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Upton Sinclair - Jimmie Higgins (1919)
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13. Kapitel: Jimmie Higgins geht Ärger aus dem Weg

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Ob Krieg oder nicht Krieg, der Boden musste gepflügt und die Saat in die Erde gebracht werden; darum kam John Cutter zu seinem Mieter und bot ihm an, er solle seinen Job als Landarbeiter wieder aufnehmen. Nur müsse er das Maul halten über den Krieg, denn wenn Cutter selbst auch kein fanatischer Patriot war, wollte er doch kein Risiko eingehen, eines Nachts sein Pächterhaus niedergebrannt zu finden. So gab es wieder einmal eine Diskussion in der Familie Higgins. Lizzie erinnerte sich daran, dass Jimmie im vergangenen Sommer vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung gearbeitet hatte und sogar zum Lesen sozialistischer Zeitungen zu müde gewesen war, geschweige denn zum Fortführen der Propaganda; was der geplagten Frau eines Propagandisten der wünschenswerteste Zustand schien, der möglich war! Die arme Elisa Betuser - schon zweimal war sie wieder gezwungen gewesen, den Strumpf
von ihrem rechten Bein zu ziehen, die Bandage an ihrem Knöchel aufzutrennen und einen weiteren jener kostbaren gelben Zwanzigdollarscheine herauszuholen; es waren jetzt nur noch sieben übrig, und jeder davon war Lizzie mehr wert als ihr Augapfel.
Jimmie erklärte sich schließlich bereit, den Mund zu halten, solange er hier auf dem Lande war. Was hatte es schon für einen Sinn, diesen Dorfdeppen etwas beibringen zu wollen? Sie wollten den Krieg, also sollten sie ihn haben; sollten sie sich doch in Stücke reißen oder in den Schützengräben vergiften lassen! Wenn Jimmie Propaganda machen musste, dann würde er das in der Stadt tun, wo die Arbeiter Verstand hatten und wussten, wer ihre Feinde waren. So spannte Jimmie wieder einmal John Cutters Pferde vor den Pflug und fuhr hinaus auf John Cutters Acker, um wieder einmal Mais anzubauen für einen Mann, den er nicht leiden konnte. Den ganzen Tag lenkte er den Pflug oder die Egge, und abends fütterte und versorgte er die Pferde und Kühe, und dann kam er nach Hause und aß sein Abendbrot beim Rattern des langen Güterzugs, der durch seinen Hinterhof fuhr und Material für die Herstellung von TNT - Trinitrotoluol - geladen hatte.
Denn die große Sprengstofffabrik arbeitete jetzt Tag und Nacht und sorgte dafür, dass Jimmie die ganze Zeit an den Krieg denken musste, ob er nun wollte oder nicht. Um Mitternacht rollten die Züge mit dem fertigen Material heraus und brachten Jimmies Fenster zum Klirren mit ihrem Geratter und Gerumpel. Sie führten seine Phantasie fort zur Frontlinie jenseits des Ozeans, wo mit dem Inhalt dieser Wagen wenig später Menschen in Stücke gerissen werden würden. Eines Nachts gab es eine Störung auf der Strecke, und der Zug hielt auf seinem Hof, und am Morgen sah er die schwarzgestrichenen Wägen, auf denen in flammendroten Buchstaben das Wort „Gefahr" stand. Über die Dächer der Wagen ging ein Mann mit einem Knüppel in der Hand und einer Ausbuchtung auf der Hüfte und hielt Wache. Es erwies sich, dass irgend jemand in der Nacht eine Schiene herausgerissen hatte, augenscheinlich in der Absicht, den Zug zum Entgleisen zu bringen; infolgedessen kam ein Kriminalpolizist zu Jimmie, während er auf dem Feld arbeitete, und fragte ihn aus. Sie kannten Jimmies
Akte und verdächtigten ihn, mehr zu wissen, als er sagen wollte. „Ach, schern Sie sich doch zum Teufel", rief der zornige Sozialist. „Glauben Sie, wenn ich etwas hochgehen lassen wollte, hätte ich das ausgerechnet da gemacht, wo ich arbeite?" Und als er dann nach Hause zum Essen kam, stellte er fest, dass sie auch bei Lizzie gewesen waren und sie zu Tode erschreckt hatten. Sie hatten damit gedroht, die Familie aus dem Haus zu weisen; Jimmie sah sich von diesem verfluchten Krieg überallhin verfolgt - bis er ihn schließlich packen und in den Schützengraben schleifen würde!

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Der neue Kongress war zusammengetreten und hatte den Kriegszustand mit Deutschland erklärt, und das Land stürzte zu den Waffen. Männer meldeten sich zu Hunderttausenden freiwillig; aber das war den Militaristen noch nicht genug - sie wollten die gesetzliche Wehrpflicht, so dass jedermann gezwungen werden konnte mitzugehen. Wenn sie sich ihrer selbst und ihres großartigen Krieges so sicher waren, warum waren sie dann nicht damit zufrieden, diejenigen kämpfen zu lassen, die kämpfen wollten? So argumentierten der rebellische Jimmie und seine antimilitaristischen Gefährten. Aber nein! Die Militaristen wussten
recht gut, dass die Masse des Volkes nicht kämpfen wollte, darum beabsichtigten sie, sie zum Kampf zu zwingen. Die ganze Energie der sozialistischen Bewegung konzentrierte sich jetzt darauf, diesen Wehrpflichtplan zu durchkreuzen.
Die Ortsgruppe Leesville mietete wieder das Opernhaus und organisierte eine Massenprotestversammlung, und die kapitalistischen Zeitungen in der Stadt begannen lautstark gegen diese Versammlung zu wettern. Sollte man zulassen, dass der Patriotismus und die Loyalität Leesvilles durch eine weitere Konzentration von Aufwiegelei und Verrat herausgefordert wurden? Der „Herald" brachte noch einmal die Geschichte von dem tapferen alten Bürgerkriegsveteranen, der sich von seinem Platz erhoben und seinen Protest gegen die Hetze Jack Smith', des berüchtigten „roten" Redakteurs, herausgeschrien hatte. Der „Herald" druckte zum
zweitenmal das Bild des tapferen alten Veteranen in seiner verschossenen blauen Uniform ab sowie die Liste der Schlachten, in denen er gekämpft hatte, von der ersten bei Bull Run bis hin zur Belagerung von Richmond. Ein vorbeikommender Farmer gab Lizzie ein Exemplar dieser Zeitung und fügte hinzu, wenn es hier am Ort weiter verräterisches Gerede gäbe, dann würde es zu einem Lynchfest kommen. Jimmie fand also seine Frau wieder in Tränen vor. Sie war absolut entschlossen, ihn unter gar keinen Umständen zu der Versammlung gehen zu lassen. Drei Tage lang weinte sie und stritt mit ihm bis weit in die Nacht. Es wäre komisch gewesen, wenn es nicht so tragisch gewesen wäre. Jimmie führte das alte Argument an, dass man ihn, wenn er es nicht schaffte, dem Krieg ein Ende zu machen, in die Schützengräben schleppen und töten würde. Daraufhin wurde Lizzie dann natürlich sofort Pazifistin. Was für ein Recht hatte der Krieg, ihr Jimmie wegzunehmen? Die kleinen Jimmies hatten ein Recht auf ihren Vater! Alle Kinder hatten ein Recht auf ihren Vater! Aber wenn dann Lizzie diese tränenreichen Überzeugungen zum Ausdruck gebracht hatte, sagte Jimmie, also gut, dann müsse er zu der Versammlung gehen, dann müsse er sein Möglichstes tun, um den Krieg zu verhindern. Woraufhin die arme Lizzie plötzlich wieder die Schreckensbilder von der Polizei mit ihren Knüppeln und den Patrioten mit ihren Teereimern und Federsäcken vor sich sah! Nein, Jimmie durfte keine Propaganda mehr treiben, Jimmie durfte nicht zu der Versammlung gehen! Der arme Jimmie versuchte, sie festzunageln; was wolle sie denn lieber: dass er von den Deutschen getötet wurde oder von der Polizei und dem Mob? Aber Lizzie wollte, dass er weder auf die eine noch auf die andere Weise getötet wurde! Sie wollte, dass er am Leben blieb! Jimmie versuchte, einstweilen einen Kompromiss zu erzielen. Er würde zwar zu der Versammlung gehen, aber er würde versprechen, kein Wort zu sagen. Doch das tröstete Lizzie nicht - sie wusste, dass, wenn irgendetwas passierte, ihr Mann mit hineingezogen werden würde. Nein, wenn er entschlossen war zu gehen, dann würde sie auch mitgehen - selbst wenn sie die drei Kleinen in den Kinderwagen packen und diesen die zwei, drei Meilen bis zur Straßenbahn schieben müssten! Wenn Jimmie versuchen würde, eine
Rede zu halten, dann würde sie sich an seine Rockschöße hängen, dann würde sie ihm den Mund zuhalten, dann würde sie sich zwischen ihn und die Knüppel der Polizisten werfen!
So lagen die Dinge, als am Nachmittag vor der Versammlung heftiger Regen einsetzte und der Weg zur Straßenbahn für einen dreifach beladenen Kinderwagen unbefahrbar wurde. Also gab es wieder einen hysterischen Anfall in der Familie; Jimmie nahm die Hand seiner Frau in die seine und schwor ihr feierlich, sie könne ihn ruhigen Herzens zu dieser Versammlung gehen lassen, er würde nichts tun, was ihn auf irgendeine Weise in Schwierigkeiten bringen könnte. Er würde nicht versuchen, eine Rede zu halten, er
würde nicht aufspringen und schreien - egal, was passierte, er würde kein Sterbenswörtchen sagen! Er würde bloß Flugschriften verkaufen und den Leuten ihre Plätze anweisen, wie er das auf hundert anderen Versammlungen auch schon gemacht hatte. Um sicherzugehen, dass ihm nichts passierte,
würde er sogar das rote Abzeichen weglassen, das er sonst immer bei sozialistischen Veranstaltungen trug! Durch diese immer wieder von neuem wiederholten Versprechungen gelang es ihm schließlich, seine weinende Ehefrau zu beruhigen; er löste sanft ihre Hände von seinen Rockschößen, winkte ihr und den Kindern zu und ging. Das letzte, was er durch den Regenschleier sah, war Jimmie zwei, der ein rotes Taschentuch schwenkte, das Lizzie ihrem Ehemann im letzten Augenblick aus der Tasche gezogen hatte. Das letzte, was er hörte, war die Stimme von Jimmie zwei, der schrie: „Und sei ja artig! Halte den Mund!" Jimmie marschierte los und dachte dabei an den
kleinen Racker; er war jetzt fünf Jahre alt und wuchs so rasch, dass man es förmlich sah. Er hatte große schwarze Augen wie seine Mutter, und in seinem Grinsen lag alle Schalkhaftigkeit dieser Welt. Was er schon alles wusste, und was für Fragen er stellte! Jimmie und Lizzie wurden es nie müde, über seine Fragen zu reden; Jimmie fiel eine nach der anderen wieder ein, als er so durch den Matsch trabte -und wie stets presste er die Lippen zusammen, ballte die Fäuste und wandte sich von neuem der Aufgabe zu, die Welt zu einem Ort zu machen, wo auch ein Arbeiterkind leben konnte.

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Der Hauptredner des Abends war ein junger Collegeprofessor, der aus seinem Amt entlassen worden war, weil er sich in seinen öffentlichen Äußerungen auf die Seite der Arbeiterklasse gestellt hatte, und der daher für Jimmie ein Held war. Dieser junge Mann hatte alle Einzelheiten über den Krieg parat; er zeigte einem, dass es sich um eine gigantische Verschwörung der Kapitalisten auf der ganzen Welt handelte, die die materiellen Grundlagen des Reichtums und dazu die Leiber und Seelen der Arbeiter vollständig in ihre Gewalt bringen wollten. Er prangerte unerbittlich diejenigen an, die das Land in den Krieg hineingedrängt hatten; er prangerte die Spekulanten und Finanzleute der Wall Street an, die bereits ihre Milliarden verdient hatten und noch weitere ... zig Milliarden dazuverdienen würden. Er prangerte den Plan an, Männer zum Kämpfen zu zwingen, die gar nicht kämpfen wollten, und jeder seiner Sätze wurde von der Menschenmenge, die das Opernhaus zum Bersten füllte, mit donnerndem Beifall begrüßt. Nach dieser Versammlung zu urteilen, musste man glauben, dass Amerika kurz vor einer Revolution gegen den Krieg stand. Der junge Professor nahm Platz und wischte sich den Schweiß von der blassen Stirn, und dann sang wieder der Liederkranz, nur dass er jetzt nicht mehr Liederkranz hieß, sondern sich aus Rücksicht auf lokale Vorurteile „Arbeitergesangsverein" nannte. Dann erhob sich Genosse Smith, der Redakteur des „Worker", und kündigte an, dass nach der Spendensammlung der Redner Fragen beantworten würde; dann begann Genosse Smith selbst eine Rede zu halten, des Inhalts, dass die Arbeiter von Leesville etwas Entscheidendes unternehmen müssten, um klarzustellen, dass sie dagegen seien, in den Krieg hineingerissen zu werden. Er für sein Teil wolle sagen, dass er diesem Geschrei nach Krieg keinen Zollbreit nachgeben werde - er weigere sich offiziell, sich für irgendeinen kapitalistischen Krieg einberufen zu lassen, und er sei bereit, sich mit anderen zusammenzutun und mit ihnen zu vereinbaren, dass sie sich nicht einberufen lassen würden. Die Zeit sei knapp - wenn etwas geschehen solle, dann müssten sie sofort handeln ... Und dann gab es plötzlich eine Unterbrechung - diesmal nicht durch einen alten Soldaten, sondern durch einen Polizeiwachtmeister, der auf der einen Seite der Bühne gestanden hatte und nun vortrat und verkündete: „Die Versammlung ist geschlossen." „Was?" schrie der Redner.
„Die Versammlung ist geschlossen", wiederholte der Polizist. „Und Sie, junger Mann, sind festgenommen." Das Publikum stieß ein Gebrüll aus, und plötzlich sprang aus der Versenkung vor der Bühne, von wo normalerweise das Orchester liebliche Musik aussandte, eine Reihe blau uniformierter Männer, die sich zwischen dem Publikum und dem Redner aufstellten. Gleichzeitig kam ein Dutzend Soldaten durch den Mittelgang nach vorn marschiert, mit Gewehren in den Händen und aufgepflanzten Bajonetten. „Das ist ja unerhört!" schrie Genosse Smith. „Kein Wort mehr!" befahl der Polizeibeamte, und zwei Polizisten, die ihm gefolgt waren, fassten den Redner bei den Armen und wollten ihn von der Bühne herunterführen. Genosse Gerrity sprang nach vorn aufs Podium. „Ich protestiere gegen dieses Vorgehen!" schrie er. „Wir halten hier eine ordnungsgemäße Versammlung ab ..." Ein Polizist packte ihn. „Sie sind festgenommen." Dann meldete, sich Genossin Mabel Smith, die Schwester des  Redakteurs   des   „Worker".   „Pfui   Schande!   Pfui Schande!" rief sie. Und dann, an einen Polizisten gewandt: „Nein, ich werde nicht schweigen! Ich protestiere im Namen der freien Rede! Ich erkläre ..." Und als der Polizist sie beim Arm ergriff, schrie sie weiter, aus voller Kehle, wodurch die Menge außer sich geriet.
Überall unter der Zuhörerschaft kam es zu Tumulten. Mrs. Gerrity, die Frau des Organisators, sprang von ihrem Platz auf und begann zu. protestieren. Zufällig befand sich Jimmie Higgins nicht weit von ihr im Gang, und sein Herz durchfuhren seltsame, fast vergessene Empfindungen, als er diese schmucke kleine Gestalt sah mit dem feschen Hut, an dessen einer Seite die Truthahnfeder steckte. Genossin Evelyn Baskerville aus Greenwich Village, sie, mit dem lockeren braunen Haar und den kecken kleinen Grübchen und den kühnen, schockierenden Ideen, sie, die Jimmie Higgins' Seele so aufgewühlt und fast das Higginssche Heim zerstört hatte - hier stand sie und wandte eine neue Art von Koketterie an, durch die sie drei Soldaten mit Gewehr und Bajonett zwang, ihr ihre ausschließliche Aufmerksamkeit zu schenken!
Und dann Genossin Mary Allen, die Quäkerin mit ihrem Glauben an die moralische Kraft, die über das Trommelfell wirkte. Sie stand im Mittelgang mit ihrem Armvoll Flugschriften und ihrer roten Schärpe über der Schulter und rief: „Im Namen der Freiheit und des Fair play protestiere ich gegen diesen Gewaltakt! Ich will nicht zusehen, dass mein Land in den Krieg hineingerissen wird, ohne von meinem Recht, zu protestieren, Gebrauch zu machen! Ich stehe hier, in einer Stadt, die sich christlich nennt; ich spreche im Namen des Friedensfürsten..." und so weiter, eine richtige kleine Rede, während der mehrere verlegene junge Männer ins Khaki herauszufinden suchten, wie man gleichzeitig ein Gewehr und eine schreiende Quäkerin festhielt. Und dann Genosse Schneider, der Brauer. Er war hinten auf der Bühne bei den Sängern gewesen und kam nun irgendwie nach vorn. „Haben wir denn in Amerika keine Rechte mehr?" brüllte er. „Haben wir unter dieser Zuhörerschaft..."
„Halt die Klappe, du deutsches Schwein!" brüllte irgend jemand vorn vor der Menge, und drei Polizisten stürzten sich augenblicklich auf Genossen Schneider, packten ihn beim Kragen und drehten so sehr, dass das Gesicht des Deutschen, das immer purpurrot anlief, wenn er erregt war, eine dunkle, gefährliche Farbe annahm.
Armer Jimmie Higgins! Da stand er nun mit seinem Armvoll Broschüren „Warum Krieg?" - zitternd vor Aufregung, jeder Nerv, jede Sehne reizte ihn, sich in diesen Streit zu stürzen, seine Stimme über den Tumult zu erheben, seine Rolle als Mann zu spielen - oder sogar als eine Genossin Mabel Smith oder eine Genossin Mary Allen oder eine Genossin Mrs. Gerrity geborene Baskerville. Aber er war hilflos - Hand und Fuß waren ihm gebunden durch die feierlichen Versprechen, die er Elisa Betuser gegeben hatte, der Mutter seiner Kinder.
Er sah sich um und erblickte nah bei sich im Mittelgang noch einen Mann, dem ebenfalls Hand und Fuß gebunden waren - gebunden durch die Erinnerung an den Hieb ins Gesicht, der ihm das Nasenbein gebrochen und drei Vorderzähne ausgeschlagen hatte! Der Wilde Bill sah, wie ihn ein Polizist fixierte, der eifrig nach einem neuen Vorwand suchte, um sich auf ihn zu stürzen und ihn zusammenzudreschen; so war er still wie Jimmie. Die beiden mussten dort stehen und zusehen, wie die verfassungsmäßigen Grundrechte amerikanischer Bürger in den Wind geschlafen wurden, mussten zusehen, wie die Freiheit unter den Stiefeln einer brutalen Soldateska in den Staub getreten wurde, mussten zusehen, wie die Gerechtigkeit im innersten Schrein ihres Tempels erwürgt und vergewaltigt wurde. Zumindest las sich das, was man selber mit angesehen hatte, im Leesviller „Worker" so; wenn man dagegen den „Herald" las, was neun von zehn Leuten taten, dann erfuhr man, saß sich in Leesville am Ende doch die Kräfte des Anstands und der Ordnung durchgesetzt hätten, dass die Propaganda der Hunnen endgültig zum Schweigen gebracht worden sei und dass die Aufwiegler die schwere Hand des Volkszorns zu spüren bekommen hätten.

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Draußen versammelte sich eine Menschenmenge, um spöttische Bemerkungen von sich zu geben, während die Gefangenen in den Polizeiwagen verladen wurden; aber die Polizei trieb sie weg, hielt alle in Bewegung und unterband mehrere Versuche, eine Straßenrede zu halten. Jimmie fand sich bei einem halben Dutzend anderer Genossen, die ziellos die Main Street hinunterwanderten und immer wieder erörterten, was geschehen war, wobei ein jeder erklärte, warum und weshalb er der Märtyrerkrone nicht teilhaftig geworden sei. Manche hatten ebenso laut wie die übrigen geschrien, waren aber von der Polizei nicht bemerkt worden; manche hatten es für klüger gehalten, wegzulaufen, um bei einer anderen Gelegenheit schreien zu können; manche wollten noch in derselben Nacht damit anfangen, ein Flugblatt zu drucken und eine neue Massenversammlung einzuberufen. Sie zogen sich in „Toms Imbissstube" zurück, um noch weiter über die Ereignisse zu diskutieren; sie besetzten ein paar Tische, bestellten ihr gebührendes Soll an Kaffee und Sandwiches oder Pastete und Milch und
waren eben bei der Frage angelangt, wie man ohne die Hilfe des Genossen Dr. Service die Kaution aufbringen könne - als plötzlich etwas passierte, was sie die ganze Versammlung vergessen ließ.
Es war wie ein gigantischer Schlag, der die ganze Welt auf einmal traf; eine kosmische Zuckung, ganz unbeschreiblich Die Luft wurde plötzlich zu einem lebenden Wesen, das einem ins Gesicht sprang; die Fenster des kleinen Restaurants flogen nach innen in einem Regen von Glas, und die Wände und Tische zitterten wie in einem Krampf. Bei alledem hörte man einen gewaltigen, alles durchdringenden Knall, der fern und nah zugleich war und sich im Zerbersten und Zersplittern unzähliger Glasscheiben, die aus unzähligen Fenstern fielen, verlor. Danach herrschte Stille eine unheilvolle, grauenhafte Stille, so schien es; die Menschen starrten einander an und riefen: „Mein Gott! Was war das?" Die Antwort dämmerte anscheinend allen zugleich: „Die Pulverfabrik!"
Ja, das war es, ohne Zweifel. Seit Monaten hatten sie darüber geredet und darüber nachgedacht und Vermutungen angestellt hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und der Folgen. Und nun war es passiert. Plötzlich stieß einer in der Runde einen Schrei aus, und sie wandten sich ihm zu und starrten in sein weißes Gesicht und erblickten darin das Entsetzen, das sein Herz gepackt hatte. Genosse Higgins, der so nah am Gefahrenort wohnte! „Gottes willen, Freunde, ich muss hin!" stieß er hervor, und mehrere Genossen sprangen auf und liefen mit ihm auf die Straße. Falls in Leesville wirklich noch eine Glasscheibe ganz geblieben war - wenn man den Fuß auf dieses Pflaster setzte, hätte man es nicht geglaubt. Wäre Jimmies Tüchtigkeit besser ausgebildet und er es gewohnt gewesen, mit dem Geld großzügiger umzugehen, hätte er vielleicht etwas per Telefon oder per Anfrage in den Zeitungsbüros erfahren können; aber ihm fiel nichts weiter ein, als die Straßenbahn zu nehmen, um nach Hause zu kommen. Die Genossen liefen mit, stellten aufgeregt Vermutungen an und versuchten ihn zu beruhigen - es konnte ja nichts Schlimmeres sein, als dass ein bisschen Glas und Geschirr entzwei war. Einige hatten vorgehabt, ihn den ganzen Weg zu begleiten, aber ihnen fiel ein, dass es zu spät
sein würde für die letzte Straßenbahn zur Stadt zurück und dass sie ja am andern Morgen früh zur Arbeit mussten. So brachten sie Jimmie bis an die Bahn und verabschiedeten sich dann.

5

Die Straßenbahn war voller Leute, die alle hinausfuhren, um zu sehen, was passiert war; Jimmie hatte darum viel Gesellschaft, und es wurde viel geredet. Doch als er zu seiner Haltestelle kam, stieg er als einziger aus und ging allein weiter, denn die anderen wollten zum Sprengstoffwerk und fuhren noch ungefähr eine Meile mit der Bahn weiter. Niemals würde Jimmie diesen Weg vergessen - diesen Gang durch einen Alptraum. Die Straße war stockdunkel, und bevor er auch nur die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, stolperte er über etwas und stürzte kopfüber. Er stand auf, tappte umher und stellte fest, dass es ein Baum war, der quer über der Straße lag. Er versuchte sich zu erinnern und entsann sich, dass an dieser Stelle ein großer abgestorbener Baum gestanden hatte. Konnte den die Explosion umgerissen haben?
Er ging weiter, sich nun vorsichtiger vorantastend, jedoch von seiner Angst zu größerer Eile getrieben. Ein Stückchen weiter erreichte er ein Farmhaus; er stellte sich auf den Hof und rief, bekam aber keine Antwort. Der Hof war bedeckt mit Schindeln, die offenbar vom Dach heruntergefallen waren. Noch verängstigter als zuvor ging er weiter. Er kam an eine Kurve, die, wie er wusste, weniger als eine halbe Meile von seinem Haus entfernt war, und hier waren mehrere Pferde mit Wagen angebunden, aber auf seine Rufe gab niemand Antwort. Dann führte die Straße durch einen Wald; doch offenbar war gar keine Straße mehr da -die Bäume waren mitsamt Wurzeln und allem hochgerissen und quer über die Straße geschleudert worden. Jimmie musste sich tastend seinen Weg bald hier, bald dort suchen, rammte sich einen abgebrochenen Ast in die Backe und war inzwischen fast so weit, dass er vor Entsetzen geweint hätte. Er wusste, dass sein Haus zwei Meilen vom Sprengstoffwerk entfernt lag, und er konnte sich nicht vorstellen, wie eine
Explosion auf diese Entfernung hatte solchen Schaden anrichten können.
Weiter vorn sah er eine Laterne hin und her schwanken, und er schrie lauter denn je und konnte schließlich den Träger der Laterne dazu bewegen, auf ihn zu warten. Es stellte sich heraus, dass es ein Farmer war, der ein Stück weiter hinten wohnte; er wusste nicht mehr als Jimmie, und sie gingen zusammen weiter. Dort, wo sie den Wald verließen, war die Straße besät mit lockerer Erde, Büschen, Zaunteilen und Schutt, alles schwarz verbrannt. „Es muss hier in der Nähe gewesen sein", erklärte der Mann und fügte etwas hinzu, was Jimmies Herz fast stocken ließ. „Es muss auf der Eisenbahnstrecke gewesen sein!"
Sie kamen zu einer kleinen Anhöhe, von der aus bei Tage die Bahnstrecke zu sehen war. Sie erblickten Laternen, eine Vielzahl, hin und her schwebend wie ein Schwarm Leuchtkäfer. „Kommen Sie mit", bat Jimmie den Farmer und lief auf sein Haus zu. Die Straße war unter Erdmassen begraben, als ob Tausende von Baggern ihren Inhalt auf sie entleert hätten. Ate sie an die Stelle kamen, wo der Zaun von Jimmies Haus hätte sein müssen, fanden sie keinen Zaun, sondern nur einen Berg lockerer Erde, der da nie gewesen war. Wo der Apfelbaum gestanden hatte, war gar nichts; wo der Rasen gewesen war, war jetzt ein Abhang, und wo das Haus gestanden hatte, war ein gewaltiges Tal, das in der Dunkelheit wie ein bodenloser Abgrund wirkte!

6

Jimmie war völlig von Sinnen. Er riss dem anderen die Laterne weg, rannte hierhin und dorthin und suchte nach vertrauten Zeichen seines Heimes - nach dem Hühnerstall, dem Schweinestall, dem Zaun hinten mit der abgebrochenen Ulme in der Ecke, den Bahngleisen dahinter. Er konnte nicht glauben, dass er schon an der richtigen Stelle war - er konnte nicht an die Wirklichkeit eines so gespenstischen Anblicks glauben, wie seine Augen ihn ihm vermittelten. Er rannte planlos umher, stolperte über Berge von aufgehäufter brauner Erde, rutschte in Krater hinein, die von einem merkwürdigen, penetranten Geruch erfüllt waren, der seine Augen
brennen machte, kletterte wieder heraus und lief hinter Männern mit Laternen her, schrie ihnen Fragen zu und wartete doch nicht auf eine Antwort. Ihm war so, als ob er nur ein bisschen weiterlaufen müsste, um ganz bestimmt das Haus und alles andere, wonach er suchte, zu finden; aber er fand nur noch mehr Krater und noch mehr Erdhaufen, und allmählich wurde ihm die entsetzliche Tatsache bewusst, dass sich die ganze Bahnstrecke entlang, so weit er sehen oder laufen konnte, diese gigantische Mulde erstreckte, ein Tal von bloßer Erde, an dessen Seiten sich Berge türmten, auf denen hier und da Räder und Achsen und Eisengestelle von explodierten Güterwagen lagen, während über seinem Grund die todbringenden Gase von Trinitrotoluol schweben!
Jimmie rief den Männern und Frauen mit den Laternen zu, ob sie seine Frau und seine Kinder gesehen hätten. Aber niemand hatte sie gesehen - niemand hatte sie vor der drohenden Explosion gewarnt! Jimmie schluchzte, rief halb wahnsinnig ihre Namen; er rannte hin zur Straße und fand nach vielem Suchen einen verkohlten Baumstumpf, der ihm die genaue Richtung wies, so dass er wusste, wo das Haus hätte sein müssen, und er sich überzeugen konnte, dass es genau dort gewesen war, wo jener schreckliche Abhang in den Abgrund führte. Laut rufend rutschte er auf dem Abhang herum, als ob er erwartete, dass die Seelen seiner Lieben dort noch weilten und der Gewalt sich plötzlich ausdehnender Gase standgehalten hätten. Dann rannte er zurück über die Straße und rief, als ob sie dorthin entflohen wären. Schließlich stieß er auf Mr. Drew; den alten Mr. Drew, der vor ein paar Wochen Elisa Betuser und ihre drei Kleinen in seiner Kutsche mitgenommen hatte! Die Erinnerung daran war das, womit sie Jimmie jetzt am nächsten waren, und so griff er nach dem Arm des alten Soldaten, klammerte sich daran und weinte wie ein kleines Kind. Der Alte wollte ihn fortziehen, ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Aber Jimmie konnte von dieser Stelle nicht weg, der Bann des Entsetzens hielt ihn fest. Er irrte umher, er zog Mr. Drew mit sich, er redete vergeblich auf die Leute ein; ab und an stieß er Flüche aus gegen die Kriegemacher und besonders gegen diejenigen, die Sprengstoffe herstellten und sie in Güterzügen durch anderer Leute Höfe transportierten. Diesmal ließ man ihn reden, ohne ihm mit Lynchen zu drohen. So ging es weiter durch diese Nacht der Qual. Jimmie verlor den alten Drew in der Dunkelheit und war ganz allein, als der Morgen dämmerte und er das Ausmaß der Verwüstung um sich her sehen konnte und die verstörten Gesichter der Menschen in seiner Nähe. Bald danach kam das Schlimmste. Er sah Leute beieinanderstehen, und als er herankam, machten sie ihm Platz. Sprechen wollte anscheinend keiner, aber alle blickten ihn an, als ob sie neugierig wären, was er tun würde. Einer der Männer trug einen Gegenstand, der in eine Pferdedecke gehüllt war; Jimmie starrte darauf, und nach kurzem Zögern schlug der Mann ein Stück Decke zurück, und Jimmies Augen bot sich ein entsetzlicher Anblick - ein Menschenbein, ein großes weißes Bein, dessen untere Hälfte in einem schwarzen Strumpf steckte, der am oberen Ende mit einem Band befestigt war. Es war so ein Bein, wie man es in den Schaufenstern von Geschäften sieht, die allerlei hübsche Sachen für Damen verkaufen; nur dass dieses Bein weich war, oben zerfetzt, mit Blut beschmiert und teil weise verkohlt. Ein Blick genügte Jimmie, er schlug die Hände vor die Augen, machte kehrt und rannte davon -rannte bis zur Straße und weiter, immer weiter - irgendwohin, nur weg von diesem Alptraum!

7

Jimmies ganze Welt war ausgelöscht, zu Ende. Er hatte kein Zuhause mehr, ihm war es egal, was aus ihm wurde. Er stolperte vorwärts, bis er an das Straßenbahngleis kam, und stieg in die erste Bahn, die kam, Es war reiner Zufall, dass sie zurück nach Leesville fuhr, denn Jimmie interessierte diese Stadt nicht mehr. Als die Bahn am Depot ankam, stieg er aus und irrte ziellos umher, bis er zufällig an einer Kneipe vorbeikam, in der er sich früher immer mit Jerry Coleman, dem Verteiler von Zwanzigdollarscheinen, getroffen hatte. Jimmie ging hinein und bestellte einen Whisky; er sagte dem Wirt nicht, was geschehen war, sondern nahm seinen Drink mit zu einem Tisch und setzte sich hin, um allein zu sein. Als er ihn ausgetrunken hatte, bestellte er den nächsten, weil es ihm half, nicht zu denken; er saß da am Tisch und trank eine Stunde oder länger. Und allmählich formte sich in seinem benebelten Kopf ein seltsamer, ein grauenhafter Gedanke, schlimmer als alles andere in dieser entsetzlichen Nacht. Welches Bein von Lizzie war es gewesen, das der Mann da in der Pferdedecke gehabt hatte? Das rechte Bein oder das linke? Wenn es das linke gewesen war, nun, dann war nichts weiter; aber wenn es das rechte gewesen war, nun, dann war unter dem Strumpf eine Bandage festgenäht, und in der Bandage steckte ein Päckchen von sieben verblassten gelben Zwanzigdollarscheinen! Was würden sie damit machen? Würden sie das Bein begraben, ohne es zu untersuchen? Oder würde der Mann, der es gefunden hatte, es zufällig entkleiden? Und was sollte Jimmie machen? Hundertundvierzig Dollar waren keine Kleinigkeit für einen Arbeiter - das war mehr Geld, als er jemals im Leben gehabt hatte oder jemals wieder haben würde. Aber konnte er hingehen zu dem Mann und sagen: „Haben Sie an dem Bein meiner Frau Geld gefunden?" Konnte er sagen: „Geben Sie mir bitte das Bein von meiner Frau, damit ich es entkleiden und die Bandage abtrennen und an das Geld herankommen kann, das man mir gegeben hat, damit ich schweige über den chirurgischen Eingriff bei Lacey Granitch, der in meinem Hause vorgenommen wurde, bevor es bei der Explosion in die Luft ging." Jimmie dachte über all das nach, während er noch ein paar Drinks zu sich nahm, und kam endlich zu dem Schluss: „Ach, zum Teufel! Was soll ich denn überhaupt mit Geld? Ich will ja sowieso nicht mehr leben!"

 

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