend. „Und sich  dann von irgendeiner korrupten politischen Bande die Stimmen wegnehmen  lassen wie hier in Leesville? Erzählen Sie mir nichts über Wahlen - man  hat mir gesagt, weil ich in einen neuen Bezirk gezogen bin, habe ich  mein Stimmrecht verloren - ich habe es verloren, weil ich meine Arbeit  verloren habe! Also hat in Wirklichkeit der alte Granitch das Sagen, ob  ich wählen darf oder nicht! Das gleiche gilt für zwei Drittel der Leute  in den Empire Shops - die Hälfte der ungelernten Arbeiter im Land hat  kein Stimmrecht, weil sie kein Zuhause, weil sie überhaupt nichts hat."  „Aber", meinte der alte Soldat, „wie soll denn eure neue  Arbeiterregierung funktionieren, wenn nicht mit Wahlen?" „Natürlich mit  Wahlen", antwortete Jimmie. „Aber zuerst setzen wir die Kapitalisten an  die Luft; sie werden kein Geld mehr haben, sich einen politischen  Apparat zu kaufen; sie werden keine Zeitungen mehr besitzen, um Lügen  über uns zu drucken. Sehen Sie sich nur mal diesen Leesviller ,Herald'  an - sie drucken einfach glatte, gemeine Lügen - die Wahrheit können  wir an die Menschen gar nicht herantragen.“  
    Und so ging es weiter. Es war sinnlos, dass der alte Mann für die  „Heimat" eintrat; für Jimmie hatte sich die „Heimat" verloren gegeben,  hatte sich unterkriegen lassen, hatte sich von den Kapitalisten, den  „Plutos", einstecken lassen. Jimmies Loyalitätsbewusstsein gehörte  nicht seiner Heimat, sondern seiner Klasse, die ausgebeutet worden war,  gehetzt, gejagt von Pontius zu Pilatus. In früheren Zeiten hatte sich  die Regierung von den Firmen benutzen lassen; daher hatte es jetzt  keinen Zweck, wenn der Präsident für Gerechtigkeit und Demokratie  eintrat und dabei die schönen Worte des Idealismus benutzte. Jimmie  glaubte nicht, dass er es ernst meinte, und jedenfalls würde die Wall  Street schon dafür sorgen, dass aus seinen Versprechungen nichts wurde.  Die „Plutos" würden seine Worte nehmen und drehen, bis sie den Sinn  hatten, der ihnen genehm war, und inzwischen würden sie weiter ihre  Beschimpfungen über Jimmie Higgins ausgießen, ihm denselben alten Sand  in die Augen streuen, ihn blind machen mit demselben alten Hass. Darum  gab es keine Möglichkeit für einen alten Soldaten und Patrioten, den  Panzer von Jimmies vorgefassten Meinungen zu durchstoßen. 
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  Am nächsten Tag sollte die große Massenkundgebung zu Ehren der  russischen Revolution stattfinden, und war es denn zu glauben, Lizzie  hoffte, sie könnte Jimmie überreden, zu Hause zu bleiben; sie hatte Mr.  Drew aufgeboten, damit er ihr beim Überreden half! Die arme Lizzie  malte sich aus, wie jeder einzelne im Saal ins Gefängnis  abtransportiert wurde, wie Jimmie aufsprang und etwas schrie, worauf  die Polizei über ihn herfiel und ihm mit ihren Knüppeln den Schädel  einschlug. Vergeblich versicherte er, er hätte nichts Abenteuerlicheres  vor, als Literatur zu verkaufen und den Platzanweiser zu spielen. Sie  schloß ihn heftig in die Arme, weinte Tränenströme und erklärte, als er  sich immer noch nicht erweichen ließ, sie würde mitgehen. Sie wollte  Mrs. Drew zu überreden versuchen, an diesem einen Abend einmal nach den  Kleinen zu sehen. Der alte Peter Drew antwortete, er hätte selber Lust,  zu der 
    Versammlung zu gehen. Wie wäre es denn, wenn er Lizzie und  die Kleinen abholen käme, die Kinder bei sich zu Hause absetzte und  dann mit Lizzie zu der Versammlung fuhr? Sie konnten sich ja mit Jimmie  im Opernhaus treffen, wo er den ganzen Tag mit dem Ausschmücken zu tun  hatte. Nach der Kundgebung konnten sie dann alle zusammen nach Hause  fahren. „Fein!" sagte Jimmie, der schon davon träumte, wie das  revolutionäre Fieber den alten Soldaten erfasste. 
    Aber leider lief die Sache nicht so. Zu Jimmies Bestürzung erschien der  alte Mann in der Oper in einer verschossenen blauen Uniform, die von  oben bis unten voller Messingknöpfe war! Natürlich rissen alle die  Augen auf, und das um so mehr, als sie diese militärische  Persönlichkeit an der Seite des Genossen Higgins sahen. Der alte Knabe  musterte den Schwarm von Menschen, darunter viele Männer mit roten  Abzeichen und die Frauen mit roten Bändern oder Schärpen; er musterte  den Saalschmuck - die riesige Fahne und die langen roten Wimpel, das  Banner des Karl-Marx-Vereins und das Banner der Ypsels, das heißt des  Jungsozialistenverbandes von Leesville, und das Banner der  Maschinenarbeitergewerkschaft, Ortsgruppe 4717, und der  Zimmermannsgewerkschaft, Bezirk 529, und des Arbeiterkonsumvereins; Er  drehte sich zu Jimmie um und fragte: „Wo ist die amerikanische Fahne?" 
    Der Liederkranz sang die Marseillaise, und nachdem die Zuhörer  applaudiert, rote Tücher geschwenkt und sich heiser geschrien hatten,  hielt der Vorsitzende, Genosse Gerrity, eine kleine Ansprache. Seit  Jahren seien es alle Sozialisten gewohnt, die Zustände in ihrem  Heimatland mit einem bildlichen Vergleich zu beschreiben, den sie nun  nicht länger würden anwenden können, denn Russland sei frei, und  Amerika würde Russlands Beispiel folgen, wenn es den Verstand dazu  hätte. Er stellte den Genossen Pawel Michailowitsch vor, der eigens aus  dem fernen New York hergekommen sei, um ihnen die Bedeutung des größten  Ereignisses der Geschichte klarzumachen. Genosse Pawel, ein schlanker,  schmächtiger, gelehrtenhaft aussehender Mann mit schwarzem Bart und  schwarzgeränderter Brille, sagte ein paar Worte auf russisch und hielt  dann eine einstündige Rede in gebrochenem Englisch. Darin erklärte er,  wie die Russen sich den Weg in die Freiheit erkämpft hätten und 
    diese Freiheit jetzt nutzen würden, um auch das übrige Proletariat zu  befreien. Und dann kam Genosse Schultze von der  Teppichwebergewerkschaft und versicherte ihnen, es sei jetzt nicht mehr  nötige gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen, denn den deutschen  Arbeitern sei jetzt der Weg in die Freiheit gezeigt worden, und sie  würden sehr bald nachfolgen. Er, Schultze, wisse das, weil sein Bruder  Redakteur bei einer sozialistischen Zeitung in Leipzig sei; er habe  vertrauliche Nachrichten darüber, was sich im Vaterland tue. 
    Dann wurde Genosse Smith vorgestellt, der Redakteur des „Worker", und  damit begann der Krach. Der junge Redakteur hielt sich nicht lange mit  Vorreden auf; er sei ein internationaler Revolutionär, und ihn würde  keine kapitalistische Regierung für ihre blutigen Schurkenstreiche  einziehen. Er würde sich niemals fortschicken lassen, seine  Arbeitergenossen umzubringen, ganz gleich, ob in Deutschland,  Österreich, Bulgarien oder der Türkei. Das würden die Herren der Wall  Street noch erleben: Wenn sie sich vorgenommen hätten, freie Amerikaner  zur Schlachtbank zu treiben, dann hätten sie den größten Fehler ihres  raffgierigen Lebens gemacht. „Versteht mich recht", erklärte Genosse  Smith - obwohl es bisher eigentlich nichts gab, worin er hätte  missverstanden werden können -, „versteht mich recht, ich bin kein  Pazifist, ich bin nicht gegen den Krieg an sich - es geht nur darum,  dass ich entschlossen bin, mir auszusuchen, in welchem Krieg ich  kämpfe. Wenn sie mir ein Gewehr in die Hand drücken wollen, werde ich  mich nicht weigern, es zu nehmen - nicht die Spur, denn ich und alle  anderen Lohnsklaven haben uns schon lange Gewehre gewünscht! Aber ich  werde nach eigenem Ermessen entscheiden, auf wen ich dieses Gewehr  richte - ob auf die Feinde vor mir oder auf die Feinde hinter mir - ob  auf meine Brüder, die Arbeiter in Deutschland, oder auf meine  Unterdrücker, die Ausbeuter von der Wall Street, ihre Zeitungslakaien  und ihre militärischen Leuteschinder!" 
    Die Sätze dieser Rede fielen wie Hammerschläge und weckten einen  Beifallssturm bei den Zuhörern. Doch plötzlich merkte die jubelnde  Menge, dass irgendetwas Ungewöhnliches im Gange war. Ein betagter  weißbärtiger Mann in verschossener blauer Uniform hatte sich von seinem  Platz mitten im Saal erhoben und schrie und gestikulierte mit der  Armen. Die neben ihm Sitzenden versuchten ihn wieder auf seinen Platz  herunterzuziehen, aber er wollte sich nicht unterkriegen lassen, er  schrie weiter, und ein Teil der Zuhörer wurde aus Neugier still. „Pfui!  Pfui!" hörten sie ihn rufen. „Schämt ihr euch nicht!" Und er wies mit  zitterndem Finger auf den Redner und erklärte: „Was Sie da reden, ist  Hochverrat, junger Mann!" „Hinsetzen!" brüllte die Menge. „Maul  halten!" Aber der Alte fuhr sie an. „Sind denn in diesem Saal gar keine  Amerikaner? Wollt ihr euch diesen schamlosen Verräter anhören ohne  jegliche Widerrede?" Man packte ihn an den Rockschößen und drohte ihm  mit den Fäusten; auf der anderen Seite des Saals sprang der Wilde Bill  auf einen Stuhl und schrie: „Schneidet ihm doch den Hals ab, dem alten  Knacker!" 
    Zwei Polizisten kamen den Mittelgang entlanggelaufen, und der „alte  Knacker" wandte sich an sie: „Wozu seid ihr eigentlich da, wenn nicht,  um die Fahne und die Ehre Amerikas zu schützen?" Aber die Polizisten  verlangten, er solle aufhören, die Versammlung zu stören, und so machte  der Alte kehrt und marschierte aus dem Saal. Doch ging er nicht, ohne  sich noch einmal umzudrehen, der Menge mit der Faust zu drohen und mit  seiner brüchigen Stimme zu brüllen: „Verräter! Verrräter!" 
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  Der arme Jimmie blieb vernichtet auf seinem Platz zurück. Dass  ausgerechnet er, der einsatzfreudigste der Arbeiter für den  Sozialismus, die Ursache einer so schmachvollen Szene gewesen war -  dass gerade er in diese revolutionäre Versammlung einen Mann in der  Uniform eines Mörders der Arbeiterklasse eingeschleppt hatte! Er konnte  nicht bleiben und den Genossen ins Gesicht sehen; bevor die Reden zu  Ende waren, gab er Lizzie einen Stoß, und die beiden standen auf und  stahlen sich hinaus, wobei sie allen aus dem Wege gingen, die sie  kannten. 
    Draußen blieben sie ratlos stehen. Sie dachten  natürlich, 
    der Alte wäre ohne sie fortgefahren; sie malten sich den langen Heimweg  von der Straßenbahn in Dunkelheit und Schlamm aus - und Lizzie in ihrem  einzigen Sonntags-Versammlungs-Ausgeh-Kleid! Doch als sie zu dem Platz  kamen, wo Mr. Drew seine Kutsche abgestellt hatte, fanden sie ihn zu  ihrem Erstaunen geduldig auf sie warten. Als er sie zögern sah, rief  er: „Kommt! Steigt ein!" Sie waren sehr verlegen, gehorchten aber, und  die alte Mähre setzte sich heimwärts in Trab. 
    Lange Zeit fuhren sie schweigend dahin. Schließlich konnte Jimmie es  nicht länger aushalten und begann: „Es tut mir so leid, Mr. Drew. Sie  verstehen nicht..." Aber der Alte schnitt ihm das Wort ab. „Es hat  keinen Sinn, dass Sie und ich versuchen, miteinander zu reden, junger  Mann." So fuhren sie den Rest des Weges ohne ein Wort - nur einmal  bildete sich Jimmie ein, von Lizzie einen Schluchzer zu hören. 
    Jimmie nahm es sich wirklich zu Herzen, denn er fühlte für diesen alten  Soldaten Hochachtung, sogar Zuneigung. Mr. Drew hatte Eindruck auf ihn  gemacht, nicht so sehr durch seine Argumente, die Jimmie als sechzig  Jahre hinter der Zeit zurück betrachtete, sondern durch seine  Persönlichkeit. Da war mal ein Patriot, der gerade und aufrecht war!  Wie schade, dass er nicht imstande war, den revolutionären Standpunkt  zu begreifen! Wie schade, dass man ihn hatte erzürnen müssen! Das war  auch einer der Schrecken des Krieges, der Freunde entzweite und sie  dazu brachte, dass sie sich stritten und hassten. 
    Zumindest schien das Jimmie an jenem Abend so, während er noch voll war  von den Reden, die er gehört hatte. Aber zu anderen Zeiten kamen ihm  Zweifel - denn natürlich kann ein Mann nicht einer ganzen Gemeinschaft  Trotz bieten und den Kampf ansagen, ohne sich manchmal fragen zu  müssen, ob nicht vielleicht auch die Gemeinschaft einiges Recht auf  ihrer Seite habe. Jimmie hörte von Untaten, die die Deutschen im Krieg  begangen hatten; sie waren so gemein im Kampf, sie gaben sich förmlich  Mühe, äußerst empörende und sinnlose, fast wahnsinnige Dinge zu tun!  Sie machten es jedem, der sie verteidigen wollte, unnötig schwer, in  ihnen überhaupt noch Menschen zu sehen. Jimmie behauptete, er habe  nicht die Absicht, den Deutschen zu helfen; er war bitterböse über die  Anschuldigungen der Leesviller Zeitungen, dass er ein deutscher Agent  und ein Verräter sei; aber er kam nicht um die unbequeme Tatsache  herum, dass das, was er tat, tatsächlich die Tendenz hatte, die  deutschen Interessen zu fördern, zumindest zeitweilig. Wenn ihm das von  irgendeinem Patrioten in einer Kontroverse vorgehalten wurde, war seine  Antwort, dass er von den deutschen Sozialisten fordere, sie sollten  gegen ihre militärische Führung revoltieren; aber dann begann der  Patriot die deutschen Sozialisten zu kritisieren und erklärte, dass sie  viel bessere Deutsche als Sozialisten wären, und führte Äußerungen und  Handlungen an, die das beweisen sollten. Ein deutscher Sozialist war im  Reichstag aufgestanden und hatte erklärt, dass die Deutschen auf zwei  Arten kämpften - ihre Armeen besiegten den Feind auf dem Schlachtfeld,  wogegen ihre Sozialisten die Moral der Arbeiter in den feindlichen  Ländern untergruben. Als man Jimmie diese Stelle vorlas, antwortete er,  das sei eine Lüge, eine solche Rede hätte ein Sozialist niemals  gehalten. Natürlich hatte er keine Möglichkeit, zu beweisen, dass es  eine Lüge war; er wusste es einfach! Aber als er dann fortging und  darüber nachdachte, begann er zu zweifeln; wie, wenn es doch wahr wäre?  Wenn nun die deutschen Arbeiter schon in der Kindheit so gedrillt und  geschult wurden, dass selbst diejenigen, die sich Revolutionäre  nannten, im Innern Patrioten waren! Jimmie begann dies und jenes  zusammenzufügen - was er so gehört oder gelesen hatte. Diese deutschen  Sozialisten zeigten ja wirklich keine allzu große Kühnheit beim Kampf  gegen ihre Regierung! Die Antwort hieß, dass sie gegen ihre Regierung  nicht opponieren könnten; weil sie dann ins Gefängnis gesteckt wurden.  Aber das war eine ziemlich dürftige Antwort; es war ihre Pflicht, ins  Gefängnis zu gehen - wenn sie das nicht tun wollten, wie konnten sie  dann von Jimmie Higgins erwarten, dass er hier in Amerika ins Gefängnis  ging? Jimmie unterbreitete dieses Problem dem Genossen Meissner, der  darauf antwortete, wenn Jimmie als erster ginge, dann würden zweifellos  die deutschen Genossen nachfolgen. Aber Jimmie sah nicht ein, warum er  der erste sein sollte, und als sie nach der Erklärung dafür suchten,  stellte sich heraus, dass Jimmie im Grunde seines Herzens allmählich  glaubte, Deutschland sei mehr schuld am Krieg als Amerika. Und nicht  nur, dass Genosse Meissner das nicht zugeben wollte, nein, er regte  sich sogar noch auf und wurde heftig und suchte Jimmie zu überzeugen,  dass die anderen kapitalistischen Regierungen in der Welt die Ursache  für den Krieg seien - Deutschland verteidige sich nur gegen sie! So  weit war es also, sie stritten sich, genau wie zwei x-beliebige  Nicht-Revolutionäre! Sie wiederholten die gleichen Argumente, die schon  in der Ortsgruppe zwischen dem Rechtsanwalt Norwood und dem Brauer  Schneider gewechselt worden waren! Nur, dass diesmal Jimmie Norwoods  Standpunkt vertrat! Jimmie musste sich mit der betrüblichen Tatsache  abfinden, dass sein treuer Freund Meissner Deutscher war - und daher  auf irgendeine schwer fassbare Weise anders als er, außerstande, die  Dinge so zu sehen wie er!  | 
  
    
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